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: Geselligkeit vereinnahmen

Geselligkeit vereinnahmen

Jugend und Freizeit als Agitationsfelder des italienischen und britischen Faschismus

Inhalt

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1 Einleitung

So pathetisch kommentierte The Blackshirt , die Zeitung der British Union of Fascists , am 1. Mai 1933 den Besuch ihrer Parteidelegation in Rom. Zu diesem Zeitpunkt bestanden be-reits rege Kontakte zwischen britischen und italienischen Faschisten. In der asymmetrischen Beziehung, die eine britische Propagandaaktivität mit italienischen Geldzuwendungen be-lohnte, behaupteten die britischen Faschisten Symmetrie. Ein wesentlicher Aspekt der ge-meinsamen Sache – des Faschismus – war das Ziel, die eigene Gesellschaft zu transformieren und die jeweilige Nation zu angeblich historisch vorherbestimmter Größe zu führen. Eine Transformation der Gesellschaft implizierte eine Politisierung des bisher Privaten, des ver-meintlich Unpolitischen. Zu Zielobjekten faschistischer Gesellschaftspolitik gerieten Jugend und Freizeit als zwei wichtige Bereiche der Sozialisation, Vergesellschaftung und Selbstbe-stimmung.

Im Fokus dieser komparativen und transfergeschichtlichen Untersuchung stehen die jugend- und die freizeitbezogene Agitation der italienischen faschistischen Bewegung, die sich von den Fasci di Combattimento zum Partito Nazionale Fascista und zum Re-gime institutionalisierte, deren exterritorialer Parteizellen in Großbritannien, den Fasci all’Estero , sowie der britischen faschistischen Bewegung, namentlich der British Union of Fascists . Der Ansatz, Jugend und Freizeit als Kernbereiche faschistischer Politik ver-gleichend in drei Kontexten zu untersuchen, ist von Anfang an vielschichtig: Erstens ba-sierte die ideologische Selbstbeschreibung der italienischen wie der britischen Faschisten als eine jugendliche, moderne, disziplinierte und Abenteuer suchende Avantgarde auf der Wahrnehmung, sich als eine herausgeforderte Generation und als Anhänger eines ver-meintlich moralisch höherwertigen Lebensstils markant von früheren Generationen ab-zuheben. Zweitens nährte eine Agitation in diesen Bereichen die Erkenntnis, einen neuen ganzheitlichen Politikstil prägen zu können. Als politische Bewegungen zielten sie darauf, die öffentlichen und privaten Sphären ihrer Gesellschaft zu erreichen und zu durchdrin-gen. In diesen wollten sie ein neues Gesellschaftsverständnis erzeugen und manifestieren. Schon hier vollzog sich in allen drei Kontexten ein Bedeutungswandel des reklamierten Jugendbegriffs, der sich in der konkreten Politik oft in sein Gegenteil verkehren sollte. Drittens zeigen sich trotz der deutlichen Unterschiede der Ausgangslage in ihrer Ideologie und Agitation bemerkenswerte Parallelen: In den Schlüsselbereichen Jugend und Freizeit strebten in allen drei Kontexten faschistische Akteure eine Vereinnahmung von Gesellig-keit an und dehnten diese weit in den Bereich des individuell Privaten aus. Sie postulier-ten, eine höhere Zivilisationsstufe anzustreben und Sinnhaftigkeit in den vermeintlich banalen Alltag zu bringen.

Die Analyse folgt diesen Leitfragen: Welche Faktoren begünstigten und bedingten jeweils die Genese, Ausbreitung und Akzeptanz faschistischer Vergesellschaftung? Mit welchen poli-tischen Konzepten, Maßnahmen und Kommunikationsprozessen suchten die faschistischen Bewegungen über eine jugend- und freizeitbezogene Agitation eine Veränderung des Gesell-schaftsverständnisses und der sozialen Interaktion zu erwirken? Wie weit gingen die Gemein-samkeiten in den Zielsetzungen und wo zeigen sich Unterschiede? Wie sind diese zu bewerten? Wie kommunizierten faschistische Akteure in den drei Kontexten gesellschaftspolitische Ziel-setzungen? Welchen Stellenwert hatte die rhetorische und inszenatorische Dimension dieser Kommunikation?

Die Gesellschaftsvorstellungen der faschistischen Bewegungen waren radikal, aber kohärent und widerspruchsfrei waren sie nicht. Mit egozentrischer Anmaßung nahmen sich ihre Reprä-sentanten als eine junge Elite wahr, deren Recht und Pflicht es sei, die aus ihrer Sicht vom rech-ten Weg abgekommene Gesellschaft anti-demokratisch zu reformieren und zu reorganisieren. Dieses mit dem Generationsbegriff operierende Sendungsbewusstsein trugen sie sowohl of-fensiv und offensichtlich als auch unterschwellig und subversiv in Bereiche gesellschaftlicher Interaktion, die einen Trend zur Individualisierung und Demokratisierung zeigten und zu-gleich politisch umkämpft waren.

Die Apotheose der Jugend ähnelte sich in allen drei Kontexten: Die Jugend verteidige die Zu-kunft gegen die Geschichte und die Gegenwart. Dies lässt sich, vorab der Analyse, plakativ an einer Gegenüberstellung pathetischer Parolen des italienischen Faschistenführers Benito Mus-solini sowie eines sich an die italienischen Emigranten in Großbritannien richtenden Autoren namens Mario Giustiniani und des britischen Faschistenführers Sir Oswald Mosley illustrie-ren. Die Parole, die Mussolini 1921 ausgegeben hatte, erfasste kurz darauf die Fasci all’Estero und fand elf Jahre später Eingang in die Rhetorik der BUF:

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Ein kurzer Rückblick: In Italien formierten sich die Fasci di Combattimento 1919 als eine poli-tische Sammlungsbewegung, die eine gesellschaftlich weit verbreitete, erhitzte, vielschichtige bis diffuse Krisenwahrnehmung, einen chauvinistischen Nationalismus sowie enttäuschte Er-wartungen an den Nationalstaat, den Kriegsausgang und die Anerkennung italienischer ter-ritorialer Interessen in Militanz überführte und eine faschistische Revolution ausrief. Unter Führung des früheren Sozialisten Benito Mussolini setzte die Bewegung mit squadristischer Gewalt, mit gezielten Allianzen, mit Übergriffen auf das politische System und die Gesell-schaft sowie mit der Androhung eines Umsturzes durch einen ‚Marsch auf Rom‘ binnen we-niger Jahre eine Regierungsbeteiligung durch. Sie höhlte sodann das demokratische System aus und errichtete ein diktatorisches Regime. Ihre korporatistische, nationalistische und an kultischen Elementen zunehmende Ideologie und Programmatik trug sie mithilfe eines wach-senden Netzes an Massenorganisationen in die Bevölkerung, in der sie Zustimmung zu gene-rieren suchte, während sie ihre Repression vorantrieb. Inmitten kontinuierlicher Spannungen zwischen Partei, Diplomatie, Ministerien, Massenorganisationen und Propagandaeinrichtun-gen sowie interner ideologischer Auseinandersetzungen gewannen die Auslandspropaganda und Debatten um eine Internationalisierung des Faschismus an Gewicht.

Der italienische Faschismus hatte frühzeitig eine exterritoriale Dimension, da Angehörige der Bewegung ihn in die italienischen Auswanderergemeinden trugen und ihn dort zu imple-mentieren suchten. Sie knüpften an Identitätskonflikte an, diskreditierten die Integration und den transnationalen Lebensstil der Emigrierten. Sie versprachen ihnen eine politische und so-ziale Aufwertung, Interessenvertretung durch die faschistische Partei und das Regime sowohl in Italien als auch in den host countries sowie eine vermeintlich bessere Zukunftsperspektive durch langfristige Remigration. In Großbritannien entstanden so seit 1921 Zellen der italieni-schen faschistischen Partei, die gezielt Institutionen und Strukturen der italienischen Gemein-den unterwanderten und um Anhänger und Zustimmung warben. Sie stellten in räumlicher Hinsicht eine lokale Schnittstelle zwischen italienischem und britischem Faschismus dar. Ihre Adressaten bewegten sich in beiden Gesellschaften und Kulturen.

Die British Union of Fascists formierte sich 1932 unter Führung Oswald Mosleys, eines aris-tokratischen, politisch durch Intermezzi in der Conservative Party , der Labour Party und einer gescheiterten eigenen Partei erfahrenen Mittdreißigers, der sich als Repräsentant der Kriegs-generation und als Kämpfer gegen eine wirtschaftliche und politische Krise wähnte. Den Nie-dergang, den er und Gleichgesinnte in der BUF prophezeiten, könne nur eine korporatistische Transformation des politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Systems aufhalten; der Corporate State bilde dann die Grundlage eines Greater Britain . Die BUF behauptete auf nationaler und internationaler Bühne, einen genuin britischen Faschismus zu vertreten.

In den acht Jahren von der Parteigründung bis zur Auflösung durch das Parteiverbot und die Internierung vieler Mitglieder im Mai 1940 unterhielt die BUF rege Kontakte zu den italie-nischen Faschisten, den deutschen Nationalsozialisten und Vertretern kleinerer faschistischer Bewegungen. Insbesondere in den ersten vier Jahren stand sie in einem paradoxen Austausch mit dem italienischen Regime, denn sie war einerseits bemüht, die Ausmaße dieser Verbin-dungen klandestin zu halten, und andererseits darauf bedacht, sie als Zeichen ihres interna-tionalen Einflusses öffentlichkeitswirksam zu nutzen. Im Gegenzug zu den hohen finanziel-len Zuwendungen, die sie aus Italien erhielt, war sie propagandistisch für Mussolinis Regime aktiv. Ausgeglichen war dieses Verhältnis nicht, und die Kontakte verliefen alles andere als störungsfrei. Obwohl die BUF der abhängige Partner in dieser Allianz war, wusste sie das Be-ziehungsgefüge zu ihren Gunsten zu lenken. Der Faktor Zeit, der in innenpolitischer Hinsicht gegen sie spielte, da sie mit ihrer Krisenrhetorik weder in von ihr gewünschtem Maße einen Nerv treffen noch sich als singulär und originell positionieren konnte, spielte im Hinblick auf ihre internationalen Kontakte deutlich für sie: Ihre Gründung erfolgte in einer Phase des Fa-schismus in Europa, in der Ideen einer Internationale faschistischer Bewegungen an Einfluss gewannen.

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Die BUF und die Fasci all’Estero trennten oft nur wenige hundert Meter. Sie nutzten, wie die Analyse zeigen wird, sogar dieselben öffentlichen und repräsentativen Räume und setzten auf ähnliche inszenatorische Techniken zu deren Vereinnahmung. Und doch waren sie in ver-schiedenen, zum Teil antagonistischen Welten unterwegs, zwischen denen einzelne Vertreter beider Bewegungen eine formelle faschistische Freundschaft zu inszenieren und sich Möglich-keiten zielgerichteter Kooperation offen zu halten suchten.

Die italienische und die britische faschistische Bewegung beschrieben sich selbst als modern, innovativ, mit der Kultur und den Gesellschaftsvorstellungen liberaler Systeme brechend. Sie postulierten zugleich eine nationale Regeneration durch Wiederbelebung vermeintlich tradi-tioneller Werte und behaupteten eine in der nationalen Geschichte wurzelnde Prädestination. Sie betonten beide ein Anrecht der Jugend auf Übernahme politischer Verantwortung, erklär-ten sich zum einzig legitimen Repräsentanten und beriefen sich auf eine angeblich höhere Mo-ralität ihrer Generation. Beide propagierten die Notwendigkeit einer radikalen Transforma-tion der Gesellschaft, des Staates und der Staatsbürgerschaft. Sie negierten Grenzen zwischen Öffentlichem und Privatem, geißelten Selbstbestimmung als Individualismus und Egoismus. Darüber hinaus entwarfen sie inszenatorisch aufwendig einen Kult der Gemeinschaft, des Es- prit de Corps , der Fitness und der Indienstnahme von Freizeit und Kultur im Interesse der Na-tion. Der politische, wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Hintergrund, vor dem sie dies taten, divergierte ebenso deutlich wie ihre Größe, Autorität, Macht- und Einflussbereiche.

Jugend und Freizeit waren vielbeachtete Trendthemen der Zeit; in ihnen offenbarten sich zahlreiche Umbrüche mit gesamtgesellschaftlicher Bedeutung. An diesen Sujets vollzogen sich seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert gesellschaftliche, politische und kulturelle Aus-handlungen über Individualisierung, Partizipation und Repräsentation. Zusätzliche Brisanz verlieh den Diskursen die von Gustave Le Bon begründete Massenpsychologie, die seit dem Erscheinen seines Werks 1895 in weiten Teilen der Gesellschaften Besorgnis und ein tiefes Unbehagen auslöste, aber auch eine Faszination für die Wirkmächtigkeit, Emotionalität und Beeinflussbarkeit der Masse entfaltete.5 Seit der Jahrhundertwende hatte Jugend als Topos in Gesellschaft, Kultur und Politik eine regelrechte Inflation erlebt: Die Wahrnehmung von Kindheit und Jugend als distinkte Lebensphasen mit eigenen An- und Herausforderungen, die zuvor philosophische und pädagogische Diskurse, die Künste und die Literatur beein-flusst hatte, erreichte nun ein breites Publikum, inspirierte sowohl die sozialreformerische und politische Beschäftigung mit Kindheitserfahrungen als auch einen entstehenden Mas-senmarkt. Konsumartikel, Freizeitangebote für Kinder und Jugendliche und Jugendorgani-sationen sprossen wie Pilze aus dem Boden. Adoleszenz wurde zu einem viel debattierten Modethema, auf das jenes der Generation und des Generationenkonfliktes folgen sollte. Zu-gleich entstanden vor allem in urbanen Kontexten Jugendkulturen als Subkulturen, die in Debatten um Befürchtungen vor einer um sich greifenden Jugenddelinquenz oder jugendli-chem Extremismus als Menetekel gedeutet wurden. Jugendgruppen und Jugendbewegungen traten mit einem neuen Selbstbewusstsein im öffentlichen Raum auf und erhielten verstärkte Aufmerksamkeit.

Ein ebenso prominentes Trendthema in den unterschiedlich weitgehend industrialisierten Ländern Europas war Freizeit. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erfassten der durch die Arbeiterbewegung, sozialpolitische Errungenschaften und paternalistische Maßnahmen er-reichte Zugewinn an arbeitsfreier Zeit und die zunehmende Wertschätzung von Freizeit als Teil einer Alltagskultur auch die unteren sozialen Schichten. Während das Freizeitverhalten der Masse ein viel debattiertes Thema blieb, das vor dem Hintergrund umfassenderer Krisen-wahrnehmungen immer wieder an Dynamik gewann, entwickelten sich hier neue Kulturfor-men und Konsuminteressen. Neben bildungsorientierten Angeboten boomten sport- und un-terhaltungsbezogene und sie mündeten in einer Freizeitindustrie und in einer Populärkultur, die vor allem die wachsenden Metropolen zum Sinnbild der Moderne und des Erlebnisses be-förderte. In politischen Debatten diente die Freizeit zur selben Zeit als Signum optimistischer wie pessimistischer Deutungen der Gesellschaft und entsprechender Zukunftserwartungen. An den Themenbereichen Jugend und Freizeit schien sich vielen Zeitgenossen der Stand der Zivilisation abzuzeichnen, denn einerseits kulminierten hier viele tieferliegende Konflikte und andererseits deuteten sich hier weiterreichende soziale Veränderungen an. Politische Forderungen und Weltanschauungen drangen in den Bereich der Freizeit ein und suchten ihn zu vereinnahmen.

Beide Entwicklungen spielten für die Konstituierung der faschistischen Bewegungen eine erhebliche Rolle: In ihrem Selbstverständnis spiegelten sich die Aufwertung und die Politisie-rung des Jugend- und des Generationenbegriffs, die sie zu monopolisieren versuchten, sowie die Popularisierung und Politisierung des Freizeitbegriffs, traten sie doch mit dem Postulat an, alle Lebensbereiche des Staatsbürgers erfassen, ihnen Sinn und Bedeutung verleihen und sie in den Staat integrieren zu wollen.

In seiner 1910 erschienenen Soziologie der Geselligkeit fasst Georg Simmel Gesellschaft als „eine Realität in doppeltem Sinne“6:

Simmel beschreibt diese Interessen als Initiatoren der vielen Formen sozialen Lebens. Eine Form ziehe sich aus der sie umgebenden Wirklichkeit heraus und lasse, wie Kunst und Spiel, die Wirk-lichkeit hinter sich: die Geselligkeit.8 Er geht von einem „ Geselligkeitstriebe der Menschen“9 aus, von einem „Gefühl dafür, von einer Befriedigung daran […], daß man eben vergesellschaftet ist, daß die Einsamkeit des Individuums in ein Zusammen, eine Vereinigung mit anderen aufgehoben ist“10. Die Geselligkeit verhalte sich als „Spielform der Vergesellschaftung“11 zu dieser wie das Kunstwerk zur Realität.12 Sie sei eine gestalterisch freie und sich von den gesellschaftlichen Strukturen zeitwei-lig lösende Vereinigung, in der das gemeinsame Interesse alle externen Faktoren überwiege. Wie Klaus Nathaus in seiner Untersuchung zum britischen und deutschen Vereinswesen aufzeigt, be-schreibt Simmel einen Idealtypus, den sogar Vereine in demokratischen Kontexten nicht erfüllten, da sie eher sozial exklusiv als integrativ agierten.13 Simmels Definition drückt weniger eine Realität aus als eine Erwartungshaltung; sie fußt auf demokratischen, liberalen Gesellschaftsvorstellungen.

Geselligkeit ist ein bescheiden auftretendes Wort, das seine historische Bedeutung als Licht unter den Scheffel stellt. Von der Antike bis zur Moderne war die Geselligkeit ein entscheiden-des Moment des gesellschaftlichen Umgangs, der Aushandlung und Vermittlung moralischer Werte und der Gestaltung von Kultur. Zwei Beispiele seien hier erwähnt: Das antike römi-sche Gastmahl war eine gehobene vergnügliche Zusammenkunft, die, eingebettet in Alltag und private Umgebungen, doch eine große soziale und kulturelle Tragweite, eine öffentliche und politische Dimension hatte. Das Auftreten und die Umgangsformen von Gastgebern und Gästen entschieden über Karrieren und den sozialen Status. Der Hohn und Spott, den ein Fehlverhalten in dieser regulierten, vermeintlich ungezwungenen, lukullischen Idealen fol-genden Runde erntete, lässt sich literarisch etwa den ebenso boshaften wie humoristischen Epigrammen Martials entnehmen.14 Das höfische gesellige Miteinander wurde in Mittelalter und Früher Neuzeit zum Ideal sozialer Interaktion und zum Sinnbild kulturellen Anspruchs. Das 1528 erschienene Libro del Cortegiano von Baldassare Castiglione lässt eine abendliche höfische Runde spielerisch das Ideal des Hofmanns aushandeln, dessen Tugenden wiederum den Anspruch an die gesellschaftliche Interaktion spiegeln.15

Geselligkeit ist semantisch verwandt mit Vergnügen und ein Synonym zu Soziabilität. Der Altbestand großer Bibliotheken verdeutlicht, wie sehr im späten 19. und frühen 20. Jahrhun-dert beide Aspekte miteinander einhergingen: Die sich zu dieser Zeit großer, zunehmend klassenübergreifender Nachfrage erfreuende Literatur über gewünschten gesellschaftlichen Umgang nahm sich dessen spielerischer Erprobung an, während jene zu gemeinschaftlichem Zeitvertreib und Spiel strikte Anforderungen an das Benehmen aller Beteiligten formulierte.

Soziale Exklusivität und ein politischer Anspruch hatten europaweit die Entwicklung von Assoziationen und Vereinen als klassenspezifische Sozialisationsinstanzen und Räume der Vergesellschaftung geprägt und sie taten es im frühen 20. Jahrhundert noch. Klaus Nathaus betont für die frühen britischen Clubs, Gesellschaften und Logen, dass sie ihre Popularität in elitären Kreisen einem wachsenden Bedürfnis nach regulierter Geselligkeit verdankten,16 also nach distinguierter Vergesellschaftung und zugleich Abschottung. Auch Vereinigungen der mittleren Schichten und die entstehenden Arbeitervereine waren klassenspezifisch und klas-senbewusst. Im Kontext der großen gesellschaftlichen Umbrüche seit der Industrialisierung entstand aber international, in divergierenden Tempi, eine neue Kultur der Geselligkeit, die demokratisierenden und liberalisierenden Tendenzen Raum bereitete und dem individuellen Vergnügen Berechtigung attestierte. Die Topoi Jugend und Freizeit waren wichtige Katalysa-toren in dieser Entwicklung einer modernen Vergnügungskultur und eines neuen Verständ-nisses von Soziabilität, aber auch jener Diskurse, deren Spannbreite von hoffnungsvollen Posi-tionen bis zum Fatalismus reichte. Christiane Eisenberg spricht für die deutsche Gesellschaft von einer „Krise der Geselligkeit“17, die zum Modethema avanciert sei und sich in die weiter verbreitete Krisenstimmung des Fin de siècle eingefügt habe.18

In Großbritannien wie in Italien war in erster Linie die Geselligkeit der unteren sozialen Schichten Stein des Anstoßes, galt diese in bürgerlichen Kreisen doch als ungesund, ungesit-tet und gesellschaftsgefährdend. Aber auch die Freizeit der höheren und mittleren sozialen Schichten befand sich in einem spürbaren Umbruch, der polarisierte. Nationale und inter-nationale Entwicklungen, innergesellschaftliche Debatten um Staatsbürgerschaft und Parti-zipation sowie um Autorität, Moral und Sittlichkeit wirkten ebenso in die Freizeit hinein wie militaristische, bellizistische und imperialistische Tendenzen, die Schrecken des Ersten Welt-krieges und seiner Folgen sowie soziale und politische Konflikte. Dies betraf auch die Gesellig-keit als Vergesellschaftung in der Freizeit.

Die faschistischen Bewegungen geißelten mit Vehemenz die demokratisierten, liberalisier-ten und kommerzialisierten Formen der Freizeitgestaltung, insbesondere die sich entwickeln-de Populär- und Konsumkultur, und postulierten doch parallel zu ihrer Ästhetisierung der Politik und der Masse eine Ästhetisierung der Geselligkeit. Sie erhoben Konformität, Forma-tion, Performanz, Inszenierung und Ritualisierung zu positiv besetzten Charakteristika dieser vermeintlich höherwertigen Geselligkeit faschistischer Vergesellschaftung.

Diese Arbeit untersucht faschistische Agitationen in zwei Schlüsselbereichen von Gesell-schaftspolitik und fasst diese als Vereinnahmungsprozesse und Versuche der Durchdringung des Privaten und der sozialen Interaktion. Gesellschaftspolitik bezeichnet grundsätzlich poli-tische Institutionen und Bestrebungen, die Gesellschaft gestalten sollen. Sie bestimmt deren Ordnung und Strukturierung, die Interaktion und Teilhabechancen ihrer Mitglieder und die Rolle des Individuums. In faschistischen Kontexten handelt es sich um Bestrebungen, die den bürgerlich-liberalen Gesellschaftsbegriff ablehnen und ihn aushöhlen, die auf eine autoritäre Transformation der Gesellschaft und auf ein höheres Maß an Fremdbestimmung des Indivi-duums zielen.

1.1 Historischer Vergleich, Asymmetrie und Transfer

Der vorliegende Vergleich ist von einer markanten Asymmetrie der Gegenstände gekenn-zeichnet, die sich als ideologisch verwandt beschrieben und in einer unmittelbaren Beziehung standen. Während der italienische Faschismus nicht nur eine Bewegung und Partei hervor-brachte, sondern ein Regime und eine Diktatur, blieb die British Union of Fascists auf der Stufe als Bewegung und Partei stehen. Die Bedingungen, Gesellschaftspolitik nicht nur zu entwerfen und zu propagieren, sondern auch umzusetzen, waren also sehr unterschiedlich. Bewusst wird in dieser Arbeit eine dritte faschistische Gruppierung einbezogen, die potenziell eine Schnittstelle zwischen den beiden genannten bildete. Wie die Analyse zeigen wird, ist sie aber vielmehr als eine dritte Entität mit eigener Dynamik in der Konstellation zu werten: Die Auslandsparteizellen des italienischen Faschismus in Großbritannien, die Fasci all’Este- ro , hatten wieder andere Handlungsoptionen und Grenzen. Ihre politischen Vorhaben trugen sie exterritorial in einer fremden Gesellschaft in eine soziale Gruppe, deren Angehörige sie ausschließlich als italienische Staatsbürger betrachteten, die sie politisch für den Faschismus

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einzunehmen suchten und auf die sie einen Herrschaftsanspruch erhoben; eine Minorität, die zugleich Teil der Mehrheitsgesellschaft war und an dieser teilhaben, aber in ihr auch auf so-ziale Barrieren stoßen konnte. Der italienische und der britische Faschismus sind vorrangig in Gesamtdarstellungen und Synopsen zum Faschismus der Zwischenkriegszeit als Varianten einer generischen, korporatistischen Ideologie aufeinander bezogen worden. Andere Arbeiten haben sich auf Kontakte und Kooperationen zwischen Vertretern beider Bewegungen kon-zentriert. So beleuchtet Claudia Baldoli in ihren Arbeiten Verbindungen zwischen den Fasci all’Estero in Großbritannien und der British Union of Fascists und deren Propagandatätigkeit für das italienische Regime.19

Diese Dissertation verfolgt einen anderen Ansatz und ein weitergehendes Forschungsinte-resse, da sie jenseits der bereits erforschten Verbindungslinien und der grundlegenden ideo-logischen Ähnlichkeiten gezielt auf der konkreten Ebene gesellschaftspolitischer Agitation zu Jugend und Freizeit in allen drei Kontexten nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden, vor allem aber nach der inneren Logik und jeweiligen Dynamik fragt. Ihr Interesse gilt also dem Ausmaß der Affinitäten in zwei wichtigen gesellschaftlichen Bereichen, in denen die faschis-tischen Akteure einerseits weitgehend sanktionslos agitieren konnten, in denen aber anderer-seits die machtpolitische Asymmetrie und der jeweilige kulturelle und soziale Kontext ihre Handlungsoptionen nachdrücklich beeinflussten. Der Fokus liegt sodann auf den Fragen: Welche Parallelen und Überschneidungen zeigten sich in den Agitationen? Beförderten diese eine Kooperation? Welche Auswirkungen hatten sich hier manifestierende Unterschiede auf das Verhältnis der Bewegungen? Die Arbeit nimmt methodisch eine detaillierte quellenbasier-te komparative Untersuchung vor, die von einer transfergeschichtlichen Analyse ergänzt wird.

Hartmut Kaelble definiert den historischen Vergleich als „die explizite und systematische Gegenüberstellung von zwei oder mehreren historischen Gesellschaften, um Gemeinsamkei-ten und Unterschiede sowie Prozesse der Annäherung und Auseinanderentwicklung zu erfor-schen.“20 Der historische Vergleich ist keine Gleichsetzung, sondern eine Gegenüberstellung. Gegen ihn wird bisweilen angeführt, dass er gleichsetze, wenn eigentlich zu differenzieren sei. Das, was den historischen Vergleich in Misskredit gebracht hat, ist eine missverständliche oder sogar missbräuchliche Anwendung, die durch Gleichsetzung zu relativieren und zu recht-fertigen scheint. Eine vorsätzliche Funktionalisierung des Vergleichs verkehrt sein eigentli-ches Anliegen, durch Tiefgang in der Analyse mehr über Vorgänge, deren Ursachen und deren Konsequenzen zu erfahren, ins Gegenteil. Tatsächlich ist der historische Vergleich ein heuris-tisches Mittel, das dazu dient, ähnliche oder kontrastierende Entwicklungen zu identifizieren und sie einer Analyse zu öffnen, in den Vergleichseinheiten Weniger-Sichtbares zu erkennen und den Kontext zu erschließen.

Wie Kaelble betont, lassen sich zwei Erkenntnisinteressen unterscheiden:

Im Fall der hier gewählten asymmetrischen Anordnung rangiert die Frage nach der inneren Logik vor jener der Erklärung, da sie unabhängiger von dem Unterschied ‚Regime versus Be-wegung‘ analysiert werden kann. Um eine Erklärung nach Reinform zu liefern, müsste ein Gesellschaftsvergleich vorgenommen werden; doch die BUF bildete nur einen Ausschnitt der britischen Gesellschaft ab und die in britischen Städten gegründeten Fasci all’Estero bewegten sich in einer Schnittmenge beider Gesellschaften, der italienischen und der britischen. Den-noch wird durch die Kontextualisierung mit internationalen Trends und Entwicklungen sowie durch die Transferanalyse auch eine Erklärung angestrebt.

Der Begriff des asymmetrischen Vergleichs bezeichnet in der Geschichtswissenschaft mit-unter eine Methode zur Kontrastierung, die eine Einheit stark verkürzt als Folie nutzt und nur die andere im Detail untersucht. Ihr Ziel ist es, einen unbekannteren Gegenstand durch Akzentuierung von Konvergenzen oder Divergenzen zu einem weithin bekannten einzuord-nen. Das ist nicht unproblematisch, da das als Folie Verwendete vorschnell zu einem Muster oder einer Schablone erhoben wird und so die Analyse steuert.22 Bedenklich ist auch, dass die eigene Komplexität und die inneren Widersprüche des vermeintlichen Musters aus dem Blick verschwinden. In dieser Arbeit bezeichnet der Begriff der Asymmetrie dagegen nicht die Vorgehensweise der Gegenüberstellung, sondern deren Objekte: Die Asymmetrie liegt in elementaren Unterschieden der Gegenstände, nämlich der Größe, Macht, Einfluss- und Hand-lungsmöglichkeiten der faschistischen Bewegungen. Die Analyse bemüht sich um eine aus-gewogene Gegenüberstellung. Sie erklärt den italienischen Fall nicht verkürzend zum Muster, sondern analysiert ihn mit dem gleichen Interesse wie die BUF und die Fasci all’Estero , vor dem Hintergrund derselben Fragen und Hypothesen auf der Basis vieler Quellen. Die diver-gierende Quellenlage, die mit der Asymmetrie korreliert, hat es allerdings notwendig gemacht, die Quellenauswahl für die Analysen zum italienischen Faschismus stärker einzugrenzen, als es für die British Union of Fascists oder die Fasci all’Estero der Fall ist.

Wenn der Vergleich dazu dient, teilweise ähnliche Phänomene gegenüberzustellen, sie ge-trennt zu analysieren und dabei nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu forschen, dann ist eine Symmetrie der Vergleichseinheiten zwar vorteilhaft, weil sie es ermöglicht, die Gegen-stände stärker miteinander abzugleichen; notwendig ist die Symmetrie allerdings nicht, sofern sich die Gegenüberstellung ihrer Einschränkungen bewusst ist und die Asymmetrie nicht ig-noriert, sondern sie als Charakteristikum behandelt.

In der Komparatistik setzt sich der historische Vergleich von Ansätzen anderer komparati-ver Disziplinen ab, weil er empirie- und quellenabhängiger operiert. Vergleichende Ansätze in den Sozial- und Politikwissenschaften bedienen sich in ihrem Grundmodell zumeist eng ab-gesteckter Vergleichskriterien. Sie gehen vorrangig deduktiv vor.23 Die Geschichtswissenschaft ist hingegen auf induktive Verfahren angelegt. Ein Muster oder Raster der Gegenüberstellung vor der komparativen Analyse anzulegen, ist damit problematischer. Beim historischen Ver-gleich entscheidet die empirische Arbeit über die Validität der theoretischen Vorgaben und verlangt nach deren kontinuierlicher Überprüfung.24 Auch der historische Vergleich folgt Er-kenntnisinteressen und Fragestellungen und entwirft Hypothesen, in der Analyse muss er sich aber stärker auf die Quellen einlassen und ihnen unvoreingenommener begegnen.

Trotz der methodologischen Unterschiede ist eine Entlehnung aus den vergleichenden Sozi-alwissenschaften ein guter Impuls für diese asymmetrische Untersuchung: das Most Different Systems Design (MDSD), also die Gegenüberstellung unterschiedlichster Systeme mit einer zentralen Gemeinsamkeit. Wie Carsten Anckar erläutert, liegt die Strategie des MDSD dar-in, Forschungsgegenstände auszuwählen, die – jenseits der den Ausgangspunkt des Interesses bildenden Gemeinsamkeit – als Systeme so verschieden wie möglich sind: „The basic logic is that differences cannot explain similarities […] The task of the researcher is to test and attempt to confirm one particular finding within a wider variety of systems.“25 Problematisch an dem Forschungsdesign ist, dass es nur schematisch vorgehen kann und gezielter Verkürzungen be-darf.26 Diese Vorgehensweise wird hier nicht adaptiert, sondern lediglich als Anreiz gesehen, sich der Grundannahme eines lohnenden Vergleichs trotz markanter systemischer Unter-schiede zu öffnen. Die Asymmetrie bietet eine Chance, faschistische jugend- und freizeitbezo-gene Agitation in drei sehr unterschiedlichen Kontexten zu untersuchen, ähnliche Strategien, Maßnahmen, Hürden und Grenzen der politischen Vereinnahmung vor dem Hintergrund ab-weichender Umstände zu erfassen.27

Der historische Vergleich ist eine Herausforderung, denn er erhöht den Arbeitsaufwand, insbesondere wenn er nicht verkürzend nur einen Gegenstand vor der Skizze eines anderen untersucht, sondern beide ausgewogen gegenüberstellen will. In der Konsequenz vervielfacht sich die Menge der Quellen, der Forschungsliteratur und der thematischen wie theoretisch-methodischen Anbindungen. Er lohnt aber die Mühe, denn die Gegenüberstellung mit ihren Fragen und Hypothesen und ihre Anwendung in der Quellenarbeit veranlassen zu Genauig-keit und Tiefenanalyse. Das Erkenntnisinteresse wird kontinuierlich geschärft, da die Entde-ckung von Auffälligkeiten oder vermeintlichen Besonderheiten einer Einheit danach verlangt, die anderen auf mögliche Analogien zu prüfen oder den Unterschieden und deren Ursachen nachzuspüren. Insofern bereichern und befruchten sich die Analysen der einzelnen Phänome-ne immer wieder gegenseitig.

Transfer- und verflechtungsgeschichtliche Ansätze sind asymmetrischen Konstellationen gegenüber aufgeschlossener als der klassische historische Vergleich. Sie untersuchen oft Be-ziehungen mit divergierenden Spielräumen. Besonders Studien zu Zentrum-Peripherie-Bezie-hungen, die postcolonial studies oder die global history stellen dabei eurozentristische Blick-richtungen sowie traditionelle Vorstellungen eines einseitigen, dem Machtgefälle folgenden Einflusses in Frage und zeigen wechselseitige Transferprozesse auf. Die Verflechtungsge-schichte und die histoire croisée gehen von einer starken Verzahnung zweier Gesellschaften aus, die sie oft im Sinne der longue durée untersuchen.28

Die Beziehungen, die hier im Fokus stehen, sind allerdings keine langfristigen Verflechtun-gen, sondern zielgerichtete Verbindungen zwischen einzelnen Akteursgruppen. Sie lassen sich daher eher unter einem erweiterten Transferbegriff fassen, wie er in jüngeren Theoriedebatten Zuspruch gefunden hat. Der ursprünglich begrenzte, konkrete Transferbegriff hat sich dabei geöffnet und weichere Formen wie Interaktionen oder einen kulturellen Austausch jenseits klar nachverfolgbarer, einzelner Transfer- oder Adaptionsleistungen als seinen Gegenstand anerkannt.29 Diese Untersuchung kombiniert den historischen Vergleich mit einer entspre-chenden transfergeschichtlichen Analyse. Letztere bereichert mit ihren Erkenntnisinteressen den historischen Vergleich, weil sie – anders als dieser – nicht von getrennten Phänomenen ausgeht, die sich individuell so entwickelt haben, dass sie Ähnlichkeiten aufweisen, sondern a priori eine Beziehungsebene annimmt und diese zum Kern ihres Interesses macht. Sie schenkt Einflussnahmen, Sach-, Wissens- und Kulturübertragungen, Beziehungen sowie wechselsei-tigen Wahrnehmungen Aufmerksamkeit, die der Vergleich ausblenden muss. Historischer Vergleich und transfergeschichtlicher Ansatz ergänzen sich in idealer Weise, wenn ihre Frage-stellungen und analytischen Dimensionen klar zugewiesen sind.

Die transnationale Geschichte löst ihre Gegenstände aus den durch die Nationalstaatsgren-zen gesetzten Räumen und nimmt sie bewusst als vom Nationenbegriff unberührt an oder lehnt diesen als historiografische Kategorie ab, wenngleich sie ihn begrifflich stets mitführt. In methodischer Hinsicht ist der Begriff der transnationalen Geschichte allerdings vage. Er subsummiert neben internationalen, regional fokussierten Arbeiten mit geringer Trennschär-fe vergleichende oder transfer- oder beziehungsgeschichtliche Ansätze.30 In der vorliegenden Untersuchung ist Transnationalität ein Merkmal des Verhältnisses und der Interaktion von italienischem und britischem Faschismus. Ebenso kennzeichnet sie den Lebensstil der italieni-schen Emigrantinnen und Emigranten, die zum Adressatenkreis des italienischen Faschismus zählten, und derjenigen Faschistinnen und Faschisten (aus beiden Bewegungen), die sich einer exterritorialen Agitation verschrieben. Sie ist auf mehreren Ebenen manifest. Für die Unter-suchung wäre der Begriff als Definiens des Untersuchungsdesigns aber irreführend, da die Na-tion für die faschistischen Bewegungen gerade die zentrale Größe darstellte. Sie proklamierten jeweils einen dezidiert nationalen Faschismus, so dass die Verortung in der eigenen Nation letztlich ihre Vorstellungen von faschistischer Internationalität dominierte.

In dieser Arbeit erfolgt die Analyse der Vergleichseinheiten im Hauptteil zumeist getrennt voneinander, weil sie so genug Raum hat, um komplexe Prozesse detailliert zu beleuchten. Die faschistischen Bewegungen bzw. deren jugend- und freizeitbezogene Agitation als gänzlich isolierte Einheiten zu betrachten, würde aber ihre historischen Verbindungen verfälschen und wäre letztlich kein Vergleich, sondern eine Zusammenstellung dreier Geschichten. Vergleich und Transferanalyse gehen hier sachte ineinander über, wenn Parallelen, Unterschiede und direkte Transfers und Adaptionen innerhalb der Einzelanalysen oder vorab der größere, für alle Einheiten wichtige Kontext und die ähnlichen gesellschaftlichen, kulturellen und ideolo-gischen Wurzeln aufgezeigt und erläutert werden. Ergänzend widmet sich Kapitel 5 gezielt den Beziehungen zwischen italienischen und britischen Faschisten und erläutert ihre Komplexität und Dynamik.

Als ein wichtiger Faktor des historischen Vergleichs ist die zeitliche Relation zwischen den Vergleichseinheiten zu bedenken: Handelt es sich um einen synchronen oder diachronen Vergleich? Untersucht er Ereignisse, Strukturen oder Entwicklungen, die zeitgleich in unter-schiedlichen Regionen erfolgen, oder solche, zwischen denen eine zeitliche Differenz besteht?31Zu fragen ist, welcher Maßstab angelegt wird, denn im vorliegenden Fall liegt einerseits eine zeitliche Differenz hinsichtlich der Entstehung der Bewegungen vor, andererseits entwickel-ten sich diese dann aber parallel weiter und standen dabei in Kontakt. Interessant ist, dass die Frage nach Nachahmung oder Gleichzeitigkeit im Verhältnis der italienischen und briti-schen Faschisten schon zeitgenössisch umstritten war. Zwischen der Formierung der Fasci di Combattimento und der British Union of Fascists lagen dreizehn Jahre. Aus historisch-verglei-chender Perspektive ist der Abstand gering. Für ihr Verhältnis spielte er hingegen eine große Rolle. Die Fasci all’Estero in britischen Regionen gründeten sich bereits in den frühen 1920er Jahren. Sie formierten sich damit vor der BUF, allerdings zeitgleich mit Vorläufern wie den British Fascists , die zum Teil in Mosleys Bewegung aufgingen. Die Differenz wird in der Ana-lyse stets berücksichtigt und die Untersuchung vergleicht die Faschismen als Varianten eines Phänomens in zeitlicher Nähe.

1.2 Verortung in Forschung und Theorie

Die Faschismusforschung hat sich nach einer um das Jahr 2000 einsetzenden Phase, in der die kulturgeschichtliche Betrachtung etwas überzogen als Paradigmenwechsel postuliert wor-den ist,32 in den letzten Jahren einer Verbindung von kultur-, politik- und alltagsgeschicht-lichen Ansätzen oder derer mit der transnationalen Geschichte geöffnet; thematisch sind so insbesondere Aspekte des Alltagslebens in faschistischen Diktaturen sowie mediale und per-formative Inszenierungen, der Führerkult, Audienzen und Staatsbesuche beleuchtet worden.33Der detaillierte vergleichende Ansatz, der über eine Untersuchung des Faschismus als inter-nationales europäisches Phänomen und über Kompilation und Kontrastierung national-fo-kussierter Einzelstudien in Sammelbänden hinausgeht, hat seit den 2000er Jahren vor allem komparative Untersuchungen zum faschistischen Italien und zum nationalsozialistischen Deutschland angestoßen,34 aber auch erste vergleichende Untersuchungen, die die Asymme-trie ihrer Gegenstände durch eine Fokussierung auf die Ideologie ausklammern konnten, die also einen ideengeschichtlichen Ansatz gewählt haben.35 Jüngere transnationale Arbeiten ha-ben das Themengebiet erweitert, indem sie außereuropäische Regime einbezogen oder Trans-fers, Beziehungsgeflechte, Kooperationen zwischen kleineren europäischen faschistischen Be-wegungen, Regimen und Bewegungen oder zwischen einzelnen Akteuren beleuchtet haben.36

Diese Arbeit ist eine sozialgeschichtliche Untersuchung, die sich Aspekten der Kultur- und Politikgeschichte öffnet. Sie folgt neueren Arbeiten zur Sozialgeschichte, die einen größeren Blickwinkel gewählt haben, als es für die Disziplin grundlegende Werke seit den 1960er Jahren getan haben. Die Sozialgeschichte hatte sich damals gegen geschichtswissenschaftliche Tradi-tionen positioniert und den Fokus auf soziale Formationen wie Stände, Klassen oder Schich-ten und auf deren Lebensbedingungen und Lebensstile gelegt. Sie nahm gesellschaftsprägende Prozesse und Strukturen in den Blick, soziale Beziehungen und Institutionen, und rückte die von anderen Teildisziplinen lange ausgeblendeten unteren Schichten und die Soziale Frage in den Mittelpunkt.

Hartmut Kaelble spricht sich in seiner Sozialgeschichte Europas seit 1945 für eine Erwei-terung des sozialgeschichtlichen Feldes aus: Nicht nur Konstellationen, Zwänge und Bedin-gungen gelte es zu berücksichtigen, sondern ebenso Handlungsspielräume, Akteure und Ent-scheidungen. Die neuere sozialgeschichtliche Forschung solle gesellschaftliche Lebenslagen und Lebensführungen, die Vielfalt sozialer Ungleichheiten und Hierarchien und Beziehungen, Verflechtungen und Gegensätze zwischen Gesellschaft und Staat einbeziehen.37 Die Trennli-nien zu anderen Teildisziplinen sind für die neuere sozialhistorische Forschung also weniger streng definiert; diese ist durch die von Kritik begleitete Öffnung zu Kultur-, Alltags- und Politikgeschichte bereichert worden.38 Die dem erweiterten Verständnis folgenden Arbeiten sind weniger ursprünglichen Genregrenzen verhaftet, dafür kontextbezogener, facettenreicher und anschaulicher.

Ein entsprechendes erweitertes Interesse der Sozialgeschichte ist in dieser Arbeit forschungs-leitend. Sie untersucht Politisierungs- und Vereinnahmungsprozesse, die auf Formen der Ge-selligkeit einwirkten, und die immanenten gesellschaftspolitischen Vorstellungen faschisti-scher Bewegungen aus einem sozialhistorischen Blickwinkel.

Italienische und britische Faschisten versuchten, die Gesellschaft mit einer Politik zu durch-dringen und zu verändern, die stark mit Kulturbegriffen operierte und sich als Ausdruck einer dezidiert neuen Kultur verstand. Faschistische Gesellschaftspolitik ist in einem hohen Maß zugleich Kulturpolitik, da sie eine neue Gesellschaft aus der eigenen hervorbringen will und dazu Rituale, Symbole, Bilder, Mythen und kulturelle wie sprachliche Codes nutzt.

Die Untersuchung nimmt Impulse aus der ‚Kulturgeschichte der Politik‘, den ‚ cultural turns ‘ sowie der ‚symbolischen Politik‘ auf. Der Ansatz einer Kulturgeschichte der Politik ist in den frühen 2000er Jahren aus geschichtswissenschaftlichen Debatten um eine Neue Kul-turgeschichte und eine Neue Politikgeschichte hervorgegangen, die, angeregt durch kritische Betrachtungen aus der Sozial- und Politikgeschichte, eine konzeptionelle Erweiterung der Kulturgeschichte diskutierten. Dabei schwang die Frage nach Interdisziplinarität oder Trenn-schärfe in historischer Forschung als Kontroverse mit.39 Grundlegend für eine thematische Öffnung waren die Fragen: Welche Relevanz nimmt Politik in der Kulturgeschichte ein? Kann und soll sich diese mit Politik befassen? Kann Politik mit den spezifischen Erkenntnisinteres-sen einer kulturgeschichtlichen Forschung gewinnbringend untersucht werden?

Die Kulturgeschichte der Politik unterzieht Aspekte des Politischen einer kulturgeschicht-lichen Betrachtung. Ihr liegt ein weitgefasster Kulturbegriff zugrunde, der Kultur als ein ver-änderliches soziales Konstrukt betrachtet, aus dem durch Interaktion Institutionen, Artefakte und Codes hervorgehen.40 Faktisch überschneidet sich der Forschungsansatz mit älteren ge-schichts-, kultur- und politikwissenschaftlichen oder interdisziplinären Ansätzen wie denen der symbolischen Politik und der cultural turns .41 Mit dem Terminus ‚Kulturgeschichte der Politik‘ ist kein Paradigmenwechsel bezeichnet, sondern eine Methode, deren Ziel es ist,

Dieser Ansatz dekonstruiert Politik in kleine Stränge sozialer Interaktion und beleuchtet deren kommunikative, symbolische und inszenatorische Prozesse.43 In der Essenz legt er Forschen-den nahe, Politik als eine auf Kommunikation und Repräsentationen basierende Interaktion zu verstehen, die auf Sinnzuschreibungen und Deutungen angewiesen ist und mit zunehmen-der Komplexität des sozialen Gefüges Repräsentationsformen, Symbole, Rituale und Insze-nierungsmechanismen braucht, um sich zu stabilisieren. Ein Vorzug der Kulturgeschichte der Politik ist, dass sie Perspektiven der Mikro- und der Makrohistorie kombiniert und zwischen diesen vermittelt. Sie kommt damit der Alltagsgeschichte entgegen und integriert deren Er-kenntnisinteressen.44

All dieses ist für diese Arbeit wesentlich, da eine Verzahnung von Politik, Gesellschaft und Kultur, von Ideologien, Programmen und oft kleinschrittigen, in Alltagssituationen Raum greifenden Umsetzungen in allen drei Kontexten das konstitutive Merkmal faschistischer Jugend- und Freizeitpolitik ist. Im Forschungsobjekt angelegt ist daher auch eine ideenge-schichtliche Dimension, da hier die Verbindung von Ideologie, deren sprachlicher und insze-natorischer Vermittlung und sozialen Beziehungen untersucht wird.45

Der Konstruktivismus, die Hermeneutik und der linguistic turn haben dazu angeregt, Spra-che als ein Wirklichkeit konstruierendes Medium aufzufassen, sie auf ihre Funktionsweisen und Intentionen zu prüfen.46 Analog rufen die Kulturgeschichte der Politik, der performative turn und die Forschung zur symbolischen Politik zu einer konstruktivistischen Analyse der symbolischen und performativen Dimension auf.

Der performative turn ist in den Kulturwissenschaften entstanden und dann interdisziplinär geworden. Er rückt das Performative in den Fokus und richtet – um im Bild der performance zu bleiben – das Scheinwerferlicht auf Aufführungs-, Darstellungs- und Inszenierungsaspekte und damit auf ein wichtiges Element sozialer Prozesse.47 In der geschichtswissenschaftlichen Forschung begünstigt er eine Verzahnung mit theater-, kultur-, religions- und politikwissen-schaftlichen Ansätzen; er trägt zu begrifflicher Genauigkeit und zur Sensibilisierung für das Inszenatorische bei.48 Sein Nachteil ist, dass er schnell überstrapaziert wird und in Kasuistik zu münden droht. Um ihn als Paradigmenwechsel zu positionieren, neigen einige Befürworter zu einer Überbewertung der Bedeutung des Performativen und zur Ausblendung des Kontextes. Ähnliches betrifft die Kulturgeschichte der Politik. So lässt sich nur schwerlich eine spezifische Methodik aus ihrem Ansatz ableiten, die keine Analogien zu älteren Ansätzen zeigte. Was die-se methodisch-theoretischen Konzepte hingegen liefern können, sind konstruktive Impulse, die den Blick für die Funktionen des Sprachlichen, Symbolischen und Performativen schärfen.

In dieser Arbeit wird das Performative als wichtiger Bestandteil und als charakteristische Ausdrucksform einer Politik untersucht, die in divergierenden Kontexten über Vereinnah-mungen des scheinbar Unpolitischen auf radikale Veränderungen gesellschaftlicher Interakti-on zielt. Der Schwerpunkt liegt hier folglich nicht auf der symbolischen Repräsentation selbst, also auf Symbolen, Ritualen und dem Zeremoniellen, sondern auf deren Funktionalisierung durch die faschistischen Bewegungen. Das Performative ist hier als die inszenatorische Di-mension der gesellschaftspolitischen Agitation von Interesse.

In den Theater- und Kulturwissenschaften umfasst der Begriff der ‚Inszenierung‘ zunächst all jene Kulturtechniken und Praktiken, die etwas zur Erscheinung bringen sollen, also die Umsetzung und Gestaltung eines Textes in der Aufführung. Als interdisziplinäres Konzept steht er in engem Zusammenhang mit der Annahme einer durch Medien vermittelten Thea-tralität sozialen und politischen Handelns.49 Die Inszenierung wird als „ein ästhetischer bzw. ästhetisierender Vorgang begriffen und ihr Resultat als ästhetische bzw. ästhetisierte Wirklich-keit“50. Unter inszenatorischer Politik werden sowohl politische Strategien und Maßnahmen verstanden, die Inszenierung ermöglichen und durchsetzen, als auch jene, die sie gestalten.

Das frühe 20. Jahrhundert gilt und galt schon in der Wahrnehmung vieler Zeitgenossen als Beginn einer Ästhetisierung der Politik. Die modernen medialen Repräsentationsmöglich-keiten, die Massenmedien, legten das Augenmerk eines stetig wachsenden Publikums und der politischen Akteure auf das Performative. Die visuelle und akustische Wahrnehmung des Handelns und Auftretens sowie die Lenkung dieser Perzeption wurde zum Inhalt breiterer Diskurse. Dabei war allerdings nicht die Erkenntnis über die Effizienz des Performativen und Theatralen neu, sondern die Reichweite, das Ausmaß sowie das zur Verfügung stehende Re-pertoire. Die Verflechtung von Ästhetik und Politik per se gründete auf ganzen Traditionen der Herrschaftsstabilisierung durch Inszenierungen, Rituale und ritualisierte Kommunika-tion in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Wie Lynn Hunt dargelegt hat, waren in der Französischen Revolution Ästhetisierung, Rhetorik, Ritualisierung und Inszenierung zentrale Kommunikationsmittel und ein Anliegen der Revolutionäre, die auf diese Weise eine eigene politische Kultur zu etablieren suchten:

Wie diese Untersuchung zeigen wird, vollzogen die faschistischen Bewegungen unter anderen Vorzeichen ähnliche semantische Aneignungen. Begriffe, die sie in ihren Anfängen politisiert oder für sich beansprucht hatten und die einen gemeinschaftsstiftenden Effekt bewiesen hatten, sollten in ihrer späteren Kommunikation zu Topoi werden. Die Symbolwirkung dieser Schlag-wörter schätzten sie so hoch ein, dass sie diese sogar ohne unmittelbaren Sinnzusammenhang in Publikationen und Reden wirken ließen. Wie sie in jugend- und freizeitbezogenen Kontexten Sprache und Narrativität als Mittel zur Konstruktion sozialer Wirklichkeit einsetzten, wird in der detaillierten Analyse des umfangreichen Quellenkorpus dieser Arbeit aufgezeigt.

Ein wichtiger Aspekt der Jugend- und Freizeitpolitik der faschistischen Bewegungen ist die Ritualisierung. Grundsätzlich bieten Rituale in allen Gesellschaften Orientierung und sie fes-tigen die soziale Ordnung, schaffen nicht nur Stabilität, sondern auch Kontinuität.52 Neben den konkreten politischen Handlungen erfolgten in allen drei untersuchten Fällen auch auf sprachlicher und performativer Ebene zahlreiche Angriffe auf die bestehende Ordnung und deren Rituale als Repräsentationsform. Dies war ein wichtiger Schachzug, der einem histori-schen Muster folgte:

Die Erzeugung und Etablierung von eigenen, als faschistisch wahrgenommenen Ritualen war in allen drei untersuchten Kontexten ein öffentlicher und dadurch ein schwieriger Prozess. Die britischen Faschisten hatten hier die schlechteste Ausgangslage: Der Innovationsgrad musste in der pluralistischen Gesellschaft mit einer expandierenden Populärkultur und einem stei-genden Medienkonsum in allen gesellschaftlichen Schichten hoch sein; durch den Bekannt-heitsgrad der italienischen faschistischen Rituale musste sich die BUF zudem des Vorwurfes erwehren, eine bloße Adaption vorzunehmen. Letztlich war es für sie aber entscheidend, dass die Rituale innerhalb der Bewegung Anerkennung fanden.

Nun sind die Gesellschaftsvorstellungen der italienischen und britischen Faschisten nicht nur von einzelnen Symbolismen und Mythen gekennzeichnet, sondern auch von einem star-ken Rekurrieren auf Visionen. Die Faschismen zeigen eine zunehmende Affinität zu metaphy-sischen, transzendentalen, quasi-religiösen Motiven. Dies ist in der Faschismusforschung vor dem Hintergrund der Frage beleuchtet worden, ob die Faschismen als eine politische Religion gewertet werden können. So haben Emilio Gentile, George L. Mosse und Roger Griffin in ih-ren Untersuchungen die hohe Relevanz und die Wirkungsweisen quasi-religiöser Aufladungen des Politischen, dessen Sakralisierung, seiner Wandlung zu einer civic religion und die zent-rale Bedeutung des Wiederauferstehungsmythos für faschistische Ideologien herausgestellt. Sie interpretieren den Faschismus als eine politische Religion mit eigenen Liturgien, Ritualen und Symbolen oder als kultische politische Ideologie. Was ihn charakterisiere, sei, dass er das Transzendentale Jenseits-fokussierter Religionen oder Kulte in das Diesseits übertrage und als Zukunftsvision anlege.54

Insgesamt ergibt sich die Frage, ob die Rolle der mythischen, transzendentalen Komponen-ten faschistischer Ideologien nicht zu hoch eingeschätzt wird, wenn der Faschismus als eine um diese Ideologie zentrierte politische Religion gewertet wird. Entwickelt sich das Trans-zendentale nicht erst wegen seines Nutzens, konkrete realitätsbezogene ideologische Kompo-nenten wie den Umsturz der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung, Expansionsbestrebungen oder politische Verfolgung zu legitimieren? In Parteipublikationen, Propagandaschriften, Reden und besonders in den von alltäglichen bürokratischen Prozes-sen zeugenden Akten ist ein paradox zur Mystik erscheinender politischer Pragmatismus sehr präsent. Letztlich geht es um die Durchsetzung politischer Anliegen mit klarem Gegenwarts-bezug. Das Rekurrieren auf Zukunftsvisionen und eine behauptete historische Prädestination bilden ein Beiwerk, während die faktische Veränderung der Gesellschaft im Fokus steht.

Jenseits eigener Mythen und historisierender Verortungen waren der italienische und der britische Faschismus, mehr als es ihre Repräsentanten zugaben, in einer Zeit verwurzelt, die sie als bürgerlich-dekadent, als der Nation unwürdig ablehnten. Sie übernahmen Charakteris-tika der nationalen und internationalen literarischen und kulturkritischen Strömungen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts: Dekadenzwahrnehmungen und Zivilisationspessi-mismus, Anleihen aus dem Ästhetizismus, Utopien vom einfachen Leben und eine Idealisie-rung ländlicher Idylle, ebenso aber die für Modernismus und Futurismus typische Betonung von Dynamik, Bewegung und Masse sowie die Technikbegeisterung und moderne Kulturkri-tik. In vielerlei Hinsicht waren sie beeinflusst von der künstlerisch-literarischen Moderne, die sie so vehement geißelten und zu der sie Gegenentwürfe suchten.

1.3 Quellen und Struktur der Arbeit

Diese Arbeit stützt sich auf ebenso umfangreiche wie detaillierte Quellenanalysen. Recher-chiert wurde im italienischen Staatsarchiv in Rom, dem Archivio Centrale dello Stato (ACS), in den National Archives of the United Kingdom (TNA) in Kew, in der Cadbury Research Library der University of Birmingham , die den Nachlass Oswald Mosleys (OMN bzw. OMD) aufbe-wahrt; außerdem in den analogen Zeitungsarchiven und Altbeständen der British Library in London und der Staatsbibliothek zu Berlin sowie in Bibliotheken, digitalen Zeitungsarchiven und Antiquariaten.

Im Archivio Centrale dello Stato (ACS) wurden erstens Akten der in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre im Ministero della Cultura Popolare gebündelten Propagandaabteilungen ein-gesehen und ausgewertet. Das Interesse galt insbesondere solchen Dokumenten, welche die italienische Auslandspropaganda im britischen Raum, die Arbeit der örtlichen Fasci und ihrer affiliierten Kultureinrichtungen oder die British Union of Fascists aus italienischer Perspektive beleuchten. Zweitens standen die Akten der politischen Polizei ( Polizia Politica ) im Fokus, da sie Einblicke in die Reichweite der Fasci all’Estero gewähren sowie in Konflikte, die zwischen den Zentralstellen in Rom und den Fasci all’Estero oder auch vor Ort auftraten. Sie lassen die politische Verfolgung in den italienischen Gemeinden sichtbar werden und bieten zudem Informationen über italienische Spitzel im Umfeld der BUF. Drittens lieferten Akten aus den Beständen der Segreteria Particolare del Duce , Mussolinis Sekretariat, der Briefnachlass Dino Grandis und Verwaltungsakten des Partito Nazionale Fascista Erkenntnisse zu Oswald Mos-ley, zur BUF, zu deren Verbindungen zum italienischen Regime und zu Vertretern der Fasci all’Estero sowie, exemplarisch, zu lokalen Gruppen der Jugend- und Freizeitorganisationen.

In den britischen National Archives (TNA) wurden vor allem Akten aus den Beständen des Home Office , der Metropolitan Police (insbesondere der mit politischen Delikten und Terroris-mus befassten Special Branch ) und des Inlandsgeheimdienstes ausgewertet, die die Aktivitäten der BUF, deren Entwicklung und Mitglieder, Demonstrationen und Ausschreitungen wie auch die Internierung und diesbezügliche Anhörungen beleuchten. Ebenso boten sie Aufschluss über das Verhältnis der BUF zum italienischen Regime und das Ausmaß der Kooperation. Des Weiteren ließen sich hier Informationen zu italienischen Faschisten im britischen Raum, zu Internierten und zum Vorgehen der britischen Sicherheitsbehörden im Kontext italienischer exterritorialer Anwerbung und Propaganda gewinnen. Ausgewählte Akten der mit Italien be-trauten Abteilungen des Foreign Office wurden ergänzend konsultiert.

Der Nachlass Oswald Mosleys ermöglichte Einblicke in die Verwaltungsstrukturen und die Kommunikation der oberen Ränge der BUF, in private und politische Kontakte der Mosleys auch zu deutschen Nationalsozialisten und italienischen Faschisten. Allerdings ist der Nach-lass als Quelle nicht unproblematisch, da er von Angehörigen Mosleys kompiliert wurde, Lü-cken aufweist und Darstellungsintentionen erkennen lässt.

Die Quellenlage ist für die jugend- und freizeitbezogene Agitation in den drei Kontexten sehr unterschiedlich: Um die Vergleichbarkeit zu gewährleisten, richtet sich das Augenmerk auf die faschistische Kommunikation über Jugend und Freizeit und auf Prozesse der Verein-nahmung, da diese in allen drei Fällen rekonstruierbar und analysierbar sind. Für die Ent-

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wicklung innerhalb Italiens ist die Quellenlage, wie erwähnt, gut, aber ausufernd, so dass es einer zielgerichteten Beschränkung bedurfte. So wurden vor allem zahlreiche von der faschis-tischen Partei, den Massenorganisationen und regimenahen Autoren veröffentlichte Bände zur Jugend- und Freizeitpolitik herangezogen.

Im britischen Fall sind insgesamt nur sehr wenige interne Bestände der BUF erhalten oder zugänglich. Daher ist hier neben den genannten in den Archiven gewonnenen Quellen eine sehr genaue Analyse der Parteipublikationen sowie zeitgenössischer externer Betrachtungen über die BUF zielführend. Insbesondere ihre Zeitungen und Journale The Blackshirt , Action und Fascist Quarterly brachten durch detaillierte Analyse viele neue Erkenntnisse über die Jugend- und Freizeitpolitik der BUF.

Im Fall der in Großbritannien ansässigen Fasci all’Estero bieten neben den Akten italieni-scher faschistischer Stellen die in Großbritannien verfassten und erschienenen Publikationen der Fasci und der italienischen Gemeinde Aufschluss über die Agitation: allen voran die zwei-mal umgetaufte Zeitung La Cronaca , L’Eco d’Italia bzw. L’Italia Nostra sowie die Handbücher für die Italiener im britischen Raum Guida Generale degli Italiani a Londra und Guida Gene- rale degli Italiani in Gran Bretagna . Sowohl in den Zeitungen der BUF als auch in jenen der Fasci all’Estero erschienen die meisten Artikel ohne namentliche Kennzeichnung der Autoren. Diesen Medien mangelt es zudem an einem Impressum, das eine Rekonstruktion der Ressorts und ihrer Autoren ermöglichen könnte. Daher wird in dieser Arbeit die Zeitung als veröffent-lichendes Organ genannt, wenn sich die Verfasser nicht identifizieren lassen.

Zur Einordnung und Kontextualisierung wurden ergänzend zahlreiche zeitgenössische Zei-tungen und Zeitschriften, Veröffentlichungen zu Jugend und Freizeit, zur italienischen und britischen Gesellschaft, zur italienischen Migration und zum Faschismus herangezogen.

Das Erkenntnisinteresse dieser Untersuchung gilt, wie erläutert, nicht allein der referenziel-len Dimension der Quellen, also den faktischen Inhalten, sondern ebenso der diskursiven und performativen Dimension. Sie sucht folglich nicht allein nach Sachverhalten in der jeweiligen Jugend- und Freizeitpolitik, sondern analysiert kommunikative und inszenatorische Strate-gien, Rhetorik, Sprache und Rituale als Medien der Konstruktion von Wirklichkeit. In der Quellenanalyse geht es daher auch um die folgenden Fragen: Welche Bilder erzeugten faschis-tische Veröffentlichungen? Worauf alludierten sie? Welche inszenatorischen Mittel nutzten italienische und britische Faschisten?

Die Arbeit strukturiert sich wie folgt: Kapitel 2 zum italienischen und britischen Faschis-mus in nationaler und transnationaler Perspektive nimmt das erläuterte Vergleichsprinzip der Gleichbehandlung der Gegenstände auf. In drei Unterkapiteln – zunächst zur italienischen faschistischen Bewegung, dann zu den Fasci all’Estero im britischen Raum und schließlich zur British Union of Fascists  – werden die Genese, zentrale ideologische Komponenten und programmatische Aspekte der Bewegungen untersucht und erläutert. Das Kapitel dient als

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Fundament der spezifischen Analysen der jugend- und freizeitbezogenen Agitation, die in Ka-pitel 3 und 4 vorgenommen werden. Kapitel 3 befasst sich zuerst mit der zeitgenössischen Be-deutung und Brisanz des Themas Jugend und der Vereinnahmung des Jugendbegriffs durch die hier untersuchten faschistischen Bewegungen. Es nimmt dann die Vergleichsanordnung, die das zweite Kapitel gesetzt hat, wieder auf, um die jugendbezogene Agitation der drei Fall-beispiele detailliert zu beleuchten. Kapitel 4 widmet sich dem zweiten Schwerpunkt, der Frei-zeitpolitik in allen drei Kontexten; es stellt zunächst die Entwicklung und Politisierung des Themas Freizeit heraus und richtet die Aufmerksamkeit dann auf die Einzelanalysen, die der genannten Struktur folgen. Die Fallbeispiele werden stets direkt aufeinander bezogen und kontrastiert und nicht erst in einer Gesamtschau gegenübergestellt. Auch transfergeschicht-liche Befunde werden unmittelbar aufgezeigt. Das methodisch anders vorgehende Kapitel 5 vertieft die transfer- und beziehungsgeschichtliche Untersuchung. Den Abschluss bildet das sechste Kapitel, das Fazit und Ausblick ist.

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2 Der italienische und der britische Faschismus in nationaler und transnationaler Perspektive

2.1 Von den Fasci di Combattimento zum Regime: zur Genese, Programmatik und Ideologie des italienischen Faschismus

Im Oktober 1932 öffnete in Rom, im Palazzo delle Esposizioni an der Via Nazionale, die Mo- stra della Rivoluzione Fascista ihre Pforten. Zehn Jahre nach dem ‚Marsch auf Rom‘ sollte sie einem nationalen und internationalen Publikum nahebringen, wie der italienische Fa-schismus entstanden sei. Sie sollte dessen Werdegang erzählen, visualisieren und erfahrbar machen. Die Ausstellung war architektonisch und künstlerisch aufwendig; sie exaltierte ei-nen futuristisch modernen Stil und repräsentierte den Macht- und Fortschrittsanspruch des Regimes. Auf zwei Ebenen waren Säle thematisch so gestaltet, dass der Besucher durch die Geschichte des Faschismus wandelte: von der Gründung Il Popolo d’Italias 1914 durch den Krieg, den Sieg Italiens, die Gründung der Fasci di Combattimento 1919, über die Besetzung Fiumes bis zum ‚Marsch auf Rom‘. Große mittig gelegene Säle widmeten sich den sogenann-ten Märtyrern der Revolution, den Fasci und Mussolini sowie (im oberen Stockwerk) den Fasci all’Estero, dem Spirito, also dem Geist, Glauben oder Wesen des Faschismus und derArbeit des Regimes.55

Die fotografische Dokumentation vermittelt diesen Eindruck: Die Mostra erscheint vorsätz-lich einschüchternd und überwältigend; sie wirkt in vielen Aspekten auf den Besucher von oben ein. Sie lenkt seinen Blick zu den überdimensionierten faschistischen Symbolen nach oben, reißt ihn also mit. Sie spielt mit dynamischen, zackigen Stilelementen, einer pleonas-tisch anmutenden Kombination von pathetischen Texten oder Schlagworten und visuellen Darstellungen mit Montagetechniken. Die Säle erscheinen wie dreidimensionale, begehbare Propagandaplakate.56

Der Katalog zur Mostra della Rivoluzione Fascista , den die faschistische Partei 1933 heraus-gab, manifestierte das Narrativ über die zeitlich begrenzte Ausstellung hinaus und erläuterte die Motivation des Regimes, die Decennale seiner Machterlangung so zu begehen. Faktisch sollte die Ausstellung das gültige Narrativ festlegen und anders lautende Darstellungen ver-drängen. Das faschistische Regime betrieb Geschichtspolitik und legte dabei großen Wert auf Repräsentation und Inszenierung; es ließ Politik und Kunst verschmelzen.

Eindrücklich negierten die Initiatoren der Ausstellung, was offensichtlich war: das vorsätz-lich Selbstreferentielle:

Sie postulierten, die Mostra werde erheblich dazu beitragen, dem Faschismus die volle An-erkennung seiner Geschichte zu gewähren. Sie werde allen Italienern eine abschließende und sogar plastische Bilanz dessen bieten, was der Faschismus „in den quälenden und aufgewühl-ten Jahren seines Vorabends“ geleistet habe.58

Chronologisch aufgebaut war die Rekonstruktion – objektiv war sie dagegen nicht. Die Ge-schichte der Revolution wurde vielmehr von ihrem vermeintlichen Endpunkt ausgehend er-zählt. Dabei stand als Publikum nicht allein das italienische Volk im Fokus der Initiatoren, sondern auch die Besucher Italiens. Die Ausstellung hatte einen klaren propagandistischen Auftrag: Es ging hier um nicht weniger als um Deutungshoheit. Die Initiatoren argumentier-ten, die Mostra solle ausländischen Besuchern die Möglichkeit bieten, sich ein eigenes Bild von der ‚Faschistischen Revolution‘ zu machen, anders als es parteiische Doktrinäre und rache-, wut- oder gewinngetriebene Journalisten getan hätten.59 Die Besucher würden, so die erhoffte Wirkung, vom Erlebnis der nacherzählten Revolution beeindruckt, für den Faschismus ein-genommen. Sie würden in der Folge als Multiplikatoren agieren.

Als Anziehungspunkt wirkte die Ausstellung auf Angehörige anderer europäischer faschis-tischer Bewegungen und auf italienische Emigranten, die in den Fasci all’Estero organisiert waren oder diesen nahestanden. Nicht ohne Kalkül war den Italienern im Ausland ein eigener Saal der Mostra gewidmet worden. So reisten sowohl Gruppen der Fasci all’Estero in Groß-britannien nach Rom zur Ausstellung, die den Besuch in ein ganzes Zeremoniell einbetteten, als auch Repräsentanten der British Union of Fascists , die sich im Oktober 1932 formiert hatte und im Mai 1933 ihren Anhängern den Besuch der Mostra della Rivoluzione Fascista als ein Erweckungserlebnis pries (vgl. Kap. 4.3, 4.4 und 5). Die Entstehung der faschistischen Bewegung Italiens

Die ‚Faschistische Revolution‘ wurde in der Decennale 1932 als ein hart erkämpfter Sieg über Feinde im Inneren und Äußeren präsentiert, der den Auftakt zu einer Wiederauferstehung Ita-liens zu prädestinierter Größe gebildet habe. Doch worauf basierte dieses Narrativ? Wie hatte sich die Bewegung formiert und Einfluss gewonnen?

Die faschistische Bewegung entstand in den Nachkriegswirren, ihre Wurzeln reichten aller-dings bis in die ersten Kriegsjahre zurück. In Erscheinung trat sie 1919, zeitgleich mit anderen kleinen radikalen Gruppierungen, als sich Angehörige der interventionistischen Aktionsbün-de Fasci d’Azione Rivoluzionaria , der Veteranenverbände, demobilisierte Offiziere und Unter-offiziere, Syndikalisten und Sozialisten, Künstler aus dem Kreis der Futuristen, Kleinbürger unterschiedlichsten Hintergrundes und Studenten zusammenschlossen.

Sie alle verband eine widersprüchliche Mischung aus Euphorie über den Sieg Italiens und Enttäuschung und Zukunftsangst angesichts der verheerenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme, außerdem ein starker Nationalismus, der mit der Wahrnehmung korrelierte, Italien sei auf dem Weg in die Degeneration und Dekadenz und es bedürfe einer radikalen Erneue-rung. In einen militanten Revisionismus steigerte sich ihre Entrüstung über die territorialen Festlegungen des Friedensvertrages, die den Forderungen Italiens, die es im Kontext des Lon-doner Geheimvertrags von 1915 als angenommen betrachtet hatte, nicht entsprachen.

Die faschistische Bewegung bildete sich inmitten der wirtschaftlichen und politischen Kri-se, der Demobilisierung und der Verarbeitung der Kriegstraumata, also in einem hochgradig emotionalisierten und politisierten Klima. Übten die tiefergehenden gesellschaftlichen Um-brüche durch Nationalstaatsgründung, Industrialisierung, Urbanisierung, Demokratisierung und Liberalisierung noch einen merklichen Einfluss auf die italienische Gesellschaft aus, so kulminierten nun schon länger schwelende innenpolitische Spannungen, die in den Kriegs-

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jahren zugenommen hatten, darunter Forderungen nach größerer politischer Teilhabe, die die Arbeiterbewegung und die Frauenbewegung formuliert hatten, eine Kritik am Liberalismus oder eine pauschalere Unzufriedenheit mit dem politischen System.60

Die faschistische Bewegung überführte Freund-Feind-Schemata wie jenes der Kriegsbefür-worter, der Interventisti , gegen die Kriegsgegner in die Nachkriegszeit. Dabei schuf sie eigene Legenden, lastete denjenigen Sozialisten, die gegen den Kriegseintritt gewesen waren, an, sie hätten sozialistische Interessen verraten, sich auf die Seite der ‚Reaktion‘ gestellt und Italien von innen heraus geschwächt.61 Ebenso sattelte sie auf die von dem ultranationalistischen Dichter Gabriele D’Annunzio geprägte Deutung des Kriegsausgangs als vittoria mutilata , als ‚verstümmelter Sieg‘, auf. Von Nähe, Imitation und Konkurrenz zugleich war ihr Verhältnis zu D’Annunzios Trupp geprägt, der die vom Völkerbund verwaltete Stadt Fiume unter seine Kontrolle gebracht hatte, um eine Revision der territorialen Festlegungen des Friedensvertra-ges zu erzwingen, und der bereits einen ‚Marsch auf Rom‘ erwog.62 In vielerlei Hinsicht stellte D’Annunzio ein Stilvorbild für die Selbstinszenierung Benito Mussolinis dar, der den Dichter später „zum Ornament des faschistischen Staates neutralisiert[e]“63.

Das Gründungstreffen der Fasci di Combattimento fand am 23. März 1919 auf der Piazza San Sepolcro in Mailand statt. Anführer dieser sogenannten Kampfbünde war Benito Mussolini, der sich als maßgeblicher Initiator diesen Rang selbst verliehen hatte. Etwa 100 Personen waren versammelt, frühere Syndikalisten, frühere Sozialisten, Futuristen und die Arditi , die demobili-sierten Kriegsteilnehmer. Hinsichtlich des beruflichen und sozialen Hintergrunds waren unter ihnen laut Stanley Payne Schriftsteller und Journalisten, Angestellte, Arbeiter, Handwerker und Lehrer. Die Mehrheit soll zwischen zwanzig und vierzig Jahre alt gewesen sein.64

Mit der gewählten Bezeichnung Fasci bzw. dem Singular Fascio hatte die Bewegung einen Begriff adaptiert, der eine Reminiszenz an die fasces , die römischen Liktorenbündel als Herr-schaftszeichen, darstellte und der darüber hinaus seit der Mitte der 19. Jahrhunderts wieder zunehmende Verbreitung gefunden hatte. Seit dem Risorgimento hatte das Rutenbündel als Symbol für die Einheit der Nation eine Wiederbelebung erfahren und der Begriff war nach der Nationalstaatsgründung als Bezeichnung für eine Assoziationsform von divergierenden Gruppen übernommen worden. Für die Faschisten um Mussolini, die Begriff und Symbol nun zu monopolisieren bemüht waren, lag die unmittelbare Kontinuität dieses Symbols in dessen Verwendung durch die Fasci d’Azione Rivoluzionaria .65

Anders als es die Mostra della Rivoluzione Fascista dreizehn Jahre später darstellen sollte, war das Gründungstreffen nicht der die Gesellschaft unmittelbar erschütternde Auftakt einer Revolution. Emilio Gentile erläutert, das Treffen sei vielmehr unbeachtet von der Öffentlich-keit erfolgt, lediglich Mussolinis Il Popolo d’Italia habe eingehend darüber berichtet.66 Dieje-nigen, die sich zu der von Mussolini einen Monat zuvor angekündigten Versammlung einge-funden hatten, sahen sich allerdings als Speerspitze einer italienischen Revolution. Den Krieg überhöhten sie zur Geburtsstunde eines neuen Italiens, einer neuen Zivilisation, eines neuen Patriotismus, einer neuen Männlichkeit und eines neuen Gemeinschaftssinns, der sich an der militärischen Kameradschaft orientieren sollte.

Die Fasci di Combattimento erklärten sich zur Anti-Partei: Sie lehnten Parteienstrukturen als bürgerlich-verkrustet, als steril und ineffizient ab. Sie verstanden sich als Bewegung der Jugend gegen die Alten, als Auflehnung einer bisher ignorierten Generation gegen die Verursacher der angeblichen Degeneration. Verwandte Metaphern wie Jugend, Erneuerung, Wiedergeburt, Wiederauferstehung oder Frühling wurden zu ihren Kampfbegriffen (vgl. Kap. 3.1 und 3.2).

Erste programmatische Stellungnahmen wiesen in eine sozialistische Richtung, während die Kampfbünde zugleich die Sozialistische Partei attackierten und im April 1919 versuchten, die Zeitungsredaktion der sozialistischen Zeitung Avanti! zu okkupieren, deren Chefredak-teur wenige Jahre zuvor noch Mussolini selbst gewesen war. Die politischen Forderungen der Fasci di Combattimento schlossen zunächst noch das allgemeine Wahlrecht für Männer und Frauen ab dem 21. Lebensjahr ein, die verbindliche Einführung des Achtstundentages, eine Ausweitung der betrieblichen Mitbestimmung für Arbeiter und Angestellte. Die frühen pro-grammatischen Eckpunkte der Bewegung charakterisiert Brunello Mantelli als „ein seltsames Konglomerat verschiedenster Ziele“67: demokratisch-radikal, populistisch-sozialistisch, pazi-fistisch, nationalistisch und schließlich für den Freihandel.68

Die Fasci di Combattimento erfuhren zunächst einen eher geringen Zulauf; zum Jahresen-de 1919 zählten sie insgesamt etwa 800 bis 900 Mitglieder.69 An ihrer Versammlung auf der Piazza San Sepolcro hatten nur neun Frauen teilgenommen. In den ersten Monaten nach der Gründung schlossen sich der Bewegung dann aber zunehmend weitere an. Der gesteigerte Patriotismus und Nationalismus während des Krieges hatte sie ebenso erfasst wie die Männer. Die Kriegspropaganda hatte sie zu Multiplikatorinnen und zu Stützen der Gesellschaft und der öffentlichen Moral erklärt, ihnen damit eine sichtbarere politische Rolle zugestanden. Die bereits seit dem späten 19. Jahrhundert aktive, sehr heterogene Frauenbewegung Italiens, die Frauenarbeit, die Dienste an der ‚Heimatfront‘, das karitative Engagement vieler Frauen und eine gesellschaftlich nun anerkanntere Verantwortung im eigenen Heim – all diese Faktoren beförderten in der Nachkriegsgesellschaft Debatten um politische Repräsentation und Par-tizipation sowie eine Auseinandersetzung mit Rollenbildern.70 Der faschistischen Bewegung traten sowohl solche Frauen bei, die die politischen Anschauungen der Faschisten vollauf teil-ten und sie daher militant auf die Straße trugen, als auch solche, die sich in erster Linie eine Durchsetzung ihrer Partizipationsforderungen versprachen. Die frühen programmatischen Stellungnahmen aus der Bewegung ließen letzteres zunächst möglich erscheinen. Die Revision dieser Positionierung folgte allerdings schon frühzeitig.71

Die Bewegung trat schon bald durch Gewalt in Erscheinung. Als Squadra , als Kampfgruppe, Trupp oder Mannschaft, zusammengeschlossen, spezialisierten sich junge Anhänger auf orga-nisierte, rasche, brutale Überfälle, attackierten politische Gegner und boten sich potenziellen Unterstützern als Schlägertrupps an. Geografische Schwerpunkte dieser Überfalltaktik lagen zunächst in Julisch-Venetien und in der Poebene, dann auch in anderen nord- und mittelita-lienischen Regionen. Im sogenannten biennio rosso , den ‚zwei roten Jahren‘ 1919/20, prägten Arbeits- und Sozialkämpfe mit Streiks und eskalierenden Auseinandersetzungen den indus-triellen und den ländlichen Raum. Dabei gewann die Arbeiterbewegung auch in ländlichen Regionen an Rückhalt und Stärke; zugleich organisierten sich die Arbeitgeber in Verbänden. In die lokalen Konflikte brachten sich die Faschisten gewaltsam ein. Squadristen erhielten für ihre Angriffe auf Arbeitervertreter und deren Einrichtungen von Großagrariern und Klein-bauern finanzielle und materielle Unterstützung und politischen Zuspruch. Die Überfälle deu-teten die Squadre zu Expeditionen zur Bestrafung von Aufrührern um und verliehen ihrem Handeln so eine Scheinlegitimation. Das Männerbündelnde und die kultische Überhöhung der Gewalt verhalfen der Bewegung zu einem regen Zulauf entsprechend disponierter junger Männer. Zugleich beförderte dies die Neugründung von Fasci im ländlichen Raum.72

Die Squadre bildeten einen wesentlichen Grundstein des Faschismus und des faschistischen Selbstverständnisses. Roberta Suzzi Valli zeigt auf, dass es oft die Squadristen selbst waren, die rückblickend ihren eigenen Mythos konstruierten und ihre Taten in Romanen als faschistische Heldengeschichten verewigten.73 Auch jenseits dieser Repräsentation war die Präsenz der Squa- dre in der italienischen Gesellschaft im ventennio anhaltend groß. Eine Vergangenheit als Squa-drist fungierte als höchstes Leumundszeugnis. Die Squadre wurden schließlich in eine Miliz, die Milizia Volontaria per la Sicurezza Nazionale (MVSN), überführt und so institutionalisiert. Wie Emilio Gentile erläutert, war die mythische Überhöhung der Miliz ein Eckpfeiler der pseu-doreligiösen Selbstdarstellung des Faschismus.74 Die Miliz sollte im Alltag der Italiener präsent sein und darüber hinaus ganz konkret die faschistische Gesellschaftspolitik mitbestimmen. Sie wurde sogar in die Leitung der Jugendorganisationen eingebunden (vgl. Kap. 3.2).

Zahlreiche Faschisten, die in den folgenden beiden Jahrzehnten Schlüsselpositionen beset-zen sollten, begannen ihre politische Karriere als Squadristen und stachen durch ein hohes Maß an Brutalität hervor, so auch Dino Grandi, Giuseppe Bastianini und Renato Ricci (vgl. Kap. 2.2 und 3.2). Sie erlangten innerhalb der Bewegung Prominenz, führten Fasci einer Re-gion an, gingen dabei gewaltsam gegen Konkurrenten vor und positionierten sich auch gegen Anordnungen der Führung der Fasci di Combattimento . Angesichts der Eigeninitiative dieser Radikalen kam ihre Betitelung als Ras , eine Entlehnung aus dem äthiopischen Feudalismus, auf. Wolfgang Schieder erklärt, die Bezeichnung hätten Kritiker innerhalb und außerhalb der Bewegung als Anspielung auf die abessinischen Stammeshäuptlinge mit autonomen Gebiets-herrschaften geprägt.75

Die Fasci di Combattimento wurden 1921 als Partito Nazionale Fascista , als Nationale Faschi-stische Partei, konsolidiert. Im November hielten die Fasci di Combattimento einen nationalen Kongress in Rom ab, auf dem die Mehrheit der Delegierten die Gründung des PNF beschloss. Die Partei und die vormaligen Squadre wurden enger verzahnt, indem die Angehörigen der Stoßtrupps zur Mitgliedschaft im PNF verpflichtet wurden. Mit der Parteigründung leitete die Anti-Partei faktisch einen Prozess ein, den sie zuvor als Ausdruck politischer Dekadenz und Korruption gebrandmarkt hatte, die Bürokratisierung. Als ein paradoxer Befund wird sich dies ebenso in den folgenden Kapiteln zur faschistischen Gesellschaftspolitik in den Bereichen Jugend und Freizeit zeigen: Bei aller diskursiv so vehementen Ablehnung des Bürokratischen ergingen sich die faschistische Partei und das Regime in einem von Intrigen gespickten Büro-kratismus. Dieser stand nicht nur in einem markanten Widerspruch zur Selbstbeschreibung als Revolution oder als Movimento Fascista , sondern er erfasste sogar das Performative und die Mystifizierung des Faschismus. Parteiführer war Benito Mussolini, der sich nun – den römi-schen Titel dux vereinnahmend – zunehmend als ‚ Duce ‘ bezeichnete. Benito Mussolini – die Vorgeschichte

Benito Mussolini wurde am 29. Juli 1883 in Dovia bei Predappio in der Emilia-Romagna ge-boren, als ältestes von drei Kindern Alessandro Mussolinis und Rosa Maltonis – eines Huf-schmieds, der eine Gastwirtschaft betrieb, und einer Grundschullehrerin.

Predappio sollte später zu einem Anker des Führerkultes und in der Folge zu einem Wall-fahrtsort der Faschisten und der Neofaschisten werden. Dabei musste sich der Ort dem Narra-tiv des Führerkultes fügen, denn Mussolini griff gestalterisch in Planungen zur Verlegung des Ortskerns ein, die seit 1923 erwogen wurden. Es entstand, wie Sofia Serenelli erläutert, eine Art Retortenstadt Predappio, die so in der Jugend Mussolinis gar nicht existiert hatte:76

Seine Kindheit erlebte Benito Mussolini in bescheidenen Verhältnissen, in einem bildungs-orientierten, auf die Förderung der Kinder bedachten Haushalt. Die Mutter hatte eine höhere Schule besucht, wird ihrem Mann also ursprünglich sozial überlegen gewesen sein. Christo-pher Hibbert sieht es als Ironie, dass die Familie der sozialen Schicht angehörte, die Mussolini später verachten sollte, der der Kleinbürger.78 Hans Woller zufolge wurde Mussolini als ältester Sohn vor allem durch seinen ehrgeizigen, aufstiegsorientierten Vater angetrieben. Nach der Grundschule besuchte der Sohn ein Internat der Salesianer, wurde dann jedoch nach Kon-flikten wegen seines undisziplinierten Verhaltens auf eine höhere weltliche Schule geschickt, die er 1901 mit dem Abitur abschloss. Eine Universität besuchte er nicht.79 Mussolini fand im selben Jahr als Hilfslehrer Anstellung, verlor diese jedoch kurz darauf wieder. Nach wechseln-den Gelegenheitsjobs ging er in die Schweiz, erhielt Kontakt zu einer Maurergewerkschaft und wurde Gewerkschaftssekretär. Als Autodidakt arbeitete er sich in Schriften zum Sozialismus ein, besuchte Vorlesungen, veröffentlichte Artikel, hielt Reden und umgab sich mit aus Russ-land in die Schweiz emigrierten Sozialisten. 1905 wurde er zum Militärdienst eingezogen, den er in einem Regiment in Verona leistete. Woller erklärt, Mussolini sei dort durch Disziplin und patriotische Äußerungen in Erscheinung getreten, er habe schon als Sozialist nationalistischen Italienbildern angehangen.80

Nach dem Militärdienst arbeitete er erneut als Lehrer, war als sozialistischer Aktivist tätig und wurde nach einer Auseinandersetzung verhaftet. 1909 ging er in das zu dieser Zeit ös-terreichische Trient und wurde Redakteur einer kleinen sozialistischen Wochenzeitung. Hier profilierte er sich in sozialistischen Kreisen, fiel als Irredentist auf und wurde ausgewiesen, was ihm den Ruf des Märtyrers verlieh und die weitere sozialistische Karriere in Italien beförderte. Mussolini soll schon in Trient antisemitische und rassistische Positionen kundgetan haben.81Nach Italien zurückgekehrt, war er journalistisch tätig und machte sich in der Sozialistischen Partei als aggressiver Redner einen Namen. Weitere Verhaftungen in dieser Zeit nährten die Selbstdarstellung als Aufrührer. Im Dezember 1912 wurde er zum Herausgeber der Parteizei-tung Avanti! bestimmt. In Forlì kandidierte er im Folgejahr für die Sozialistische Partei.

Mussolini war inzwischen Familienvater. Seit 1910 war er mit der damals neunzehnjährigen, aus einfachen Verhältnissen stammenden Rachele Guidi liiert. Die erste Tochter, Edda, wur-de 1910 unehelich in bescheidenen Verhältnissen geboren. In den 1930er Jahren sollte Edda Mussolini, die den Grafen Galeazzo Ciano heiratete, als ein durchaus mit dem faschistischen Frauenbild kollidierendes Stilvorbild für junge Frauen gehobeneren Hintergrundes auftreten. Insgesamt fünf Kinder gingen aus der Beziehung Benito Mussolinis und Rachele Guidis hervor. Die kirchliche Trauung des Paares folgte erst 1925. Er unterhielt während der gesamten Ehe zahlreiche Liebschaften.82 Paul Ginsborg erläutert, Mussolini habe sich seiner Frau intellektuell weit überlegen gefühlt, und er sei den gemeinsamen Kindern mit Desinteresse begegnet. Auch räumlich sei die Familie oft getrennt gewesen, denn erst 1929 habe er Frau und Kinder nach Rom nachgeholt. Trotz einer Lebensweise, die Reminiszenzen an die bäuerliche Herkunft ge-zeigt habe, habe es Rachele verstanden, sich mit der faschistischen Elite gezielt zu vernetzen.83

Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges erklärte sich Mussolini in Avanti! zunächst zum Kriegsgegner und griff die Interventionisten scharf an. Christopher Hibbert führt an, Mus-solini habe sich bereits zu diesem Zeitpunkt der offiziellen Linie der Sozialistischen Partei entfremdet gefühlt und zunehmend geäußert, wie er die Partei führen würde. Er habe seine Haltung zum Krieg geändert und Gleichgesinnte gesucht.84 Im Oktober 1914 trat er von seinem Posten als Herausgeber zurück. Wenige Wochen später erschien die erste Ausgabe der nun von ihm gegründeten Zeitung Il Popolo d’Italia , in der er interventionistische Positionen bezog. Auf dem Mailänder Kongress der Sozialisten, auf dem sein Parteiausschluss diskutiert wurde, schlug ihm die Kritik entgegen:

In den folgenden Wochen spaltete sich sein sozialistisches Umfeld in Gegner und Sympathi-santen.

Sechzehn Jahre später sollte Oswald Mosley als Labour- Politiker ähnliche Erfahrungen ma-chen, als seine wirtschaftspolitischen Vorschläge nicht geteilt, sondern mehrheitlich abgelehnt wurden, sein überhebliches Auftreten auf Kritik stieß und er, die Niederlage erkennend, die Partei verließ. Mussolini und Mosley waren als vormalige Überflieger mit einer breiten Ablehnung derer konfrontiert, die sie hatten mobilisieren und anführen wollen – in beiden Fällen folgten erbitterte Verbalangriffe auf frühere Weggefährten und die sozialistischen Parteien und beide inszenierten sich in den folgenden Jahren als Herausforderer des Systems, als zu Größerem Bestimmte.

Als Italien im Mai 1915 den Kriegseintritt erklärte, trat Mussolini als Befürworter auf. Er war im Spätherbst 1914 den Fasci d’Azione Rivoluzionaria beigetreten, den Zusammenschlüs-sen der interventionistischen Linken aus Syndikalisten, Sozialisten und sich als Anhänger Mazzinis verstehenden Republikanern, die Italiens Kriegseintritt gefordert und entsprechende Kundgebungen organisiert hatten. Diese Fasci zogen durch ihre Agitation junge Italiener an, die sich nicht unbedingt als links verstanden, aber die interventionistische Linie unterstützten.

Seit August 1915 war Mussolini als Soldat an der Front und wurde schließlich Unteroffizier. Eine Verwundung im Februar 1917 durch die Splitter eines explodierten Granatwerfers führte dazu, dass er freigestellt wurde.86 Seine journalistischen Angriffe auf politische Gegner sah er jetzt durch seinen Veteranenstatus noch gerechtfertigter und er vertrat offen radikale nationa-listische und antidemokratische Positionen. Bis zum Gründungstreffen der Fasci di Combat- timento im März 1919 agitierte Mussolini nationalistisch, revisionistisch und aggressiv gegen die Sozialistische Partei, suchte Verbündete und Opportunitäten.

Schon im März 1921, zwei Jahre nach dem Gründungstreffen, deutete Mussolini dieses in den Ausbruch einer Revolution, in ein Erweckungserlebnis der jungen Generation um. In Il Popolo d’Italia erschien zum Jahrestag des Treffens, dessen Teilnehmer sich mittlerweile als San Sepolcristi selbst einen Elitenstatus verliehen, der zitierte Appell Mussolinis an seine An-hänger: Sie hätten bereits viel erreicht, jetzt bedürfe es des Durchhaltens. Sein Artikel präsen-tierte die ‚Faschistische Revolution‘ als eine kollektive Heldengeschichte. Er ist paradigmatisch für eine sich entwickelnde pathetische faschistische Erzählweise: Das Voranschreiten und das Lebensgefühl, radikal anders, innovativ und doch prädestiniert zu sein, der Jugend-Topos und jener des Wiederauferstehens, all dies ist hier bereits angelegt.87 Der ‚Marsch auf Rom‘ und die Machterlangung

Die Überführung der Kampfbünde in eine Parteistruktur im November 1921 bedeutete keine Abnahme der Gewalt. Im Gegenteil. Das Jahr 1922 markierte den Auftakt einer gewaltsamen Erpressung einer Regierungsbeteiligung. Am 1. Mai überfielen faschistische Banden sozialis-tische Kundgebungen. Die Zahl der Todesopfer war hoch. Wenige Wochen später belagerten von Italo Balbo angeführte Faschisten Bologna. Squadristische Übergriffe dominierten den Alltag an vielen weiteren Orten.88 Im August riefen die sozialistischen Gewerkschaften einen Generalstreik aus, der niedergeschlagen wurde. Die Faschisten profitierten von einer antiso-zialistischen Haltung in weiten Teilen der Gesellschaft und heizten diese an. Nicht nur Polizei, Armee und lokale Verwaltungen ignorierten oder tolerierten oft die faschistische Gewalt, auch die Regierung ging nicht entschlossen gegen die Bewegung vor, die immer offensiver politische Forderungen erhob. Opportunistische Erwägungen bestimmten in vielen Fällen die mangeln-de Gegenwehr der Vertreter des demokratischen Systems:

Die Fasci di Combattimento suchten nun gezielt Übereinkünfte mit Konservativen. Allianzen zwischen Faschisten und Konservativen spielten in der Entwicklung der faschistischen Be-wegungen in Europa insgesamt eine große Rolle: Im britischen Fall suchte die BUF gezielt die Nähe der sogenannten Diehards , der rechtskonservativen und sozial privilegierten Politiker und Unternehmer, unter denen sie bis zu einem gewissen Grad Unterstützer fand. Die Fa- sci all’Estero und die diplomatischen Vertreter Italiens in Großbritannien unterhielten eben-falls rege Verbindungen zu einigen rechtskonservativen Briten, die den Faschismus oft eher als einen Ultrakonservatismus mit eigenen Inszenierungsformen wahrnahmen (vgl. Kap. 2.3 und 5). In der Durchsetzung solcher konservativ-faschistischen Allianzen sieht Robert Paxton sogar ein Schlüsselmoment der Machterlangung:

In Italien äußerte sich die Krise in der politischen Instabilität. Die Liberalen hatten 1919 an Einfluss verloren, die Sozialisten und der politische Katholizismus dagegen merkliche Erfol-ge verzeichnet. Die Wahlbeteiligung war niedrig und machte deutlich, dass weite Teile der Bevölkerung wenig Vertrauen in den Staat hegten. Die innenpolitische Lage war äußerst an-gespannt. Reformistische Erwartungen kollidierten mit konservativen bis reaktionären. Die wirtschaftliche Lage, die bürgerkriegsähnlichen Zustände, die nationalistische Forderung nach einer Revision der Friedensvertragsbeschlüsse und die Annexion Fiumes durch D’An-nunzios Truppen schürten die Krisenwahrnehmungen. Vier Ministerpräsidenten amtierten zwischen 1919 und 1922. Reformen wurden beschlossen, aber nur halbherzig umgesetzt. Ver-suche unter Ministerpräsident Giolitti, die faschistische Bewegung zu mäßigen, und die Ent-scheidung, sie in sein Wahlbündnis aufzunehmen, führten dazu, dass im Frühjahr 1921 35 Fa-schisten ins Parlament einzogen, darunter Benito Mussolini. Die Parteigründung im selben Jahr bot nicht nur eine Möglichkeit der Konsolidierung der Bewegung, sie folgte ebenso den strategischen Erwägungen, als politische Kraft von einer breiten Schicht der Wähler wahr-genommen werden zu wollen. Seit Jahresbeginn 1922 wurde eine Regierungsbeteiligung der Faschisten wahrscheinlicher, da das Staatsoberhaupt, König Vittorio Emanuele III., diese nicht mehr ausschloss.91 Vorgeblich um Befriedung bemüht, unterzeichneten Vertreter der faschisti-schen Bewegung eine Übereinkunft zur Konfliktbeilegung mit der Sozialistischen Partei und die Fasci schlossen besonders radikale Squadristen aus ihren Reihen aus.

Im Oktober riefen die Faschisten einen ‚Marsch auf Rom‘ aus; sie setzten darauf, dass die Ankündigung, die einem Schlachtruf glich, in der Bewegung und unter ihren Sympathisanten einen starken Mobilisierungseffekt haben und sich in vielen Aktionen niederschlagen werde. In sich verselbstständigender Weise blockierten und attackierten Faschisten lokale Verwaltun-gen.92 Der ‚Marsch auf Rom‘ war als Drohung auch deshalb so wirksam, weil diese an den be-reits erlebten Gewaltaktionen gemessen wurde. Tatsächlich war die Bewegung auf einen gro-ßen Angriff auf das Zentrum des demokratischen Systems nicht gut vorbereitet. Die Gewalt, die die Bewegung sowohl verbal als auch physisch ausübte und kultisch überhöhte, war aber inzwischen so präsent, dass die Drohung authentisch erschien, weil sie in vielen performativen Akten bereits angekündigt worden war. Der ‚Marsch auf Rom‘ wirkte als Inszenierung von politischer Gewalt, die einen langen Nachhall erzeugte. Umgedeutet zu einem Schlüsselereig-nis der ‚Faschistischen Revolution‘, ließ sich der Marsch effektiv tradieren und erzeugte bei der nachfolgenden Generation Ehrfurcht. Aus seiner Überhöhung wurden vermeintlich schicksal-hafte Verpflichtungen des Einzelnen abgeleitet.

Ein Vorgriff auf das dritte Kapitel sei hier erlaubt: Besonders deutlich wird diese Geschichts-politik in faschistischen Kinderbüchern wie Il Duce ai Balilla : Hier wird der Marsch als eine Auflehnung der Kleinen, aber Moralischen gegen die übermächtig erscheinenden Großen, Un-moralischen und Unfähigen geschildert. Die Faschisten hätten Rom von denen befreit, die es gegen den Willen der Nation besetzt hielten:

In das Kinderbuchkapitel sind in verdichteter Form und vermeintlich kindgerechter Sprache Topoi eingewebt, die sich ebenso in der Mostra della Rivoluzione Fascista finden: der drohende Untergang Italiens, faschistischer Heldenmut in der Stunde der Krise, entschlossenes Handeln und Tatkraft, die Ehrung der Kriegstoten als nationale Pflicht, die Wiederbelebung des Natio-nalstolzes und die Wiederauferstehung Italiens. Symptomatisch für die Kommunikation des Regimes mit Kindern und Jugendlichen ist, dass die Geschichte in einem scheinbar logischen Appell mündet: Die Weisung laute, „indietro non si torna“94, „man blickt nicht zurück“ (vgl. Kap. 3.2).

Am 27. Oktober 1922 trat Ministerpräsident Luigi Facta zurück. Mussolini und andere Ver-treter des PNF hatten für die entsprechende Forderung Unterstützung in liberal-konservati-ven Kreisen gesucht. Zur selben Zeit versammelten sich faschistische Kontingente im Umland Roms. Um den angekündigten Sturm der Faschisten auf die Hauptstadt unterbinden zu kön-nen, schlugen Minister und Vertreter der Armee vor, den Ausnahmezustand zu verhängen. König Vittorio Emanuele III. lehnte dies ab, beauftragte zunächst Antonio Salandra mit einer Regierungsbildung, die jedoch scheiterte.

Mussolini wurde am 31.  Oktober 1922 zum Ministerpräsidenten ernannt. Im November sicherte er seiner Regierung zunächst befristet erweiterte Machtbefugnisse. Im Dezember bildete sich der Gran Consiglio Fascista , der Faschistische Großrat. Dieser war, wie Brunello Mantelli betont, nicht verfassungskonform, denn es handelte sich um „eine klare Verfälschung des institutionellen Gleichgewichts“95, mit dem ‚Großrat‘ als „eine Art Superregierung oder politisches Direktorium, gegenüber dem die eigentliche Regierung die Funktion eines tech-nisch-operativen Organs einnahm“96. Die Mitglieder des Großrates wurden durch Mussolini ernannt, der über die Frequenz und die Inhalte der Zusammenkünfte bestimmte. Die Squadre wurden indes als Milizia Volontaria per la Sicurezza Nazionale (MVSN), die Freiwilligen-Miliz für Nationale Sicherheit, institutionalisiert. Um vorprogrammierte Konflikte mit der Armee zu verhindern, wurden einige ranghohe Militärs zu Kommandanten der Miliz erklärt. Die MVSN stellte allerdings auch in den kommenden Jahren einen Risikofaktor dar, da hier radi-kale Faschisten mit dem gesteigerten Selbstbewusstsein, Squadrist zu sein, revoltierten.

Eine Änderung des Wahlgesetzes sicherte der stärksten Partei eine größere Mehrheit; der PNF erwartete, dies für sich reklamieren zu können. Die unaufhörlichen gewaltsamen Über-griffe auf die sozialistische und die katholische Bewegung und die Zugeständnisse an alte Eli-ten wirkten sich bereits aus. 1924 erhielten die Faschisten dann zwei Drittel der Stimmen. Zuvor hatte der PNF einen deutlichen Zulauf aus der politischen Rechten, der nationalisti-schen Partei sowie aus der liberalen Mitte erfahren und sich die Gunst vieler Angehöriger des öffentlichen Dienstes gesichert.97

Innerhalb des PNF herrschte allerdings alles andere als Einmütigkeit. Rolle, Status und Kurs der Partei standen kontinuierlich im Mittelpunkt von Auseinandersetzungen und es mangelte nicht an Intrigen. Philip Morgan wertet die Jahre 1923/24 als eine erste Hochphase innerpar-teilicher Konflikte, die nicht selten Machtkämpfe zwischen Zentrum und Peripherie gewesen seien. Im Verlauf sei die Organisationsstruktur der Partei mehrfach geändert worden. 1924 habe man sich auf einen Consiglio Nazionale , einen Nationalen Rat, geeinigt, dem Vertreter des Gran Consiglio und Sekretäre, die auf Provinzebene von den Parteikongressen gewählt wurden, angehören sollten. Des Weiteren sollte ein Direttorio Nazionale , ein Nationales Direk-torium, eingesetzt werden, dessen Mitglieder Mussolini bestimmte.98

1924 führte die Entführung und Ermordung des sozialistischen Oppositionsführers Giaco-mo Matteotti zu einer erheblichen Krise für Mussolinis Regierung. Matteotti, der zuvor Dro-hungen von Faschisten erhalten und diese öffentlich gemacht hatte, wurde am 10. Juni 1924 auf offener Straße verschleppt. In den Vormonaten hatte er die Manipulation der Wahlen durch die Faschisten angeprangert und in Veröffentlichungen, die sich an ein internationales Publi-kum richteten, die faschistische Gewalt thematisiert. Sein Leichnam wurde erst Wochen nach der Entführung in einem Straßengraben aufgefunden. In Italien löste die Tat Entsetzen und Entrüstung auch bei jenen aus, die von der faschistischen Gewalt zuvor nicht selbst betroffen waren und sie ausgeblendet hatten. Mussolini stritt jegliche politische Verantwortung für die Tat ab und verhielt sich, wohl auch im Hinblick auf internationale Reaktionen, abwartend. In den folgenden Monaten formierte sich innerhalb des PNF ein radikaler Flügel, der Mussolini unter Druck setzte, sich entschiedener zum Faschismus zu bekennen und gegen die Proteste vorzugehen. In der Folge nahm die faschistische Gewalt auf der Straße noch einmal stark zu und eine Welle der Verhaftungen Oppositioneller setzte ein.99 Innerhalb der faschistischen Bewegung wirkten die Ereignisse also wie ein Katalysator der Gewalt. Die einen sahen sie als notwendiges Mittel, um einen drohenden Einflussverlust abzuwenden, die anderen sahen hier eine Opportunität, die Repression der Opposition nun vollends durchzusetzen.

Die internationale Wahrnehmung des italienischen Faschismus veränderte sich binnen kür-zester Zeit nach Bekanntwerden der Entführung Matteottis. So auch in Großbritannien, denn Matteotti war nur wenige Wochen zuvor Gast der Labour Party und der Independent Labour Party gewesen, hatte sich mit namhaften Politikern und einflussreichen sozialistischen Au-toren getroffen und eine Veranstaltung der italienischen Emigranten in London besucht. La- bour -Chef Ramsay MacDonald war im Sommer 1924 Premierminister. Er bezog Stellung als Sozialist, erklärte seine Loyalität zur italienischen Sozialistischen Partei und unterzeichnete eine Protestnote Labours gegen die italienische faschistische Regierung. Mussolini sah sich di-plomatisch brüskiert und forderte eine Entschuldigung von MacDonald als Premierminister, die er nicht erhielt (vgl. Kap. 2.2).

Massive Repression und Terror halfen der faschistischen Regierung, die Krise zu überwin-den. Innerparteilich sollten nun die radikalen Kritiker unter Kontrolle gebracht werden. Mit diesem Auftrag wurde 1925 Roberto Farinacci zum Parteisekretär ernannt. Als Squadrist und Ras von Cremona hatte er eine in faschistischen Kreisen reputierliche Vergangenheit, gehörte zu den revolutionären Kräften in der Bewegung und genoss das Vertrauen Mussolinis. Fari-nacci setzte auf eine Disziplinierung der Partei, stieß Säuberungen an und besetzte Schlüssel-positionen mit Getreuen. 1926 wurde er entlassen und durch Augusto Turati, den früheren Ras von Brescia, ersetzt. Während Farinacci die Rolle der Partei gestärkt hatte, setzte sein Nachfolger wieder die Autorität des Staates über die Partei durch. Italien war mittlerweile ein faschistischer Staat, dessen Regierung sich die diktatorische Gewalt gesichert hatte. Das faschistische Regime und sein Duce

Im Oktober 1926 wurde Benito Mussolini offiziell durch neue Parteistatuten zum Parteifüh-rer ernannt. Zugleich wurde der Gran Consiglio zum höchsten faschistischen Organ erklärt, dem ebenso Mussolini vorsaß. Der Gran Consiglio sollte fortan den Parteisekretär und den Nationalen Rat bestimmen. Alle weiteren Entscheidungsträger wurden entlang einer strengen Hierarchie eingesetzt. So sollte sichergestellt werden, dass sich keine revoltierenden Kräfte auf lokaler oder regionaler Ebene formierten und gegen die Parteiführung und Mussolini durch-setzten.100 Die sich noch immer als Movimento titulierenden Faschisten waren faktisch damit keine Bewegung mehr, sondern eine hierarchisierte, antidemokratisch strukturierte Partei. Der Konflikt zwischen Partei und Staat sollte allerdings ein dauerhafter, immer wieder auf-flammender bleiben und sich erheblich auf die Massenorganisationen auswirken, um deren Führung Partei und Regime konkurrierten. Die soziale Zusammensetzung des PNF hatte sich gegenüber 1921 zugunsten der Mittelschicht verändert: 1927 entstammten 75% der Mitglieder den Mittelschichten, waren also kleinbürgerlich bis bürgerlich, 15% gehörten der Arbeiterklas-se an und 10% waren großbürgerlich bis adlig.101

Mussolinis Regierung, die mit erweiterten Machtbefugnissen ausgestattet war, schaltete seit 1925 die verbliebenen Institutionen des liberal-demokratischen Systems gleich. Der öffentliche Dienst unterstand bereits seit einer Verwaltungsreform 1923 der Kontrolle durch die Regie-rung. Zwischen 1923 und 1924 hatten die Faschisten auf kommunaler und regionaler Ebene ihre Macht ausgebaut, indem sie durch Einschüchterungen und Übergriffe Amtsträger und Gemeinderatsmitglieder aus deren Posten verdrängten und sich durch Wahlmanipulationen Mehrheiten für ihre Partei und die rechten Bündnispartner sicherten.102 Zwischen 1925 und 1926 wurden die Bürgermeisterwahlen zunächst in kleinen, dann in allen Gemeinden abge-schafft. Stattdessen wurden durch die Regierung Podestà ernannt; der Begriff hatte im Mittel-alter Stadtvogte bezeichnet und stand nun für die nicht demokratisch bestimmten, faschis-tischen Bürgermeister. 1926 wurden alle nicht-faschistischen Parteien und alle als politisch angesehenen Verbände verboten. Die Presse-, die Meinungsfreiheit und die Rechtsstaatlichkeit wurden durch entsprechende Gesetzesänderungen, Verordnungen und Berufsverbote für Op-positionelle beschnitten. Auch die Gewaltenteilung wurde zunehmend aufgehoben. Der Gran Consiglio wurde vom Partei- zum Staatsorgan umfirmiert und das Parlament, das nun nach Einheitslisten gebildet wurde, faktisch entmachtet. Der Capo di Governo , also Mussolini, ver-fügte über weitreichende Kompetenzen. Staatsoberhaupt blieb formal König Vittorio Emanu-ele III.

Das Bekenntnis zur Monarchie war kalkuliert: Blieben die Monarchie und das Staatsober-haupt unangetastet, ließen sich eine Traditionslinie zur Nationalstaatsgründung und Respekt vor dem höchsten Amt beanspruchen; zugleich bildete dies eine markante Abgrenzung zum Sozialismus und konnte die alten Eliten mit dem Faschismus versöhnen. Eine ähnliche Hal-tung sollte auch die British Union of Fascists einnehmen und sich in der Abdankungskrise um Edward VIII. 1936 lautstark zu dessen Ehrenretter und zur Partei der wahren Patrioten erklären (vgl. Kap. 2.3).

Ein wesentlicher Faktor zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung waren die Zensur und die Kontrolle der Medien. Die Lenkung der Presse nahm das Regime nicht nur durch repressive Maßnahmen vor, sondern es schuf auch Anreize zur positiven Berichterstattung, investierte in die Massenmedien und popularisierte moderne Medien und Darstellungsformen. Vor allem die Illustrierten erfuhren in der Zeit des Faschismus einen politisch gewollten Boom und sie beschleunigten die Verbreitung des Führerkultes. Wie Wenke Nitz aufzeigt, waren Zeitschrif-ten, die Inhalte vorrangig fotografisch oder bildlich vermittelten, angesichts des noch hohen Analphabetismus und einer Mediennutzung, die Nord-Süd-Unterschiede spiegelte (zu ergän-zen wären Stadt-Land-Unterschiede auch im Norden), ein ideales Medium, um eine möglichst breite, heterogene Masse zu erreichen.103 1924 wurde das Istituto Luce als faschistische Bild- und Filmproduktionsstätte gegründet, 1925 verstaatlicht und 1929 dem Regierungschef unterstellt. Nitz erläutert, alle Angestellten hätten der Partei beitreten müssen und das Istituto Luce habe das Monopol auf Mussolini-Bilder besessen und die fotografische Dokumentation aller offiziel-len Ereignisse übernommen. Die oft lähmende Kontrolle des Staates, die Bürokratisierung und betriebswirtschaftliche Probleme hätten die Arbeit negativ beeinflusst und politische Vorgaben zur Darstellung Mussolinis und des Faschismus seien oft widersprüchlich gewesen.104

Die Fotografien Benito Mussolinis als Duce deckten eine ganze Reihe von Darstellungsin-tentionen ab: Mussolini als dandy , als Familienvater, als Intellektueller am Schreibtisch, als galantuomo , als charismatischer Redner, als Anführer der um ihn versammelten Massen, als entschlossener Herrscher, als militärischer Befehlshaber, als erhabener Heilsbringer, aber auch als Mann der harten körperlichen Arbeit (etwa bei der Battaglia del Grano , der Getreide-schlacht 1925), als besonders maskuliner Sportler (oft mit blankem Oberkörper) oder als Vater des Volkes, dessen Sorge den Kindern gelte.

Die Gesamtheit der Porträtaufnahmen war gewollt paradox, da jede dieser Darstellungen absolute Authentizität und Exklusivität für sich reklamierte und sie doch erst zusammenge-nommen einen Duce darzustellen schienen, der zugleich nahbar und erhaben wirkte. Die Bil-der fanden, abgedruckt in Illustrierten, Zeitungen, Büchern und als Postkarten, weite Verbrei-tung. Zusammen mit den Gemälden, Plakaten, Büsten und Filmen erhöhten sie die Präsenz Mussolinis im öffentlichen Raum und in den Privathaushalten der Bevölkerung. Im Laufe der Zeit zementierte sich eine spezifische Ikonografie der Duce -Darstellung. Durch die Betonung von Macht und Dominanz wirkten spätere Aufnahmen immer entrückter, gestellter und der Kult büßte Komplexität ein.105

Die Führerkulte standen in Zusammenhang mit einer Ästhetisierung der Politik im frühen 20. Jahrhundert. Der Politiker als Künstler, als Regisseur, die Massen als künstlerisches Objekt und als gestaltendes Kollektiv – das war nicht neu, fand aber durch die neuen Formen der Öf-fentlichkeit und der Repräsentation eine ungekannte Verstärkung. Aus der Ästhetisierung folg-te die Aufwertung der Inszenierung und der Performanz. Sie öffnete einer visuellen Symbol-politik Tür und Tor. Die faschistischen Bewegungen bekannten sich zu dieser Ästhetisierung, erklärten sie zum Charakteristikum des Faschismus und verliehen ihr so einen Eigenwert.

Die Ästhetisierung selbst sollte einen mobilisierenden Effekt auf die Gesellschaft haben. Sie ist in den Faschismen in vielen Bereichen präsent, etwa in der ideologischen Überhöhung von Schönheit, deren Konnotationen Größe oder kulturelle Überlegenheit sind, von Dynamik und Konformität oder von idealtypischer Körperlichkeit, insbesondere des männlichen, athleti-schen Körpers. Darüber hinaus trat sie täglich als angebliches Merkmal einer neuen Gesell-schaft in einer neuen Zeit in Erscheinung: in Uniformen, Symbolen, Abzeichen, Formationen oder in einer vermeintlich originär faschistischen Architektur, Kultur, Kunst, Literatur und Sprache. Symptomatisch ist die Hymne der italienischen Faschisten Giovinezza , die redundant auf die Schönheit zu sprechen kommt.

In der visuellen Repräsentation der faschistischen Führerkulte waren Anspielungen auf his-torische Herrscherporträts und Machtsymbole angelegt. Sie suggerierten so eine höhere Legi-timation. Die Führerkulte waren ein Aspekt einer manipulativen, asymmetrischen Kommu-nikation, die Deutungsmuster wie die Attribuierung des Charismas vorwegnahm. Der hohe Stellenwert des Performativen beeinflusste die Visionen einer faschistischen Gesellschaft und wirkte sich nachdrücklich auf die Ausgestaltung der Massenorganisationen aus, die ihre Mit-glieder einerseits durch die Ästhetisierung an politische Ziele heranführten und andererseits als Multiplikatoren der faschistischen Ästhetik fungierten.

Kulturpolitik betrieb das faschistische Regime nicht nur über die zuständigen Ministerien und das Istituto Luce , sondern auch über faschisierte oder neu geschaffene Kultureinrich-tungen wie das Istituto Nazionale di Cultura Fascista oder die Società Dante Alighieri . Beide Einrichtungen bestimmten die auswärtige Kulturpolitik entscheidend mit, also die Kultur-angebote für die italienischen Gemeinden im Ausland und die Auslandspropaganda, die sich durch Kurse, Veranstaltungen und Publikationen an ein gemischtes oder ein nicht-italieni-sches Publikum wandte. Zusätzlich zu diesen nationalen Einrichtungen gründeten sich in den italienischen Gemeinden im Ausland viele kleinere Gesellschaften, die sich einer Förderung und Bekanntmachung der italienischen Kultur verschrieben (vgl. Kap. 2.2, 4.3 und 5).

Das Pressebüro des Capo di Governo , das lange die Aufsicht über solche propagandistischen Aktivitäten hatte, wurde 1934 erst in ein Sottosegretariato per la Stampa e la Propaganda , dann in ein Ministero per la Stampa e la Propaganda (Untersekretariat bzw. Ministerium für Presse und Propaganda) umgewandelt. 1937 wurde dieses dann zu einem Ministerium für Volkskul-tur, dem Ministero della Cultura Popolare (MinCulPop), ausgebaut. Zwischen 1933 und 1936 stand diesem faktischen Propagandabüro Galeazzo Ciano vor, der seit 1930 mit Edda Musso-lini verheiratet war. Ähnliche Restrukturierungen durchliefen die Zentralstellen, die mit der Betreuung der ausgewanderten Italiener, der Parteizellen im Ausland und der dortigen italie-nischen Schulen betraut waren. Seit den frühen 1920er Jahren hatten sich Fasci im Ausland, die Fasci all’Estero , gegründet (vgl. Kap. 2.2). Die Frage, ob die faschistische Partei oder das Außenministerium und die diplomatischen Einrichtungen die Hoheit über diese Parteizellen erhalten sollte, eskalierte zu einem Machtkampf. Zusammengefasst wurden die Zentralstellen der Fasci all’Estero bzw. der Italiani all’Estero schließlich in einer Generaldirektion für die Italiener im Ausland, der Direzione Generale degli Italiani all’Estero . Auf paradoxe Weise voll-zogen sich hier oft Ausdifferenzierung und Zentralisierung parallel. Repression und Zustimmung

Die politische Verfolgung Oppositioneller erreichte nach der ‚Matteotti-Krise‘ 1924 ein neues Ausmaß. Neben dieser institutionalisierten Gewalt blieben auch die squadristische und die individuell motivierte Gewaltanwendung durch Faschisten Alltagserscheinungen. Der Topos von der Gewalt als einer neuen Ästhetik war in der faschistischen Propaganda und in der all-

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täglichen Kommunikation von Partei und Regime mit der Bevölkerung sehr präsent. Militanz wurde zum entscheidenden Merkmal faschistischer Männlichkeit erhoben, zum deutlichsten Unterschied zwischen den angeblich effeminierten und feigen Männern des liberalen Italiens und den entschlossenen faschistischen Männern, denen die Zukunft gehöre.

Die Befugnisse der gleichgeschalteten Polizeipräfekten schlossen seit der Mitte der zwanziger Jahre eine Kontrolle der öffentlichen Ämter ein. Zusätzlich erhielt die Miliz, die MVSN, Kom-petenzen der Gerichtsbarkeit. Eine neue Geheimpolizei wurde ins Leben gerufen, die Opera Vigilanza Repressione Antifascista (OVRA), die, wie ihr Name unmissverständlich darlegte, der Überwachung und Repression des Antifaschismus diente. Innerhalb des Innenministe-riums entstand in einer Generaldirektion für öffentliche Sicherheit, der Direzione Generale della Pubblica Sicurezza , die Einheit der Politischen Polizei, Divisione Polizia Politica (PolPol), die mit der Überwachung der Regimegegner im Inland und im Ausland betraut wurde. Die Polizia Politica soll mehr als 800 offizielle und „ein Heer von informellen Mitarbeitern“106 ge-habt haben. Die Aktivitäten dieser Politischen Polizei sind auch aus einem transnationalen Blickwinkel interessant, denn ihr unterstehende Agenten lieferten nicht nur Informationen über als politische Gegner angesehene emigrierte Italiener in Großbritannien, sondern auch über Mitarbeiter der Italienischen Botschaft und die BUF (vgl. Kap. 5).

Das repressive Repertoire des Regimes umfasste Internierungen Oppositioneller und Ver-bannungen in entlegene Orte auf italienischen Inseln. Paul Corner und Michael Ebner kriti-sieren, dass die Forschung alltäglichere Formen der Repression oft nicht beachtet habe. Neben außergewöhnlichen Strafmaßnahmen habe sich politische Unterdrückung in vielen kleinen, aber sehr effizienten Akten der Gewalt gezeigt und so das gesellschaftliche Klima im ventennio nachhaltig geprägt.107 Die Beeinflussung des Alltagslebens durch Gewalt und Zwang erfasste in den dreißiger Jahren alle gesellschaftlichen Gruppen. Ein Klima des Misstrauens, Denunziati-onen und persönliche Bereicherungen durch Bezichtigung anderer waren keine Seltenheit. Die Enttabuisierung, die Kultivierung und die propagandistische Überhöhung von Gewalt fanden auch Zustimmung in der Bevölkerung, denn sie beinhalteten eine Festigung kollektiver Macht über ganze Gruppen und eine individuelle Ermächtigung über Andere:

Attraktiv wirkten die Gewaltästhetik und auch faktische Gewalt des italienischen Faschismus so-dann auf weite Teile der British Union of Fascists , die in kleinem Maßstab Adaptionen vornahm und situativ die Eskalation suchte. Schon wenige Monate nach ihrer Formierung fiel sie polizeilich auf, weil ihre Blackshirts ein Mitglied, das sie der Spionage verdächtigten, körperlich attackierten und es zwangen, Rizinusöl zu schlucken – eine Adaption squadristischer Demütigungsmethoden. Anklage wurde in diesem Fall nicht erhoben. Auf perfide Weise nutzte die Berichterstattung der BUF, denn so stand, scheinbar unbeabsichtigt, eine Demonstration ihrer Männerbundatmosphä-re und ihrer Schlagkraft sowie eine Allusion auf ihr Vorbild im Raum.109 Zunehmend schürten BUF-Mitglieder Gewalt nicht mehr nur rhetorisch, sondern auch physisch, attackierten politische Gegner und zogen damit neue, entsprechend disponierte Mitglieder an (vgl. Kap. 2.3 und 4.4). Bei den Fasci all’Estero in britischen Städten war die Gewalt durch italienische Faschisten ein politisch gemiedenes Thema; ihre Medien suchten vielmehr Antifaschisten und politische Gegner als besonders gewalttätig zu präsentieren. Die faschistischen Akteure waren in den Auswanderer-gemeinden mit der Problematik konfrontiert, dass Oppositionelle, die in derselben Stadt im Exil lebten, faschistische Gewalt und Unterdrückung anprangerten und dass die Emigranten durch ihre sozialen Kontakte in Italien über die Repression informiert waren. In der Folge waren die Fasci darauf bedacht, konträre Bilder des ‚neuen Italiens‘ zu erzeugen (vgl. Kap. 2.2, 3.3 und 4.3).

Das Verhältnis des faschistischen Regimes zur Bevölkerung war allerdings nicht allein von Re-pression gekennzeichnet. Es zielte auch auf Zustimmung und Animation zur Teilhabe nach au-toritären Vorzeichen. Der Machterhalt hing von der Integration der Massen in den faschistischen Staat ab. Um eine Mobilisierung der Bevölkerung zu faschistischen Zielen zu erreichen, musste diese für den Faschismus und für die faschistischen Visionen eines ‚neuen Italien‘ eingenommen werden. Akzeptanz zu generieren, genügte nicht, die eigentliche Zielsetzung war Enthusiasmus.

Auf lokaler Ebene gewährleisteten die örtlichen Parteisitze, die Case del Fascio , einen en-gen Kontakt zur Bevölkerung. Sie waren ein Verwaltungssitz der Partei, der gleichgeschalteten und neuen Sozialfürsorgeeinrichtungen, der Jugend- und Freizeitorganisationen und, darü-ber hinaus, ein Veranstaltungszentrum für die Gruppen dieser Massenorganisationen und ein Treffpunkt für die jeweilige Nachbarschaft.110 In der hier kultivierten Nähe und Geselligkeit festigten sich gleichzeitig die soziale und die politische Kontrolle.

Die Massenorganisationen spielten eine entscheidende Rolle: Sie dienten der Faschisierung der Gesellschaft, bildeten die Schnittstellen zwischen Zwang und Belohnung, zwischen Überwachung und Sicherstellung von Akzeptanz. Sie brachten ihren Mitgliedern gesellschaftspolitische Ziel-setzungen und Rollenbilder nahe und nahmen sie für übergeordnete politische Ziele wie die ex-pansionistischen Bestrebungen Italiens ein. In den Massenorganisationen wurde die Bevölkerung in die wirtschafts-, bildungs- oder bevölkerungspolitischen Programme eingebunden. Die Mit-glieder agierten zugleich als deren Multiplikatoren. Zwei dieser Massenorganisationen werden in dieser Arbeit analysiert: die der gesellschaftspolitischen Schlüsselbereiche Jugend und Freizeit, namentlich einerseits die Opera Nazionale Balilla (ONB), das Nationale Balilla -Werk, bzw. dessen Nachfolger, die Gioventù Italiana del Littorio (GIL), die Jugend des Liktorenbündels, sowie ande-rerseits die Opera Nazionale Dopolavoro (OND), das Nationale Freizeitwerk (vgl. Kap. 3.2 und 4.2).

Die Fasci Femminili , die Frauen-Bünde, hatten Anhängerinnen der Bewegung schon 1920 gebildet. Die Fasci di Combattimento marginalisierten die Faschistinnen und drängten sie in die Fasci Femminili , denen nur wenige Kompetenzen eingeräumt wurden. 1925 wurde die ONMI eingerichtet, die Opera Nazionale Maternità ed Infanzia , das Nationale Werk für Mutterschaft und Kindheit. In den 1930er Jahren folgten weitere Organisationen wie die der Massaie Rurali , der Ländlichen Hausfrauen. Partei und Massenorganisationen erreichten zu-sammen eine Mitgliederzahl von 27 Millionen.111 Ihre tatsächliche Reichweite war größer, da oftmals auch Familienangehörige der Mitglieder von Angeboten profitierten.

Eine Gemeinsamkeit der Massenorganisationen ist, dass sie immer wieder zwischen dem Verantwortungsbereich der Partei und dem des Staates hin und her geschoben bzw. gezerrt wurden. Die Hoheit über sie war ein umkämpftes Gut, weil ihr Einfluss auf die Bevölkerung so groß war. Der Ausbau der einzelnen Organisationen wurde dabei von Kompetenzstreitig-keiten und Intrigen konkurrierender Faschisten beeinflusst. Waren sie zum Teil alles andere als effizient geführt, so bildeten die Massenorganisationen durch ihre Redundanz und ihr Vor-dringen in das Alltagsgeschehen ein effizientes Mittel der Faschisierung. Grundzüge der faschistischen Programmatik und Ideologie

Was verstanden italienische Faschisten unter Gesellschaft? Welche Rolle spielten die ideolo-gischen Visionen in ihrer Gesellschaftspolitik? Wie kommunizierten und implementierten Partei und Regime entsprechende Zielsetzungen? Da diese Fragen wichtige Elemente der ju-gend- und freizeitbezogenen Analyse der folgenden Kapitel sind, seien hier einige Aspekte und Befunde thesenartig angerissen:

Faschistische Gesellschaftspolitik stand in einem engen Sinnzusammenhang mit Korpo-ratismus, Nationalismus und Imperialismus. Sie zeigte Einflüsse aus internationalen philo-sophischen, soziologischen und politischen Debatten, aus literarischen und künstlerischen Strömungen sowie kulturkritischen Bewegungen aus dem späten 19. und dem frühen 20. Jahr-hundert. Sie griff eine literarisch verbreitete Kritik an der Moderne und Dekadenztheorien auf, attestierte der Gesellschaft einen Individualismus, der Vorstufe einer Degeneration sei, und operierte in widersprüchlicher Weise mit dem Begriff der Masse.

Die Gesellschaftspolitik war autoritär, nahm aber klassische bürgerliche sowie sozialistische Vorstellungen von Partizipation, Vergemeinschaftung und Integration der Massen auf. Dabei negierte sie demokratische Prinzipien der Teilhabe und versuchte, eine autoritäre Sozialpolitik zu popularisieren.

Sie wies große Schnittmengen mit der faschistischen Bevölkerungspolitik auf, die das Ge-schlechterverständnis und gesellschaftliche Rollenbilder stark prägte. Mit seiner pro-nata-listischen Bevölkerungspolitik beschnitt der Faschismus die Selbstbestimmung italienischer Frauen und Männer und untermauerte dies mit nationalistischen, biologistischen und rassis-tischen Doktrinen. Staat, Partei und Massenorganisationen drangen mit einem autoritären erzieherischen Impetus in Fragen der Familienplanung, der Ehe und Treue (mit stark divergie-renden geschlechterspezifischen Maßstäben), der Gesundheit und Sterblichkeit, der Hygiene und Kindererziehung ein (vgl. Kap. 3.2 und 4.2).

Die gesellschaftspolitische Agitation verlieh der Verfolgung Oppositioneller und ganzer ge-sellschaftlicher Gruppen eine Scheinlegitimation, indem sie diese als Außenstehende diffa-mierte und ausgrenzte. Dies betraf auch die emigrierten Oppositionellen. Die Unterkapitel dieser Arbeit zu den Fasci all’Estero werden aufzeigen, wie der Faschismus in einer gleichzeitig vereinnahmenden und spaltenden Politik die ‚Italiener im Ausland‘ exterritorial in die Stabili-sierung der faschistischen Gesellschaft einband (vgl. Kap. 2.2, 3.3 und 4.3).

Das Italienbild der faschistischen Gesellschaftspolitik war einerseits von Minderwertigkeits- und Entfremdungsgefühlen, andererseits von Patriotismus, Chauvinismus und einem kultu-rellen Sendungsbewusstsein geprägt – eine bipolare Mentalität, die sich insbesondere in der Thematisierung der Emigration und der ‚nationalen Identität‘ zeigte. Neben die Idealisierung der Italianità als Produkt von Abstammung, Tradition, Kultur und Lebensstil trat jene der Romanità , des Römischen in der Tradition des Antiken Roms und des Römischen Imperiums. In der Romanità schien eine Berechtigung zur Expansion und zur Dominanz auf internationa-ler Bühne zu liegen, ebenso eine geschichtlich gewachsene, zivilisatorisch überlegene Identität.

In den 1930er Jahren, insbesondere in der achtjährigen Amtszeit Achille Staraces als Partei-sekretär, zog die Faschisierung der Gesellschaft noch einmal an und erreichte viele Alltagsbe-reiche. Der Leitgedanke Andare verso il popolo, also „auf das Volk zugehen“, der zum Ausdruck der unbedingten Volksnähe Mussolinis und des Faschismus sowie einer paternalistischen Für-

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sorge des Faschismus für die Italiener verklärt wurde, war eine euphemistische Umschreibung der Aufhebung des Privaten (vgl. Kap. 4.2).112

Der italienische Faschismus machte sich ideologisch einen autoritären Korporatismus zu eigen, der „die politische und gesellschaftliche Ordnung eines zwangsmitgliedschaftlich ver-fassten autoritären Ständestaates“113 adaptierte. Programmatisch schlug sich dies in einer Re-organisation des Staates, der Partizipation seiner Staatsbürger und ihrer Interessenvertretung nieder: Im korporativen Staat, der die Kooperation institutionalisiert, sind alle Verbände, insbesondere die antagonistischen Wirtschaftsverbände, in das politische System und in die Politikentwicklung eingebunden. Arbeitnehmer und Arbeitgeber sind in berufsständischen Korporationen zusammengeschlossen und zur Kooperation verpflichtet. Sie vertreten nicht nur die Interessen ihrer Mitglieder gegenüber dem Staat, sondern tragen die Regierungspolitik mit, treffen politische Entscheidungen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz und vermitteln diese wiederum ihren Mitgliedern. Sie haben sowohl Repräsentations- als auch Steuerungs-aufgaben.114 In der autoritären Auslegung des Faschismus sind andere Formen der Interessen-vertretung ausgeschaltet und die Regierungsbeteiligung der Korporationen unterliegt starken Einschränkungen, etwa durch die weitreichenden (diktatorischen) Kompetenzen des Regie-rungschefs. Staatsrechtlich waren die Weichen für eine korporatistische Organisation bereits zur Mitte der zwanziger Jahre gestellt.

Italienische Faschisten vertraten, wie bei einer heterogenen Sammlungsbewegung nahe-liegend, stark divergierende Ansichten über die Ausgestaltung korporativer Strukturen. Ihr gemeinsamer Nenner war die Annahme, die Nation sei eine moralische, politische und wirt-schaftliche Einheit, der sich Partikularinteressen unterzuordnen hätten. Ideologisch fußte der italienische faschistische Korporatismus auf Ansätzen aus Georges Sorels Revolutionärem Syndikalismus, aus Giuseppe Mazzinis Nationenbegriff und seiner Befürwortung von Vereini-gungen zu einem höheren gemeinschaftlichen Zweck sowie aus der diskursiven Überhöhung des Risorgimento .115 In dieser Interpretation des Korporatismus war demnach nicht der Staat der Organismus oder Körper, sondern die Nation; er korrelierte also in seiner Idealisierung der Gemeinschaft mit Vorstellungen einer nationalen Identität und einer Überhöhung des Natio-nenbegriffs.

Der korporative Staat schien den Faschisten der zukunftsfähigere Staat zu sein, in dem sich die wirtschaftliche Situation Italiens stabilisieren werde, da vermeintlich hemmende Faktoren wie Arbeits- und Sozialkämpfe, Partikularinteressen und Parteipolitik ausgeschaltet und eine effizientere Ressourcennutzung und Produktion ermöglicht würden. Die Reorganisation von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft nach korporatistischen Grundsätzen blieb allerdings un-vollendet. Sie wurde mit hochtrabenden Zielsetzungen angekündigt, kam aber nur schleppend voran. Die propagandistische Wirkung war deutlich größer, denn der italienische Korpora-tismus inspirierte andere faschistische Bewegungen zu analogen programmatischen Zielset-zungen. Der „wichtigste ideologische Exportartikel des faschistischen Regimes“116 fand auch in Großbritannien frühzeitig breite Rezeption und Resonanz. In Oswald Mosleys Parteipro-gramm für die BUF ist er prominent, denn Visionen und Überlegungen zu einem britischen korporativen Staat nehmen darin den größten Raum ein. Schon Jahre vor der Gründung der BUF, noch als Labour -Mitglied und Chancellor of the Duchy of Lancaster , vertrat Mosley wirt-schaftspolitische Ansätze, die Entlehnungen aus dem italienischen Modell zeigten (vgl. Kap. 2.3).

Die italienischen faschistischen Syndikate wurden zu Beginn der 1920er Jahre gebildet mit der Zielsetzung, eine Konkurrenz zu den bestehenden Arbeitervertretungen darzustellen und eine Monopolstellung zu erlangen. Sie sollten eine Vorstufe zu den geplanten Korporationen sein. Schon im Januar 1922 beschloss der Parteikongress des PNF, alle mit der Partei kooperie-renden Gewerkschaften zur Confederazione Nazionale delle Corporazioni Sindacali , zum Nati-onalen Bund syndikalistischer Korporationen, zusammenzuschließen, wenige Monate später folgte eine Umbenennung von syndikalistisch in faschistisch. Edmondo Rossoni, früher Sozi-alist, Syndikalist und Interventionist, wurde mit der Führung betraut. Jenseits dieser Schritte zu einem Nationalen Syndikalismus suchten Mussolini und der PNF zeitgleich Anschluss an die Arbeitgeberverbände in Industrie und Landwirtschaft und umwarben Unternehmer mit politischen Versprechungen einer Begünstigung ihrer Interessen gegenüber jenen der Arbeit-nehmer. In der Landwirtschaft verzeichneten faschistische Syndikate größere Rekrutierungs-erfolge als in der Industrie. Die sozialistischen und katholischen Vereinigungen im ländlichen Raum waren der faschistischen Gewalt schneller unterlegen gewesen und mittlerweile aufge-löst worden. In der Agrarwirtschaft waren schon 1923 erste korporative Strukturen sichtbar.

In der Industrie hatten die faschistischen Syndikate deutlich größere Schwierigkeiten, eine Massenbasis zu rekrutieren und Einfluss in proletarischen Milieus zu gewinnen. Die sozialisti-schen und kommunistischen Gewerkschaften und die katholischen Arbeitervereinigungen ge-nossen starken Rückhalt unter Industriearbeitern. In den städtischen bzw. industriell gepräg-ten Arbeitermilieus sahen sich viele Arbeiter auch nach der Entmachtung ihrer Vertretungen 1925 noch ihren politischen Wurzeln verpflichtet, viele passten sich aber, notgedrungen oder auch opportunistisch, den neuen Realitäten an.117

1925 kamen die faschistischen Syndikate und die Confederazione Generale dell’Industria (kurz Confindustria genannt), der Arbeitgeberverband der Industrie, nach einer mehrwöchi-gen Konfrontation überein, fortan den jeweils anderen als exklusiven Verhandlungspartner anzuerkennen. Die sozialistischen und kommunistischen Gewerkschaften und katholischen Arbeiterorganisationen wurden faktisch entmachtet. Streiks und Aussperrungen wurden ver-boten. 1926 entstand das Korporationsministerium, das zunächst Mussolini unterstellt war. Sein Sottosegretario wurde Giuseppe Bottai, ebenfalls Faschist der ersten Stunde, der 1929 zum Minister befördert wurde. Bottai war offiziell federführend bei der Ausarbeitung einer kor-poratistischen Charta, der Carta del Lavoro , die 1927 beschlossen wurde. Diese manifestierte nicht nur die korporativen Grundsätze, sondern erhob die Arbeit zu einer sozialen Pflicht. Tatsächlich war die Charta, wie Philip Morgan erläutert, noch unausgegoren:

Im Zuge der Ministeriumsgründung war auch ein Nationaler Korporationsrat beschlossen worden, der aber zunächst funktionslos blieb, denn die Korporationen existierten noch nicht. 1928 wurde der Bund der Syndikate reorganisiert und in berufsständische Bereiche aufgesplit-tet. Die in der Carta del Lavoro angekündigten 22 Korporationen traten erst 1934 in Kraft. Die Abgeordnetenkammer, das rudimentäre Parlament, wurde 1939 in eine Camera dei Fasci e delle Corporazioni (Kammer der Bünde und der Korporationen) umgewandelt.

Während in Italien der Korporatismus zu Beginn der dreißiger Jahre noch nicht vollständig etabliert war, trat in Großbritannien die British Union of Fascists für einen Corporate State ein. Implizit präsentierten die programmatischen Schriften der BUF das italienische Modell als existent und gingen auf dessen unzulängliche Entwicklung in opportunistischer und wider-sprüchlicher Manier nur am Rande ein, um die eigene Argumentation für den Korporatismus nicht zu schwächen. In ihren Bezugnahmen betonten sie vor allem Italiens ökonomische Rück-ständigkeit (vgl. Kap. 2.3 und 4.4).

Wirtschaftlich hatte Italien zunächst bis 1923 eine Phase der Erholung erfahren, zur Mit-te der zwanziger Jahre verschlechterte sich die Lage allerdings. Autarkiebestrebungen und unternehmerische Forderungen nach Schutzzöllen fanden politische Berücksichtigung und das Regime beschloss Maßnahmen zur Währungsstabilisierung. Es folgten eine Zunahme der Arbeitslosigkeit und erhebliche Lohnkürzungen in Landwirtschaft und Industrie; beides kul-minierte nach Einsetzen der Weltwirtschaftskrise.

Dass die italienischen Faschisten eine Autarkiepolitik befürworteten, war nicht allein wirt-schaftspolitischen Auffassungen, sondern ebenso der nationalistischen und imperialistischen Ideologie geschuldet. Um die Nation aufzuwerten, sie im internationalen Mächteverhältnis neu zu positionieren und sie für expansionistische und kolonialistische Zielsetzungen zu rüs-ten, sollte sie ökonomisch möglichst unabhängig werden. Die Industrie sollte durch die Remi-litarisierung und die Angriffskriege seit der Mitte der 1930er Jahre einen Aufschwung erleben. Zuvor griffen bereits protektionistische Maßnahmen und eine Bündelung des Kapitals von Großunternehmen und Aktiengesellschaften im Istituto per la Ricostruzione Industriale , dem Institut für den Industriellen Wiederaufbau. In der Landwirtschaft bedeutete die Ausrichtung auf eine Autarkiepolitik, Importe von Nahrungsmitteln radikal zu minimieren, den techni-schen Fortschritt in die Landwirtschaft zu tragen und die Attraktivität des ländlichen Rau-mes zu steigern. Propagandistisch sollten anti-urbanistische Parolen und die Idealisierung des ländlichen Lebens Anreize zur Umkehr der Landflucht und Verstädterung einleiten. Projekte zur Landgewinnung, zur Urbarmachung und groß angelegte infrastrukturelle Maßnahmen zielten in eine entsprechende Richtung.119

Seit der Mitte der 1930er Jahre wurden die lang gehegten faschistischen Expansionsbestre-bungen konkret. Das faschistische Italien griff im Herbst 1935 Abessinien an. Bereits seit Mo-naten hatte Mussolini die Eroberung des ostafrikanischen Kaiserreichs zur Erweiterung der italienischen Kolonien und eines Impero propagiert. Wie Nationalismus und Militarismus waren Imperialismus und Rassismus konstitutive Bestandteile der faschistischen Ideologie(n) und sie waren in der italienischen Gesellschaft weit verbreitet. Seit Beginn der dreißiger Jahre fanden sie noch explizitere Einbettung in den Alltag, in die faschistisch dominierte Kultur und, besonders deutlich nachverfolgbar, in die Kommunikation der faschistischen Organisati-onen mit ihren Mitgliedern.120 Im Kontext des Überfalls auf Abessinien steigerte sich die impe-rialistisch und kolonialistisch argumentierende Mobilisierung in Bellizismus. In Italien und in den italienischen Gemeinden im Ausland wurde die moralische wie materielle Unterstützung des Krieges zur höchsten Bewährungsprobe und zum Beweis des Patriotismus erhoben. Die Propaganda schürte Großmachtträume, die sie als ein Recht der italienischen Nation präsen-tierte. Der Völkerbund verurteilte zwar im Oktober 1935 den Einfall italienischer Truppen in das ostafrikanische Kaiserreich und verhängte Sanktionen, schritt aber nicht militärisch ein. Italien ging in seiner Kriegsführung äußerst brutal vor, setzte massive Luftangriffe und Gift-gas auch gegen die Zivilbevölkerung ein. Im Mai 1936, nach der Einnahme von Addis Abeba, rief Mussolini den Sieg über Abessinien aus, ernannte den italienischen König zum Kaiser von Äthiopien und das Gebiet Africa Italiana Orientale zum Kolonialgebiet des Impero .121

Im Verhältnis der italienischen zu den britischen Faschisten stellte die sogenannte Abessini-enkrise, so viel sei hier vorab erwähnt, eine Bewährungsprobe und einen Wendepunkt dar, da die BUF sich nun explizit für italienische und gegen britische Interessen positionieren musste und in konzertierte Propagandaaktionen eingebunden war, an denen auch die Fasci all’Estero teilhatten. Für die italienischen Emigranten bedeuteten der Überfall auf Abessinien und die von Großbritannien unterstützten Sanktionen gegen Italien ebenfalls einen Einschnitt: Sie ge-rieten in einen von den Fasci all’Estero instrumentalisierten Loyalitätskonflikt und unterstütz-ten zum Teil enthusiastisch die italienische Politik. Insgesamt wurden die Grenzen von Integ-ration, Integrationsbereitschaft und Integrationsmöglichkeiten sichtbar (vgl. Kap. 3.3 und 5).

Der Antisemitismus, der in Italien in den späten 1930er Jahren offener und radikaler zu Tage trat, war bereits in den 1920er Jahren manifest, auch wenn Faschisten ihre antisemiti-schen Positionen noch häufig als eine Reaktion auf ‚bolschewistisch-jüdische Verschwörun-gen‘ deklarierten – eine Rechtfertigungsstrategie, die auch die britischen Faschisten frühzeitig nutzten und die sogar ihre offensichtlich radikale antisemitische Agitation begleitete. In der italienischen Gesellschaft und in der Forschungsliteratur wird oft eine apologetische Inter-pretation vertreten, der zufolge der Antisemitismus Italien erst durch die Kooperation der Faschisten mit den deutschen Nationalsozialisten erfasst habe. Dagegen beleuchten etwa Bru-nello Mantelli und Hans Woller, dass der italienische Antisemitismus und die Rassengesetze in einer längeren Tradition des rassistischen Denkens und in Ideologie und Herrschaftssys-tem des Faschismus wurzelten; die vielfach kontrafaktisch bemühten verharmlosenden Er-klärungsmuster seien als ein Aspekt des Mythos vom ‚guten Italiener‘ zu sehen, der insgesamt in Italien lange unkorrigiert tradiert wurde.122 Zwischen 1936 und 1938 beschloss das Regime eine ganze Reihe antisemitischer Maßnahmen. Sie kulminierten in den Rassengesetzen vom 17. November 1938, die eine weitreichende Diskriminierung und Verfolgung bedeuteten. Die von Konkurrenz geprägten Beziehungen zum nationalsozialistischen Deutschland hatten sich zwei Jahre zuvor konsolidiert. Im November 1936 hatte Mussolini die Gründung einer ‚Achse Berlin–Rom‘ bekannt gegeben. Die Kooperationsvereinbarung der ‚Achse‘ bildete 1936 den Auftakt zu einer Vielzahl von gemeinsamen Veranstaltungen, zu medial ausführlich doku-mentierten Staatsbesuchen, zu Ausstellungen und Großkongressen ihrer Massenorganisatio-nen und zur Beflügelung des bilateralen Tourismus.123

Präferierte der PNF in den zwanziger Jahren noch Beziehungen zu rechtskonservativen deutschen Organisationen, so weiteten sich die Verbindungen zur nationalsozialistischen Be-wegung schnell aus, blieben dabei aber widersprüchlich. Nach offenen Spannungen und Kon-frontationen 1934/35 näherten sich Nationalsozialisten und Faschisten um 1936 an; allerdings in einem weiterhin von Rivalität dominierten Verhältnis, in dem Faschisten und National-sozialisten Modelle zu einer faschistischen bzw. nationalsozialistischen Neuordnung Europas entwarfen, für die sie eine hegemoniale Rolle beanspruchten.124 Zu den kleineren europäi-schen faschistischen Bewegungen sowie zu ultrakonservativen bis radikal rechten Vereinigun-gen in anderen Ländern Europas unterhielten sie Kontakte, ließen ihnen erhebliche Summen als finanzielle Unterstützung zukommen und festigten durch inoffizielle, geheime Besuche, Audienzen, internationale Kongresse und formal unabhängige Einrichtungen zur Faschis-mus-Forschung entsprechende Netzwerke. Auch die kleineren Bewegungen vernetzten sich untereinander.125

Im italienischen Faschismus entsponnen sich schon in den 1920er Jahren Debatten um die häufig postulierte Singularität oder eine internationale Dimension des Faschismus, um dessen mögliche ideologische Expansion in Europa, um die Rolle der Auslandspro-paganda und zunehmend um Hegemonie. Mussolinis Ausspruch aus den frühen zwanzi-ger Jahren, der Faschismus sei kein Exportartikel, erfuhr zum Ende des Jahrzehnts eine Revision, als sich innerparteilich eine jüngere Kohorte durchzusetzen begann, die einen faschistischen Universalismus befürwortete. Dies begünstigte nun ein faschistisches Sen-dungsbewusstsein und Expansionsdenken, von dem die British Union of Fascists profitie-ren sollte (vgl. Kap. 5).

2.2 Exterritoriale Innenpolitik: die Fasci all’Estero und die italienischen Emigranten in Großbritannien

Die italienische faschistische Bewegung definierte ihre Machtsphäre nicht als auf italienisches Territorium begrenzt; vielmehr sah sie sich legitimiert, auch diejenigen italienischen Emig-ranten, die zum Teil schon seit Jahrzehnten oder Generationen im Ausland lebten und die sie als Italiani all’Estero betrachtete, politisch zu vereinnahmen. Das Wort Emigrant sollte aus dem Sprachgebrauch verschwinden und durch die Bezeichnung ‚Italiener im Ausland‘ ersetzt werden. In dieser Formulierung war bereits der Anspruch angelegt, die Nationalisierung der Massen auch außerhalb der Landesgrenzen voranzutreiben und eine „nazione fuori della na-zione“126, eine „Nation außerhalb der Nation“, der Heimat politisch und ökonomisch wieder einzugliedern. Die Kommunikation, die diesen Anspruch vermittelte, war häufig eine Kom-munikation gegen die Adressaten, eine Ausdrucksform symbolischer Politik.127 Unter ihren Adressaten erzeugte sie Druck, dem Inbegriff des sogenannten ‚neuen Italieners‘ zu entspre-chen, und machte ihnen Vorgaben zur Identitätsbildung. Diese Kommunikation definierte, was italienisch und welches Verhältnis zum Heimatland das richtige sei und zu welchen Lo-yalitäten die Ausgewanderten verpflichtet seien. Sie war hochgradig asymmetrisch, erzeug-te aber den Eindruck von Reziprozität, indem sie behauptete, auf antizipierte Bedürfnisse zu antworten. Von den ersten Fasci im Ausland zur Direzione Generale degli Italiani all’Estero

Schon früh in der Entwicklung der faschistischen Bewegung zeichnete sich diese exterrito-riale, transnationale Dimension ab. Eigentlich stellte die faschistische Bewegung dabei Trans-nationalität in Frage. Die rhetorische Konstruktion der ‚Nation dies- und jenseits der Grenzen‘ negierte territoriale Beschränkungen des politischen Einflussbereiches sowie die Tatsache, dass viele der Emigrierten bereits Teil einer weiteren Gesellschaft waren, wenn sie auch nicht zwangsläufig die Staatsbürgerschaft besaßen. Dass sich die Propagandisten dabei in einer rechtlich fragwürdigen Weise in innenpolitische Belange der host countries einzumischen drohten, war ihnen frühzeitig bewusst. Die Vermeidung bilateraler Konflikte war von Beginn an eine zentrale Mahnung in der Bewegung.

Oft versuchten Mitglieder italienischer Fasci , die in die italienischen Gemeinden im Aus-land gezogen waren oder sich temporär dort aufhielten, ähnliche Strukturen zu importie-ren und unter den ausgewanderten Italienern Unterstützer anzuwerben. Das zentrale Organ einer solchen Vereinnahmung sollten vor Ort eigene ‚Bünde im Ausland‘, die Fasci all’Es- tero , sein. Mit propagandistischem Aufwand appellierten deren Vertreter unter den Emig-ranten an die Italianità als eine gemeinsame Identität, Tradition und Moralität, für die sie die Deutungshoheit beanspruchten. Auswanderer wurden in der faschistischen Rhetorik zu einer comunità, einer angeblich homogenen Gemeinschaft, verklärt, die durch ihre Ferne zur Heimat ein Opfer brachte und die als Teil der faschistischen Gesellschaft eng an Italien gebunden bleiben sollte. Eine Rückkehr der Emigranten galt in dieser Anschauung nur als eine Frage der Zeit.

Wie Kapitel 3.3 und 4.3 zeigen werden, gaben sich die faschistischen Propagandisten aller-dings Illusionen hin: Ihre Hoffnungen, die Auswanderer seien für eine nationalistische, nostal-gisierende und egalisierende Ansprache besonders anfällig, die faschistische Ideologie werde sich mittels der Fasci in kurzer Zeit wie ein Lauffeuer verbreiten und die Masse der Emigran-ten für die Ziele der Bewegung einnehmen, erwiesen sich als trügerisch. In ihren Bemühun-gen, eine exterritoriale Innenpolitik vorzunehmen und unter den Adressaten zu legitimieren, mussten die faschistische Partei und die mit den Auslands- Fasci betrauten Zentralstellen in Italien zunehmend auf Umwege setzen. Es fand keine schnelle Faschisierung der Auslands-gemeinden statt, sondern eine schleichende Indoktrination, die allerdings in der Unterwande-rung bestehender Strukturen nachhaltig wirkte.

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Die ersten Fasci all’Estero wurden zwischen 1920 und 1921, also bereits vor Entstehung des PNF und vor dem ‚Marsch auf Rom‘, gegründet, in den meisten Fällen von ex-combattenti , die in Italien Erfahrungen in Fasci gesammelt hatten. Sie agierten als Multiplikatoren für die faschistische Bewegung und knüpften dabei an einen nach dem Ersten Weltkrieg verstärkten Patriotismus an. Ihr Adressatenkreis sollte nicht unterschätzt werden. In den 1920er Jahren lebten etwa neun Millionen Italiener im Ausland.128 Aus politischen, wirtschaftlichen und mi-litärischen Gesichtspunkten war die Pflege der Beziehungen zu den ausgewanderten Staats-bürgern ein wichtiger Faktor. Für die italienischen Faschisten bedeuteten die Fasci all’Estero eine Möglichkeit, die italienischen Gemeinden im Ausland zu ideologisieren, Konsens herzu-stellen und oppositionelle Aktivitäten zu kontrollieren und zu unterbinden. Durch die Faschi-sierung der Emigranten hofften sie zudem, die öffentliche Meinung zum Faschismus in den Einwanderungsländern positiv beeinflussen zu können, von den wirtschaftlichen Aktivitäten der Auswanderer zu profitieren sowie deren Einbürgerung in die Länder, in denen sie lebten, zu verhindern.

Eine erste zentrale Stelle zur Koordinierung, die die Fasci bald forderten, wurde im August 1922 beschlossen. Provisorische Statuten entlehnte man dabei dem Programm des Pariser Fa- scio , das neben der Ideologisierung und Nationalisierung der Emigranten auch die Propagan-daaufgabe jedes Fascio betonte. Die Mitgliedschaft sollte allen italienischen Männern ab dem 21. Lebensjahr und allen italienischen Frauen ab dem 18. Lebensjahr ermöglicht werden, die von ottima moralità , also von höchster Moral, und nicht bereits Mitglieder anderer Parteien seien.

Die wachsende Bedeutung der Auslands- Fasci für die faschistische Partei lässt sich an der umkämpften Institutionalisierung und Zentralisierung ihrer Leitung nachvollziehen. Schon im Sommer 1922 sprachen sich führende Vertreter des PNF, unter ihnen Dino Grandi, für die Einrichtung eines Büros aus, das die Aktivitäten der Auslands- Fasci koordinieren und Im-pulse für Neugründungen liefern sollte. Im Frühjahr 1923 beschloss der Gran Consiglio die Anbindung eines Ufficio Centrale per i Fasci all’Estero an die Segreteria Generale der Partei. Die Leitung übernahm der Vize-Sekretär des PNF, Giuseppe Bastianini. Dieser wertete die Emigration als einen möglichen Macht- und Expansionsfaktor Italiens und vertrat deutlich imperialistische, rassistische und sozialdarwinistische Vorstellungen.129 Emilio Gentile erläu-tert, Bastianini habe sich, obwohl er erst Anfang Zwanzig gewesen sei, als militanter Squadrist , führender Kopf des Faschismus in Umbrien und glühender Anhänger des Totalitarismus er-wiesen. Er sei zu einem wichtigen Akteur bei der Entwicklung einer außenpolitischen Linie des PNF geworden.130

Bastianini ließ über die Medien der Fasci all’Estero emphatische Appelle an die Italiener im Ausland veröffentlichen. So proklamierte etwa Gagliardetto , die Zeitung der Fasci in Deutsch-land, im Februar 1923, das ‚neue Italien‘ überrage Landesgrenzen:

Im Oktober 1923 wurde aus dem Ufficio die Segreteria Generale dei Fasci all’Estero . Der to-talitäre Anspruch, der die faschistische Innenpolitik bestimmte, prägte auch die Agitation der Faschisten in den italienischen Auswanderergemeinschaften. Um vor Ort die gewünschte Hegemonie zu erreichen, sollten alle konkurrierenden Institutionen der Gemeinden, ob ge-werkschaftlicher, karitativer oder kultureller Art, eingegliedert oder aufgelöst und korporative Organisationen eingerichtet werden. In den italienischen Gemeinden wurden neue italieni-sche Zeitungen gegründet oder bestehende infiltriert, die mit zunehmender Vehemenz die Fa-schisierung zu popularisieren suchten und dementsprechend einseitige Italienbilder vermittel-ten. Die in Italien geschaffenen Organisationsstrukturen der Fasci all’Estero wurden in diesen Medien bekannt gegeben und in einem paternalistischen Ton zu Interessenvertretungen nicht nur der Parteimitglieder, sondern aller ausgewanderten Italiener erklärt. Dadurch erhielten sie eine scheinbare diplomatische Legitimation.132

Die Fasci standen also zunächst unter der Kontrolle der Partei, die ihnen untersagte, sich in innenpolitische Belange der Einwanderungsländer einzumischen. Bereits wenige Tage nach der Umwandlung des Ufficio in eine der Partei zugeordnete Segreteria Generale nahm Mus-solini eine Änderung vor, die Bastianinis Spielraum erweiterte. Die Segreteria Generale dei Fasci all’Estero wurde dadurch noch im Oktober 1923 dem Außenminister und Regierungs-chef Benito Mussolini unterstellt.133 Damit war allerdings die Verortung der Fasci all’Estero im Staatsapparat und in der Bürokratie keineswegs eindeutig.

Die Amtszeit Bastianinis war geprägt von starken Spannungen mit der italienischen Dip-lomatie. Diese sah in den Parteizellen im Ausland eine Gefahr für diplomatische Beziehun-gen, während die Fasci und deren Segretario Bastianini den Diplomaten wiederum vorwarfen, die Verbreitung des Faschismus in den Gemeinden im Ausland systematisch zu behindern. In diese Konflikte reichten breitere Debatten hinein, die sich mit dem Verhältnis Italiens zu anderen europäischen Staaten, der außenpolitischen Ausrichtung und der ‚Exportfähigkeit‘ des Faschismus befassten. Bastianini unternahm 1925 einen ersten Anlauf, für die Idee einer faschistischen Internationale zu werben – ein Vorhaben, das auch andere Faschisten wie Giu-seppe Bottai, Camillo Pellizzi und Asvero Gravelli verfolgten und das in den frühen 1930er Jahren Erprobungen erfuhr, von denen die BUF profitieren sollte (vgl. Kap. 5).

In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre wurden die Fasci auch organisatorisch dem Ministero degli Affari Esteri unterstellt, in dem Dino Grandi als Sottosegretario degli Esteri nun entschei-denden Einfluss ausübte. Mussolini hatte zuvor beim ersten Kongress der Fasci all’Estero in Rom erklärt, diese unterständen dem diplomatischen Korps. Damit war der Konflikt gegen Bastianini entschieden worden.134 Grandi, so erklärt Emilio Gentile, habe von Mussolini den Auftrag erhalten, die Diplomatie zu faschisieren. In den folgenden Jahren seien konsularische Posten aus dem Mitgliederkreis der Partei besetzt worden. Grandi habe auch die Kontrolle über die Segreteria dei Fasci all’Estero verstärkt. Giuseppe Bastianini verlor 1926 seinen Posten und wurde Sottosegretario im Wirtschaftsministerium.135 In den folgenden Jahren war er an expansionistischen ‚Missionen‘ des Regimes beteiligt und agierte als dessen diplomatischer Vertreter in Portugal, Griechenland und Polen, bevor er unter Galeazzo Ciano Staatsekretärim Außenministerium wurde. 1939 folgte er als Botschafter in London auf Dino Grandi.136Zwischen 1926 und 1928 wechselten die Sekretäre mehrfach. Nach weiteren Reorganisatio-nen entstand eine Zentralstelle aller Einrichtungen, die mit den Italienern im Ausland befasst waren. Diese erhielt deutlich erweiterte Kompetenzen. Der Direzione Generale degli Italiani all’Estero oblagen die Steuerung der Fasci all’Estero , die Aufsicht über die Schulen im Ausland und wichtige Kompetenzen früherer Emigrationsbehörden. Ihr Kompetenzbereich ragte da-mit in wesentliche Lebensbereiche der Emigrantinnen und Emigranten und ihrer Kinder hi-nein. Unter der Leitung Piero Parinis erfolgte zudem eine programmatische und ideologische Neuausrichtung der Fasci : Die aggressive imperialistische Rhetorik wurde eingeschränkt, die Propaganda in den Auswanderergemeinden stärker auf die Schaffung eines positiven Images des Italiano all’Estero fokussiert, die Aktivitäten zugunsten der Herstellung eines Gemein-schaftsgefühls und der sozialen Kontrolle unter den Mitgliedern ausgerichtet. Parini stand der Direzione Generale degli Italiani all’Estero bis 1938 vor.

Die Veränderung der Kommunikationsstrategien gegenüber den italienischen Auswande-rern, die auf zentraler Ebene die Amtszeiten Bastianinis und Parinis unterscheidet, ist auch in den Quellen der Peripherie deutlich wahrnehmbar. In den italienischen Gemeinden in Großbritannien, um die es im Folgenden gehen soll, vollzog sich parallel ein vergleichbarer Wechsel. Ein die Emigranten diminuierender Sprachgebrauch seitens der Verantwortlichen der britischen Fasci , allen voran Camillo Pellizzi, prägte die ersten Jahre; ein nostalgisierender, Gewaltrhetorik vermeidender Ton in der Ansprache der Emigranten löste ihn ab.

In vielerlei Hinsicht ist die Etablierung faschistischer Strukturen in den italienischen Ge-meinden britischer Städte symptomatisch für die Entwicklung der Auslands- Fasci und ihrer Dachorganisationen. In London profilierten sich zeitlich versetzt die prominenten Faschisten Camillo Pellizzi, Dino Grandi und Giuseppe Bastianini. London sollte als ein Erprobungs-feld für den Import des italienischen Faschismus in die italienischen Gemeinden, für die Mo-bilisierung der Ausgewanderten und für die Gründung italienisch-britischer Gesellschaften werden. Hier boten sich Möglichkeiten zur Kooperation mit britischen Anhängern Mussolinis und mit britischen Faschisten. Darüber hinaus sollte die britische Hauptstadt ein wichtiger Austragungsort italienischer Auslandspropaganda werden, der im Kontext des Abessinien-krieges ein hoher Stellenwert in der transnationalen Agitation des Regimes zukam. Die italienische Migration nach Großbritannien

Die italienische Geschichte ist eine Migrationsgeschichte: Ob Wanderungen einer künstle-risch-handwerklichen, einer kaufmännischen, geistlichen oder höfischen Elite, ob politisch motivierte oder wirtschaftlich notwendige Migration als Konsequenz struktureller Bedin-gungen wie Saisonarbeit, Veränderungen der Pachtbedingungen, von Epidemien, Landflucht, Urbanisierung oder gesellschaftlichen Transformationsprozessen – über Jahrhunderte hinweg prägten Migrationen die italienische Geschichte und Kultur. Vor der Einigungsbewegung be-stand Italien aus Herzogtümern, Königreichen, Republiken, grenzte an den Kirchenstaat und wurde von den europäischen Großmächten Frankreich, Spanien und Österreich dominiert. Italien als geografischer Raum war von vielfältigen Wanderungsbewegungen gekennzeichnet.

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Mit der Nationalstaatsgründung und den Bemühungen um eine politische Durchdringung traditioneller Milieus und Machtstrukturen, um infrastrukturelle Erschließung insbesondere des Südens und um dessen wirtschaftliche Angleichung an den Norden nahmen Migrationen nicht etwa ab. Im Gegenteil, seit den 1870er Jahren wurde die italienische Auswanderung nach Nord- und Südamerika zu einer Massenbewegung. Zugleich erleichterten die voranschreiten-de Industrialisierung in West- und Mitteleuropa sowie der Ausbau des Verkehrsnetzes die Mi-gration in europäische Länder erheblich.137

Migrationsziele blieben in den Herkunftsregionen oft erstaunlich konstant. Auch die Tätig-keitsfelder der Migrierenden zeigten eine starke Kontinuität. Viele italienische Vereine in den Zielorten reflektierten dies. Sie wurden häufig im ausgehenden 19. Jahrhundert als Vertretun-gen einer Berufsgruppe und einer Herkunftsregion, zum Teil sogar eines einzigen Herkunfts-ortes, gegründet und waren damit eine Art Kombination aus zunftähnlicher Gemeinschaft und Heimatverein. In London bildete sich zum Beispiel eine Vereinigung der Fubinesi, der Migranten aus dem kleinen Ort Fubine, die in der italienischen Gemeinde Einfluss erlangte und ein transnationales Netzwerk aufbaute (vgl. Kap. 4.3).

Im 19. und 20. Jahrhundert folgte die Auswanderung zumeist dem Muster der Kettenwan-derung: Sie war in der Regel wirtschaftlich bedingt, verlief entlang eines bereits erprobten Pfades, sah eine endgültige Rückwanderung nach einigen Jahren vor oder war temporär noch begrenzter, nämlich als Saisonwanderung. Den Migranten forderte dies eine beachtliche Flexi-bilität ab, da sie sich in einem transnationalen Arbeitsmarkt behaupten mussten.

Die italienische Emigration war überwiegend eine Migration der Männer. Der Anteil aus-wandernder Frauen, die als Arbeitskräfte in protoindustriellen Beschäftigungsstrukturen oder als Dienstbotinnen Anstellung in anderen Ländern suchten, war gering. Paola Corti zufolge waren zwischen 1876 und 1880 etwa 85 % der Auswanderer männlich und 15 % weiblich; der Frauenanteil stieg in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts auf etwa 25 % an. Nach dem Ersten Weltkrieg wuchs er noch stärker, allerdings in Phasen, in denen die Migra-tionsrate insgesamt niedrig war.138 In der Regel verließen Männer temporär den Familienver-bund, um durch eine Migration das wirtschaftliche Auskommen der Familie zu sichern. Die Kettenwanderung veränderte auch die Herkunftsregion, denn sie erzeugte dort „villages of women“139. Genau genommen entstanden saisonal oder auch längerfristig Dörfer der Frauen, der Kinder und der Alten, in denen die soziale Interaktion einer eigenen Dynamik folgte. Wie Donna Gabaccia verdeutlicht, entzündeten sich in diesem Kontext an Brisanz und Schärfe zunehmende Konflikte um Familie, Frauen, Ehe und Moral; Debatten, in denen sowohl die ausgewanderten Männer als auch deren Frauen und Kinder stigmatisiert wurden.140

Die hohe Relevanz von verwandtschaftlichen Netzwerken war ein Charakteristikum der Mi-grationen des 19. Jahrhunderts. Aus ihr ergaben sich, wie Jochen Oltmer erläutert, spezifische Kommunikationsprozesse, die Migration ermöglichten und strukturierten:

Im italienischen Fall bildeten vor der Nationalstaatsgründung und noch lange über sie hinaus re-gionale Traditionen, Lebensstile und Dialekte einen starken identitätsstiftenden Bezugsrahmen. Gefestigte familiäre Strukturen bedeuteten Verlässlichkeit und damit ökonomische wie soziale Sicherheit. Die Aufrechterhaltung und kontinuierliche Pflege des Kontaktes zwischen Ausge-wanderten und den in der Heimat verbliebenen Familienmitgliedern sicherte beide Seiten gegen wirtschaftliche Notlagen ab, da sie je nach ökonomischer Entwicklung kurzfristig Rückwande-rungen oder einen Nachzug weiterer Arbeitskräfte und Geldsendungen in die Heimat ermög-lichte. Das Prinzip der Kettenwanderung begünstigte jedoch Abhängigkeiten und mündete mit zunehmender Komplexität der Verwandtschafts- oder Bekanntschaftsverhältnisse, auf denen es fußte, nicht selten in einer Patronagebeziehung mit mafiösen Strukturen und in Ausbeutung.

Die italienische Auswanderung nach Großbritannien ist paradigmatisch für all diese Mus-ter. In den Londoner Stadtbezirken Clerkenwell und Soho hatte sich zum Ende des 19. Jahr-hunderts eine große italienische Einwanderergemeinde so weitgehend etabliert, dass die Be-zeichnungen ‚ Little Italy ‘ und ‚ Italian Colony ‘ zu feststehenden Begriffen in den britischen Tageszeitungen geworden waren. Das Zentrum dieser italienischen Gemeinde befand sich in dem dicht besiedelten Bezirk zwischen Roseberry Avenue, Farringdon Road und Clerkenwell Road in Clerkenwell. Bereits seit dem 14. Jahrhundert hatten sich kleine italienische Gemein-den in britischen Städten gebildet, denen zunächst Seefahrer und Kaufleute, mit der Weiter-entwicklung des Kaufmannsberufes dann auch merchant banker und Unternehmer sowie Ärzte, Künstler, Architekten, Handwerker und Geistliche angehörten. Großbritannien wurde im 19. Jahrhundert für italienische Auswanderer aus ärmeren sozialen Kontexten zunehmend attraktiv, die unter anderem im Baugewerbe Arbeit suchten.

Neben die hohe Zahl der wirtschaftlich motivierten Emigrationen trat in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine politisch bedingte Auswanderung. Anhänger der italienischen Na-tionalbewegung flohen nach gescheiterten Aufständen vor der politischen Verfolgung durch die die italienischen Staaten als Landesherren regierenden europäischen Großmächte und den Kirchenstaat. Zuflucht fanden sie in Frankreich, in der Schweiz, in Belgien und in Großbri-tannien.142 Nach London exilierten Vertreter der Einigungsbewegung wie Giuseppe Mazzini und Giuseppe Garibaldi. Christopher Duggan erläutert, dass die zunächst überschwängliche britische Begeisterung für die italienische Einigungsbewegung von kurzer Dauer gewesen sei: Mazzini, der 1837 nach London kam, sei bereits auf ein spürbar abgeflautes Interesse seitens der britischen politischen und literarischen Elite getroffen; er habe aber auch dank seines Auf-tretens Anschluss an non-konformistische Kreise, die Victorian Radicals , gefunden und die öffentliche Meinung in London zugunsten der italienischen Unabhängigkeit und National-bewegung beeinflussen können.143

In Duggans Einschätzung der zeitgenössischen Wahrnehmung Mazzinis klingt eine bis weit ins 20. Jahrhundert manifeste stereotype Sicht der britischen Öffentlichkeit auf die Masse der italienischen Einwanderer an, die diese diskriminierend als laut, aufbrausend und pflichtver-gessen betrachtete. Der republikanische Kurs Mazzinis fand sodann in politisch interessier-ten und autodidaktischen Kreisen der britischen working classes Unterstützung.145 Während ihm der Anschluss sowohl an bildungsorientierte Kreise der working classes als auch an ge-sellschaftlich und politisch einflussreiche Kreise der upper classes glückte, blieb die Mehrheit der italienischen Einwanderer von der britischen Politik und Presse wenig beachtet. In der italienischen Gemeinde Londons trat Mazzini derweil weniger durch seine politischen For-derungen für die Zukunft Italiens als durch die Gründung einer Arbeitervereinigung und die Einrichtung einer Schule für die Armen in Hatton Garden in Erscheinung. In dieser Schule wurden Kinder und Erwachsene aus der Gemeinde kostenlos unterrichtet. Darüber hinaus wurde hier 1846 ein Gesetz diskutiert, das nicht nur für die Gemeinde, sondern durch seine Signalwirkung für die italienische Emigration insgesamt von großer Bedeutung war, da es die Ausbeutung von Kindern und Jugendlichen durch Padroni , also Arbeitgeber, die zugleich als Hausherr und Rechtsvorstand der Beschäftigten fungierten, bekämpfen sollte.146

Posthum diente Mazzini den verschiedensten politischen Initiativen in der Gemeinde als Referenz – so auch dem Fascio , dessen Vertreter in den 1920er Jahren in Zeitungsartikeln und Reden eine Kontinuitätslinie konstruierten und den Mythos Mazzini als Legitimationsstrate-gie politisch einzunehmen versuchten.

Seit dem frühen 19. Jahrhundert bildeten aus dem Norden Italiens stammende männliche Jugendliche und junge Männer die größte Gruppe unter den italienischen Einwanderern in Clerkenwell. Sie kamen für einige Jahre als ungelernte Arbeitskräfte nach London und fan-den in Handwerksbetrieben eine Anstellung oder verdienten ihren Lebensunterhalt als Dreh-orgelspieler. Zugleich entstand so über die Kettenwanderung ein Geschäftszweig: Die ein-wandernden jungen Italiener waren häufig von bereits in London lebenden Verwandten oder Bekannten angeworben worden. Diese übernahmen die später abzuarbeitenden Reisekosten, stellten eine Unterkunft bereit und boten Zugang zu sozialen Kontakten vor Ort. Nicht zufällig florierte gerade in Kontexten wie der Straßenmusik, des Straßenverkaufs und der Tagelöhner das Padroni- System, denn Kontrollen waren hier schwer möglich. Eine Form dieser indentured labour erregte in London seit den 1860er Jahren große Aufmerksamkeit und Empörung: die wirtschaftliche Ausbeutung von Kindern als Straßenkünstler oder Straßenmusiker. Italieni-sche Kinder, die mit weißen Mäusen oder anderen Kleintieren auftraten oder als Flötisten oder Drehorgelspieler in den Straßen zu sehen waren, wurden zu einem polarisierenden Thema in Zeitungen, sozialreformerischen Studien, der zeitgenössischen Literatur und in der britischen und italienischen Politik.147

John Zucchi geht von einer Verselbstständigung des Themas aus, die es als soziales Problem habe dramatischer erscheinen lassen, als es tatsächlich gewesen sei. Er sieht in dem Padro- ni -System eine größere Bandbreite der Arbeitsbedingungen und Beziehungen, die von einer Art apprenticeship bis zu einer Form der Sklaverei gereicht hätten; zeitgenössisch sei zuneh-mend nur die letztgenannte Form von der Öffentlichkeit wahrgenommen worden.148 Ob diese Bewertung einer Diskussion standhält, ist fraglich. Auch wenn wirtschaftliche Not Auslöser der Kinderarbeit war, änderte dies nichts an der Tatsache, dass Minderjährige über Agenten vermittelt und über Jahre in völliger Abhängigkeit einem Arbeitgeber verpflichtet waren, der durch niemanden kontrolliert wurde. In London wurde zur Eindämmung dieser Kinderarbeit 1860 die Italian Benevolent Society gegründet, die sich als Hilfsorganisation über die Gemein-de hinaus eine gute Reputation erarbeitete und aus diesem Grund in den 1920er Jahren für die faschistische Partei interessant werden sollte.

Aus der von Olive Besagni erstellten Sammlung von Familiengeschichten der italienischen Gemeinde Londons wird deutlich, dass es sich oft nicht um eine Ein- oder Auswanderung im Wortsinne handelte, sondern um eine erstaunliche Mobilität, bei der Italien über Generationen hinweg idealisiert als Heimat betrachtet wurde, die aber auch zu Entwurzelungsgefühlen führ-te. Die Geschichte der Familie Cattini-Viazzani, die aus der Toskana stammte, seit den 1880er Jahren in Londons italienischem Viertel in mehreren Generationen einen Pub betrieb und mit den Einkünften ein Familienanwesen im italienischen Heimatdorf ausbaute, ist geprägt von Wanderungen zwischen den beiden Ländern. Diese waren nicht allein wirtschaftlich bedingt, sondern auch von Heimatgefühlen für beide Länder sowie einer Entfremdung vom dörflichen Leben in Italien einerseits und der fehlenden Integration in Großbritannien andererseits be-einflusst.149 Donna Gabaccia bezeichnet solche „international family economies“150 als „the most visible expression of transnationalism as a working-class way of life among migrants“151. Die Quellen zu italienischen Einwanderern in Großbritannien verdeutlichen, dass diese Form des transnationalen Lebensentwurfs auch hier die Regel war. Sie entspricht dem Muster der zirkulären Migration, die intentional zeitlich befristet und mit einer oder mehreren Rück-wanderungen verbunden ist.152 Exemplarisch ist die in Besagnis Kompilation dokumentierte Geschichte Antonio d’Ambrosios aus Ciacca bei Cassino. In den 1860er Jahren reiste dieser als Dreizehnjähriger erstmals mit Familienangehörigen zu Fuß und per Schiff nach London und verdiente als Tagelöhner in englischen Städten Geld. Zur Erntesaison kehrte er nach Italien zurück und pendelte bis zu seinem 26. Lebensjahr zwischen Italien und England, wo er als Drehorgelspieler, Gastwirt und Eiscremeverkäufer arbeitete.153 Über familiäre Kontakte waren d’Ambrosio und seine Mitreisenden zwar gut über die Arbeitsmarktsituation in England und über Reisemöglichkeiten informiert, nicht aber über die politische Lage in Europa. Bei seiner zweiten Reise 1870 sei er in Paris in die Wirren des Deutsch-Französischen Krieges geraten und für mehrere Wochen interniert worden.154

Viele der in die britische Gesellschaft eingewanderten Italiener identifizierten sich im aus-gehenden 19. Jahrhundert stärker mit ihrer Herkunftsregion als mit der italienischen Nation. Sie heirateten noch in der zweiten Generation Partner aus ihrer Region und definierten Ita- lianità über die Traditionen ihrer jeweiligen Provinz. Bezeichnungen wie ‚community‘ oder ‚italienische Gemeinde‘ entsprangen historisch weniger einem Gemeinschaftsgefühl der Im-migranten als der Sicht von außen. Die durch ihre räumliche Konzentration wie eine Einheit wirkenden italienischen Viertel wiesen im 19. Jahrhundert starke Binnendifferenzierungen auf hinsichtlich der regionalen Herkunft, des Berufes und der Familienzugehörigkeit. Vor allem für diejenigen Einwanderer, die durch Knebelverträge zunächst abhängig von einem Padrone waren, beschränkte sich das soziale Umfeld auf die Wohn- und Arbeitsgemeinschaft. Dies be-günstigte mafiöse Strukturen und die Entstehung lokaler Clans, die um die Vorherrschaft im Viertel konkurrierten und die Rechtsordnung unterminierten. Die italienischen Gemeinden in Großbritannien im frühen 20. Jahrhundert

Wenige Jahre nach der Jahrhundertwende ergaben sich für Einwanderer in Großbritannien und für all jene Auswandernde, die sich dort ein neues Arbeitsleben aufbauen wollten, neue Herausforderungen, denn mit dem Aliens Act traten im Jahr 1905 Einreisebeschränkungen in Kraft. In vielen europäischen Staaten wurden vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis in die 1920er Jahre Einreise- und Aufenthaltsvorschriften erlassen und sukzessive verschärft, die der transnationalen Migration Grenzen setzten oder diese erschwerten. Wie Christiane Reinecke erläutert, betrafen die Regularien in Großbritannien zunehmend auch die bereits dort leben-den Einwanderer unterschiedlicher Herkunft. War der britische Aliens Act von 1905 noch vor-rangig darauf ausgerichtet gewesen, sogenannte „sozial unerwünschte – kriminelle, erkrankte oder fürsorgebedürftige – Migranten an der Einreise zu hindern“155, so „nährte vor 1914 eine nationalistische Freund-Feind-Logik sicherheitspolitische Ängste, die sich gegen nicht-briti-sche Untertanen richteten. Bei Kriegsbeginn wuchsen diese Befürchtungen und mündeten in einer verschärften Ausländerpolitik.“156 Hinzu kamen Ängste vor einer Massenzuwanderung aus Osteuropa, die schnell antisemitische Haltungen offenbarten, außerdem die anti-deutsche Stimmung und rassistische Motive zur Restriktion. Nach dem Krieg festigten der Aliens Res- triction Act von 1919, die Aliens Order von 1920 und nun weiterhin für nicht-britische Perso-nen geltende Meldeauflagen aus der Kriegszeit die Einschränkungen der Immigration. Ver-stöße konnten mit der Ausweisung geahndet werden.157

Während diese Restriktionen auf rechtlicher Seite eine Ungleichbehandlung britischer und nicht-britischer Angehöriger der Gesellschaft darstellten, wuchsen zugleich in der an-gespannten Nachkriegszeit in allen Schichten der Bevölkerung Ressentiments gegen Ein-wanderer, Fremdenfeindlichkeit, Ausgrenzungsmentalitäten und der Alltagsrassismus. Die italienischen Einwanderer waren zunächst weniger betroffen als die osteuropäischen, oft jü-dischen oder die ‚nicht-weißen‘ Immigranten. Wie Christiane Reinecke aufzeigt, steigerten sich anti-chinesische Vorurteile in der britischen Gesellschaft in den 1920er Jahren in die ‚ yellow-peril ‘-Hysterie:

Die italienischen Viertel in Soho und Clerkenwell erfuhren seitens der britischen Presse ähnli-che, wenn auch nicht ganz so offensichtlich rassistische Stigmatisierungen, von denen die mil-deren oft auf eine ‚laute Fröhlichkeit‘ abhoben, böswillige dagegen Faulheit, Disziplinlosigkeit oder mangelnde Hygiene der Bewohner behaupteten. Die letztlich auch in wohlmeinenden Berichten indifferente und diminuierende Bezugnahme auf Fröhlichkeit findet sich sogar in Presseartikeln, die nach Italiens Kriegseintritt 1940 und den folgenden Verhaftungen italieni-scher Staatsbürger in britischen Städten die Stimmungslage einfangen wollten. So titelte etwa der Observer : „Little Italy in London. All the Gaiety Gone“.159

Seit der Jahrhundertwende verschärften sich für die italienischen Migranten nicht nur in vielen Ländern die Einreisebestimmungen, sondern auch in Italien die Erfordernisse zur Aus-wanderung. Der italienische Staat war bemüht, diese zu reglementieren und sein Verhältnis zu den Emigrierten zu klären. 1912 wurde die Staatsbürgerschaft neu definiert: Staatsbürger waren nun alle in Italien geborenen Frauen und Männer, unabhängig davon, wo sie lebten. Auch die Möglichkeit doppelter Staatsbürgerschaften wurde bestätigt. Die im Ausland gebo-renen Kinder italienischer Staatsangehöriger waren ebenfalls italienische Staatsbürger. Die Ausübung des Wahlrechts gestand man Männern allerdings nur zu, wenn sie sich in Italien aufhielten. Um 1920 betrafen diese Regelungen rund neun Millionen Italienerinnen und Ita-liener im Ausland.160 In den 1920er Jahren erklärten die Faschisten, wie eingangs erwähnt, die bisherige italienische Emigrationspolitik für gescheitert; sie zielten darauf, diese zu reorgani-sieren, die Emigration zu reduzieren und sie den neuen Leitideen der Nation zu unterwerfen. Die Emigrationsbehörden unter der Führung des Commisario Generale dell’Emigrazione Giu-seppe de Michelis erstellten ausführliche Analysen der historischen und zeitgenössischen Aus-wanderung, der wirtschaftlichen Auswirkungen, der Arbeits- und Lebensbedingungen der Italiener in den host countries und ihrer Akzeptanz in den Gesellschaften.161 1924 richtete das faschistische Italien nach kleineren internationalen Treffen die erste internationale Migrati-onskonferenz, die Conferenza Internazionale dell’Emigrazione e dell’Immigrazione , aus. Paral-lel zu multilateralen Verhandlungen setzte das Regime darauf, in den Auswanderergemeinden einen „diaspora nationalism“162 zu erzeugen. 1927 ging die oberste Emigrationsbehörde in der Direzione Generale degli Italiani all’Estero auf, die fortan über ein Kapillarnetz, das weit in die Auswanderergemeinden hinein reichte, die Remigration preisen sollte.

Thematisierten italienische Faschisten in Großbritannien seit Beginn der 1920er Jahre Cha-rakteristika der Migration, so orientierte sich ihre Bewertung häufig einseitig an den negativen Aspekten aus dem 19. Jahrhundert und sie übernahmen das Narrativ vom schlechten Image der Italiener im Ausland. Ihre Gesellschaftskritik war teilweise anachronistisch, da sie auf überholten Stereotypen fußte und sie diese als Kampfbegriffe nutzte.

Tatsächlich setzte im frühen 20. Jahrhundert in den italienischen Vierteln Großbritanniens eine stärkere Identifikation als Gemeinschaft ein. Begünstigt wurde dies auch durch infra-strukturelle Maßnahmen vor Ort, die der Entstehung von Slums entgegenwirkten und Verbes-serungen der Wohnverhältnisse mit sich brachten. Ein damit verbundener Faktor war der Zu-zug von Familien, die sich in den Vierteln eine Perspektive erhofften. Berufsfelder veränderten sich zugunsten langfristiger Anstellungen; sie boten Aufstiegsmöglichkeiten und beförderten eine Identifikation mit dem Beruf. Eltern schickten ihre Kinder auf katholische Schulen, die auch andere katholische Gruppen, wie die irischen Einwanderer, besuchten, vererbten Ge-schäftsbetriebe an ihre Kinder und nahmen in stärkerem Umfang am Aufbau von Gemeinde-institutionen teil. In vielen Fällen blieb die Erwerbstätigkeit eng mit der Herkunft verknüpft, entweder durch italienische Arbeitgeber und Kollegen oder durch die Tätigkeit in einem Be-reich, in dem bewusst auf Italien und die italienische Lebensart rekurriert wurde, wie bei den kunsthandwerklichen Betrieben, in der Straßenmusik oder in den in London zunehmenden italienischen Lebensmittelläden und Cafés.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fanden weniger Einwanderer in britischen Industrie- und Handwerksbetrieben Beschäftigung, auch aufgrund britischer gewerkschaftlicher Initiativen zur Vermeidung des Lohndumpings durch Anstellung nicht-britischer Arbeiter. Mit der Fo-kussierung auf andere Erwerbstätigkeiten ergaben sich für die Einwanderer neue Wege so-zialer Mobilität. Die Mehrheit der nun nach Großbritannien kommenden Italiener verdiente in der Gastronomie und im boomenden Eiscremeverkauf ihren Lebensunterhalt.163 Der Ice- cream Seller wurde eine feste Berufsbezeichnung. Viele der mobilen Händler eröffneten nach ersten wirtschaftlichen Erfolgen kleine Läden oder Cafés in der Nachbarschaft oder im an-grenzenden finanzkräftigeren Bezirk Soho, der durch seine vielen Hotels, Theater und Nacht-clubs gute Geschäfte für die Gastronomie versprach. Soho und das Londoner West End stellten für die Londoner Italiener der Mittelschicht bevorzugte Wohngegenden dar. Zugleich war der Stadtteil bis zur Zeit des Ersten Weltkriegs das Zentrum italienischer anarchistischer Kreise.164

Ein wirtschaftlicher und sozialer Aufstieg gelang vielen jungen Londoner Italienern und Italienerinnen durch die Anstellung in den Luxushotels, renommierten Restaurants und Cafés des Londoner West Ends, die vergleichsweise gute Löhne zahlten und Karrieremöglichkeiten boten. Die Öffnung eines neuen Berufsfeldes für viele Angehörige der Einwanderergemein-de brachte nicht nur einen individuellen ökonomischen Zugewinn – sie hatte einen nicht zu unterschätzenden Effekt auf Lebensstile und Mentalitäten:

Soho war das Londoner Zentrum moderner urbaner und kosmopolitischer Kultur. 1903 be-wertete ein Bericht der Italienischen Botschaft in London den Lebenswandel der jungen Ein-wanderer als problematisch. Sie hätten oft Berufserfahrungen als Kellner in verschiedenen europäischen Städten gesammelt, legten dadurch ein ‚kosmopolitisches‘ Verhalten an den Tag. Die Einlassung des Verfassers mündete in der Erklärung, es sei ein Verlust an Moral und Nationalcharakter zu befürchten.166 In den frühen 1920er Jahren prägten solche pessi-mistischen Szenarien, die im Kern die Integration ablehnten, die faschistischen Diskurse vor Ort.

Die Frage nach der Integration der italienischen Einwanderer in die britische Gesellschaft ist wichtig, da sich an ihr eine Quellenproblematik offenbart. Zunächst ergeben sich grundsätz-liche Überlegungen: Wie viele italienische Einwanderer wandten sich vom Einwanderermilieu ab und integrierten sich in die britische Gesellschaft? Wie viele suchten beruflich und in der Wahl des Wohnortes keine Anbindung an die italienische Gemeinde? Aus welchen Gründen taten sie dies? Wie bewerteten sie die Aktivitäten der faschistischen Partei vor Ort?

Die Narrative über die italienischen Gemeinden in Großbritannien in den zwanziger und dreißiger Jahren, die sich den Quellen entnehmen lassen, bieten darüber kaum Aufschluss, wirken vielmehr geglättet. Abweichungen weisen sie erst mit dem Bezug auf den Kriegseintritt Italiens auf. Die Pluralität der Lebensentwürfe geben die Quellen kaum wieder. Bestimmte Berufsgruppen und soziale Milieus sind in ihnen und in der Forschungsliteratur sehr prä-sent, während andere unterrepräsentiert erscheinen, wie etwa die im Handwerk Beschäftigten oder die Industriearbeiter unter den italienischen Migranten in Großbritannien. Wie in der Untersuchung aufgezeigt wird, lässt sich eine deutliche Tendenz in der Selbstbeschreibung der italienischen Gemeinden und in der faschistischen Kommunikation mit ihnen und über sie erkennen, die britisch-italienischen Familien auszuklammern, die sich vorrangig in der briti-schen Gesellschaft verorteten.

Ein 1926 vom Commissariato Generale dell’Emigrazione herausgegebener Bericht zur Aus-wanderung zwischen 1910 und 1923 zeigt, dass viele der in britischen Industrie- oder Bergbau-regionen arbeitenden Einwanderer bereits die britische Staatsbürgerschaft beantragt hatten. Der Bericht verortet einen hohen Anteil der Migranten in der Arbeiterklasse: Sie seien Tage-löhner oder Hilfsarbeiter im ländlichen oder im städtischen Raum, Maurer, gelernte Arbeiter in Industrie- oder Handwerksbetrieben, Bergarbeiter, Mechaniker, Schlosser oder Schmiede, Schreiner, Straßenbauer, Bildhauer oder Straßenmusikanten.167 In der Kommunikation der Fasci mit den Gemeinden wurden diese Berufsgruppen jedoch seltener angesprochen als die der Angestellten. Es bleibt unklar, wie viele Arbeiter im engeren Sinne des Wortes Mitglieder der Fasci wurden oder ihnen nahestanden. Rekonstruieren lässt sich die soziale Herkunft der Mitglieder oder Sympathisanten nur ungefähr über die mit den Fasci schließlich kooperieren-den Berufsverbände, Vereine oder Clubs der Arbeiter und Angestellten.

Britische Tageszeitungen, überregionale wie lokale, befassten sich bis 1940 nur selten einge-hend mit den italienischen Gemeinden im Land. Erwähnung fanden die italienischen Einwan-derer in stereotyper Form und distanziert aus der Vogelperspektive betrachtet. Die Drehorgel-spieler, der mobile Verkauf von ‚ Penny Ices‘ und die aus einem sprachlichen Missverständnis resultierte Bezeichnung ‚ Hokey-Pokey-Men‘ für die Verkäufer prägten bald die britische öffent-liche Wahrnehmung der italienischen Einwanderer, und ‚ Little Italy ‘ wurde sprichwörtlich; so auch in einem 1903 veröffentlichten Bericht über die Lebenssituation in Clerkenwell, der den italienischen Bewohner des Viertels zudem abwertend als „bird of season, here to-day and in Italy to-morrow“168 bezeichnete. Sowohl für die britische Gesellschaft als auch für die Einwan-derermilieus lässt sich eine Abschottungstendenz feststellen.

Der britische Census von 1921 zählte 24 242 italienische Einwanderer in Großbritannien. Etwa die Hälfte von ihnen gehörte zur italienischen Gemeinde Londons.169 Diese Angabe ist nur begrenzt verlässlich, da sie lediglich einen Teilausschnitt zeigt. So waren zum Beispiel die in Großbritannien geborenen Kinder, britische Staatsbürger, nicht in dieser Statistik re-präsentiert. Die italienische Gemeinde verfügte in den 1920er Jahren über eigene Wohltätig-keitsorganisationen, ein italienisches Hospital,170 italienische Schulen, die den katholischen Kirchengemeinden angeschlossen waren, und stark frequentierte Arbeitertreffpunkte wie die Mazzini-Garibaldi-Gesellschaft und der 1909 gegründete Club Cooperativo , der über politi-sche Aufklärung hinaus viele Freizeitangebote machte und so zum zentralen Treffpunkt der Gemeinde wurde. Seit 1912 bestand in London eine Niederlassung der Società Dante Alighieri . Die Gemeinde verfügte also über eine komplexe eigene Infrastruktur und hatte sich in relativ kurzer Zeit von, wie Alfio Bernabei schreibt, einem Ghetto mit Dickens’schem Elend171 zu einem heterogenen, teilweise wirtschaftlich prosperierenden Milieu entwickelt. Die Fokussierung auf die italienische Gemeinde birgt die Gefahr, sie als autark oder als Enklave fehlzuinterpretieren. Ihre räumliche Nähe zu anderen Auswanderermilieus und zu den britischen Einwohnern der betreffenden Stadtviertel wie die Relevanz der kommunalpolitischen Maßnahmen zugunsten der Einwanderer geraten dabei leicht außer Acht. Die Einwanderer blieben zwar hinsichtlich engerer sozialer Beziehungen oft unter sich, hatten aber dennoch täglich Kontakt zu anderen Migranten und Briten in der Nachbarschaft, beruflich, in den nicht-italienischen Schulen oder bei den kommerziellen Freizeitangeboten. Der Erste Weltkrieg führte in der italienischen Ge-meinde zu Remigrationen, nicht zuletzt durch Einberufungen zum Militärdienst, sowie zu einem verstärkten Patriotismus und zu Brüchen und Konflikten, die in der Nachkriegszeit immer wieder spürbar wurden. In London bildeten sich Interessenvertretungen der Kriegs-veteranen, aus deren Mitte die faschistischen Akteure Unterstützung generieren konnten und die den Fasci ein Forum bieten sollten. Der Fascio di Londra  – der Auftakt faschistischer Agitation in Little Italy

Der Londoner Fascio , um den es im Folgenden gehen soll, war nicht nur einer der ersten Auslands- Fasci , er ist auch paradigmatisch für deren Entwicklungsphasen, Institutionalisie-rung und propagandistische Aktivität. Zwar erreichte er offiziell nur eine Mitgliederzahl von 1000,172 doch es gelang den in ihm organisierten Faschisten, wichtige soziale Organisationen zu unterwandern und die Infrastruktur der Gemeinde zu dominieren. Seine Reichweite war damit größer und zugleich schwerer durchschaubar.

Die konkrete Agitation der Fasci in Großbritannien in den 1920er Jahren ist in der For-schungsliteratur kaum aufgearbeitet.173 Zwar hat sich Claudia Baldoli in ihren Publikationen mit Aspekten der dortigen Propaganda und mit Netzwerken italienischer Faschisten in den 1930er Jahren auseinandergesetzt; allerdings erscheint die Übernahme der Gemeindeinstitu-tionen durch die Fasci dabei als weitgehend ungehinderte Aktion, die sich erst in der Amtszeit Grandis seit 1932 vollzogen habe.174

Die Fokussierung auf die 1930er Jahre ist problematisch, da sie das Gesamtbild verkürzt und den Prozesscharakter der Verbreitung faschistischer Ideologien und der Einflussnahme des PNF bzw. des faschistischen Regimes im Ausland nicht erfassen kann. Denn bereits seit den frühen 1920er Jahren wurden die Weichenstellungen für die Faschisierung der Little Italies vorgenommen. Die Unterwanderung bestehender Strukturen begleiteten dabei Gegenwehr und öffentlich ausgetragene Machtkämpfe.

In Oral-History -Projekten ist die Verstrickung in den Faschismus oft eine Leerstelle. In den Erinnerungen von Mitgliedern der italienischen Gemeinde überwiegt die Beschreibung der Zeit als von Harmonie, Zusammenhalt und relativem Wohlstand der comunità geprägt. Der Faschismus wird nur am Rande erwähnt, oft durch nostalgische Bezugnahmen auf Ferien-camps für Kinder in Italien und die Ausflüge der Jugendorganisationen. Ausgespart wird das Verhältnis der Erwachsenen zu den faschistischen Institutionen oder die Politisierung der Ge-meinde durch die Fasci . Als Wendepunkte fanden aber die Sanktionen 1935/36 oder die Inter-nierungen nach Italiens Kriegseintritt 1940 Eingang in veröffentlichte Erinnerungen.175 Lucio Sponza sieht die Mehrheit der italienischen Gemeinde als unpolitisch, schreibt ihr eine eher passive Rolle bei ihrer Faschisierung zu. Eine Konfrontation der Gemeinde mit der Ideologie des Faschismus, den imperialistischen Bestrebungen und mit den politischen Implikationen der Umwerbung der Italiener im Ausland sieht auch er als erst mit dem Abessinienkrieg und dem Zweiten Weltkrieg gegeben.176 Terri Colpi betitelt in ihrer Untersuchung das die Zeit des Faschismus umfassende Kapitel unkritisch als „The Golden Era 1920–1939“177. Sie betont die Konsolidierung der Gemeinde in dieser Zeit, in der Gemeinschaftsgefühl und individueller Wohlstand gewachsen seien. Es habe eine fast vollständige Faschisierung der italienischen Einwanderer stattgefunden, die diese auch gewollt hätten, da ihnen der Faschismus vermeint-lich Würde verliehen habe.178 Diese Bewertung basiert allerdings auf nur wenigen Zeitzeugen-berichten und auf den Publikationen der Gemeindeinstitutionen der dreißiger Jahre, deren fa-schistische Färbung Colpi nicht ausreichend berücksichtigt. Zuletzt haben Wendy Ugolini und Gavin Schaffer auf die Problematik einer zu sehr auf Nachkriegsnarrativen der italienischen Gemeinden basierenden Bewertung hingewiesen, die die sozialen Aktivitäten in den Mittel-punkt stellt, ohne das Ausmaß ihrer politischen Natur deutlich zu machen. Es werde ein ein-heitliches Bild konstruiert, das eine Zwangsläufigkeit unterstellt, die es zu hinterfragen gelte.179

Um das Ausmaß der Faschisierung der Gemeinden einschätzen zu können, Einstellungen in der Gemeinde zum Faschismus in Italien, die Prozesse der Unterwanderung der Institutionen, aber auch die Motive von Auslandsitalienern zur Anbiederung an das System des Faschismus nachvollziehen zu können, bedarf es einer genauen Betrachtung der Einwanderermilieus und der Entwicklung und Konsolidierung der Fasci all’Estero über ihren gesamten Zeitraum.

Der Fascio di Londra wurde im Sommer 1921 von ex-combattenti und Angehörigen der Mit-telschicht gegründet. Ein Initiator war der seit wenigen Monaten am Londoner University Col- lege italienische Literatur lehrende Jurist Camillo Pellizzi. Die zugezogenen Gründer hatten nur ein oberflächliches Verständnis für die Milieus, die sie von der Unterstützung des Faschis-mus zu überzeugen versuchten. Im Falle Pellizzis blieb es nicht allein bei einem Unverständnis gegenüber der Lebenssituation der ärmeren Einwanderer; er äußerte sich sehr abfällig über die Gemeinden und deren Institutionen. Camillo Pellizzi, geboren 1896 in Collegno nahe Turin, hatte an der Universität von Pisa, an der sein Vater Professor für Psychologie und zeitweise Rektor war, Rechtswissenschaften studiert. Zugleich war Pellizzi während des Ersten Welt-krieges Leutnant der Artillerie. 1920 reiste er nach England, um an der Universität Cambridge seine juristischen Studien weiterzuführen; er brach diese jedoch bereits nach einem Trimester ab. In London erhielt er durch die Vermittlung eines Freundes der Familie, Antonio Cippico, den Lehrauftrag am University College .180 Pellizzi suchte Anschluss an einflussreiche Kreise der italienischen Gemeinde und wurde bei der lokalen Società Dante Alighieri vorstellig, erlangte hier aber wenig Einfluss. In der Folgezeit kritisierte er diese Institution besonders scharf. Diese konterte mit dem Vorwurf, seine Kritik resultiere aus der Ablehnung seiner Person durch das Führungsgremium.181 Roberta Suzzi Valli zufolge wurden die ersten faschistischen Aktionen in London noch vor der Gründung des Fascio im Juni 1921 organisiert. Bereits im Februar 1921 hätten Pellizzi, Achille Bettini, Vorsitzender der Vereinigung der italienischen Veteranen vor Ort, sowie Elisa Boschetti, Mitglied der British-Italian League , eine Spendensammlung zu-gunsten der Familien gefallener Faschisten eingerichtet.182 Neben Cippico, Pellizzi und Bettini bildeten Männer das erste Direktorat, die schon den Fasci von Mailand, Bergamo, Genua und Sestri angehörten.183

Die Aktivitäten des Fascio di Londra beschränkten sich im ersten Jahr auf die Ausarbeitung eines Programmes, die Vernetzung mit weiteren Fasci all’Estero und Fasci in Italien und die Vorbereitung propagandistischer Aktionen.184 Ein Forum bot dem Kreis um Pellizzi dabei die Zeitung der italienischen Gemeinde La Cronaca , die zunächst noch ein ambivalentes Verhält-nis zum Faschismus zeigte, binnen weniger Monate aber die propagandistische Aktivität des Fascio unterstützte. Die zunehmend tendenziöse Berichterstattung und Auswahl der Kom-mentare erklärt sich aus der Funktion dieser Wochenzeitung, die sich zwar in ihrem Untertitel als Settimanale della Colonia Italiana ‚ also als Wochenzeitung der italienischen Gemeinde, definierte, tatsächlich aber in erster Linie das Organo Ufficiale dell’ Unione Reduci Militari Italiani Nella Gran Bretagna (URMI), also die Zeitung des Verbandes italienischer Veteranen in Großbritannien, unter Vorsitz Achille Bettinis war.

Camillo Pellizzi forderte in seinen Artikeln, Kommentaren und Reden die Kultivierung eines neuen Nationalgefühls in den italienischen Gemeinden im Ausland. Er kritisierte die lo-kalen Organisationen dabei scharf, zeichnete das Bild eines drohenden Verlustes von Italianità und forderte umfassende Bildungsprogramme für Kinder und Erwachsene. Ausgangspunkte seiner Kritik waren die fehlende Absicherung und Förderung der italienischen Gemeinden im Ausland durch eine effiziente Verwaltung vor Ort und in Italien sowie eine angeblich un-zureichende Absprache der gewerkschaftlichen und karitativen Verbände der Gemeinden, die zu einer Verschwendung von Mitgliedsbeiträgen und Spendengeldern, zur Abhängigkeit von britischen Organisationen und zur Ineffizienz geführt hätten.

Die Wahrnehmung, das Fehlen einer zentralen Interessenvertretung aller Italiener in Groß-britannien führe zur Schutzlosigkeit in Krisenfällen und zu einer problematischen Abhängig-keit von britischen staatlichen Stellen, wurde von einflussreichen Vertretern der Gemeinde geteilt, so etwa von Achille Pompa, dem Gründer und Vorsitzenden der Gewerkschaft der Eisverkäufer.185 Pellizzi war ein überzeugter Vertreter des Korporatismus. In einem korpo-ratistisch strukturierten System lag für ihn der Garant der Effizienz lokaler Organisationen. In der Artikelreihe I Problemi dell’Italia Esule , ‚die Probleme Exilitaliens‘, die vom Dezember 1921 bis zum Juli 1922 in La Cronaca erschien, diskutierten führende Vertreter der Gemeinde-institutionen über lokale Missstände. Weitgehend dominiert wurde diese öffentliche Debat-te durch den selbsternannten Reformer, der seine Pläne zur Eingliederung aller bestehenden Organisationen der italienischen Gemeinden in Großbritannien in ein korporatives System vorstellte. Der Ton war erstaunlich aggressiv und durch persönliche Schuldzuweisungen und Angriffe geprägt. Pellizzi und die Anhänger seiner korporatistischen Pläne attestierten den Gemeindeinstitutionen Ineffizienz, Lethargie und Geldverschwendung. Deren Vertreter kon-terten, der Gegenpartei fehle es an Einsicht in die Strukturen und Interessen der Gemeinde, an Finanzmitteln, um ihre hochtrabenden Pläne umzusetzen, und an praktischer Erfahrung in der Leitung vergleichbarer Einrichtungen.

Pellizzi forderte die Einsetzung einer zentralen Kontrollstelle und den Zusammenschluss aller Organisationen unter einer Dachorganisation. Sämtliche Wirtschafts- und Gewerk-schaftseinrichtungen der italienischen Gemeinde seien einer Federazione zu unterstellen, in die sie je nach Größe oder Mitgliederstärke Vertreter entsenden sollten. Den Vorsitz solle eine drei- bis fünfköpfige Exekutivkommission innehaben, die sowohl die Disziplin der zugehöri-gen Verbände überwachen als auch deren Aufgabenbereiche festlegen solle, um Kompetenz-streitigkeiten zu vermeiden. Darüber hinaus solle sie über die Zulassung neuer Institutionen entscheiden und eine Gründung solcher, die überflüssig oder schädlich seien, untersagen können. Ihr Leitprinzip müsse die Förderung und Bewahrung der Italianità sein.186 Politische Parteien klammerte der Agitator in seiner Argumentation aus, darauf verweisend, dass dieser Punkt an anderer Stelle zu verhandeln sei. Hinsichtlich der Wohltätigkeits- und Bildungsein-richtungen forderte er deren Bündelung unter zwei Dachorganisationen, den Comitati . Die Komitees der Sozialfürsorge und der Bildung und Propaganda sollten nur durch die zugehö-rigen Organisationen, lokale Autoritäten und einen Rat, den Consiglio della Colonia , gewählt werden. Um ein homogenes Ergebnis erzielen zu können, sollten keine allgemeinen Wahlen abgehalten, sondern Treuhänder bestimmt werden. Aufgabe der Komitees sollte sein, Ein-künfte und Spenden zu verwalten und die Gelder an die Einrichtungen zu verteilen, deren Verwaltungen zu kontrollieren und ihre Ausrichtung und Ziele festzulegen. Ferner sollten sie die Beziehungen zwischen den Organisationen regeln und deren Aufgaben koordinieren. Ihnen obliege es, über Fortbestand und Neugründungen zu befinden.187 Faktisch kündigte Pellizzi also den Vertretern der Organisationen die Aufhebung ihrer Entscheidungshoheit und ihrer Unabhängigkeit an.

Auf der nächsthöheren Ebene sahen seine Pläne ein Comitato Generale delle Istituzioni della Colonia ‚ ein Generalkomitee der Gemeindeinstitutionen, vor, das als ein Appellationsgericht fungieren sollte. Präsident dieses Komitees müsse der italienische Konsul werden, die Federa- zione und die beiden Comitati sollten jeweils einen Vertreter entsenden und ein Treuhänder sei von der Verwaltung der ‚Kolonie‘ zu stellen.188 Wie diese Verwaltung zu wählen und einzu-setzen sei, welche Rolle den politischen Parteien vor Ort dabei zukommen sollte, ließ Pellizzi hier erneut offen. Er erklärte jedoch, der Fascio di Combattimento werde in der Entwicklung als ‚Dynamo‘ agieren. Im Wesentlichen sahen die Pläne der Korporatismusbefürworter vor, über korporative Strukturen eine Nationalisierung der Gemeinden und deren politische, wirt-schaftliche und sozialpolitische Rückbindung an den italienischen Staat unter faschistischer Führung durchzusetzen.

Neben den aggressiven Ton und die Mobilisierungsrhetorik trat eine einseitige Steuerung der Debatte: Auf kritische Beiträge folgten Redaktionskommentare mit einer an Schärfe variie-renden Diskreditierung der Kritiker. Ein Beispiel: Pellizzis Kritik an den Interessenverbänden und Institutionen wurde vom Vorsitzenden der Gewerkschaft der Hotel- und Gastronomie-angestellten, der Società italiana dei lavoratori albergo e mensa (S.I.L.A.M.), zurückgewiesen. In der mittlerweile in L’Eco d’Italia (‚Das Echo Italiens‘) umbenannten Zeitung nahm der Vor-sitzende namens Vigliardi Stellung zu Pellizzis Vorwurf, die Gewerkschaft habe sich zu stark der britischen Workers’ Union angeschlossen, ihre Unabhängigkeit eingebüßt und einen ‚zu roten Anstrich‘ erhalten.189 Vigliardi hinterfragte Pellizzis Selbstbeschreibung als Experte in Gewerkschaftsangelegenheiten und seine Motive. Er warf der faschistischen Partei vor, sie be-absichtige nicht die Neugründung einer Gewerkschaft, sondern handle nach dem Vorbild des Kuckucks und schleiche sich in bestehende Organisationen ein, um diesen ihre Politik aufzu-zwingen. Seine Gewerkschaft habe sich bewusst für die Nähe zur britischen Workers’ Union und zur Sozialistischen Partei Italiens entschieden, da deren Grundsätze auch die Basis ihrer Verfassung bildeten. Die italienischen Gastronomie- und Hotelangestellten bräuchten die Ex-pertise der britischen Gewerkschaften, die mit Arbeitsschutzgesetzen im Land vertraut seien und einen effizienten Schutz der italienischen Arbeiter vor Übergriffen ihrer britischen oder italienischen Arbeitgeber gewährleisten könnten, da auch Landsleute vor Ort ihre Arbeitneh-mer ausbeuteten, während sie sich als Patrioten zu inszenieren suchten. Für die Arbeiter sei an-gesichts der Arbeitsbedingungen im Gastronomiegewerbe die Klassensolidarität von größerer Bedeutung als gleiche Nationalität. Pellizzi gab er den Rat, sich mehr Sachkenntnis anzueignen oder zu schweigen. Er schloss mit der Prognose, die Angehörigen der Gastronomiegewerk-schaft in London würden in ihrer überwiegenden Mehrheit nie Faschisten werden und sich nicht der ‚Zivilisierungsmethoden‘ mitverantwortlich machen, die Pellizzis Partei in Italien einzuführen plane.190 Die Redaktion der Zeitung veröffentlichte unter Vigliardis Kommentar eine Stellungnahme, in der sie äußerte, sie kenne ihren Freund Vigliardi zwar als einen aus-gezeichneten, ausgeglichenen Arbeiter, sei aber erstaunt über die Naivität seiner wirtschafts-politischen Ausführungen. Schwülstige Demagogie führe doch zu nichts.191 Mit der kurzen Replik, die paradigmatisch für weitere Fälle ist, diskreditierte ihn die Redaktion als Person und als Amtsträger.

Im Februar 1922 hatte La Cronaca das Programm des Fascio veröffentlicht: Aufgabe sei es, sich uneingeschränkt an die Thesen und die Statuten des PNF zu halten, das Prinzip der Na-tionalität vor Ort zu verteidigen sowie eine nationale Erziehung und Bildung in der colonia zu fördern und entsprechend auf die Institutionen einzuwirken. Jede Opposition vor Ort müsse bekämpft werden. Die Gründung von Gewerkschaftsorganisationen, die im Interesse des Va-terlandes seien, werde er fördern, die Etablierung weiterer Fasci in Großbritannien vorantrei-ben, den Initiativen des Fascio Öffentlichkeit verschaffen und britische Sympathisanten des Faschismus zur Unterstützung der Aktivitäten animieren.192

Der Fascio di Londra , der zu dieser Zeit nicht einmal über einen offiziellen Sitz verfügte, kündigte damit erneut den Organisationen der italienischen Gemeinde Londons an, sie inkor-porieren oder auflösen zu wollen. Einige reagierten, indem sie den Fascio von ihren Feierlich-keiten ausschlossen oder sich explizit distanzierten. So lud die Società Mazzini-Garibaldi , die eigentlich Società Per Il Progresso Degli Operai Italiani A Londra (‚Gesellschaft für den Aufstieg der italienischen Arbeiter in London‘) hieß, den Fascio von ihrer Feier anlässlich des 100. Ge-burtstages Mazzinis aus, zu dem alle anderen Vereinigungen geladen waren. In einem offenen Brief in L’Eco d’Italia erklärte Achille Bettini in scharfem Ton, es gehe dem Fascio nicht um den Anschluss an die Società Mazzini-Garibaldi , da der PNF ohnehin den ‚großen Männern der Patria ‘ durch die tägliche Verteidigung der Interessen der Nation Ehre erweise. In einer wirr anmutenden Herleitung deutete er den Vorfall als Beweis einer Verschwörung subversiver Elemente. Die Vertretung des PNF in London wisse, was die Arbeiter im Ausland bewege, und werde es nicht zulassen, dass anti-italienische Elemente aus persönlichen Motiven die Seelen der Arbeiter vergifteten.193 Hatte sich hier bereits das Vorgehen der faschistischen Partei gegen Vertreter der politischen Opposition im Ausland angekündigt, so wurde dies in der Folgezeit evidenter und militanter. Die Mazzini-Garibaldi-Gesellschaft war mit rund 900 Mitgliedern eine der wichtigsten Vertretungen der italienischen Arbeiter in Großbritannien und galt als effiziente Beratungsstelle für ankommende Migranten.194 Für die faschistische Partei war die Durchdringung dieser Organisation und damit des proletarischen Milieus daher ein vorran-giges Ziel. Widerstand durch sozialistische und anarchistische Gruppen

Ein kleiner und heterogener Kreis von italienischen Sozialisten, Anarchisten und Antifaschis-ten gründete im Juli 1922 die Zeitung Il Comento als Gegenforum zu La Cronaca . Il Comento musste allerdings aufgrund von Finanzierungsschwierigkeiten und Repressalien schon 1924 eingestellt werden. Die Redaktion erklärte im Editorial der ersten Ausgabe, Intention der Au-toren sei es, Widerstand gegen den Fascio zu üben.195 Zu den Gründern und Herausgebern der Zeitung gehörten Francesco Galasso, der als Arzt im Italienischen Hospital angestellt war, der Sozialist Vittorio Taborelli sowie Amos Salvadori, ein Gewerkschaftsaktivist, außerdem die Anarchisten Pietro Gualducci und Emidio Recchioni.196 Einige Mitglieder dieses Kreises waren bereits Jahre zuvor in Italien sozialistischen Vereinigungen beigetreten. Von den italie-nischen Sicherheitsbehörden waren sie als anarchistisch und subversiv betrachtet, überwacht oder sogar inhaftiert worden.197

In London hatten sich in der Viktorianischen Zeit viele im Exil lebende Italiener britischen anarchistischen oder sozialistischen Gruppierungen angeschlossen und Vereinigungen ins Leben gerufen. Pietro Di Paola erläutert, dass London zu einem zentralen Ort des politischen Exils nicht nur italienischer Anarchisten, sondern der „anarchist diaspora“198 aus ganz Europa geworden sei. Da die Aufnahme politischer Flüchtlinge hier nicht gesetzlich begrenzt gewesen sei und das britische Rechtssystem eine Ausweisung bzw. Auslieferung aus rein politischen Gründen nicht erlaubt, sondern diese nur im Falle konkreter Straftaten vorgenommen habe, hätten sich politische Flüchtlinge aller europäischen Länder seit den 1870er Jahren im Verei-nigten Königreich niedergelassen.199 Zum Mittelpunkt der anarchistischen Kreise entwickelte sich Soho: „Between 1870 and 1914, every street in southeastern Soho was honeycombed with anarchist clubs, restaurants, and meeting places.“200

Die Herausgeber und Autoren von Il Comento waren also keineswegs sozial isolierte Akti-visten, sondern gut vernetzte Persönlichkeiten, die zum Teil den örtlichen Freimaurern nahe-standen und ihre politische Haltung offen vertraten. Andere sprachen sich für die Verwendung radikaler Methoden zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele aus und wurden von den briti-schen Sicherheitsbehörden überwacht. Ihre Netzwerke beschränkten sich nicht auf italieni-sche Einwanderer in Großbritannien und italienische Sozialisten und Anarchisten im Exil in anderen europäischen Metropolen, sondern schlossen enge Verbindungen zu sozial besser gestellten sozialistischen Aktivisten der britischen Oberschicht ein. Dies lässt sich am Beispiel Emidio Recchionis verdeutlichen.201

Der Journalist Recchioni kam 1899 nach London, nachdem er an einem versuchten Atten-tat auf den italienischen Premierminister Crispi beteiligt gewesen sein soll und nach einer 18-monatigen Haftstrafe, auf die ein Freispruch folgte, vor einer erneuten Inhaftierung ge-flohen war. 1909 erwarb er den Lebensmittelladen King Bomba , der in der britischen Gastro-nomie-Kritik als Delikatessengeschäft galt und daher nicht nur einen italienischen, sondern auch einen großen britischen Kundenkreis hatte. Während des Ersten Weltkrieges organisier-te Recchioni Antikriegsdemonstrationen. Das Geschäft, über dem Recchioni mit seiner Fami-lie lebte, entwickelte sich in den zwanziger und dreißiger Jahren zu einem „social centre for anti-Fascists, including English and American intellectuals such as Sylvia Pankhurst, George Orwell, and Emma Goldman.“202 Sylvia Pankhurst und ihr Lebensgefährte Silvio Corio ge-hörten zum Freundeskreis Recchionis und zu den langjährigen Unterstützern der Gruppe, die mit Il Comento die Ausbreitung des faschistischen Einflussbereiches zu verhindern versuchte. Pankhurst bot den italienischen Autoren mit ihrer Zeitschrift The Workers’ Dreadnought ein Forum, das britische Leser erreichte und sich als dezidiert antifaschistisch positionierte. Emi-dio Recchioni wurde 1932 verdächtigt, an zwei versuchten Attentaten auf Mussolini beteiligt gewesen zu sein und diese durch seine Einkünfte im King Bomba finanziert zu haben. Ange-klagt wurde Recchioni nicht, jedoch von Institutionen der italienischen Gemeinde Londons geächtet und mehrfach angegriffen. Er verklagte daraufhin den Daily Telegraph , der ihn na-mentlich als Verschwörer genannt hatte. Recchioni verstarb zwei Jahre später in Paris. Judith Walkowitz erklärt, Akten des britischen Home Office belegten, dass er an der Finanzierung der Anschläge beteiligt gewesen sei.203

Die Herausgeber von Il Comento prangerten die zunehmende Einmischung der Faschisten in die Belange der Gemeindeinstitutionen an, druckten und verteilten Flugblätter, organisier-ten Informationsveranstaltungen und bemühten sich um Anschluss an britische Intellektuel-le. Alfio Bernabei sieht die Beweggründe der sozialistischen und anarchistischen Kreise in London für ein öffentlichkeitswirksames Handeln in ihrer Entrüstung und ihrer Sorge über die rasche Expansion des Faschismus vor Ort begründet. Sie seien von dessen Entwicklung in Italien nicht überrascht worden, hätten sie diese doch von 1919 an sehr genau beobachtet. Er-schreckend sei für sie die plötzliche Ausbreitung in ihren eigenen Straßen, mehr als tausend Kilometer entfernt von Italien, gewesen. Sie hätten befürchtet, Intention der Faschisten sei es, aus London ein Experiment im Miniaturformat zu machen, das als Beispiel für andere Haupt-städte des Auslands fungieren sollte.204

Das konkrete Erleben der Faschisierung ihrer eigenen Nachbarschaft war für sie demnach ein Weckruf, erste Widerstandsmaßnahmen zu ergreifen. Ihre vorrangigen Adressaten waren bei diesen Aktionen noch die italienischen Einwanderer, insbesondere die Arbeiter im catering trade , wie Stefania Rampello erläutert.205 Der Kreis um Il Comento wurde über Jahre von den italienischen faschistischen Behörden überwacht. In Akten der Polizia Politica aus den 1930er Jahren finden sich zum Teil sehr detaillierte Berichte über Treffen der Londoner Antifaschis-ten, die darauf hinweisen, dass die Polizia Politica auch Informationen aus dem direkten Um-feld der Gruppe sowie von anderen europäischen Sicherheitsbehörden bezog. So sandte ein in Paris stationierter Angehöriger der Polizia Politica im November 1934 eine Liste an das ita-lienische Innenministerium, die Namen, Geburtsdaten, Adressen und Berufe vermeintlicher italienischer Antifaschisten in London enthielt, unter ihnen auch Francesco Galasso und De-cio Anzani. Das Schreiben führte die französische Polizei als Quelle der Informationen an.206Die Polizia Politica sah weniger in den Treffen selbst eine Gefahr als in der gesellschaftlichen Stellung der Mitglieder, die angesehene Berufe ausübten und in ständigem Kontakt zu vielen Gemeindemitgliedern und Briten standen.207

Im Dezember 1922, unter dem Eindruck des ‚Marsches auf Rom‘, gründeten die Il Co- mento -Verantwortlichen die Gesellschaft Libera Italia als „forum for propaganda and the dissemination of all moral principles for civilised progress“208. Der Fascio nahm in den De-zember-Ausgaben der Zeitung L’Eco d’Italia Bezug auf Libera Italia und deren Kritik am Faschismus. In diesen Stellungnahmen finden sich Scheinargumente, die im italienischen Faschismus zu geflügelten Worten wurden und, ähnlich wie der Mythos von den deutschen Autobahnen, als Metaphern für Durchsetzungsfähigkeit und erfolgreiche Politik zur pau-schalen Rechtfertigung gebraucht wurden: So bewertet der Autor Mussolinis reaktionäre Haltung als positiv konnotiert und fortschrittlich, werde sie doch bewirken, dass nie mehr Züge verspätet ankämen, staatliche Angestellte nie mehr auf dem Papierkram vor sich hin dösten und überall Ordnung herrsche.209 Mit der Ernennung Mussolinis zum Capo di Go- verno war für den Autor des Artikels wie für viele Anhänger des Faschismus die Erwartung eines harten Durchgreifens, eines entschlossenen Handelns in der Innen- wie in der Außen-politik verknüpft. Die lokale Entwicklung nach dem ‚Marsch auf Rom‘ und in der ‚Matteotti-Krise‘

Nach dem ‚Marsch auf Rom‘ begann für den Fascio eine Phase des verstärkten Zulaufs und der erhöhten Aufmerksamkeit seitens der britischen Presse, die er bei einer uniformierten Pro-zession zum Grabmal des unbekannten Soldaten in Westminster nutzte. Nach der Abend-messe in der Westminster Abbey , deren Teilnehmer ebenso wie die Besucher des Grabmals ungefragt zum Publikum wurden, legten die als Schwarzhemden auftretenden Faschisten dort einen Lorbeerkranz nieder. Der Redner, ein Professor Scola, zeigte den faschistischen Gruß.210In diesem Ereignis erhielt ein 1920 international eingeführtes Trauerritual, das in Italien seit 1921 zur „Chiffre der Nation“211 wurde und eine große politische Bedeutung hatte, eine trans-nationale und eine exterritoriale nationale Dimension, denn die Ehrerweisung an den milite ignoto in Westminster richtete sich hier, zumindest anscheinend, an um Gefallene trauernde Italiener und Briten – und verwies doch klar auf Italien. Die Prozession der Londoner italie-nischen Faschisten erzeugte mehr als nur das Bild einer emotionalen Verbindung des lokalen Trauerortes zu jenem in Italien, zur Patria . Das eigentlich überparteiliche und internationale Trauerritual wurde usurpiert und als ein faschistisches Ritual inszeniert.

Bei seinem Aufenthalt in London im Dezember 1922 wurde Benito Mussolini von Mitglie-dern der Fasci enthusiastisch empfangen. Die Mitgliederzahl des Londoner Fascio stieg von 40 auf 200 an, in weiteren britischen Städten gründeten sich neue Fasci (mit einer Gesamtmitglie-derzahl von 800).212 Camillo Pellizzi wurde zum Delegierten auf Staatsebene befördert, zum Delegato Statale per i Fasci in Gran Bretagna e Irlanda . Der Londoner Fascio verfügte nun über einen Sitz in der Great Russell Street in der gehobenen Nachbarschaft des British Museum . Er richtete eine Frauengruppe ein, die Sezione Femminile , sowie zwei Gewerkschaften für den Hotel- und Gastronomiebereich.

In den folgenden Jahren führten allerdings Mitgliederausschlüsse nach der ‚Matteotti-Krise‘ und interne machtpolitische wie ideologische Konflikte zu ständigen Wechseln in der Führungsebene sowie zu Schwankungen der Mitgliederzahlen. Die Ermordung Mat-teottis im Juni 1924 veränderte einerseits die britische Perspektive auf den Faschismus in Italien; andererseits rückten in diesem Kontext die italienischen Auswanderer in Großbri-tannien verstärkt in den Fokus Mussolinis. Giacomo Matteotti war, wie erwähnt, wenige Monate vor seiner Entführung und Ermordung in London gewesen. Er hatte hier Vertreter der Labour Party , der Independent Labour Party und der britischen Presse getroffen. Dabei hatte er unter anderem Manipulationen der Wahlen in Italien im April desselben Jahres durch die Faschisten und die Angriffe der Squadre auf politisch Andersdenkende thema-tisiert. Nach seiner Ermordung wurde die britische Kritik an der faschistischen Regierung Italiens lauter. Mussolini forderte nun die Botschaftsangehörigen in London auf, genaue Erkundigungen über Matteottis Kontaktpersonen in Großbritannien einzuholen. Bereits vor den Wahlen im April hatte Mussolini die Botschaft angewiesen, eine Ausreise poten-zieller ‚subversiver Elemente‘ durch die Verweigerung der notwendigen Dokumente zu ver-hindern, da zu befürchten sei, dass diese die Wahlen nutzen könnten, um ‚Agitationen und Unruhen zu verüben‘.213

Den diplomatischen Akten des Jahres 1924 lässt sich entnehmen, dass sich schon vor dem Regierungsantritt Ramsay MacDonalds als Premierminister im Januar desselben Jahres deut-liche Spannungen im diplomatischen Verhältnis abzeichneten, die sich aus der kritischen Hal-tung der Labour Party dem italienischen Faschismus gegenüber ergaben. So sah Mussolini in dem Ausbleiben eines förmlichen Briefes MacDonalds an ihn als italienischen Regierungs-chef einen groben Affront. Er forderte den italienischen Botschafter in London, Della Torretta, mehrfach eindringlich auf, die Hintergründe zu beleuchten und in britischen Regierungskrei-sen zu intervenieren.214 Der Kommunikation Mussolinis und Della Torrettas lässt sich die Ver-ärgerung des italienischen Regierungschefs und Außenministers entnehmen, der sich durch die Labour- Regierung auch in politischen Fragen hintergangen und getäuscht fühlte und die Eignung Della Torrettas als Botschafter in Frage stellte.215 Die Information der Botschaft, die Labour Party plane Wahlbeobachter nach Rom zu entsenden, um sich von der Rechtmäßigkeit des Ablaufs zu überzeugen, sorgte für weitere Spannungen, die MacDonald schließlich zu dem verlangten persönlichen Brief veranlassten.216

Die Reise Giacomo Matteottis nach London im April 1924 wurde nach dessen Entführung im Juni zu einem beherrschenden Thema der Kommunikation Mussolinis mit der Italieni-schen Botschaft in London. Aus dem Schriftwechsel wird deutlich, dass es Matteotti gelungen war, sich unbeobachtet von den italienischen Behörden, von der Botschaft und vom Fascio in London zu bewegen. In einem Telegramm vom 14. Juni forderte Mussolini Della Torret-ta auf, mit größter Sorgfalt Matteottis Aufenthalt in London zu rekonstruieren.217 Am selben Tag meldete der Botschafter in Paris, dass die Nachricht von der Entführung Matteottis dort für viel Aufsehen gesorgt habe und dass mit schwerwiegenden Demonstrationen zu rechnen sei.218 Entsprechendes berichtete drei Tage darauf Della Torretta. Camillo Pellizzi hatte der Botschaft inzwischen mitgeteilt, Matteotti habe einen Vortrag bei der Workers’ Union im Lon-doner Stadtteil Hampstead Heath gehalten, englische Sozialisten und den Premierminister Ramsay MacDonald getroffen; hier seien aber nur höfliche Floskeln gewechselt worden. In der italienischen Gemeinde habe Matteotti einen Abend im Club Cooperativo verbracht und dort in moderaten Worten antibolschewistische, aber auch antifaschistische Gedanken geäußert.219In dem Bericht erscheint der Aufenthalt Matteottis als harmlos; es sei nicht zu bedeutenden politischen Gesprächen gekommen. Pellizzi, der Fascio und die Botschaft dürften ein eigenes Interesse an dieser Darstellung gehabt haben, war ihnen der Besuch doch weitgehend entgan-gen, und auch zwei Monate danach schienen sie nicht über gesicherte Informationen verfügen zu können. Ihr eigener Anspruch, über die Aktivitäten Oppositioneller vor Ort umfassend informiert zu sein, geriet ins Wanken. Noch im Mai hatte Della Torretta Mussolini berichtet, dass er anlässlich des Besuchs des italienischen Königs in London von der britischen Polizei unterrichtet worden sei, italienische Kommunisten, die Anschläge auf Faschisten planten, sei-en eingereist. Della Torretta hatte vorgeschlagen, in der Botschaft den Posten eines Commis- sario di polizia einzurichten.220 Die potenzielle Aktivität oppositioneller oder anarchistischer Kreise in London versetzte die Botschaft offensichtlich in Alarmbereitschaft. Später waren hier Agenten der Polizia Politica tätig, die auch die Botschaftsangehörigen selbst überwachten.

Ein Telegramm Mussolinis an das diplomatische Korps vom 18. Juni 1924 gab schließlich eine Sprachregelung zu Fragen um das Verbrechen an Matteotti vor: Die Tat beschädige nicht den Faschismus, da dieser sie entschieden missbilligt habe; die Polizei habe alle Verdächti-gen verhaftet; die unabhängigen juristischen Autoritäten würden den Prozess aufnehmen und Gerechtigkeit herstellen. Das Telegramm forderte die Botschaftsangehörigen auf, deutlich zu machen, dass die Tat den nationalen Einigungsprozess unterbrochen habe, den Mussolini mit aller Kraft angestrebt habe, und dass vergleichbare abscheuliche Taten in allen europäischen Ländern in den letzten Jahren verübt worden seien.221

Bei seinem Aufenthalt in London hatte Matteotti Vereinbarungen zur Übersetzung seines Buches Un anno di fascismo italiano getroffen.222 Dieses gab die Independent Labour Party als The Fascisti Exposed. A Year of Fascist Domination. By the Late Giacomo Matteotti heraus. Das Vorwort Oskar Pollaks thematisierte die persönliche Verantwortung Mussolinis für die politi-sche Verfolgung und Ermordung Matteottis.223

Die öffentliche Diskussion führte zu einer verstärkten Auseinandersetzung mit den Berich-ten über gewalttätige Übergriffe auf Oppositionelle in Italien. Auch Politiker, die nicht von einer Beauftragung der Täter durch Mussolini oder die Führung der faschistischen Partei aus-gingen, stellten die Frage nach den politischen Umständen, die eine solche Tat möglich ge-macht hatten. Die Ermordung Matteottis belastete die diplomatischen Beziehungen zwischen Italien und dem Vereinigten Königreich. Ramsay MacDonald und weitere Labour -Minister unterstützten die Erklärung der Labour Party , sie verurteile die Tat auf das Schärfste, spreche der Sozialistischen Partei Italiens ihr Mitgefühl aus und versichere, sie im Kampf gegen Kräfte, die die Grundprinzipien von Freiheit und Demokratie mit Füßen träten, zu unterstützen.224Mussolini verlangte eine Distanzierung der britischen Regierung von der Labour -Erklärung, die MacDonald jedoch verweigerte.

In den italienischen Gemeinden im Vereinigten Königreich polarisierte die ‚Matteotti-Kri-se‘. Alfio Bernabei erklärt, unmittelbar nach Bekanntwerden der Entführung Matteottis seien Ausschreitungen zwischen Antifaschisten und Faschisten in Londons Little Italy ausgebro-chen und die Polizei habe schlichten müssen. Zahlreiche Mitglieder des Fascio hätten ihre Par-teiabzeichen abgelegt und ihren Austritt erklärt.225 Camillo Pellizzi reagierte darauf in L’Eco d’Italia mit Drohungen an jene Kritiker, die, wie er schrieb, ihnen bis vorgestern die Füße geküsst hätten und sie nun von oben herab ansähen und sie mieden wie räudige Bestien.226 Das Vordringen des Fascio in die Zivilgesellschaft

Nach 1924 umwarb der Fascio offensiver die Eliten der italienischen Gemeinde. Einige ein-flussreiche Londoner Italiener sahen in einer Kooperation mit den Faschisten frühzeitig die Möglichkeit, sich wirtschaftliche Vorteile verschaffen zu können und sich vom vermeintlichen Stigma des Einwanderers und des in der britischen Gesellschaft Unterprivilegierten zu lösen. Unter ihnen waren Restaurantbesitzer, Hoteliers, Unternehmer wie die Verlegerfamilie Ercoli, deren Verlag in den folgenden Jahren faschistische Schriften publizierte, der erwähnte Achil-le Pompa, Gründer und Sekretär der Ice Cream and Temperance Refreshments Traders Fede- ration , der Reifenfabrikant Giorgio Pirelli, Mitglieder der italienischen Handelskammer in London und Angehörige der großen italienischen Banken, die in London lebten und zum Teil Posten in den Gemeindeinstitutionen innehatten.227 Dieser Personenkreis finanzierte die Zei-tung L‘Eco d’Italia mit, die 1926 vom Fascio übernommen und zum Organo Ufficiale dei Fasci Italiani nelle Isole Britanniche, dem Offiziellen Organ der Italienischen Bünde auf den Briti-schen Inseln, erklärt wurde. Im September 1928 wurde sie in L’Italia Nostra (‚Unser Italien‘) umgetauft. Namentlich bekannte Unternehmer, die sich der faschistischen Partei anschlossen, waren wohlhabend und durch ihre Stellung als Arbeitgeber der Gemeindemitglieder einfluss-reich. Sie verfügten über enge Kontakte zur Italienischen Botschaft in London und zu den Konsulaten in Großbritannien.

Die Formen der Anwerbung lokaler Unternehmer durch die italienischen Faschisten sind in der Forschungsliteratur ein blinder Fleck; die Quellen bieten nur sehr eingeschränkt Aufschluss. In den Veröffentlichungen der Fasci finden sich allerdings einige Namen sehr häufig, sowohl in redaktionellen Beiträgen als auch in den Anzeigensparten. In L’Eco d’Ita- lia und L’Italia Nostra erschienen über Jahre Werbeanzeigen italienischer Firmen, Res-taurants und Läden vor Ort, aber auch bedeutender italienischer Banken und Konzerne. Werbung der Banca Commerciale , des Credito Italiano und der Banca Caprotti Ltd . war in nahezu jeder Ausgabe der Zeitung vertreten. Ebenso regelmäßig warb sie für die Produkte von Fiat , Pirelli , San Pellegrino und Cirio Brand . Lokale Läden genossen eine vergleich-bare Präsenz, so etwa die Soho Provision Stores , die Gaststätten und Hotels belieferten, der Einzelhändler Cini Bros. & Co , Pinoli’s Restaurant , Florence Restaurant , Kettners Restau- rant und Quo Vadis Restaurant .228 Angesichts der in den 1920er Jahren eher niedrigen, für Großkonzerne wenig rentabel erscheinenden Auflagenstärke der Zeitung deutet dies auf ein Engagement der Betreiber und Unternehmer hin, das über ökonomisch motivierte Werbetätigkeit hinaus ging.

In Zeitungskommentaren aus diesen Kreisen offenbart sich ein doppelter Minderwertig-keitskomplex, der sich auf die gesellschaftliche Stellung der Auswanderer zum einen in Italien und zum anderen in Großbritannien bezog. Es zeichnet sich das Spannungsfeld einer befürch-teten Entwurzelung und einer nicht glückenden Integration ab. So werden hier kompensie-rend einerseits die italienische Herkunft, die patriotische und nationalistische Gesinnung, die Italianità , überbetont, andererseits der eigene wirtschaftliche Erfolg in Großbritannien und die Kenntnis der britischen Ökonomie herausgestellt. Der Begriff der Integration oder Angli-sierung wird dabei negativ konnotiert, als Verlust des Italienischen, als Unterwürfigkeit inter-pretiert.

Achille Pompas Beitrag zur Reihe I Problemi dell’Italia Esule beklagt, die Londoner Ge-meinde sei in besonderem Maße von einem Verlust des Patriotismus betroffen: Die Italiener in London seien die ‚Anglisiertesten‘ von allen. In der Provinz sei dies bei weitem nicht so ausgeprägt.229 Pompa bezichtigt die Londoner Italiener der Lethargie und des fehlenden Stol-zes. Der Zeitung wirft er vor, sie beweise zu oft mit ihrer Konzentration auf London, dass sie einen Campanilismo pflege, also einen punktförmigen Horizont habe. Pompa fordert die wirtschaftliche wie politische Mobilisierung aller in Großbritannien lebenden Italiener zu einem gemeinsamen Ziel, der Aufwertung ihres Ansehens und der Überwindung historischer Schmach, die durch Armutsmigration entstanden sei.230

In seiner Argumentation sind Positionen einer Degenerationstheorie angelegt, die nicht nur im italienischen Faschismus ein Leitmotiv der Gesellschaftskritik bildete, sondern in ähnli-cher Weise im britischen Faschismus. Ein anti-urbanes, antimodernistisches, das Ländliche verklärendes Narrativ tritt hier hervor. Ein Mittel gegen den von ihm beklagten Bedeutungs-verlust und gegen das Gefühl der Isolation sieht Pompa in einem Zusammenschluss aller in Großbritannien lebenden Italiener zu einem Bund, der ihnen in Rom politischen Einfluss ver-schaffen sollte.

Dass die Vernetzung von Unternehmern wie Achille Pompa mit dem Fascio für beide Sei-ten lukrativ war, wird bei der Betrachtung der Mitgliedszahlen von Pompas Federazione der Eisverkäufer deutlich. Diese hatte 1920 bereits 800 Mitglieder, 1933 waren es sogar 4200.231Während der Fascio durch die Allianz einen Multiplikator und prominenten Fürsprecher rek-rutiert hatte, erhielt Pompa eine politische – später damit auch staatliche – Anerkennung und die Garantie, dass keine konkurrierende Gewerkschaft zugelassen werde.

Zwischen 1925 und 1928 bestimmten interne Spannungen und Machtkämpfe die Parteiver-tretungen des PNF in Großbritannien. Pellizzi bemühte sich nun verstärkt um Kontakte zu einflussreichen britischen Kreisen, während ranghohe Mitglieder der Londoner Vertretung ihre Demission einreichten.232 Pellizzi war nach seinem Rücktritt aus dem Direktorium des Fascio noch immer der Delegato Statale der Fasci in Großbritannien, hielt so seinen Einfluss aufrecht. Später wurde er zudem Leiter der Società Dante Alighieri . Die Mitgliederzahlen des Fascio gingen in dieser Zeit stetig zurück. Die Führungsebene wurde gleich mehrfach ausge-tauscht. 1926 setzte der amtierende Segretario Piero Colonna die Aktivitäten temporär aus, um eine Neuausrichtung vorzunehmen. Er bemühte sich um eine Anbindung an Freimaurerlogen, die von Unternehmern aus der italienischen Gemeinde frequentiert wurden.233 Roberta Suzzi Valli zufolge wandte sich Colonna direkt an Mussolini, um für die Fasci in Großbritannien eine Ausnahme von der Regel zu erwirken, dass eine Mitgliedschaft im PNF nicht mit jener bei den Freimaurern vereinbar sei. Diese sei bewilligt worden, weil über eine enge Verbin-dung zu den Logen, in denen sich britische und italienische Unternehmer oder gesellschaftlich angesehene Personen getroffen hätten, die Anwerbung britischer Unterstützer und die pro-pagandistische Arbeit der Fasci erleichtert werden sollten.234 Für die Freimaurer, die sich der Faschistischen Partei anschlossen, stellte die Doppelmitgliedschaft wohl eine Möglichkeit dar, zugleich ihre Kontakte in Großbritannien zu pflegen und wirtschaftlich von den Machtstruk-turen in Italien zu profitieren. Die Fasci wuchsen zum Ende der zwanziger Jahre wieder. Mit der Ernennung eines neuen Segretario des Londoner Fascio , Bernardo Patrizi, im Februar 1928 nahmen die Spannungen zwischen den nun wieder mehrheitlich im Direktorium vertretenen Anhängern Pellizzis und den Neumitgliedern ab. Die Machtkämpfe hatten sich zeitgleich zu den Kompetenzkämpfen der italienischen Diplomatie mit der Segreteria Generale dei Fasci all’Estero ereignet, die inzwischen in der Direzione Generale degli Italiani all’Estero unter Piero Parini aufgegangen war.

Erfolgreicher als die Bemühungen um die Erwachsenen der italienischen Gemeinde ver-liefen währenddessen die Indoktrinationsmaßnahmen in den Bereichen, die die italienischen und britisch-italienischen Kinder betrafen. Das Jugendverständnis, die Jugendpolitik sowie die transnationale Dimension der jugendbezogenen Agitation der Fasci all’Estero werden in Kapitel 3.3 dieser Arbeit eingehend analysiert. Vorab soll hier auf einen Raum hingewiesen werden, der eigentlich der Parteipolitik nicht hätte zugänglich sein sollen, der sich aber zu ei-nem gemeinsamen Einflussbereich von konservativem Katholizismus, Nationalismus, autori-tärer Erziehung und Faschismus entwickelte: Dem Fascio gelang es u. a. durch die erweiterten Befugnisse der Direzione Generale degli Italiani all’Estero , eine enge Verbindung zu den ita-lienischen Kirchengemeinden Londons zu knüpfen, vor allem zur Gemeinde St. Peter, der die größte italienische Schule angehörte. Da die Kontrolle der italienischen Schulen im Ausland, die Auswahl des Lehrpersonals sowie der Unterrichtsinhalte zentral vom faschistischen Ita-lien geregelt wurden, erfolgte in diesen Schulen eine faschistische Indoktrination der jungen Italiani all’Estero . Kirche und Fascio koordinierten die Freizeitangebote für Kinder, schufen enge Verbindungen zwischen den kirchlichen Gruppen und den faschistischen Jugendorgani-sationen, die seit der Mitte der zwanziger Jahre existierten, stetig an Zuwachs gewannen und 1939 1500 Mitglieder zählten.235 Priester der italienischen Gemeinden beteiligten sich an der Propaganda für eine italienische – gemeint war katholische und faschistische – Erziehung der Kinder, die sie zum Heilmittel gegen eine Anglisierung, den behaupteten Verlust von Italianità und einen moralischen Verfall erklärten. Die Hochphase der Faschisierung – die frühen 1930er Jahre

Der Amtsantritt Dino Grandis als italienischer Botschafter in Großbritannien im Jahr 1932 fiel mit der Ernennung des Journalisten Carlo Camagnas zum Segretario des Fascio zusammen. In dieser Zeit beschleunigte sich die Faschisierung. Grandi und Camagna setzten auf Öffent-lichkeitsarbeit in der italienischen Gemeinde, um die Popularität der faschistischen Organi-sationen zu steigern. Der Stil L’Italia Nostras veränderte sich. Die Artikel nahmen einen noch pathetischeren Ton an. Botschaft und Fascio demonstrierten Einmütigkeit. Grandi schuf dabei seinen eigenen Mythos als Gentleman, der sich der Gemeinde wohltätig zuwendet und, wie es Claudia Baldoli zutreffend betitelt, als „a local duce, seeking to appear as both the highest authority and the ‚father‘ of the Italians in London“236. Dino Grandi setzte auf die Darstellung von Volksnähe der Diplomaten. Er wurde als charismatisch inszeniert und in der Folge in wei-ten Teilen der italienischen Gemeinde so wahrgenommen. Grandi verband seine Tätigkeit als Botschafter mit der Jugend- und Kulturarbeit des Regimes vor Ort. Nicht allein die Direzione Generale degli Italiani all’Estero unter Piero Parini setzte hier wichtige Akzente zur Popula-risierung faschistischer gesellschaftspolitischer Maßnahmen; auch die lokalen Fasci und die diplomatischen Dienste waren involviert (vgl. Kap. 3.3).

Der neue Kurs in der Öffentlichkeitsarbeit des Fascio gab auch anderen Mitgliedern der italienischen Gemeinde die Gelegenheit zur Selbstinszenierung, erhöhte zugleich jedoch den Druck auf diejenigen, die sich nicht öffentlich in den Dienst des Faschismus stellten. Dies ist von der Forschungsliteratur nicht ausreichend berücksichtigt worden. Die Auswertung der Publikationen, die in dieser Zeit entstanden, zeigt, dass der Fascio in den frühen dreißiger Jahren sogar zu vermeintlich unpolitischen Anlässen öffentliche Positionierungen erzwang, die damit hochgradig politisch wurden.

L’Italia Nostra zitierte häufig lobende Worte Grandis, der Botschaftsangehörigen sowie des Segretario Camagna. So gab die Zeitung im Januar 1933 eine Aussage Grandis wieder, er habe schon als Außenminister die Gemeinde als eine der besten im Ausland empfunden.237 Das Ita-lienbild, das L’Italia Nostra vermittelte, war ein von allen faschistischen Gewalttaten und der Gewaltrhetorik bereinigtes Bild. Anstelle einer Euphemisierung des Militarismus sprachen die Publikationen der Fasci verkürzend von Disziplin oder dem Dienst am Vaterland. Erst mit der imperialistischen Rhetorik im Zuge des Angriffs auf Abessinien wandelte sich dies.

Dass Grandi seine Versetzung in den diplomatischen Dienst als Botschafter in London auch als eine Degradierung wahrnahm, zeigt seine Korrespondenz mit Benito Mussolini aus dem Spätsommer 1932. Im August bekundete er diesem in einem Brief, dass er zwar ohne Enthusi-asmus den Posten in London angetreten habe; da er aber nicht eitel sei, sondern kämpferisch und diszipliniert, werde er das Beste aus dieser Situation machen. Er werde einen eigenen, in-novativen Stil als Botschafter pflegen und dem Land und dem Faschismus so nützliche Diens-te erweisen.238 Er rekurrierte auf die Leidenschaft zur Politik, die Parteitreue, die Disziplin und den im Faschismus beschworenen Virilitätskult, betonte seine Schlagkräftigkeit zu Zeiten der Squadre . Der Brief stellt eine Gehorsamsmeldung dar, erscheint aber durch deren Über-betonung fast als eine Provokation. Einen unwichtigen Posten hatte Grandi in keinem Fall erhalten. Als Botschafter in London befand er sich an einer bedeutsamen Schnittstelle inter-nationaler Beziehungen.

Dino Grandi, Sohn eines aus der Emilia-Romagna stammenden Bauern, war erst 37 Jahre alt, als er nach London versetzt wurde, blickte aber bereits auf eine steile Karriere zurück. Schon als Jugendlicher hatte er sich ausführlich mit politischen Ideen verschiedener Richtungen be-fasst, den Sozialismus wegen dessen atheistischer Komponente aber gemieden.239 Er war ver-schiedenen politischen Verbänden beigetreten, wie der katholisch geprägten Lega Democratica Nazionale oder den sich als interventionistisch verstehenden Fasci d’Azione Rivoluzionaria , und hatte sich journalistisch betätigt. Während des Ersten Weltkrieges war er als Angehöriger der Unità Alpine Italiane an Kampfhandlungen beteiligt, erlangte den Grad des Capitano und militärische Auszeichnungen. Nach dem Abschluss seines Studiums der Rechtswissenschaften wurde er politisch aktiv, kritisierte zunächst die Fasci di Combattimento , trat diesen 1920 dann aber bei. Robert Mallett und Renzo De Felice beschreiben Grandis Karriere als anfänglich von Konflikten mit Mussolini geprägt, die sich aus gegensätzlichen programmatischen Vorstel-lungen gespeist hätten und in deren Verlauf Grandi den Eindruck vermittelt habe, Mussolinis Führungsrolle offen in Frage stellen zu wollen.240 Grandi war, anders als es sein vorgeblich kul-tiviertes Auftreten in London später suggerieren sollte, ein gewalttätiger Squadrist, ein ‚ Ras ‘.

Trotz der Schärfe der gegenseitigen Kritik kam es nicht zu einem nachhaltigen Zerwürfnis zwischen Grandi und Mussolini, sondern zur Einigung. 1924 wurde Grandi Vizepräsident der Camera dei Deputati . Noch im selben Jahr ernannte Mussolini ihn zum Sottosegretario im Innenministerium, 1925 dann zum Sottosegretario des Außenministeriums, dessen Leitung ihm selbst oblag. Die vorrangige Aufgabe Grandis in dieser Zeit war die Transformation der konservativ geprägten italienischen Diplomatie in eine faschistische und die Beilegung von Kompetenzstreitigkeiten mit den Fasci all’Estero .241 1929 wurde er Außenminister Italiens. Außenpolitische Ziele Grandis waren die Beschränkung der Hegemonie Frankreichs in Euro-pa und die Errichtung eines italienischen Kolonialreiches in Afrika. Dabei habe er sich für eine Durchsetzung der italienischen Interessen über Verhandlungen im Völkerbund ausge-sprochen, durch seine anti-französische Haltung und öffentlich gewordene Einmischungen in innere Angelegenheiten Österreichs und Jugoslawiens aber Kritik auf sich gezogen. Da er zu-gleich in Italien an Rückhalt verloren habe, sei er im Juli 1932 durch Mussolini, der das Ressort erneut selbst übernommen habe, entlassen worden.242

Die Versetzung Grandis nach London fällt zeitlich mit der Formierung der British Union of Fascists zusammen. Grandi entwickelte sich zu einer der wichtigsten internationalen Kontakt-personen der britischen Faschisten und zu einem Organisator gemeinsamer bzw. aufeinander abgestimmter faschistischer Propaganda (vgl. Kap. 5).

Dem neuen Kurs der Italienischen Botschaft in London und des Fascio , der die Schaffung und Propagierung einer common identity der Italiener in London erzielte, entsprang die 1933 erschienene Publikation Guida Generale degli Italiani a Londra , der ‚Allgemeine Führer der in London lebenden Italiener‘. Das Handbuch ist eine aufschlussreiche Quelle für die Analyse der Aktivitäten der italienischen Faschisten in London. Es verdeutlicht, auf welche Weise dis-kursiv kontrafaktisch eine Kontinuitätslinie geknüpft wurde, die stets in der Übernahme der Gemeindeinstitutionen durch den Fascio mündet: Erst die Einflussnahme der faschistischen Partei habe die zwar traditionsreichen, aber oft unzulänglichen Organisationen effizient und populär gemacht. Die Publikation stellte alle wichtigen italienischen Institutionen und Ver-eine vor. Darüber hinaus diente sie als Werbeforum der italienischen Kleinunternehmer vor Ort, als Branchenverzeichnis und Adressbuch aller in London gemeldeten Italiener. Die in die Adressen- und Branchenliste Aufgenommenen erschienen damit freiwillig oder unfreiwil-lig als Unterstützer der faschistischen Partei, die als Bindeglied aller Gemeindemitglieder, als Vermittler und als Garant des Fortschritts der Colonia präsentiert wurde. Sechs Jahre später erschien die Guida Generale degli Italiani in Gran Bretagna , der ‚Allgemeine Führer der in Großbritannien lebenden Italiener‘. Kurzporträts zu den Persönlichkeiten, die jeder Italiener in Großbritannien zu kennen habe, folgen in beiden ‚Handbüchern‘ dem Erzählmuster der Heldengeschichte. Das hohe Maß an Pathos, das die biografischen Texte kennzeichnet, lässt diese fast wie Nachrufe auf jung Verstorbene wirken. Dino Grandi und Carlo Camagna werden als vorbildliche Männer des faschistischen Italien beschrieben, die sich durch Jugendlichkeit, Mut, Einsatzbereitschaft und Treue zur faschistischen Partei und zu Mussolini auszeichneten. Viele gängige Motive faschistischer Publikationen klingen an: Virilität, Jugend, Tapferkeit, Disziplin, Heldentum. Grandi sei einer der Männer der ersten Reihe und der typischsten Re-präsentanten des Faschismus, mutig und bescheiden, ein ruhiger und ausdauernder Arbeiter, hochgebildeter Kenner sozialer, politischer und ökonomischer Probleme. Er habe dem Vater-land gedient, dem er in Krieg und Frieden sich selbst und die Leidenschaft seiner glühen-den und ideenreichen Jugend geschenkt habe.243 Die Geschichte des Fascio wird als der lange Kampf mutiger junger Männer gegen Ignoranz und feindliche Gesinnung geschildert. Dem Fascio sei es gelungen, quasi als Echo des Siegeszuges des Faschismus in Italien, die Italiener in London für sich zu gewinnen. Die zahlreichen tatsächlichen Brüche in der Geschichte der Parteivertretung sind aus seiner Geschichte getilgt zugunsten eines Narrativs kontinuierlicher Entwicklung. Die Verwendung von Superlativen findet sich auch bei Carlo Camagnas Cha-rakterisierung. Der Korrespondent der Zeitung Il Popolo d’Italia wird als eine der am meisten beachteten Persönlichkeiten im Bereich des italienischen Journalismus vorgestellt.244

Zu Beginn der 1930er Jahre zog der Fascio in das Gebäude des Club Cooperativo , in dem bereits einige wichtige Gemeindeorganisationen ansässig waren und dessen Fassade nun ein Rutenbündel zeigte. Weitere Institutionen wurden in der Folgezeit eingegliedert. Im Falle des italienischen Hospitals, dessen Präsident inzwischen Dino Grandi war, das aber sowohl der britische Staat als auch britische Stiftungen mitfinanzierten, wurden 1935 zunächst einige Ärz-te, 1937 dann britische Kuratoriumsmitglieder zugunsten eines stärkeren Engagements aus-gewählter italienischer Mitglieder herausgedrängt.245

1936/37 bezog der Fascio di Londra mit allen zugehörigen Organisationen die neue Casa del Littorio in der Charing Cross Road nahe dem Trafalgar Square. Dino Grandi führte in der Er-öffnungsrede an, es sei ein Haus, das dem Liktorenbündel und der Italiener in London würdig sei, das sie vom Stigma des Little Italy befreie.246 Zu dieser Zeit hatte sich in der italienischen Gemeinde eine stärkere Identifikation mit den faschistischen Zielen vollzogen, nicht zuletzt durch den Abessinienkrieg, die mit ihm verbundenen Sanktionen, die viele Geschäftsleute in der Gemeinde auch unmittelbar betrafen, und den Druck, den die Italiani all’Estero in Groß-britannien verspürten, sich entweder zugunsten ihres Herkunftslandes oder ihres Einwande-rungslandes zu positionieren.

2.3 Die British Union of Fascists : ein genuin britischer Faschismus?

Zehn Jahre nach dem ‚Marsch auf Rom‘ durch die italienischen Faschisten formierte sich in Großbritannien eine politische Bewegung, die sich der Öffentlichkeit als Sammlungsbewegung britischer Faschisten präsentierte. Sie erhob den Anspruch, Großbritannien in einen faschis-tischen Staat nach den Grundsätzen des Korporatismus umzuwandeln. Am 1. Oktober 1932 gründete Oswald Mosley die British Union of Fascists (BUF), ernannte sich zu deren Führer und legte mit der Schrift The Greater Britain ein ausführliches Parteiprogramm vor. Innerhalb weniger Monate entwickelte sich die BUF zur einflussreichsten radikal rechten Organisation in Großbritannien. Öffentliche Aufmerksamkeit sicherten ihr einerseits die gesellschaftliche Stellung des aristokratischen Parteigründers Oswald Mosley und dessen bisherige politische Karriere und andererseits ihre Selbstinszenierungen, ihre militante Rhetorik sowie ihre Nähe zum italienischen Faschismus und deutschen Nationalsozialismus.

Die BUF konnte keine relevanten Wahlerfolge verzeichnen und war in ihrer Parteigeschichte mit starken Schwankungen der Mitgliederzahlen konfrontiert. Somit blieb die Wahrschein-lichkeit, ihre programmatischen Ziele über einen rechtskonformen Weg zu realisieren, er-kennbar gering. Einen Staatsstreich lehnte die Parteiführung offiziell ab. Allerdings kultivierte sie eine Revolutionsrhetorik, die sowohl Mitglieder als auch Kritiker an dem Bekenntnis zum demokratischen Weg der Machtgenerierung zweifeln ließ.

Die BUF setzte von Beginn an auf Kontaktaufnahmen zu italienischen Faschisten, deut-schen Nationalsozialisten und Repräsentanten anderer europäischer faschistischer Bewegun-gen und machte diese Kontakte selbst publik. Sie beförderte damit gezielt den Verdacht, sie agiere als verlängerter Arm eines internationalen Faschismus. Die erheblichen Ähnlichkeiten ihrer inszenatorischen Politik zu jener der italienischen Faschisten und deutschen National-sozialisten verstärkten dies. Während sie sich zu einer dezidiert britischen faschistischen Be-wegung erklärte, sattelte sie auf die seit über zehn Jahren erfolgende Auseinandersetzung mit dem Faschismus auf und verlieh ihrem Gebaren so eine unterschwellige Drohung.

Anlässlich des ersten offiziellen, das heißt medial inszenierten, Besuchs der BUF in Rom, der tatsächlich aber nicht der erste Besuch Mosleys bei Benito Mussolini und weiteren ranghohen italienischen Faschisten war, zitierte die Daily Mail Mussolini mit den Worten: „He [Mosley] is a good friend of mine and I hope he also considers me a good friend of his.“247

Der Manchester Guardian hingegen beschrieb das Auftreten Mosleys in Rom als Rückkehr eines Gesandten und verlieh damit der Haltung Ausdruck, der Faschismus der BUF sei ein rei-ner Import. Zugleich drückte er, in sarkastischem Ton, eine weit verbreitete Irritation darüber aus, welche Resonanz Mosleys Bewegung seitens der italienischen Faschisten erfuhr:

Rasch steigerte die BUF ihre Reichweite in Großbritannien. Dabei kam ihr die Unterstützung durch den Verleger Lord Rothermere zugute, dessen Medien den britischen Faschismus als neue Form des Konservatismus priesen und für die Bewegung warben. Die auflagenstarke Dai- ly Mail prägte den Slogan „Hurrah for the Blackshirts!“249. Im Zuge dieser Förderung erlangte die BUF im Sommer 1934 den Höchststand ihrer Mitgliederzahlen: etwa 40 000.250

Sie trat mit der Behauptung an, einen genuin britischen Faschismus zu vertreten. Doch wie ist diese Selbstbeschreibung zu beurteilen? Was war typisch britisch an ihrer Politik? Wie er-klärte sie die sichtbaren Übereinstimmungen zum italienischen Faschismus und zum deut-schen Nationalsozialismus? Wo begann und endete die Imitation? Was war hausgemacht und was importiert? In welchen Charakteristika war sie eine Ausprägung des britischen Nationa-lismus, Imperialismus und Antisemitismus? Wie positionierte sie sich innenpolitisch?

Was die BUF innenpolitisch so gefährlich machte, war ihr Potenzial, als populistisch agie-rende Bewegung extreme Positionen zu besetzen und diese zwar nicht mehrheitsfähig, aber dennoch über ihren eigenen Mitgliederkreis hinaus salonfähig zu machen, mit dem Extremis-mus liebäugelnde Strömungen in der Gesellschaft zu identifizieren und an diese Anschluss zu finden. Sie übte über acht Jahre hinweg Druck auf die Zivilgesellschaft aus, trug eine natio-nalistisch aufgeladene Gewaltrhetorik sowie einen radikalen Antikommunismus und Antise-mitismus in diese hinein und setzte diskursiv immer wieder auf Entgrenzungen. Ein nicht zu unterschätzender Faktor ist die Wandlungsfähigkeit der BUF: Sie modifizierte immer wieder ihre Repräsentationsformen und ihre programmatische Schwerpunktsetzung. Opportuni-täten und strategische Erwägungen spielten dabei ebenso eine Rolle wie die Erwartungshal-tungen der sich verändernden Mitgliederbasis oder Machtkämpfe unter Parteifunktionären. Dass sie in dieser Zeit weitgehend ungehindert als Teil eines internationalen faschistischen und nationalsozialistischen Netzwerkes agierte, nutzte sie gezielt zur Selbstinszenierung und zu ihrer Erhaltung. Zur Vorgeschichte: der frühe britische Faschismus und ein aristokratisches Enfant terrible

Wie eingangs erwähnt, behauptete die BUF von sich, eine Sammlungsbewegung britischer fa-schistischer Verbände zu sein, und manifestierte dies in ihrem Namen. Dies war sowohl ein Angebot als auch eine Kampfansage an gleichgesinnte Gruppierungen. Ein ganzes Spektrum ultrakonservativer, nationalistischer, rechtsradikaler, antisemitischer und faschistischer Par-teien existierte vor, während und nach der BUF, das von Kooperationen, Übertritten, aber auch von Konkurrenz, gegenseitigen Diffamierungen und Feindschaften geprägt war.251 Am stärksten profitieren konnte die BUF seit 1932 von den BF, den British Fascists (ursprünglich British Fascisti ). Während die BUF die BF vor einem rechten Publikum als halbherzige Adap-tion des italienischen Faschismus, als effeminiert und als „Carlton Club fascism“252, also als einen konservativ-elitären Salonfaschismus, zu diskreditieren suchte, Mitglieder systematisch abwarb und Unwillige mit Gewalt bedrohte,253 bediente sie sich sowohl in programmatischer als auch in inszenatorischer Hinsicht ausgiebig an deren Repertoire.

Die BF hatten seit 1923 versucht, politischen Einfluss und die Anerkennung sowohl der bri-tischen Gesellschaft als auch der faschistischen Partei Italiens und Benito Mussolinis zu erlan-gen. Sie verstanden sich nicht als eigenständige Partei, sondern als eine Organisation rechts- und ultrakonservativer Briten, von denen nicht wenige Mitglieder und Parlamentsabgeordnete der Conservative Party waren. In einem historisch verklärenden Blick wird in der britischen Öffentlichkeit bisweilen eine Art Immunität der britischen Gesellschaft gegenüber dem Fa-schismus behauptet. Deutlich weist Martin Pugh Thesen, das Scheitern britischer faschisti-scher Parteien sei zwangsläufig gewesen, in den Bereich der Mythen. Er hebt die Überschnei-dungen konservativer und faschistischer Kreise in der britischen Politik hervor und bewertet sie als einen „flourishing traffic in ideas and personnel between fascism and the Conservative Right throughout the inter-war period“254.

Schon die British Fascists hatten sich bis über die Grenzen der Glaubwürdigkeit hinaus selbst vermarktet und ihre Mitgliederstärke mit einer sechsstelligen Zahl angegeben, die als unrealistisch zu werten ist. Da sie eine informelle Mitgliedschaft erlaubten, die keinen Austritt aus anderen Parteien verlangte, lässt sich nur schwer abschätzen, wie groß der Kreis ihrer Sympathisanten tatsächlich war. Der Neue Vorwärts  – die seit 1933 zunächst aus dem Exil in Prag und seit 1938 in Paris veröffentlichte sozialdemokratische Wochenzeitung – ordnete die BF 1934 rückblickend als eine radikale Hilfsorganisation der Konservativen Partei ein, deren Programm eine Mischung aus Antisemitismus und britischem Imperialis-mus sei.255 Der Autor warnte zugleich davor, die Ausmaße der faschistischen Bewegung in Großbritannien zu unterschätzen, und folgerte, „es wäre töricht, wollte man diese Bewegung nur als eine mehr oder minder lächerliche Nachäffung italienischer Formen und Ideen be-trachten“256.

Der 35-jährige Oswald Mosley blickte bei der Gründung seiner faschistischen Partei bereits auf eine politische Karriere in der Conservative Party und in der Labour Party sowie auf eine eher erfolglose Episode als Parteiführer seiner New Party zurück. Aufgrund seiner aristokrati-schen Herkunft und seines Einheiratens in eine sozial und politisch bedeutsame Familie war er eine bekannte Figur in der britischen Öffentlichkeit. Private Skandale hatten diese Prominenz beschleunigt. Mosleys Verweildauer in den beiden großen Parteien war kurz; sie genügte aber, um ihn mit dem Ruf eines nach vorne drängenden Politikers zu versehen, der sich ins Spiel zu bringen wusste und der Unzufriedenheit vieler Angehöriger seiner Generation mit dem poli-tischen System Ausdruck verlieh.

Wurde Oswald Mosley angesichts seiner raschen wie wechselhaften Karriere zu dieser Zeit als „a young man in a hurry“257 wahrgenommen, eine Einschätzung, die Assoziationen von Vehemenz, Gestaltungswillen, aber auch Narzissmus und Sprunghaftigkeit weckt, so festigte sich ebenso das Bild des Enfant terrible . Er profitierte von seinem sozialen Status, denn dieser wurde geradezu zu einem Türöffner in allen politischen Milieus. Die briti-sche Gesellschaft war und ist sichtbarer von dieser Art Disposition geprägt als die ande-rer Länder, in denen Demokratisierungsprozesse die Bewertung von Klassenzugehörigkeit als Leumundszeugnis vor allem nach dem Ersten Weltkrieg stärker infrage stellten. In der britischen Gesellschaft sind in elitären Kreisen und über diese hinaus Abstammung und Etikette weiterhin recht unangefochten Garant gesellschaftlicher Anerkennung und nicht selten ein Freibrief für Grenzüberschreitungen. Werden mit Tabubrüchen spielende poli-tische Haltungen mit allzu großer Nonchalance betrachtet, verstellt dies den Blick auf die Konsequenzen solcher Handlungen, die gesellschaftliche und politische Codes verletzen, und leistet einer Flucht aus der Verantwortung Vorschub. In Mosleys Fall spielte dies eine entscheidende Rolle.

Doch wer war Oswald Mosley? Worauf basierte sein Bekanntheitsgrad?

Am 16. November 1896 wurde Oswald Ernald Mosley als ältester Sohn von Katherine Maud Heathcote und Oswald Mosley geboren. Seine Autobiografie rekonstruiert den Stammbaum der zur „country gentry“258 gehörenden Familie bis ins 16. Jahrhundert. Er behauptet darin zahlreiche große Vorfahren und eine Familientradition sozialen und politischen Engage-ments.259 Eine 1936 von der BUF publizierte Mosley-Biografie von A. K. Chesterton treibt die-ses Motiv auf die Spitze, indem es eine achthundertjährige ruhmreiche Geschichte der Familie postuliert, eine Abstammung von den frühen Angelsachsen, und folgert, Mosley sei „born of the soil of England“260. Die Intention, das genuin Britische zu betonen, ist so dominant, dass die Erzählung beinahe wie eine Persiflage erscheint.

Autobiografie, Chestertons Werk und Robert Skidelskys Biografie, die der Sichtweise der Mosleys häufig folgt, schicken der Beschreibung der Jugend Mosleys eine Erläuterung vor-aus, die die Abtretung der Feudalrechte der Familie und des Stammsitzes nahe Manchester in den 1840er Jahren thematisiert.261 Der Verkauf des Landes und der Verlust von Privilegien hätten zu einer Flucht der Familie aus der Realität des 19. Jahrhunderts in eine private feuda-le Enklave, den Landsitz Rolleston, geführt.262 Die Betonung der aristokratischen Herkunft des Parteiführers und die eigentümliche Idealisierung des britischen Feudalismus standen im Widerspruch zur programmatischen Forderung der BUF nach einer klassenlosen, funktional hierarchisierten Gesellschaft. Dieser Widerspruch wurde nicht thematisiert, sondern als Span-nungsverhältnis aufrechterhalten.

Mosleys Kindheit stand unter dem Eindruck des ausschweifenden Lebenswandels seines Va-ters, der frühen Trennung der Eltern sowie der Bevorzugung seitens der Mutter. Der Großvater väterlicherseits übte einen starken Einfluss auf ihn aus; Mosley soll gar zum Konkurrenten des eigenen Vaters um das Familienerbe erzogen worden sein.263 In seiner Autobiografie berichtet er von heroischen Taten seiner Familie und stellt die Hinwendung der Familie zur Politik als eine Evolution dar, die in seiner Person kulminiere. Auf das Motiv des survival of the fittest an-spielend, betont er, es sei stets der älteste Sohn gewesen, der sein Leben auf ungewöhnliche Art gelebt habe. Er habe dieser Tradition wohl unbewusst entsprochen und Wert auf seine Fitness gelegt, in der Ahnung, zu Großem bestimmt zu sein.264

Mosley besuchte die Privatschule Winchester und ab 1914 das Royal Military College, Sand- hurst . Im Januar 1915 schloss er sich dem Royal Flying Corps an, wurde als Observer in Belgien stationiert und kehrte im April nach England zurück, um den Pilotenschein zu machen. Er verunglückte bei einem privaten Flug und schied 1916 wegen der erlittenen Beinverletzung aus dem aktiven Dienst des Royal Flying Corps aus.265 Im Frühjahr 1918 wurde er ins Munitions- und Außenministerium versetzt. Mosley strebte nun eine politische Karriere an und kandi-dierte bereits im November desselben Jahres für die Conservative Party im Wahlkreis Harrow (Middlesex). Er gewann mit 82,3 % der Stimmen und zog als jüngster Abgeordneter ins House of Commons ein.266 Schon 1920 trat er aus Protest gegen die Irland-Politik der Lloyd-George-Koalition aus der Conservative Party aus und gewann 1922 und 1923 seinen Wahlkreis Harrow als unabhängiger Konservativer.267

Während seines raschen Aufstiegs in der Conservative Party hatte sich Mosley privat vor-rangig mit der konservativen, aristokratischen Elite umgeben und Kontakte gepflegt, die ihm bei der Etablierung seiner beiden Parteien später nutzen sollten. Zu den neuen Bekanntschaf-ten aus höheren Kreisen gehörte Cynthia Curzon, die sich ebenfalls in der Conservative Party engagierte. Sie war eine von drei Töchtern der verstorbenen amerikanischen Millionenerbin Mary Leiter und des ehemaligen Viceroy of India und amtierenden Außenministers, Lord Curzon. Cynthia Curzon und Oswald Mosley heirateten im Mai 1920. Die Hochzeit, die in Anwesenheit des britischen und des belgischen Königspaares stattfand, stellte ein gesellschaft-liches Großereignis dar. Mosley, dessen Familienvermögen sich nach dem Tode des Großvaters durch Erbschaftssteuern und den Lebenswandel des Vaters deutlich reduziert hatte, erhielt Zugang zu höchsten aristokratischen Kreisen.268

Zudem gehörte er nun zum familiären Umfeld eines politisch höchst einflussreichen Man-nes, des Foreign Secretary . Dieser wurde 1922 mit den neuen Machtverhältnissen in Italien konfrontiert. Unmittelbar nach dem ‚Marsch auf Rom‘ und der Ernennung zum Presidente del Consiglio und zum Außenminister Italiens wandte sich Mussolini am 31. Oktober 1922 per Telegramm an Lord Curzon, um über seinen Amtsantritt zu informieren. Er hoffe auf eine umfassende Zusammenarbeit der traditionell freundschaftlich verbundenen Länder.269Mussolini und Curzon trafen noch im selben Jahr anlässlich der Konferenz von Lausanne auf-einander. Richard Lamb bezeichnet dieses Treffen als bizarr: Mussolini sei überzeugt gewesen, durch britisch-französische Vorabsprachen hintergangen zu werden, und habe Poincaré und Curzon bei einem Abendessen mit faschistischem Empfangskomitee aufgefordert, Pressemel-dungen zu lancieren, die Italien zum gleichberechtigten Partner erklärten.270 Wenige Wochen später, im Dezember 1922, reiste Mussolini zu einer weiteren internationalen Konferenz nach London, wo ihm der Fascio di Londra einen Empfang mit faschistischem Zeremoniell aus-richtete.271

Die Zeitung der Fasci all’Estero in Deutschland, Gagliardetto , wertete 1923 Curzons Äuße-rungen zu den Entwicklungen in Italien, die er anlässlich des Italienbesuchs des britischen Königspaares gegenüber der Nachrichtenagentur Agenzia Stefani getätigt hatte, als Zustim-mung zum Faschismus.272 Vor dem Hintergrund diplomatischer Gepflogenheiten sollte die Verbindung Curzons zu Mussolini nicht überinterpretiert werden. Es ist denkbar, dass die familiären Bande zu Curzon Mosleys Treffen mit Mussolini im Januar 1932 begünstigten. Über die italienischen Vertretungen in Großbritannien war Mussolini auch über den privaten Hintergrund britischer Politiker und Aristokraten gut informiert. Das Ehepaar Mosley genoss zudem in Großbritannien und in den USA eine mediale Präsenz, die von der Italienischen Botschaft berücksichtigt worden sein dürfte. Das junge Paar war äußerst gut vernetzt, was Mosley auch nach seiner Abkehr von den demokratischen Parteien nutzen sollte. In Teilen der Forschungsliteratur findet sich eine Adaption der Spitznamen ‚Tom‘ und ‚Cimmie‘; einige ihrer Freunde und Verwandten sowie ranghöhere BUF-Mitglieder werden analog erwähnt.273 Die hohe Präsenz der Spitznamen in den Quellen legt eine britische Besonderheit des elitären ge-sellschaftlichen und politischen Umgangs offen, der so familiärer und nahbarer anmutet und Konversationsmuster der public school verstetigt. Die unkritische Übernahme aber ist proble-matisch, denn die sprachliche Distanzlosigkeit birgt die Gefahr, relativierende Tendenzen zu begünstigen und radikale politische Handlungen zu verharmlosen. Ob die Adaption einem ironisierenden Ansatz entspringt oder Ausdruck einer Art sozialer Ehrfurcht ist – der Effekt ist nahezu derselbe: Gestärkt werden Narrative, die eine extremistische Agitation als Eskapade interpretieren. Mosley: der aristokratische Sozialist und sein ‚Memorandum‘

Unmittelbar nach der Ernennung Ramsay MacDonalds zum ersten Labour -Premierminister im Januar 1924 wandten sich die Mosleys der Labour Party zu. Ihr elitäres soziales Umfeld wertete den Parteieintritt bisweilen als Verrat an der eigenen Klasse.274 Vollkommen unge-wöhnlich war der Parteiwechsel aber nicht. Die Mosleys waren Teil einer größeren Bewegung junger Aristokraten, die sich in der Conservative Party nicht wahrgenommen sahen und sich im Zuge des Wahlerfolgs der Labour Party unter Ramsay MacDonald dieser Partei anschlos-sen. David Cannadine sieht den politischen Kurswechsel dieser ‚ Labour Aristocrats ‘ vor allem opportunistisch motiviert: Sie hätten ihre Karrierechancen in der erstarkenden Labour Party als höher eingeschätzt als in der ihrem Empfinden nach stagnierenden Conservative Party . Auch habe die starre soziale Hierarchie innerhalb der konservativen Partei für sie eine Ent-fremdung bedingt. Als Angehörige der gentry , die von einem Vermögensverlust betroffen ge-wesen seien, hätten sie sich weder mit höherrangigen Aristokraten noch mit der konservativen Mittelschicht identifizieren können.275 Ähnlich bewertet David Howell Mosleys Motivlage. Dieser habe im Dezember 1923 durch einschmeichelnde Briefe Kontakt zu MacDonald ge-sucht. In den folgenden Wochen habe er sich in seinem Wahlkreis als langjähriger Anhän-ger sozialer Reformen präsentiert und im März 1924 erklärt, seinen Status als unabhängiger Konservativer aufgeben und sich der Labour Party anschließen zu wollen.276 Cynthia Mosley hingegen habe der Theatralik, die das politische Handeln ihres Mannes gekennzeichnet habe, nicht bedurft, um gehört zu werden.277 Matthew Worley sieht den Parteiwechsel dagegen als vorrangig von politischen Grundsätzen motiviert. Mosley habe frühzeitig in der Conservative Party einen Kurswechsel vollzogen und sich 1919 für die Gründung einer überparteilichen Gruppe junger MPs eingesetzt.278

1925 unterbreitete Mosley der Labour Party einen wirtschaftspolitischen Programment-wurf, die Birmingham Proposals , den er gemeinsam mit John Strachey unter dem Titel Revo- lution by Reason veröffentlichte. Strachey, dessen Vorname eigentlich Evelyn lautete, war wie Mosley aristokratischer Herkunft, ein ehemaliger Konservativer und Neumitglied der Labour Party. Als Chancellor of the Duchy of Lancaster legte Mosley das Konzept 1930 als Mosley Me- morandum erneut vor. Das Programm sah eine Reduzierung der Arbeitslosigkeit durch ge-zielte Stärkung der Kaufkraft und damit der Binnennachfrage nach Konsumgütern vor. Es befürwortete Beschäftigungsprogramme, etwa in der Landwirtschaft und in Infrastruktur-maßnahmen, ebenso die Einführung von Mindestlöhnen. Zugleich forderte es Schutzzölle, eine staatliche Lenkung der Eisenbahnen, der Bergwerke, der Banken und der Kreditvergabe. Es erwies sich jedoch innerhalb der Partei als nicht mehrheitsfähig.279 1930 wurde es durch einen Regierungsausschuss unter der Leitung Philip Snowdens abgelehnt. David Stephen Le-wis zufolge offenbarte das Mosley Memorandum , wie sehr Mosleys Auslegung des Sozialismus von der Linie des linken Labour -Flügels abwich, dem er sich verbunden sah:

Der Inhalt des Programms und die darin zu Tage tretende abwertende Sicht Mosleys auf Par-teien und das Parlament hätten, so Martin Pugh, bereits in die Richtung des korporativen Staates im Faschismus gezeigt.281

Auch international erlangte das Memorandum Aufmerksamkeit. Im Mai 1930 befasste sich Egon Wertheimer, der London-Korrespondent des Vorwärts , mit Mosley. Seine Bewertung er-scheint prophetisch. Wertheimer erinnert sich an einen der ersten Auftritte Mosleys als La- bour -Mitglied 1924, dem er selbst beigewohnt habe. Mosley, den Wertheimer als „ein junger Mensch, Antlitz der herrschenden Klasse Britanniens, aber mit einem leichten Douglas-Fair-banks-Zug“282 beschreibt, sei begleitet von seiner in einen Pelzmantel gehüllten Frau auf der Parteiversammlung erschienen und euphorisch mit dem Lied For he is a jolly good fellow be-grüßt worden. Man habe sich des konvertitenhaft ungestümen und naiven Bekenntnisses ge-freut – ein für Wertheimer irritierender Vorgang:

Die Analyse Wertheimers ist eine deutliche Kritik an der Labour Party , die gegen alle sozialis-tischen oder sozialdemokratischen Grundsätze agiert habe. Mosley habe mit dem Memoran-dum den offenen Machtkampf mit seinem einstigen Förderer MacDonald gesucht und strebe die Führung der Partei an. Diese Anmaßung sei jedoch illusorisch:

Mosley verknüpfte seine politische Karriere in der Labour Party mit der Annahme seines Me-morandums und nutzte bereits hier eine Niedergangsrhetorik. Das Empfinden Wertheimers, dass Mosley die Inszenierung weit überzog und sie ins Unglaubwürdige, ins Theatralische kip-pen ließ, teilten britische Zeitungen. Der Manchester Guardian veröffentlichte eine Presse-schau, die Kritik aus verschiedenen politischen Richtungen einfing. Der Sheffield Telegraph warf Mosley in einer typisch britischen Jagdmetapher vor, er renne mit dem Hasen und jage mit den Hunden, betreibe also eigentlich eine Politik gegen seine Zielgruppe.285 Auf Mosleys Befürwortung einer protektionistischen Wirtschaftspolitik Bezug nehmend, warnte der Glas- gow Herald vor Mosley und den vier weiteren Architekten des Entwurfs, sie seien „five small Cromwells“286. Der News Chronicle urteilte, Mosley betrachte sich schon als „an English Mus-solini in the making“287. Nach der endgültigen Ablehnung seiner Vorschläge trat Mosley 1931 aus der Labour Party aus. Das Experiment New Party

Im März 1931 gab Mosley die Gründung der New Party bekannt, deren Parteiprogramm auf dem Mosley Memorandum basierte. Die Partei zog Politiker und Intellektuelle verschiede-ner politischer Richtungen an. Ihre Gründung wurde international rezipiert. Die Los Angeles Times etwa sah in ihr die Konsequenz eines tiefen Generationenkonfliktes in Großbritannien. Die New Party bilde als „England’s Youth Party“ einen Gegenpol zu den etablierten Parteien.288

Der Auftakt der New Party gestaltete sich für Mosley alles andere als zufriedenstellend: Die Gründung wurde publik, bevor eine effiziente Organisation bestand. Weniger Labour -Ange-hörige als erwartet waren zu einem Wechsel bereit, und Mosley selbst konnte das Gründungs-treffen wegen einer Lungenentzündung nicht wahrnehmen. Nach wenigen Wochen traten ers-te Mitglieder und potenzielle Kandidaten für die kommenden Wahlen wieder aus.289

Für die Gründung der British Union of Fascists anderthalb Jahre später zog Mosley daraus Konsequenzen: Sie war von einem hohen Grad der Inszenierung bestimmt, der teilweise über organisatorische Mängel und inhaltliche Disparitäten hinwegtäuschte und der ein eigenes Mo-bilisierungspotenzial barg.

Der Auflösungsprozess der New Party setzte schon im Sommer vor ihrer Bewährungsprobe, den General Elections am 27. Oktober 1931, ein, als die Gründungsmitglieder Oliver Baldwin, John Strachey, Allan Young und Cyril Joad die Partei nach Konflikten über die politische Aus-richtung verließen.290 Strachey und Young erläuterten im Manchester Guardian , Mosley ziele mit der New Party in eine konservative oder faschistische Richtung. Die von ihm geforderte Orientierung der Parteijugend an faschistischen Vorbildern sowie Differenzen über die Ar-beitslosenversicherung, Kernfragen der Indien-Politik und die Haltung zu Russland hätten den Bruch verursacht.291 Das New - Party -Statement negierte dies und identifizierte stattdessen eine ‚Sowjetunion-freundliche Haltung‘ Stracheys und Youngs als Ursache des Konflikts.

Neben Stracheys Buch The Menace of Fascism von 1933 lässt sich Tagebucheintragungen und Briefen Harold Nicolsons, ebenfalls Mitglied der New Party , entnehmen, dass Mosley schon im Sommer 1931 dem Faschismus zugeneigt war: Er habe auf die Gründung parteieigener para-militärischer Verbände gesetzt und sich thematisch vorrangig mit dem Konzept des korpo-rativen Staates befasst. Nicolson hatte schon vor Parteieintritt in seinem Tagebuch vermerkt, Mosley wolle seines Erachtens eine faschistische Bewegung gründen und die New Party drohe daran zu zerbrechen.292 Der Partei blieben als bisherige Members of Parliament damit neben Oswald und Cynthia Mosley noch Dr. Robert Forgan und W. E. D. Allen. Beide sollten später ranghohe Mitglieder der BUF werden.

Die Analyse der zeitgenössischen Berichterstattung über die New Party macht deutlich, dass die Parteiführung trotz ihrer Bemühungen, durch markige Presseerklärungen das öffentliche Interesse zu beflügeln, keine erfolgreiche politische Kampagne spinnen konnte. Vielmehr fes-tigte sich das Bild einer Partei, die sich in Streitigkeiten um die inhaltliche Ausrichtung erging und für potenzielle Wähler politisch kaum zu verorten war. Die öffentliche Wahrnehmung lenkte Mosley frühzeitig in eine andere, gewaltsamere Richtung: Im Mai 1931 äußerte er zu den als stewards eingesetzten Mitgliedern der uniformierten Jugendabteilung der New Party , diese würden Störern „the good old English fists“293 entgegensetzen. Dass die New Party Cha-rakteristika faschistischer Parteien inkorporierte, thematisierte The Globe schon im März 1931. Der Artikel wertete die Einschätzung anderer Medien, Mosleys Unternehmung sei gescheitert, als voreilig; erst die Zeit könne zeigen, ob Großbritannien reif sei für eine faschistische Partei: Die Annahme des Globe -Autors, die schwarzen Hemden und das faschistische Dekor stellten ein Handicap dar, ist diskussionswürdig. Dass nicht pauschal ‚der Brite‘ diese inszenatorischen Mittel ablehnte, zeigte sich schon seit den 1920er Jahren an der Vielzahl faschistischer und philofaschistischer Organisationen.

Die Verpflichtung Harold Nicolsons als Herausgeber der Parteizeitung Action  – ein Titel, den die BUF 1936 wiederbeleben sollte – führte kurzzeitig zu einem Anstieg des öffentlichen Interesses. Nicolson besaß Ansehen in Schriftsteller- und Intellektuellenkreisen und konnte namhafte Gastautoren für Action gewinnen. Die Verkaufszahlen gingen dann jedoch rapide zurück und die Publikation musste zum Jahresende eingestellt werden.295 Einem Brief Nicol-sons an Mosley ist zu entnehmen, dass dieser gehofft hatte, den britischen Pressemagnaten Lord Beaverbrook für die New Party gewinnen zu können. Nicolson, der zu dieser Zeit Heraus-geber des Evening Standard war, sollte dabei als Vermittler auftreten. Er teilte Mosley jedoch mit, Beaverbrook habe abgelehnt und ihn davor gewarnt, sich öffentlich zu Mosleys Partei zu bekennen.296

Zu New Party -Zeiten erlittene Absagen von Unternehmern zogen langfristig Mosleys Ran-küne nach sich. Die BUF rief zum Boykott auf und untermauerte dies mit antikapitalistischen oder antisemitischen Parolen. Die Hetze traf etwa den Marks & Spencer -Vorstand Israel Sieff, der Mosleys Ersuchen nach finanzieller Unterstützung abschlägig beschieden hatte. Bereits während der Kontaktierung des Unternehmers soll Mosley öffentlich durch antisemitische Kommentare aufgefallen sein.297 Die BUF lancierte diskreditierende Artikel über das Unter-nehmen, stellte das Vermögen der Familie heraus, führte wirtschaftliche Schwierigkeiten bri-tischer Ladenbesitzer auf eine Verdrängung durch die Warenhauskette zurück und schürte gezielt antisemitische Vorurteile.298

Die New Party stellte in organisatorischer, inszenatorischer und programmatischer Hinsicht ein Erprobungsfeld für Strukturen dar, die für die British Union of Fascists charakteristisch werden sollten. Die Partei war bis in ihre Ortsvereine streng hierarchisch und Entscheidungen wurden ausschließlich in ihrem Führungsgremium um Mosley getroffen.299 Ihre Jugendorga-nisation Nupa war als paramilitärischer Verband das direkte Vorbild für die Blackshirts und ging nach der Auflösung der New Party in der BUF auf (vgl. Kap. 3.4). Die Faschisierung der Jugendverbände der New Party war so medienwirksam vollzogen worden, dass sie trotz der fehlenden politischen Relevanz der Partei international weite Kreise zog. Der Vorwärts infor-mierte im August 1932 seine Leser über „Mosleys SA: Hanswursterei eines Exsozialisten“300: Wie der Artikel andeutet, befand sich Mosley derweil auf einer als Urlaub firmierenden Tour durch Italien und Deutschland. Familiäre Erholung an der Riviera, eine Reise im Stil der Grand Tour und Faschismus-Expedition fielen hier zusammen. Mosley, W. E. D. Allen und Robert Forgan erarbeiteten zu dieser Zeit das Organigramm und Entwürfe eines Programms für eine faschistische Partei, bereiteten die Eingliederung der Nupa vor und warben gezielt Mitglieder profaschistischer und rechtsradikaler Organisationen ab. Wie erwähnt, standen besonders die British Fascists im Fokus. Deren Führungsmitglied Neil Francis-Hawkins händigte Mosley eine Kopie ihrer Mitgliederliste aus und trat in die Führungsriege der BUF über.302 Gründung, frühe Entwicklung und Programmatik der British Union of Fascists

Am 1. Oktober 1932 wurde die Gründung der BUF offiziell bekannt gegeben. Bereits am Vor-tag hatte G. Ward Price in der Daily Mail Kernthesen aus The Greater Britain vorgestellt und zu einer mythischen Überhöhung Mosleys angesetzt. Ward Prices Lobgesang enthält Deutungen, die für die Selbstdarstellung der BUF charakteristisch sind. Sogar Stil und Wortwahl gleichen sich. Ward Price präsentiert Mosley als einen prädestinierten Anführer, der in jedem anderen Land längst an die Macht gekommen wäre. Er werde von alten Eliten und jungen Rowdys glei-chermaßen attackiert, die sich angesichts seiner politischen Fähigkeiten in die Enge getrieben sähen. Er sei das Opfer gewalttätiger Übergriffe und böswilliger Kampagnen.303 Die unstete Karriere wird als „kaleidoscopic“304 beschönigt, auf die vielfältigen Herausforderungen seiner Zeit zurückgeführt und als „his search for the way of political salvation“305 verklärt. The Great- er Britain erhielt zeitnah auch kritische Rezensionen. In The New Statesman and Nation kam der Rezensent Kingsley Martin zu keinem schmeichelhaften Urteil: „Sir Oswald’s conception is only the reductio ad absurdum of the nationalism which is now raging all over Europe, in-deed over the whole world.“306

Mosley reihte sich in eine Riege elitärer Faschismus-interessierter Briten ein. Vor allem in rechtskonservativen und aristokratisch konservativen Kreisen sowie in deren namhaften Clubs breitete sich seit den frühen 1920er Jahren eine Art Salonfaschismus aus. Der politische Stil erschien als Tabubruch attraktiv. Unterschieden sich Anhänger hinsichtlich der Radikali-tät und der Authentizität ihrer Bekenntnisse zu faschismusfreundlichen Positionen, so einte sie ein Hang zur Grenzüberschreitung und zur Selbstinszenierung als vermeintliche Kenner der faschistischen Führer (vgl. Kap. 5).

Doch was präsentierte Mosley den Briten als britischen Faschismus? Was sollte das faschistische „Größere Britannien“ sein? Lassen sich in den programmatischen Ausführungen eine originär britisch-faschistische Ideologie und eine britisch-faschistische Gesellschaftspolitik erkennen?

In The Greater Britain argumentiert Mosley, es drohe der wirtschaftliche, soziale und kulturelle Niedergang Großbritanniens. Dieser zeichne sich an hohen Arbeitslosenzahlen und dem Ausblei-ben eines ökonomischen Aufschwungs schon ab und sei nur durch den Faschismus abzuwenden. Mosley betont dessen Kompatibilität mit britischen demokratischen Traditionen und bewertet den Faschismus gar als konsequente Weiterentwicklung derselben, die notwendig geworden sei, da die wirtschaftliche Krise das politische System bereits überholt habe.307 Er attestiert dessen füh-renden Repräsentanten, die er als „Old Gang“308 bezeichnet, Lethargie und Apathie, unter der die Wähler und Anhänger beider Parteien zu leiden hätten. Die Koalitionsregierungen der Nach-kriegszeit hätten sich vor allem durch Untätigkeit ausgezeichnet, wodurch der Wille des Volkes nicht realisiert, sondern negiert worden sei.309 Der schmähende Sammelbegriff old gang wird da-bei nicht näher zugeordnet, Namensnennungen bleiben aus, so dass die Diffamierung stets neu zugeschrieben werden kann. Dies ist symptomatisch, denn Mosley vermied es auch in der weite-ren frühen Agitation, vormalige Weggefährten aus den beiden großen Parteien explizit vorzufüh-ren und unter seinen neuen Anhängern Fragen nach seinen Verbindungen aufkommen zu lassen.

Die programmatische Schrift leitet aus einer massiven Dekadenzkritik, die pauschal Vertre-ter der Conservative Party , der Labour Party und liberale Einflüsse und Positionen ins Visier nimmt, die Notwendigkeit einer starken Regierung ab, die nicht von Parteistreitigkeiten be-hindert werden könne und den Volkswillen nach autoritärer Führung umsetze. Diese Füh-rungsrolle könne von einer Gruppe oder von nur einer Person ausgefüllt werden, wirkliche Effizienz verspreche aber nur letztere Lösung.310 Weder in der „„bible“ of British fascism“311, die den programmatischen Steinbruch für die folgenden Publikationen darstellen sollte, noch in diesen äußert sich Mosley zu seiner Selbsternennung zum Leader . Überhaupt macht er keine Angaben zur Besetzung des Postens, zu etwaigen Nachfolgeregelungen oder gar zu seiner Eig-nung. Charakterisierungen Mosleys durch andere BUF-Autoren sind in einem ehrfurchtsvol-len Ton gehalten und konstruieren zunehmend einen Mythos um den Leader als entrückte Per-son. Mosley inszenierte in seinem Auftreten den Anschein höherer Weihen. Diese Darstellung kulminiert in A. K. Chestertons Biografie, die Mosleys Weg in die Politik als Erfüllung einer Mission und sein Lavieren in Parteien und Ideologien als Konsequenz enttäuschter Ideale und des Strebens, einen Niedergang Großbritanniens heldenhaft zu verhindern, euphemisiert.312

Die Ausgabe The Greater Britains von 1934 weicht in der Definition von Diktatur deutlich von der ersten Fassung ab: Bezeichnet die Version von 1932 Mussolinis Italien noch als Dikta-tur, argumentiert aber, das Diktatorische sei dem Faschismus nicht inhärent, ist jene von 1934 in dieser Frage zurückhaltender in der Distanzierung. Sie betont vielmehr, wie euphorisch das italienische Volk gegenüber Mussolini sei. In der Essenz zeigt sich, dass Diktatur nicht mehr als Tabu gewertet, sondern als salonfähig betrachtet wird.313

Die Etablierung des korporativen Staates wird in The Greater Britain nicht als Umsturz der be-stehenden Ordnung präsentiert, sondern als Rationalisierungsmaßnahme, die effiziente staats-politische Einrichtungen unangetastet lasse und nach einem Wahlerfolg der BUF bei den Gene- ral Elections als Reform durchgesetzt werden solle.314 War die erste Ausgabe von 1932 in diesen Fragen noch vage, so präsentierte jene von 1934 bereits konkrete Vorstellungen: Das Korpora-tismusmodell der BUF sah formal weiterhin ein aus zwei Kammern bestehendes Parlament vor, das aus dem House of Commons und einem als Chamber of Merit bezeichneten Senat anstelle des House of Lords gebildet werden sollte. Die Mitglieder dieses Senates sollten von der faschistischen Regierung aus Wirtschaftskorporationen, einem Nationalen Korporationsrat und anderen Gre-mien des British Empire berufen werden und auf Initiative der Regierung zusammenkommen. Auch das durch occupational franchise gewählte House of Commons sollte nur anlassbezogen tagen können, um in nicht näher definierten Abständen die Regierungsarbeit zu überprüfen. Sollte es diese ablehnen, müsste der König als Staatsoberhaupt eine neue faschistische Regierung einberufen. Mosley argumentierte, Wahlen überforderten die Mehrheit der Bevölkerung, daher sollten eine politische Partizipation der Bürger und deren Interessenvertretung nur noch durch die Mitgliedschaft in den bis in die lokale Ebene ausdifferenzierten Korporationen erfolgen.315

Faktisch sah der Korporatismus der BUF also eine Entmachtung des Parlaments vor, die Ab-schaffung demokratischer Wahlen, die Ausschaltung anderer politischer Parteien, bestehen-der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände sowie die staatliche Lenkung der Wirtschaft und den Zwang zum Beitritt zu den Wirtschaftskorporationen. Neben seinen erkennbar fa-schistischen Grundzügen war das Programm um eine Stärkung des Nationalismus und des Imperialismus zentriert. Es übernahm wirtschaftspolitische Thesen des Mosley Memorandum , befürwortet Protektionismus, eine Stärkung des Binnenmarktes des Britischen Empire mit einer klaren Dominanz der Interessen des Vereinigten Königreiches über die der Dominions , sowie Importverbote. Die zweite Auflage The Greater Britains ist hierin erneut expliziter als die erste und zeigt eine Radikalisierung imperialistischer Sichtweisen:

Schon die ursprüngliche Fassung von 1932 beschreibt den britischen Kolonialismus als zukun-ftsweisend und behauptet, rassistisch argumentierend, ein britisches Recht auf Hegemonie:317„The earth can and will be developed by the races fitted for that task, and chief among such races we are not afraid to number our own.“318

In der Forschungsliteratur finden sich unterschiedliche Deutungen zum Antisemitismus der BUF: War er anfangs nur latent vorhanden und wurde dann radikalisiert? Ergab er sich aus der Annäherung an den deutschen Nationalsozialismus oder war er von Beginn an ein zen-trales ideologisches Element? Teile der Forschungsliteratur gehen vorkritisch Mosley auf den Leim, der in Stellungnahmen das Erstarken des Antisemitismus zu einer Reaktion der BUF auf gewalttätige Opposition aus jüdisch-kommunistischen Kreisen uminterpretierte oder an-dere Parteimitglieder für die Radikalisierung verantwortlich machte. Tatsächlich ist die BUF als eine von Beginn an antisemitische Bewegung zu werten. Eine Zunahme lässt sich in dem Sinne feststellen, dass sie den schon 1932/33 deutlich in ihren Publikationen lesbaren Anti-semitismus steigerte, ihn seit Mitte der dreißiger Jahre zu einem Kerninhalt ihrer Zeitungen und der Reden ihrer Speakers ausbaute und ihn gezielt in bestimmten Milieus einsetzte, um Zustimmung zu erlangen. Hierarchien, Organisation und Mitgliederstruktur

Wie war die BUF im Oktober 1932 tatsächlich aufgestellt und welche Entwicklung nahm sie in den Monaten nach ihrer medienwirksamen Gründung? Wer waren ihre Funktionäre? Aus welchen sozialen und politischen Milieus rekrutierte sie ihre Mitglieder? Welche Motive hat-ten diese, sich der britischen faschistischen Bewegung anzuschließen?

In der Führungsebene der BUF stellte Mosleys wechselhafte Karriere keine Ausnahme dar; im inner circle fanden sich so einige erratische Persönlichkeiten. Ihm gehörten frühere La- bour -Mitglieder, die sich mit der Parteiführung überworfen hatten, Anhänger der Independent Labour Party , ehemalige Vertreter der Conservative Party und Militärangehörige von Rang an. Einige kamen aus der New Party , andere aus den verschiedenen rechtskonservativen und radikal rechten Verbänden zur BUF. Bekannte frühere Suffragetten stießen zu der Bewegung, was diese intensiv als Leumundszeugnis zu nutzen versuchte. Die Führungselite der BUF war mehrheitlich gut ausgebildet, viele hatten namhafte Privatschulen besucht und ein Studium angeschlossen; die Mittelschicht und die Aristokratie waren hier überdurchschnittlich ver-treten.319

Die BUF verstand sich als eine Bewegung der Jugend, als „jugendliche Avantgarde einer neuen, klassenlosen Gesellschaftsordnung“320. Dieser Anspruch spiegelte sich teilweise in der Altersstruktur der Führungsebene. W. E. D. Allen, A. K. Chesterton, Neil Francis-Hawkins, (jeweils temporär Director of Blackshirt Organisation , Director of Propaganda und Director General ), Wilfred Risdon (zeitweilig Director of Propaganda ) und Alexander Raven Thomson (erst Chief of the Research Department , dann Director of Policy ) waren in ihren Dreißigern. Erst in ihren Zwanzigern waren Ian Hope Dundas, der Chief of Staff der BUF, A. G. Findlay, der deren Finanzen kontrollierte, John Sant, der im Hauptquartier tätig war, später Assistant Director General für den Norden Englands wurde, und schließlich William Joyce. Joyce war ein früheres Mitglied der British Fascists und ein radikaler Antisemit, der zunächst zum Area Administrative Officer für West London, dann zum Director of Research , später zum Director of Propaganda und Deputy Leader ernannt wurde. Nach seinem Ausstieg aus der BUF suchte er sich als Kontaktmann der Nationalsozialisten zu positionieren.321 Es wird deutlich, wie häufig Posten verliehen und neu zugewiesen wurden, wie schwer es der BUF fiel, sich als Partei zu konsolidieren.

Oswald Mosley stand als Leader an der Spitze der Bewegung; sein Weggefährte aus der New Party , Robert Forgan, kam als Director of Organisation an zweiter Stelle. Er hatte in Aberdeen und Cambridge studiert und promoviert und war seit 1929 Member of Parliament . Forgan war in der BUF zunächst für die Administration zuständig, später für die Anwerbung einfluss-reicher Unterstützer wie auch für die Akquise von Finanzmitteln und firmierte zeitweilig als Deputy Leader .322 Das höchste Parteigremium stellte das Policy Directorate dar. Dieses soll ein Vetorecht besessen haben.323

In der Wahl ihrer Uniformen und Parteizeichen orientierte sich die BUF sichtbar am italie-nischen Vorbild. Das Rutenbündel war ihr Parteisymbol und so auch Bestandteil ihrer Flagge, die sie bei öffentlichen Veranstaltungen, bei Aufmärschen und am Hauptquartier neben der Union Jack- Flagge hisste. Im Spätherbst 1935 löste es ein Blitz in einem Kreis ab. Das neue Parteisymbol nannte die Bewegung den „flash of action in the circle of unity“324; tatsächlich er-innert es an die Runen der SS. Dies war Teil eines Inszenierungswechsels: Die BUF wurde zur British Union of Fascists and National Socialists umbenannt, trat aber zumeist als British Union (BU) in Erscheinung. Inszenatorisch und ideologisch nahm sie nun eine stärkere Annäherung an den deutschen Nationalsozialismus vor.

Mitglieder trugen bei öffentlichen Veranstaltungen ein schwarzes Hemd, Parteioffiziere eine schwarze Uniform. Der Rang wurde durch Abzeichen visualisiert. Teil dieser Blackshirt -Auf-machung, die Mosleys Fechtuniform nachempfunden gewesen sein soll, waren ein Rutenbün-del als Anstecknadel und eines auf der Gürtelschnalle.325 Schon die paramilitärischen Ver-bände der New Party hatten Uniformen getragen, die allerdings in Grautönen gehalten waren. Die Gestaltung der BUF-Uniformen schuf Anreize, sich in der Parteiarbeit zu engagieren, da Abzeichen nach Leistung zugebilligt wurden. Ein Uniformzwang bestand nicht. Während Mitglieder diese Montur selbst beschafften, warben Parteipublikationen für Ausstatter.326 Sti-listische Vorbilder fand man nicht nur in Italien und Deutschland, sondern ebenso innerhalb der britischen rechten Szene. Die bis 1939 existierende faschistische, radikal antisemitische Partei The Imperial Fascist League hatte 1929 das Rutenbündel und schwarze Uniformen über-nommen und die National Fascisti , die sich Mitte der 1920er Jahre von den British Fascists abgespaltet hatten, marschierten ebenfalls in schwarzen Hemden.327

Die BUF war von Beginn an konzeptionell streng hierarchisch strukturiert, auch wenn viele Posten zunächst unbesetzt blieben. Die Organisationsstruktur veränderte sich im Laufe der Jahre mehrfach. 1934, auf dem Höhepunkt der Rekrutierungen, dokumentierte ein Polizei-bericht die bisherige Entwicklung, die hier nur in Grundzügen aufgeführt sei: Die BUF war in Areas , Regions , Branches , Sub-Branches und Groups untergliedert; sofern bereits in ausreichen-der Zahl Frauen oder Jugendliche eingetreten waren, gründete die Branch eine ihr unterstellte Women’s Group bzw. eine Youth Group . Die Rangordnung sah zu diesem Zeitpunkt wie folgt aus: Leader , Deputy Leader , Chief of Staff , Deputy Chief of Staff , Area Administrative Officer , Administrative Officer , Deputy Administrative Officer , Branch Officer , Deputy Branch Officer , Sub-Branch Officer , Company Officer , Sub-Company Officer , Section Leader , Unit Leader und, auf der untersten Ebene, der Fascist .328

Eine Zeit lang listete The Blackshirt unter Nennung von Namen und Zweigstellen Beförde-rungen, Belobigungen und Disziplinarmaßnahmen auf. Neueröffnungen von Branches sind daraus rekonstruierbar, dass zahlreiche Beförderungen an einem Ort zum selben Tag erfolg-ten.329 So offenbart sich der hohe Stellenwert der Titel und Ränge, die, je komplexer sie wurden, nur noch als Buchstabenkombinationen auftauchten, die Eingeweihten Ehrfurcht vermitteln sollten, nach außen jedoch beliebig erschienen. Nun ist dies nicht als bloße karnevaleske In-szenierung zu werten, sondern als ein Aspekt der Kommunikation innerhalb der BUF über die eigene kollektive Identität und die Abgrenzung nach außen. Hierarchien und Symbole dienten dazu, eigene Wertesysteme zu errichten. Als Konsequenz ihrer aggressiven Ablehnung gesell-schaftlicher Konventionen versuchte die BUF, eigene soziale Regeln, Gesellschaftsvisionen und Distinktionsmerkmale zu entwickeln.

Die BUF war eine in widersprüchlicher Weise reaktionäre und moderne Bewegung, die sich anmaßend als angeblich bessere Gesellschaft zu etablieren suchte und sich gemeinschaftsbil-dende Effekte aus Zusammenkünften, öffentlichen Auftritten und pseudo-klandestinen Treffen erhoffte. Ihre Organisationsstruktur war Teil dieser Identitätsbildung, die neue Erfahrungsräu-me schuf. Diese sollten in Konkurrenz zu denen des Alltags in der Mehrheitsgesellschaft tre-ten. Welcher Branch , Unit oder Group ein Mitglied angehörte, war aus dieser Innenperspektive nicht gleichgültig, sondern eine gesellschaftliche Verortung; welchen Posten jemand innehatte, bestimmte über dessen Identität innerhalb der Bewegung. Dies war offenkundig konstruiert und gesteuert, für überzeugte Anhänger aber ein wesentlicher Aspekt ihrer Selbstwahrneh-mung. Im italienischen Fall erfolgten solche Identitätsbildungen in größerem Maßstab, doch konstruiert waren auch sie. Sinn ergaben Titel, Ränge, Zugehörigkeiten und Auszeichnungen nur in dem geschlossenen System, das sie stabilisierten, indem sie es repräsentierten.

Bei aller Abgrenzung war es für die BUF doch von Vorteil, etablierten Organisationen, die mit Relevanz und Macht assoziiert wurden, zu ähneln. Folglich bediente sie sich bei Titeln und Rängen eines militärischen Vokabulars. Mit der Elitetruppe der Blackshirts , der Defence Force , besaß Mosley eine zu seinem Schutz abgestellte paramilitärische Einheit. Sie unterstand Eric Hamilton Piercy, einem gelernten Verkäufer, der bereits in der New Party die Stewards angelei-tet hatte und nun den Titel Officer Commanding National Defence Force erhielt.

Sitz der BUF war zunächst das New Party -Büro in der Londoner Great George Street, seit Jahresbeginn 1933 dann ein Bürokomplex am Lower Grosvenor Place und schließlich das ehe-malige Whitelands Teachers’ Training College im Stadtteil Chelsea, das über Hörsäle, Schlaf-säle, eine Sporthalle und einen Paradeplatz verfügte.330 Mit dem Bezug des als Black House be-zeichneten Hauptsitzes in Chelsea demonstrierte die BUF ihren Machtanspruch. Die Zentrale diente zugleich als eine Art Kaserne für arbeitslose Parteimitglieder und die Defence Force , die damit jederzeit abrufbereit war. Laut Colin Cross lebten hier zwischen 50 und 200 Männer, die als Wachen, Boten, Fahrer und Verkäufer der BUF-Zeitungen ein geringes Gehalt, Kost und Logis bezogen.331 Diese Einrichtung gewährleistete also eine hohe soziale Kontrolle und hielt einen Teil der Blackshirts in finanzieller Abhängigkeit. Sie erleichterte die inszenatorische Arbeit der Bewegung, da Aufmärsche kurzfristig organisiert werden konnten. Das Gebäude lag an einer prominenten innerstädtischen Straße und Flaniermeile und in relativer Nähe zum Hyde Park, zu Westminster und zum Trafalgar Square, also zu Orten mit großer Bedeutung für die demokratische Kultur. Die BUF beanspruchte diese als Demonstrationsrouten und zielte auf eine Vereinnahmung unter antidemokratischen Parolen. Das National Headquarters bildete zudem das zentrale Freizeitzentrum für die Anhänger der Bewegung und war damit das Herz der Gemeinschaftsbildung (vgl. Kap. 4.4).

1935 gab die Bewegung das ‚Schwarze Haus‘ auf. Zu dieser Zeit war die BUF-Führung mit erheblichen Finanzierungsproblemen konfrontiert. Sie setzte sich kleiner, bezog nun drei Eta-gen eines Gebäudes in Westminster, des Sanctuary Buildings in der Great Smith Street.332

Unter ihren Mitgliedern verzeichnete die BUF einen vergleichsweise hohen Frauenanteil. Geschätzt wird dieser auf 20 % bis 25 %.333 Die Organisationsstruktur sah eine rigide Ge-schlechtertrennung innerhalb der Bewegung vor. Dementsprechend wurde 1933 eine Wo- men’s Section eingerichtet, die separat verwaltet wurde. Die Forschungsliteratur erwähnt die BUF-Frauen oft nur am Rande. Ausnahmen bilden die Studien Martin Durhams und Julie Gottliebs: Sie erfassen systematischer, wer die BUF-Frauen waren, aus welchen Motiven sie sich der Bewegung angeschlossen hatten und welche Posten und Tätigkeiten sie dort über-nahmen.334 Gottliebs Untersuchung legt sich leider bei der Einordnung der Befunde nicht fest; sie erklärt, es habe keinen faschistischen Feminismus in der BUF gegeben, einige Femi-nistinnen hätten sich aber Repräsentation von der BUF versprochen und eine antidemokrati-sche Revision des Feminismusbegriffs betrieben. Frauen in der Partei seien Männern offiziell untergeordnet gewesen, tatsächlich habe aber eine Art „power-sharing“335 auf vielen Ebenen geherrscht. Die Thematik der Frauenarbeit sei progressiver behandelt worden als in anderen Faschismen oder im Konservatismus.336 Gottlieb folgert, es habe einen mit der BUF-Doktrin kompatiblen und zu ihr komplementären „feminine fascism“337 gegeben. Dieses Konzept wird allerdings nicht greifbar, denn es bleibt unklar, was dessen Inhalte jenseits der Frage, welche Rolle Frauen im korporativen Staat zukomme, gewesen sein sollen. Marginalisiert blieben die weiblichen Mitglieder in der Gestaltung innen-, gesellschafts-, wirtschafts- oder außen-politischer Positionen.

Ein wichtiger Faktor, der in der Forschungsliteratur nicht auf seine Konsequenzen für die Bewegung geprüft wird, ist die Alters- und Sozialstruktur der BUF-Frauenabteilung. Sie zu analysieren, ist aufschlussreich, da sie Widersprüche und Leerstellen der BUF-Agitation be-leuchten kann, die bisher nicht wahrgenommen wurden.338 Die Women’s Section bildete einen deutlichen Kontrast zum Anspruch, eine Jugendbewegung zu sein (vgl. Kap. 3.4 und 4.4). So wurde sie von Frauen mittleren bis gehobenen Alters aus einem saturierten bürgerlichen bis aristokratischen Umfeld geleitet und zwischenzeitlich dem Kommando Maud Mosleys unter-stellt. Mosleys Mutter war fast sechzig Jahre alt, als sie die Führung der Sektion übernahm. Die erste aktive Vorsitzende war von 1933 bis April 1934 Lady Esther Makgill, die Ehefrau des ranghohen BUF-Mitglieds Donald Makgill. Sie wurde entlassen, als sich Unregelmäßig-keiten in der Verwaltung der Finanzen zeigten. Ihre Nachfolgerin war Mary Richardson, eine der ehemaligen Suffragetten in der Bewegung, die schon über fünfzig war. In der Women’s Section waren Intrigen offenbar Alltag, wie Berichte der Sicherheitsbehörden und Briefe Maud Mosleys an ihren Sohn deutlich machen.339

Das Frauenbild der BUF kritisierten schon politisch aktive Zeitgenossinnen vehement: Er-ratische Positionierungen und programmatische Widersprüche legten den Verdacht nahe, die BUF beabsichtige, Frauen vom Arbeitsmarkt zu verdrängen, und sie erziele die Revision er-kämpfter wirtschaftlicher Freiheiten. Das korporatistische Modell, das die Abschaffung de-mokratischer Wahlen implizierte, erschien Kritikerinnen – etwa aus dem Kreis der nicht nach rechts abgewanderten Suffragetten – als bedrohlicher Rückschritt und als Verrat an der Frau-enwahlrechtsbewegung. Mosleys The Greater Britain hatte das Thema 1932 nur gestreift; die Auflage von 1934 kommentierte es stärker, aber nicht weniger vage. Das Programm verhielt sich widersprüchlich zu der Frage, ob und wie Frauen in die berufsständischen Vertretungen einbezogen werden sollten, und erklärte dann die Repräsentation durch eine Married Women’s Corporation , die Beratungsbefugnisse zu frauen- und kinderrelevanten Fragen erhalten sollte, zur Norm. In der Folgezeit diskutierten weibliche Mitglieder in den Parteimedien die Thema-tik der Frauenarbeit. Häufig war die Kernaussage, Kritik sei unberechtigt, da die BUF nicht plane, Frauen aus den Berufen zu drängen. Sie ermögliche es vielmehr der breiten Masse der-jenigen, die nicht arbeiten wollten, zum traditionellen Frauenbild und zu ihrer Berufung als Hausfrau und Mutter zurückzukehren, da der Mann als Hauptverdiener gestärkt werde.340 Ei-nigen Autorinnen diente Italien als Folie für die behaupteten Vorteile des korporativen Staates für Frauen. Muriel Currey, die sich als Propagandistin in den Dienst italienischer Faschisten stellte und euphemistische Artikel über das ‚neue Italien‘ für ein britisches Publikum schrieb, präsentierte den italienischen Faschismus dabei sogar als das einzige System, in dem vollkom-mene Gleichberechtigung der Geschlechter herrsche.341

Das Frauenbild der BUF, deren Haltung zur Frauenarbeit und deren Sicht auf die Mutter-schaft waren reaktionär und weit von ihrem angeblichen Modernitätsanspruch entfernt. Da-mit bewegte sie sich sehr nah am konservativen Mainstream und an einer Mentalität, die nicht nur in besser situierten Kreisen, sondern auch in kleinbürgerlichen und proletarischen Fami-lien noch mehrheitsfähig war. Mit ihrer Haltung, eine Frau sollte nicht arbeiten müssen, traf sie einen Nerv, so weltfremd dies angesichts der Erwerbsstätigkeit und des Vordringens junger Frauen auf den Arbeitsmarkt, der besseren Bildungschancen und einer zumindest teilweise emanzipatorischen Populärkultur erscheint.

Die Married Women’s Corporation wurde schließlich umbenannt in Domestic Corporation , in der verheiratete Frauen und die das weibliche Personal beaufsichtigenden Haushälterinnen als Arbeitgeber vertreten sein sollten und weibliche Hausangestellte als Arbeitnehmer. Frauen, die in Industriebetrieben oder in der Verwaltung arbeiten wollten, dürften dies auch im kor-porativen Staat und könnten dann als Expertinnen in den regulären Wirtschaftskorporatio-nen mitbestimmen.342 Dies schränkten andere Veröffentlichungen allerdings ein, die betonten, berufstätige Frauen sollten hier das Recht bekommen, ihr eigenes Geschlecht zu vertreten. Das Prinzip des occupational franchise wurde also kurzerhand auf den Kompetenzbereich von Frauenbeauftragten gekürzt.343

Martin Durham sieht in der BUF eine weniger misogyne Variante des Faschismus als im ita-lienischen oder deutschen Fall. Er beruft sich u. a. auf Veröffentlichungen der BUF-Autorinnen sowie Alexander Raven Thomsons und Oswald Mosleys. Durham zeigt allerdings auf, dass die BUF eine „remarkably ambiguous policy“344 konstruierte und sich so eindeutigen Festlegungen verweigerte. Tatsächlich blieben die Positionierungen der BUF während der Parteigeschichte sehr widersprüchlich. Naheliegend ist, dass die Akteure intentional handelten, um eine möglichst gro-ße Projektionsfläche zu erhalten. Bei der Gegenüberstellung mit entsprechenden gesellschaftspoli-tischen Konzepten und Maßnahmen im italienischen oder deutschen Fall muss die Asymmetrie als Faktor berücksichtigt werden. Die Zurückhaltung der BUF ergab sich in hohem Maße daraus, dass sie keine politische Macht besaß, um ihre Gesellschaftsbilder gegen Mehrheiten realisieren zu können, und kontinuierlich um Anhänger und Anhängerinnen werben musste.

Der Vergleich legt einen wesentlichen Unterschied zwischen dem britischen und dem italie-nischen Faschismus offen: Bevölkerungspolitische Konzeptionen hatten im britischen Fall eine andere Zielsetzung. Ein bürgerlich-konservatives Familienmodell bildete den ideologischen Hintergrund der Glorifizierung der Mutterschaft und damit der Gesellschaftspolitik. Nicht kin-derreiche Familien waren das Ideal im britischen Faschismus, sondern bürgerliche Kleinfami-lien. Die Gesellschaftsvorstellungen der BUF waren eine radikalere Variante nationalistischer konservativ-bürgerlicher Sichtweisen auf Familie, Ehehygiene und Fortpflanzung und einer Popularisierung sozialdarwinistischer und militaristischer Tendenzen. In Fascism: 100 Questi- ons Asked and Answered wandte sich Mosley der Eugenik zu: Die Falschen, nämlich die Armen, bekämen viele Kinder und dies sei nicht im Interesse der Nation. In einem faschistischen Staat solle dieser Entwicklung durch Geburtenkontrolle und Eugenik entgegengesteuert werden:

In der Formulierung ‚ the unfit ‘ drückt sich eine sozialdarwinistische Weltanschauung aus, die die BUF kultivierte und als anschlussfähig erachtete. Was Mosley als auf Freiwilligkeit basie-rende Option präsentierte, machte die Stoßrichtung der autoritären Gesellschaftspolitik der BUF deutlich, bewegte sich aber in für die BUF paradigmatischer Form gerade noch in einem Bereich, aus dem sie sich wieder herauswinden konnte, wenn sie sich einen demokratischeren Anstrich zu geben versuchte.

Auf welchen Boden fielen solche Vorstellungen? Wer waren jenseits der genannten Partei-elite die Mitglieder und die Anhänger der BUF? Veränderte sich der soziale Hintergrund ihrer Basis? Die Angaben divergieren erheblich. Sie beruhen zumeist auf Berichten, die in den Akten des Home Office enthalten sind, auf Schätzungen zeitgenössischer Medien und politischer Geg-ner und auf retrospektiven Angaben früherer Mitglieder. Der Höchststand wird, wie erwähnt, auf ca. 40 000 Mitglieder im Sommer 1934 geschätzt. Durch Eskalationen bei einer Parteiver-sammlung in der Londoner Olympia Hall sei eine Austrittswelle ausgelöst worden, die Zahl sei auf ca. 5000 gefallen. Durch programmatische Neuausrichtungen und neue Zielgruppen habe die BUF dann wieder einen fünfstelligen Stand erreicht. Um allerdings den tatsächlichen Einfluss der Bewegung abschätzen zu können, müssten auch Sympathisanten berücksichtigt werden, die nicht offiziell zu Mitgliedern wurden.346

Die BUF verzeichnete kontinuierliche Zuströme und Verluste. Langfristige Konsolidierun-gen in einzelnen Regionen lassen sich kaum belegen. Kerngebiete waren Yorkshire, Lanca-shire, London, East Anglia, der Süden und Südosten Englands sowie einige Städte in den Mid-lands wie Birmingham, Wolverhampton oder Stoke.347 Innerhalb der stärker repräsentierten Städte und Regionen ergaben sich zugleich örtliche Verschiebungen, die einerseits mit der sich wandelnden Sozialstruktur einzelner Viertel, andererseits mit ideologischen und programma-tischen Neuausrichtungen in Zusammenhang standen.348 Die Bewegung zog klassenübergrei-fend Mitglieder an. Ein eindeutiges Bild ergibt sich nicht. Der Schwerpunkt war kleinbürger-lich bis bürgerlich; mit der Fokussierung auf das Londoner East End seit der Mitte der 1930er Jahre stieg der Anteil von Angehörigen der lokalen Kleinbürger sowie der working class und der Arbeitslosen, doch auch großbürgerliche und aristokratische Anhänger finden in zeitge-nössischen Berichten Erwähnung. Die BUF ist als eine Sammlungsbewegung Rechtsextremer und politisch Frustrierter aus verschiedenen sozialen Kontexten zu betrachten, deren Ent-fremdungswahrnehmungen und Motive sehr unterschiedlich gelagert waren: Unzufriedenheit mit dem politischen System, der wirtschaftlichen Situation und der Klassengesellschaft, Exis-tenzängste und Befürchtungen, übervorteilt zu werden, Antikommunismus, latente, manifeste oder radikale Ausländerfeindlichkeit und Antisemitismus. Das Werben um die Unterstützung durch rechtskonservative Kreise

Die BUF umwarb in paradoxer Weise gesellschaftliche Gruppen, deren Angehörige sie parallel zum Feindbild stilisierte. Die Parteiführung suchte zunächst Anschluss an potenzielle Multi-plikatoren und Sponsoren, sprach Verleger, Großunternehmer, Mitglieder des House of Lords und des House of Commons sowie Vertreter der anderen Parteien an. Diese politische und wirtschaftliche Elite Großbritanniens war zugleich Objekt ihrer massiven Dekadenzkritik. Ihr lastete sie den behaupteten wirtschaftlichen Niedergang des Britischen Empire an.

Das Einflechten divergierender politischer Ziele in ihr Programm bot die Möglichkeit, An-knüpfungspunkte für die von ihr umworbenen Politiker situativ herauszustellen. Den größ-ten Zulauf versprach sie sich vom rechten Flügel der konservativen Partei. Die sogenannten Diehards stellten keine geschlossene Gruppe mit übereinstimmenden politischen Zielen dar. Zeitgenössisch bezeichnete der Begriff alle sich seit der Jahrhundertwende in der Conservative Party formierenden ultrarechten, zum Teil offen antisemitischen, antisozialistischen Kräfte, die den politischen Kurs ihrer Partei insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg als Verrat an Parteiidealen werteten und Verbindungen zu extremistischen Verbänden unterhielten.349

Kontakte konnten besonders die Überläufer der British Fascists , die nun in ranghoher Posi-tion der BUF angehörten, vermitteln. Angehörige der BF hatten in den 1920er Jahren bei Par-teiversammlungen der Conservative Party als Ordner, als Stewards , agiert. Einige konservative Abgeordnete waren zugleich BF-Mitglied. Die BF hatten sich in organisatorischer Hinsicht als parteiähnlich verstanden, waren aber nicht bei Wahlen angetreten.350

Durch nationalistische Äußerungen und Forderungen sowie durch antikommunistische und antisemitische Inhalte fand die BUF in rechtskonservativen Kreisen thematisch Anschluss. Sie traf hier auf Interesse am italienischen Faschismus und dessen Repräsentationsformen. Einen verstärkten Mitgliederzulauf aus diesem politischen Milieu erreichte sie allerdings nicht. Ein Beitritt zur BUF hätte langfristig den Ausstieg aus der Conservative Party verlangt. Weit we-niger Tories erklärten sich zu einem Parteiwechsel bereit, als es sich die BUF-Führung erhofft hatte.351 Bei der Umgarnung Faschismus-Interessierter aus rechtskonservativen Kreisen sollte die BUF noch auf Konkurrenz aus italienischen und italophilen Gesellschaften und Clubs in London und in anderen britischen Städten treffen (vgl. Kap. 4.3 und 5).

Die Aufmerksamkeit, die der BUF aus wirtschaftlich und politisch einflussreichen Kreisen zuteil wurde, machte sie sich zum Jahresbeginn 1934 bei der Etablierung eines mit ihr offiziell nur assoziierten Dinner Clubs zunutze, des January Clubs . Über scheinbar parteiunabhängi-ge Abendgesellschaften gewann sie finanzielle Unterstützung und Fürsprache in aristokrati-schen und großbürgerlichen Kreisen. Die Veranstaltungen des January Clubs fanden Eingang in die Tagespresse und wurden im Societymagazin Tatler erwähnt. Der January Club war eine Schnittstelle rechtskonservativer Netzwerkbildung, italienischer faschistischer und britischer faschistischer Propagandaarbeit.

Robert Forgan hatte bereits im Herbst 1933 Dinner Partys ausgerichtet, zu denen bedeuten-de Intellektuelle und Aristokraten geladen wurden und die in namhaften Restaurants, Hotels und Clubs stattfanden. Einige Gäste gehörten dem ebenfalls der politischen Diskussion ge-widmeten Lunch Club an, in dem der italienische Faschismus ein häufig diskutiertes Thema darstellte.352 Der Kreis der Diehards veranstaltete im selben Zeitraum und an denselben Orten Dinner, bei denen er den von ihm geforderten deutlichen Rechtsruck der Conservative Party besprach.353 Der January Club wurde offiziell von dem Publizisten John Squire geleitet. Dieser war kein Mitglied der BUF, was dem Club den Anschein der Unabhängigkeit von politischen Parteien verlieh, er stand ihr jedoch nahe. Einem Bericht der Labour Party mit dem Titel Who Backs Mosley zufolge betonte Squire der Times gegenüber, der January Club sei keine faschisti-sche Organisation, aber die Mehrzahl der Mitglieder hege Sympathien für den Faschismus.354Der Bericht des Labour Research Departments stellte die soziale Herkunft der Club-Gäste heraus: „The next most striking thing is the amount of land and money represented.“355 Die Namen gäben „a fairly clear idea of the class from which Fascism draws its backing“356. Es sei offensichtlich, dass Mosley sich hier in seinen Kreisen amüsiere. Darüber hinaus sei die An-zahl ehemaliger Mitglieder der Royal Armed Forces auffällig hoch.357

Die Treffen des January Clubs fanden in The Blackshirt kaum Beachtung; dies ist umso ver-wunderlicher, als die Zeitung sonst sogar kleinste Veranstaltungen, kurze Auftritte Mosleys und weiterer Sprecher der Bewegung thematisierte. Zum January Club erschien nur ein län-gerer Artikel im Juni 1934, der den überparteilichen Charakter betonte und die Anwesenheit von Vertretern der etablierten Parteien und von politischen Gegnern Mosleys behauptete.358Scheinbar beiläufig führte er Auszüge der Gästeliste an; eine denunziatorische Absicht ist wahrscheinlich, stellte er so doch eine öffentlichkeitswirksame Verbindung der Anwesenden zur BUF her. Da diese die Dinner in den Londoner Luxusrestaurants und Luxushotels, wie dem Savoy oder dem Splendide , mitfinanzierte, war die Teilnahme von demokratischen Poli-tikern brisant.

Einer der wichtigsten Mäzene war der Gründer und Inhaber der Morris Automobilwerke, William Morris, später Lord Nuffield, der zu New Party -Zeiten Mosley unterstützt hatte und ihm nach der BUF-Gründung hohe Geldspenden zukommen ließ, sich aber öffentlich von dessen Bewegung distanzierte.359 Neben der erheblichen finanziellen Unterstützung durch das italienische faschistische Regime und den Spenden, die die Partei durch gehobene Veranstal-tungen und über die Kontakte in adlige und großbürgerliche Kreise einholte, erfolgte die Fi-nanzierung auch über Mosleys Privatvermögen, das dadurch rasch abnahm.

Geringer fielen die Einnahmen aus Mitgliedschaften, Buch- und Zeitungserlösen, Werbung, dem Verkauf von Eintrittskarten zu Großveranstaltungen, Fanartikeln wie Postern, signier-ten Porträts, Anstecknadeln oder BUF-eigenen Zigaretten aus.360 Die Parteizeitungen The Blackshirt und Action waren voller Werbeanzeigen für die BUF-Produkte und für assoziierte Unternehmen und Händler, wie etwa Juweliere, die mit Parteisymbolen versehene Schmuck-stücke anboten.361

Einen Mitgliederzustrom brachte der Bewegung die Kooperation mit den rechtskonservati-ven Verlegern Lord Rothermere und Lady Houston, die in den folgenden Monaten Pressekam-pagnen zugunsten der BUF starteten.362 Dass zwischen Rothermere und Mosley Verbindungen bestanden, hatte sich der Öffentlichkeit durch Ward Prices Artikel bereits angedeutet. Ward Price nahm nicht nur an den Treffen des January Clubs teil, er soll sogar Angehöriger des lei-tenden Komitees gewesen sein.363 Zudem hatte er als Vermittler zwischen Rothermere, Dino Grandi und Mosley agiert (vgl. Kap. 5). Die sechsmonatige Kampagne der Daily Mail , die am 15. Januar 1934 mit der Schlagzeile Hurrah for the Blackshirts! keinen Zweifel an der Haltung der Redaktion aufkommen ließ, bescherte der BUF einen rasanten Mitgliederzuwachs. Rot-hermeres Zeitungen veröffentlichten unkritische bis werbewirksame Porträts der Bewegung, Berichte über das Hauptquartier oder die BUF-Frauen, und sie riefen zu Leserbriefen unter dem Motto Why I Like the Blackshirts auf, die mit Eintrittskarten zu den Großkundgebungen der Partei prämiert wurden. Den Aufruf zu einem Schönheitswettbewerb unter weiblichen Blackshirts boykottierten diese allerdings, da die BUF-Frauenorganisation dies als Missach-tung ihres politischen Engagements wertete.364 Dass hier ein Abdriften der BUF in den Bereich des Boulevardesken drohte, dürfte für die Parteiführung wohl nicht weniger entscheidend ge-wesen sein. Die Olympia Rally : Performanz und Eskalation

Einen Wendepunkt im öffentlichen Umgang mit Oswald Mosley und der British Union of Fa- scists stellte die Großkundgebung in der Londoner Olympia Hall am 7. Juni 1934 dar, bei der die Gewalt eskalierte. Die Olympia Rally war die zweite von drei für das Jahr 1934 geplanten Massenveranstaltungen der BUF in London. Ein Marsch der Blackshirts von der Parteizent-rale zur Olympia Hall sollte den Auftakt bilden. In der Halle sollen 12 000 Zuschauer gewesen sein.365 In unmittelbarer Nähe veranstaltete die Communist Party of Great Britain eine Gegen-demonstration. Bei der Parteikundgebung hielt Mosley eine Rede, die von Zwischenrufen aus dem Zuschauerraum begleitet wurde. Er unterbrach seine Rede, während vermeintliche Störer mit den großen Saalscheinwerfern angeleuchtet und von den 1000 im Saal als Stewards pos-tierten Blackshirts von den Tribünen gezerrt wurden. Dabei kam es zu gewaltsamen Über-griffen.366 Anwesende Politiker der anderen Parteien und Journalisten berichteten später von Gewaltexzessen seitens der Blackshirts , die sich in Gruppen auf einzelne Personen gestürzt und diese brutal attackiert hätten.367

In der Forschungsliteratur wird die Olympia Rally als Zäsur gewertet: Das gewaltsame Vor-gehen der BUF- Stewards gegen Demonstranten habe zu einer erheblichen öffentlichen Empö-rung über die Verletzung britischer demokratischer Traditionen geführt, dadurch das Sinken der Mitgliederzahlen der BUF eingeleitet und die Distanzierung der ihr bis dahin wohlgeson-nenen rechtskonservativen Kreise zur Folge gehabt.368 Hinsichtlich des Grades der Abwen-dung lassen sich unterschiedliche Positionen finden: In der älteren Forschung überwiegt die Deutung, die BUF sei durch die Ereignisse entschieden geschwächt worden: Sie habe bei ihren Anhängern stark an Glaubwürdigkeit eingebüßt und Mosleys Ruf habe einen so nachhaltigen Schaden genommen, dass weder er noch die BUF als Partei politisch weiter hätten Fuß fassen können.369 Aus unterschiedlichen politischen Blickwinkeln sehen Frederic Mullally und Ro-bert Skidelsky die anhaltende Aufmerksamkeit der britischen Öffentlichkeit für die Ereignisse bei der Olympia Rally durch die Berichterstattung über nationalsozialistische Gewaltexzesse und den Röhm-Putsch beeinflusst.370 Die neuere Forschungsliteratur schätzt die Auswirkun-gen der Gewalteskalation bei der Parteikundgebung insgesamt etwas anders ein. So betont Martin Pugh, die Statements einiger konservativer Abgeordneter bei der Debatte im House of Commons oder in den Medien seien nicht repräsentativ; sie belegten nicht, dass in allen rechtskonservativen Kreisen unmittelbar eine Entfremdung von der BUF stattgefunden habe. Der Rückzug der Rothermere-Presse müsse eher vor dem Hintergrund gesehen werden, dass der Verleger versucht habe, aus der BUF eine ultrakonservative Bewegung zu machen und sie stärker von dem Etikett Faschismus zu trennen. Die BUF habe nach der Olympia Rally noch einen starken Zulauf verzeichnen können. Auf der anderen Seite sei aber die Gegenbewegung deutlich stärker geworden und habe mehr Sympathien gewonnen.371

In der öffentlichen Debatte der folgenden Wochen war nicht nur die unverhohlene Gewalt-bereitschaft der Blackshirts Thema, sondern auch das als Provokation gewertete Verhalten Mosleys. Die BUF hingegen beschrieb sich als Opfer kommunistischer Hetze und einer ideolo-gisch motivierten Berichterstattung. Sie argumentierte, die Störer seien kommunistische Ver-schwörer, deren Ziel es gewesen sei, die Veranstaltung an sich zu reißen und einen Anschlag auf Mosleys Leben zu verüben. Es sei bereits einen Tag zuvor zu Übergriffen auf Blackshirts gekommen.372 Um ihre Darstellung zu untermauern, druckte die Parteizeitung ein Foto, das Mosley bei der Betrachtung von Waffen zeigte, die die Ordner den Störern entrissen hätten, sowie eine Aufnahme eines am Kopf bandagierten Mitglieds.373 Mosley stellte sich zeitlebens als Opfer der Ereignisse dar. Sein ältester Sohn Nicholas Mosley wiederholte in Beyond the Pale die Argumentation seines Vaters, der Vorwurf, die BUF habe durch gezielte Ausrichtung der Scheinwerfer die Gewalt als Spektakel inszeniert und eine Art „Roman circus“ veranstaltet, entbehre jeden Beweises.374

Bei der Olympia Rally prallten gegensätzliche Inszenierungen aufeinander, die die Bewe-gung als Spannungsverhältnis aufrechterhalten und bedient hatte: Auf der einen Seite hatte sie sich im rechtskonservativen, aristokratischen bis großbürgerlichen Milieu als Variante des Salonfaschismus zu präsentieren gesucht; als eine autoritäre, nationalistische, streng hierar-chische, disziplinierte Bewegung, die mit dem Tabubruch des Diktatorischen spielte, britische Traditionen aber zu wahren versprach und die zu politischen Diskussionsrunden in geselliger, luxuriöser Atmosphäre lud. Auf der anderen Seite hatte sie sich dem kleinbürgerlichen und proletarischen Milieu als eine dynamische, militante Bewegung angepriesen, die eine klassen-lose Gesellschaft anstrebe, den Labour -Sozialismus und den Kommunismus bekämpfe und wirtschaftlichen Krisen sowie der hohen Arbeitslosigkeit durch eine Entmachtung der poli-tischen Elite entgegenwirken werde. Die Straßenkampfrhetorik und das militante Auftreten waren Charakteristika, die Anhänger aus beiden Milieus erwarteten. Mosley, die High Society und das Bekenntnis zum Royalismus

Trotz der Gewaltaktionen wurden Oswald Mosley und andere führende Mitglieder der BUF in aristokratischen und großbürgerlichen Kreisen weiterhin als gesellschaftsfähig angesehen. Skandale und Tabubrüche im Politischen wie auch im Privaten bedienten das Bild des Enfant terrible . Mosley war seit den frühen 1920er Jahren durch Affären mit verheirateten Aristokra-tinnen aufgefallen und er untermauerte diesen Ruf auch während seiner Ehe.375 Martin Pugh bezeichnet ihn als „an odd mixture of missionary and playboy“376 – eine schon zeitgenössisch im aristokratischen Milieu verbreitete ambivalente Einschätzung Mosleys. Dessen Verwandte und Bekannte kommentierten ihn oft in einem von Anekdoten geprägten Stil und einem ver-harmlosenden, amüsierten Tonfall.377

1932 begann Mosley eine Affäre mit Diana Guinness, geborene Mitford, die einer angesehe-nen adligen Familie entstammte, mit einem Erben der Brauerei-Dynastie verheiratet war und als attraktives Socialite galt. Sie trennte sich von ihrem Ehemann, bezog eine von Mosley mit-finanzierte Wohnung in der Nähe seiner Stadtwohnung und trat als Konkubine auf. Nach dem plötzlichen Tod Cynthia Mosleys im Frühjahr 1933 rückte sie allerdings nicht unangefochten als neue Frau an Mosleys Seite auf, sondern konkurrierte mit Mosleys Schwägerin Alexandra Metcalfe (genannt ‚Baba‘), der verheirateten jüngeren Schwester Cynthias, um jenen Posten.378

Diana Mitford und ihre fünf Schwestern genossen in der High Society Prominentenstatus. Ihr Familienleben wird in Darstellungen zur britischen Geschichte des frühen 20. Jahrhun-derts bisweilen als eine Art Mikrokosmos der Zeit beschrieben. In der Familie trafen unter-schiedlichste politische Sichtweisen und Extremismen aufeinander; zugleich legten die Fa-milienmitglieder eine erstaunliche bis erschreckende Nonchalance im Umgang mit politisch radikalen Ansichten an den Tag.379 Die Mitford-Familiengeschichte ist zu einem populärwis-senschaftlich beliebten Thema geworden. In befremdlich kitschig-pastelliger Aufmachung und Erzählweise präsentieren einige Bücher das Agieren zweier Schwestern in Faschismus und Na-tionalsozialismus als naive, jugendliche Ausschweifung nach It-Girl -Manier.380

Die Mitfords bewegten sich in gesellschaftlich und politisch hoch einflussreichen Kreisen und Machtzirkeln, hatten etwa verwandtschaftliche Beziehungen zu Winston Churchill. Der Vater, David Freeman-Mitford, zweiter Lord Redesdale, zählte zu den rechtskonservativen Kreisen des House of Lords . Beide Elternteile vertraten antisemitische, ultrarechte Positio-nen.381 David Cannadine attestiert den Mitfords eine Geisteshaltung der „robust indifferen-ce“382:

Zwei der sechs Schwestern wandten sich politisch dem linken Spektrum zu: Die Schriftstel-lerin Nancy Mitford bezeichnete sich als Sozialistin und ihre zweitjüngste Schwester Jessica bewegte sich in britischen sozialistischen Kreisen, emigrierte in die USA und erlangte als kom-munistische Aktivistin Bekanntheit. Zwei Schwestern blieben dem britischen Konservatismus verhaftet, Pamela und Deborah, während sich ihr Bruder Tom und die Schwestern Diana und Unity für den Faschismus und den deutschen Nationalsozialismus begeisterten. Die beiden verfügten über engste Verbindungen zu den britischen Faschisten und suchten aktiv den Kon-takt zu führenden Nationalsozialisten. Diana, seit 1932 Geliebte Mosleys, heiratete diesen 1936 im Hause der Familie Goebbels in Anwesenheit Hitlers. Magda Goebbels und Diana Mosley waren befreundet.384 Unity wurde zur fanatischen Anhängerin Hitlers.385 Alle Mitfords ver-fügten ferner über ein großes Netzwerk von kulturell, gesellschaftlich und politisch einfluss-reichen Personen und waren Thema der yellow press . Susanne Kippenberger sieht daher in der Geschichte der Mitfords auch eine Mediengeschichte.386 So bekannt Diana Mitford bzw. Guinness war, so wenig wurde ihr Verhältnis zu Oswald Mosley von der BUF thematisiert. Erst 1938, nach der Geburt des ersten gemeinsamen Sohnes Alexander, bezog Mosley in der Par-teizeitung Action Stellung und klärte über die zwei Jahre zuvor erfolgte Eheschließung auf.387

Diana und Unity Mitford traten schon 1933 der BUF bei. In den folgenden Jahren reisten sie oft nach Deutschland, um Reden zu hören, Parteitage und private Veranstaltungen zu besu-chen, Hitler in München zu treffen und Kontakte zu Nationalsozialisten zu knüpfen.388 Durch seine Beziehung zu Diana weiteten sich die Verbindungen Mosleys zu einer jüngeren Genera-tion von Aristokraten, namhaften Schriftstellern und Künstlern aus. Die BUF, die seit ihrer Gründung vom britischen Geheimdienst MI5 überwacht wurde,389 verfügte nun über schein-bar parteiunabhängige Kontaktpersonen zu deutschen Nationalsozialisten. Jonathan Guin-ness geht davon aus, dass seine Mutter Diana seit 1934 anlässlich ihrer Reisen nach Italien vom MI5 überwacht worden sei.390

Die jüngste Mitford-Schwester Deborah Devonshire schildert eine Begegnung Mosleys und Harold Macmillans in den 1960er Jahren. Ihre Darstellung bietet Aufschluss über Konventio-nen, die Mosleys Gebaren erleichterten:

Devonshire nimmt Bezug auf Meinungsverschiedenheiten von Politikern im Parlament, nicht aber auf Mosleys Abkehr von den demokratischen Parteien, seine Hinwendung zum Faschis-mus und Nationalsozialismus oder die massiven Verbalattacken der britischen Faschisten auf demokratische Parteien und Politiker sowie auf Minderheiten. Exemplarisch zeigt sich hier die Tendenz aus Mosleys gesellschaftlichem Umfeld, die BUF nicht als das zu benennen, was sie war, nämlich eine gezielte Provokation der Zivilgesellschaft, die Gewaltaktionen initiierte und duldete, und der Versuch, die demokratische Grundordnung auszuhebeln sowie eine immer radikalere antisemitische Hetze zu verbreiten.

Bereits anderthalb Jahre nach der Olympia Rally versuchten die britischen Faschisten sich als royalistisch-patriotisch und als Wahrer britischer Traditionen zu inszenieren. In der Zwi-schenzeit hatten sie einen weiteren Wendepunkt durchlaufen, der diese Selbstbeschreibung in Frage stellte. Seit dem Spätsommer 1935 hatte die BUF eine umfassende Propagandakampagne für das faschistische Regime Italiens und dessen Angriff auf Abessinien unternommen. Tarnte sie ihre pro-italienische Propaganda als eine Kampagne der Nicht-Intervention unter dem Ti-tel Mind Britain’s Business , in der sie der britischen Regierung u. a. Kriegstreiberei auf Kosten der Bevölkerung und des Friedens vorwarf, so erschien sie weiten Teilen der Öffentlichkeit doch als Sprachrohr Mussolinis (vgl. Kap. 5).392 Sie nahm zudem markante Neuausrichtungen vor und ging aus diesen als British Union of Fascists and National Socialists hervor. Die sich fortan BU nennende Bewegung hatte eine Imagekampagne als patriotische Bewegung also bitter nötig, um nicht als Import und als fremdgesteuert abgestempelt zu werden.

In der Abdankungskrise um Edward VIII. lancierte sie eine Kampagne gegen die Re-gierung, und Mosley schloss sich einer überparteilichen Allianz zur Unterstützung des Königs an, der führende Konservative wie Winston Churchill angehörten. Der am 20. Ja-nuar 1936 zum Nachfolger seines Vaters berufene Edward  VIII. war schon als Thron-folger durch politisch untragbare Bemerkungen gegenüber Staatsgästen, durch Kritik an der Regierung und durch Beratungsresistenz aufgefallen. Er hatte angekündigt, eine aktivere Rolle im politischen Tagesgeschehen einnehmen zu wollen.393 Ihm eilte der Ruf eines Bonvivants voraus. Dies tat zwar seiner Popularität in Teilen der Bevölkerung kei-nen Abbruch, ließ aber Zweifel an seiner Eignung als Staatsoberhaupt aufkommen. Juliet Gardiner zitiert aus einem bemüht taktvollen Artikel der Times , der den als lückenhaft empfundenen Bildungsstand des Prinzen ansprach: „Men not books are his library“394. Gardiner zufolge genoss der Thronfolger dennoch in Veteranenverbänden und working men’s clubs große Beliebtheit.395

Allerdings provozierte Edward schon bald durch sein Verhältnis mit der bereits geschiede-nen und in zweiter Ehe verheirateten US-Amerikanerin Wallis Simpson, geborene Warfield. Zuvor hatte sich die britische Presse nicht zu Affären Edwards mit verheirateten Frauen ge-äußert und sich, anders als amerikanische Zeitungen, in Bezug auf die Beziehung zu Wallis Simpson noch zurückgehalten.396 Im Oktober 1936 wurde das Ehepaar Simpson geschieden. Eine Heirat des Königs und der Amerikanerin war nun polarisierendes Thema für die breite britische Öffentlichkeit. Die Regierung, die die Eignung Wallis Simpsons als zukünftige Queen in Frage stellte, legte Edward nahe, die Beziehung zu beenden oder auf den Thron zu verzich-ten. Nicht allein die Liebesbeziehung des Königs stand zur Debatte, sondern auch die Frage, wie sehr sich die Regierung in die Belange des Königs einmischen dürfe. Es ging um Prinzipien und Autorität, nicht nur um eine unangemessene Liaison. Sympathien verspielte Edward mit der kompromisslosen Weigerung, die Beziehung zu beenden, die als Uneinsichtigkeit und Zei-chen fehlender staatsmännischer Räson interpretiert wurde.397

Öffentliche Sympathiebekundungen Edwards für die deutschen Nationalsozialisten, für eine englisch-deutsche Allianz und für den italienischen Faschismus nährten Zweifel an seiner Integrität. Ihre Intervention begründeten die führenden Parteigremien der Conservative Party und der Labour Party , indem sie erklärten, die Heirat des Königs, des Staats- und Kirchen-oberhauptes, stelle eine öffentliche, politische Angelegenheit dar, keine private. Somit sei die Zustimmung des Volkes und seiner Vertreter vonnöten.

Die Abdankungskrise geriet zu einem Politikum, in das sich die britischen Faschisten einzu-bringen wussten. Sie sahen hier die Chance, ihren Patriotismus unter Beweis zu stellen, Gesell-schaftsfähigkeit wiederherzustellen, die sie durch ihre zeitgleichen Gewaltaktionen einbüßten, andererseits die Popularität Edwards in kleinbürgerlichen, proletarischen Milieus aufzugrei-fen und den vermeintlichen Volkswillen durchzusetzen.

Die Verbindung zwischen Edward VIII. und Oswald Mosley hatte sich 1935 vertieft. Schon lange vor dieser Zeit überschnitten sich die Freundeskreise der beiden Männer. Der Prince of Wales war eng mit Captain Edward Dudley Metcalfe befreundet – dem Ehemann von Cynthia Mosleys Schwester Alexandra, der den January Club frequentierte.398 Alexandra Metcalfe war vor ihrer Heirat mit Edwards jüngerem Bruder George liiert gewesen.399 Sie soll nicht nur eine Geliebte Mosleys gewesen sein, sondern zudem eine enge Freundin und ein Schwarm Dino Grandis.400 Exemplarisch wird hier die Verflechtung der Bekanntenkreise deutlich, die auch persönliche Motive bei der Parteinahme Mosleys zugunsten Edward VIII. nahelegt und illus-triert, wie ungebrochen sich Mosley in seinen Kreisen bewegte.

Für die BU ergab sich aus dem Schulterschluss die Möglichkeit, Mehrheitsfähigkeit zu sug-gerieren. The Blackshirt hatte schon vor der Inthronisierung das politisches Engagement des Prince of Wales gelobt und eine enge Zusammenarbeit in Aussicht gestellt.401 Im November 1936, in der Abdankungskrise, setzte die BU mit der Kampagne Save the King , die sie in Flug-blättern, einer eigenen Sonderzeitung unter dem Titel Crisis und in ihren regulären Publika-tionen veröffentlichte, darauf, ihr Ansehen als die dem König treu ergebene Bewegung zu stei-gern.402 Es folgten englandweit BU-Protestmärsche und öffentliche Reden Mosleys, in denen er das Vorgehen der Regierung als Beweis einer fehlenden Loyalität zur Monarchie und eines diktatorischen Vorgehens diffamierte.

Neben der BU-Kampagne suchte Mosley Anschluss an die King’s Party , eine kurzlebige über-parteiliche Bewegung zur Unterstützung des Königs. Ihr gehörten auch Winston Churchill, Lord Beaverbrook, Lord Rothermere und Lady Houston an. Innerhalb der King’s Party hoff-te man, der König werde sich durchsetzen, Baldwins Regierung zum Rücktritt zwingen und Churchill den Auftrag zur Regierungsbildung erteilen. Die BU verkündete ihren Anhängern, in einem solchen Fall stünden ihre Chancen gut, durch das Engagement Mosleys als politische Kraft ernst genommen und an einer Regierung beteiligt zu werden. Dazu kam es nicht. Im Dezember 1936 gab Edward VIII. dem Ultimatum Baldwins nach und verkündete seine Ab-dankung. Die BU traf dies unvorbereitet; ihre Blätter riefen noch am Tag nach der Abdankung zu Edwards Unterstützung auf. Sie hatte ein vermeintlich vielversprechendes Agitationsfeld verloren, das ihr im Hinblick auf kommende Wahlen den Anstrich einer politischen Partei verleihen sollte, die sich in die demokratische Ordnung einzugliedern und deren Grundpfeiler vor Übergriffen zu schützen vermochte, um sie dann zu modernisieren. Nach der Abdankung sah sich Mosley genötigt, neue Allianzen zu suchen. Noch im Mai 1937 erklärte er pathetisch, er und die BU seien bereit gewesen, für Edward VIII. ihr Leben zu lassen, dieser habe sich je-doch entschlossen, den Kampf für seine Rechte aufzugeben. Daher gehöre ihre Loyalität nun seinem Bruder George VI.403 Martin Pugh wertet die Episode als „the closest fascism came to obtaining a share of power in inter-war Britain“404. Eine tatsächliche Regierungsbeteiligung der BU als Folge des Engagements erscheint jedoch unwahrscheinlich. Die Abdankungskrise verhalf ihr allerdings zu neuer öffentlicher Aufmerksamkeit und verbesserte ihre Reputation in royalistischen Kreisen. Zwischen Traditionalismus und Progressismus: eine bipolare Agitation

Die BUF405wandte sich in ihrem Werben um Mitglieder und Wähler mit widersprüchlichen Zielsetzungen an in ihren politischen Erwartungen entgegengesetzte Milieus und soziale Schichten. Über die antisemitische und antikommunistische Hetze hinaus, die ihrer Agita-tion in allen Milieus zugrunde lag, erzeugte oder befeuerte die BUF situativ Feindbilder, die bei einer Zielgruppe im Spektrum der Klassengesellschaft Anklang finden sollten und dabei andere diffamierten. Sie schuf sich Spielraum, um Opportunitäten auszuloten und das Mobi-lisierungspotenzial in den verschiedenen Milieus zu testen. Inhaltlich bewegte sie sich, ande-ren Faschismen entsprechend, zwischen den Gegensätzen von Konformismus und Hierarchie, Tradition und Moderne, Nostalgie und Fortschrittsrhetorik, Stadt und Land, Entschleunigung und Beschleunigung.

So entwarf sie einerseits in ihren Parteipublikationen und Reden das Bild einer an britischen Traditionen orientierten, rückwärtsgewandten Zukunft. Besonders im ländlichen und klein-städtischen Milieu präsentierte sie sich als eine wertkonservative, nostalgische Vereinigung, die den Feudalismus, die Tudor-Regentschaft und das vorindustrielle Leben in der englischen Provinz idealisierte und dieses pars pro toto auf die britische Geschichte projizierte. Anderer-seits erklärte sie sich zu einer progressiven Interessenvertretung der städtischen Angestellten und der Industriearbeiter und pries sich als Konkurrenz zu den bestehenden Gewerkschaften und sozialistischen Arbeitervereinen an. Sie bemühte sich um eine hohe Präsenz in Ballungs-räumen. Dynamik und Schlagkraft betonend, behauptete sie, eine moderne, visionäre und innovative Bewegung zu sein. Sie machte sich Trendsportarten zu eigen, gründete Automo-bil- und Fliegerclubs als Zeichen ihrer vermeintlichen Fortschrittlichkeit und entwarf eigene Vorstellungen von Populärkultur (vgl. Kap. 4.4).

Die sich widersprechende Agitation der BUF ist auch für neuere rechtspopulistische Bewe-gungen charakteristisch. Sie setzt auf eine Mobilisierung der vermeintlichen Verlierer gesell-schaftlicher Umbrüche, die in konformistischer Weise als eine Gruppe von Gleichen angespro-chen werden, obwohl soziale Unterschiede und divergierende Interessen erkennbar sind. Diese sollen durch die argumentative Konstruktion gemeinsamer Feinde und einer Bedrohung, die alle Angesprochenen betreffe, ausgeblendet werden. Zukunftsängste werden bedient und ge-schürt, scheinbare Lösungen proklamiert und eine Dichotomie von Gut und Böse entworfen, die tatsächlich komplexe gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Probleme auf das an-gebliche Versagen der politischen Eliten oder auf eine Ausbeutung des Volkes durch diese zu-rückführt. Dabei bleiben die Kategorien des Volkes und der Eliten bewusst vage und dehnbar.

Jenseits ihres Korporatismuskonzeptes bot die BUF keine konkreten Lösungsansätze für die von ihr behauptete allumfassende Krise oder für die tatsächlichen wirtschaftlichen Negativ-entwicklungen und die sozialen Spannungen, die in urbanen Ballungsräumen existierten. Die BUF verzeichnete Erfolge als Protestbewegung; somit bildete sie den Protest zu ihrem Kern-geschäft aus. Um Mitglieder und potenzielle Wähler halten zu können, musste sie das Szenario drohender Krisen aufrechterhalten und steigern können. Es war gerade die opportunistische Besetzung vorhandener oder empfundener Problemfelder, die ihr Handeln in den verschiede-nen Milieus kennzeichnete und bestimmte.

Das Auftreten der BUF in den ländlichen Regionen Großbritanniens und ihre Thematisie-rung des Landlebens waren ambivalent: Im Rahmen ihrer wirtschaftspolitischen Konzepte strebte sie eine Stärkung der Landwirtschaft und Strukturreformen an; zugleich zeigte sie sich einer Vorstellung von heritage verpflichtet und wollte das englische Idyll des country life be-wahren. Protektionistische Forderungen ihres Parteiprogramms, wie die Entwicklung eines autarken Binnenmarktes Großbritanniens und des Empires, der Ausbau und die Subventio-nierung der Landwirtschaft sowie ein striktes Schutzzollsystem, stießen bisweilen auf Zustim-

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mung, von einer Realisierung war die BUF allerdings weit entfernt.406 Neben der Propagierung ihres Korporatismus setzte sie auf eine Diskreditierung anderer politischer Parteien. So be-schuldigte sie die Konservative Partei – im ländlichen Raum die stärkste Kraft – vom ‚ financial interest ‘ beeinflusst eine politische Protektion der Investition in argentinische Rinderzucht zu betreiben, die eine wirtschaftliche Erholung der britischen Viehzucht verhindere. Die Konser-vative Partei treibe Landwirte in den Ruin und verrate diese politisch.407

Im August 1933 erklärte sich die BUF zur Unterstützerin des Protestes britischer Land-wirte gegen Tithe -Zahlungen. In ländlichen Regionen Großbritanniens hatte sich ein von der National Tithe Payers’ Association angeführter Protest formiert, der sich gegen die seit 1925 nicht mehr an den Getreidepreisen orientierte, sondern nach einem festgesetzten Betrag erfol-gende Abgabe richtete.408 Die BUF entsandte Blackshirts zu regionalen Protestkundgebungen, unterwanderte diese und rühmte sich, sie zu einem Erfolg geführt zu haben. Die regionale Vertretung der Tithe Payers’ Association habe ihre Unterstützung – entgegen anderslautender Presseberichte – zugelassen. Die BUF erklärte, dabei allein durch in den Regionen lebende Blackshirts vertreten worden zu sein, konnte aber lediglich ein lokales Mitglied ihrer Partei als Beispiel benennen.409 Im Oktober desselben Jahres lancierte sie mit der Fascist Agricultural Campaign ihre erste große Kampagne für den ländlichen Raum. Oswald Mosley trat als Red-ner auf öffentlichen Plätzen in Kleinstädten, bei Treffen der National Farmers’ Union oder bei Veranstaltungen auf Privatanwesen auf.410 Die BUF reduzierte dabei die Demonstration von Militanz und Dynamik, zeigte sich vielmehr als eine Variante des ländlichen Konservatismus.

Mit dem Aufstieg Jorian Jenks’ zum Agrarexperten der BUF ab 1935 nahm die Thematisie-rung einer faschistischen Reform der Landwirtschaft zu. Jenks war der Sohn eines einflussrei-chen englischen Juristen. Er besaß ein Diplom in Agrarwissenschaften, hatte in England und Neuseeland in landwirtschaftlichen Betrieben und Projekten gearbeitet und am Institute of Agricultural Economics in Oxford an einem Forschungsprojekt mitgewirkt, ehe er 1932 in die BUF eintrat.411 Jenks wurde zu ihrem wichtigsten Redner und Autor in landwirtschaftlichen Belangen.412

Er publizierte verstiegen wirkende Texte, die naturbezogene Metaphern pleonastisch ver-wenden, pries den Feudalismus und das vormoderne England als Vorbild eines faschistischen Großbritanniens. In seiner Kolumne The Country Man’s Outlook in The Fascist Quarterly wid-mete er sich Interessen und Sorgen der Farmer, informierte über country fairs , gab Tipps für die Kartoffelernte, die Heulagerung und den Gemüseanbau, nannte Wetteraussichten und prangerte die Beschädigung von Ackerland durch Wochenendtouristen an.413 Sprachlich und thematisch weicht die Kolumne vom Stil der übrigen Essays des Journals ab. Bedient werden sollte hier eine Leserschaft, die mit dem Landleben und der Landbevölkerung eine nostalgische Weltsicht verband. Eine romantisierende Vorstellung vom simplen Leben auf dem Land nähr-te den Eskapismus. Zugleich ist diese nostalgische Überhöhung im Kontext des Geschichts-bildes und der Identitätsbegriffe der britischen Faschisten zu betrachten. So imperialistisch die Außen- und Wirtschaftspolitik der BUF angelegt war, so sehr war ihre Definition, was Großbritannien und was britisch sei, auf England, die englische Geschichte und die englische Provinz konzentriert.

Jenks’ 1939 erschienene Monographie Spring Comes Again weist eine frappierende Wi-dersprüchlichkeit auf. Sie behauptet den Niedergang des Liberalismus und der Demokratie, nimmt Bezug auf die Französische Revolution, den Marxismus und den Kommunismus, geht auf den italienischen Faschismus und den deutschen Nationalsozialismus ein, auf das Füh-rerprinzip, den Totalitarismus und erläutert den korporativen Staat. Jenks’ Vorwort hingegen erklärt, die Erkenntnisse seien die des einfachen Farmers, der nie nach London komme, der kaum über sein Gatter hinaus etwas von der Welt sehe:

Der großbürgerliche Agrarwissenschaftler Jenks stilisiert die Zusammenstellung zentraler Thesen faschistischer Ideologien zum Ergebnis seiner Unterredungen mit dem ‚Landvolk‘, be-hauptet also eine Inspiration aus der breiten Masse und impliziert, Faschismus sei antizipierter Volkswille.

Im Frühjahr 1936 verschob sich der Adressatenkreis in der Gesellschaftspyramide nach un-ten: Die BUF richtete den Fokus nun auf die Landarbeiter. Die Kolumne The Farmers’ Diary wurde zu The Farmworkers’ Diary .415 Ebenso hatte die BUF die kleinstädtische, dörfliche Be-völkerung im Blick. Den Mitgliedern dienten die Branches hier oft als eine Art Freizeitclub, in dem sie die Provinzialität pflegten; dies war in der BUF durchaus mehrheitsfähig, denn eine positive Bewertung des Provinziellen war ihr insgesamt eigen (vgl. Kap. 4.4). Ihr Kulturbegriff und Freizeitverständnis, ihr Bild des typisch englischen Lebensstils, ihre Geschlechtervorstel-lungen und ihr Familienbild, die Idealisierung des Feudalen, die Wahrnehmung der Einwan-derer, der Ballungsräume – in ihren Positionierungen und Diskursen zu all diesen Bereichen schwingt eine provinziell-spießige, Traditionen pauschal überhöhende und missionarischen Eifer zeigende Mentalität mit.

Das größte Mobilisierungs- und Inszenierungspotenzial wähnte die BUF im städtischen Raum. Hier warb sie um Arbeiter und Angestellte. Im Blick auf diese Zielgruppen übte sie Ka-pitalismus- und Liberalismuskritik, propagierte den autarken Binnenmarkt Großbritanniens und des Empires zur Stärkung des britischen Handwerks und der britischen Industrie und pries den korporativen Staat als krisensicheres Zukunftsmodell. Den Themenkomplex der So-zialen Frage griff sie auf, indem sie schlechte Arbeitsbedingungen in einzelnen Branchen oder konkreten Unternehmen, ungerechte Lohnpolitik, prekäre städtische Lebensbedingungen, unhygienische Wohnverhältnisse in Arbeitervierteln und sozial schwachen Gegenden anpran-gerte. Oft wertete sie Strukturprobleme als von politischen Akteuren oder sozialen Gruppen bewusst toleriert oder intendiert. Ausbeutung war ein Schlüsselbegriff ihrer Propaganda für den industriellen und urbanen Raum. In ärmeren Stadtteilen der Großstädte traten oft Redne-rinnen und Anwerberinnen der BUF auf, die sich besonders an Mütter wandten und mit dem Verweis auf die bedrohte Zukunft der Kinder argumentierten (vgl. Kap. 3.4).

Die Gewerkschaften und die Interessenvertretungen der Beschäftigten im Dienstleistungs-sektor attackierte sie als ineffizient, ebenso die Labour Party und die Communist Party ; deren Vertreter seien unfähig, korrupt und nur mit der eigenen politischen Karriere befasst. Ihrer antisemitischen Propaganda verlieh sie einen lokalen Bezug und sie bezichtigte seit 1936 expli-zit jüdische Unternehmer der Bereicherung auf Kosten der Arbeitnehmer.416 In den nördlichen Industriestädten und -regionen organisierte die Partei bis 1938 zahlreiche Aufmärsche und Reden Mosleys, anderer Funktionäre und lokaler Anhänger, die sie in Rhetorikkursen schulte. Sie traf dabei auf zahlenmäßig stärkere Gegendemonstrationen der Gewerkschaften, der La- bour Party und der Communist Party . Dabei kam es in den größeren Städten immer wieder zu Ausschreitungen und gewalttätigen Auseinandersetzungen. Diese flammten in der Folgezeit erneut auf. Stephen Cullen spricht von einem „pattern of low-level street warfare“417.

Die Redner der BUF konzentrierten sich in ihrer Agitation auf Gebiete mit einer rückläu-figen Industrieentwicklung. Thematisch priesen sie das Wirtschaftssystem des korporativen Staates, erklärten eine exklusivere Zusammenarbeit der britischen Industriebetriebe und der Rohstofflieferanten aus den Dominions zum Ziel und versprachen eine effizientere Interessen-vertretung durch die in das korporative System eingebetteten Gewerkschaften, die die Partei zu gründen beabsichtige. Die Krise der Industrie sei Auswirkung der Wirtschaftspolitik der Regierung, der Einflussnahme des ‚internationalen Finanzkapitals‘ und der Lethargie und Un-fähigkeit bestehender Gewerkschaften.

Kaum untersucht worden ist eine Maßnahme der BUF, über die sie ihr sozial- und wirt-schaftspolitisches Profil zu schärfen versuchte und die eine Mobilisierung von Arbeitern und Arbeiterinnen wie auch Angestellten erleichtern sollte: Die BUF gründete 1933 eine eigene Gewerkschaft, die Fascist Union of British Workers (FUBW), die dem Industrial Propaganda Department der Partei unterstellt war. Über dieses Department versuchte sie Beschäftigte des industriellen Sektors in der FUBW zu organisieren, gezielt Mitglieder der anderen Gewerk-schaften abzuwerben und die Angestelltenschicht zu integrieren. Im August 1933 bezichtigte sie den Trade Union Congress der Diktatur und Tyrannei und bezeichnete die Gewerkschafts-führer als „loud-mouthed bullies, living on the fat salaries sweated from their rank and file“418und die Gewerkschaften als gesteuert von einer „armchair Socialist intelligentsia“419. Ange-sichts der niedrigen Mitgliederzahlen der FUBW wurde diese 1934 zu einer zusätzlichen In-teressenvertretung der Arbeiter erklärt und nicht mehr der Austritt aus den Gewerkschaften verlangt. Dass die BUF mit der FUBW zugleich den Grundstein zu einer faschistischen Arbei-ter- und Angestelltenfreizeit legen wollte, wird in Kapitel 4.4 aufgezeigt.

Trotz ihrer Fokussierung auf lokale Problemfelder konnte sich die BUF in den großen Indus-triestädten und in industriell geprägten Regionen wie Lancashire nicht als Massenbewegung etablieren. Größeren Rückhalt fand sie im Londoner East End, das sie seit 1935 zum geografi-schen Schwerpunkt ihrer Demonstrationspraxis und ihrer Hetze machte. In ihrer Propaganda erklärte sie die ärmeren Stadtteile des Londoner Ostens, die von Spannungen, einem konti-nuierlichen Zuzug und von umstrittenen Strukturmaßnahmen geprägt waren, zum neuen „Heart of the Empire“420. Es sei der bisher von allen Parteien vernachlässigte Raum, in dem sie nun eine Politik machen werde, die künftig das ganze Empire bestimmen werde. Die anti-semitische und antikommunistische Agitation der BUF erreichte hier mehr Zustimmung und einen größeren Mitgliederzustrom als in anderen Regionen. Zugleich formierte sich im East End aber starker Widerstand. Gegendemonstrationen erhielten deutlich größeren Zulauf als die Demonstrationen der Faschisten. Eine neue Eskalation: Übergriffe und Straßengewalt

Die massiven Ausschreitungen bei einem BU-Protestmarsch am 4. Oktober 1936 – als Battle of Cable Street bezeichnet – erzeugten öffentlichen und politischen Druck, gegen Straßenkämpfe vorzugehen. Die BU hatte ihren Marsch, der auch ihr Jubiläum feiern sollte, durch Wohn- und Geschäftsviertel im East End geplant, in denen viele jüdische Einwohner und Ladeninhaber lebten. Mosley sollte als Redner auftreten. Große Gegendemonstrationen blockierten einen Teil der Route, so dass die BU-Demonstration polizeilich abgebrochen wurde. Zwischen Ge-gendemonstranten und der Polizei kam es im Verlauf zu Angriffen mit Verletzten auf beiden Seiten und Sachbeschädigungen im Viertel.

Mosleys Interpretation der Ereignisse des 4. Oktober reflektierte ein in den Reden der BUF- Speakers im East End inzwischen zentrales Motiv, nämlich die Behauptung einer Annexion des East Ends durch ‚Fremde‘ und einer Verdrängung der Engländer, die der Terrorisierung durch „imported Red mobs“421 ausgesetzt seien. Mosley versprach seinen Anhängern den „final and inevitable triumph“422 seiner Bewegung, die den Briten Britannien zurückgeben werde.423

Schlägereien zwischen BU-Anhängern und politischen Gegnern prägten die Folgezeit. Die Eskalationen des Spätherbstes 1936 führten schließlich zur Verabschiedung des Public Order Acts , der 1937 das staatliche Vorgehen gegen die faschistische Bewegung erleichterte. Er be-deutete für die BU den Verlust großer Teile ihres inszenatorischen Repertoires, das für viele Mitglieder zu einem Inhalt geworden war: Der Kult um uniformierte Aufmärsche, die Insze-nierung von Virilität und Dynamik, das martialische Gebaren und die so in den Alltag der Mitglieder und Anhänger eingewobene Auflehnung gegen das politische System und gegen die multikulturelle Zivilgesellschaft camouflierten inhaltliche Disparitäten der BU und ritu-alisierten sich. Der Public Order Act setzte dort an, nahm extremistischen Organisationen die Requisiten und schränkte den Spielraum ein.

Die räumliche Schwerpunktsetzung auf das East End behielt die British Union dennoch bei. Sie radikalisierte ihren Antisemitismus fortwährend und intensivierte die Thematik einer britisch-deutschen Freundschaft, die nicht durch jüdische Interessen zerstört werden dürfe. Mosleys Tomorrow We Live von 1938 enthält gar Passagen zur „Jewish Question“424 und einer „Final Solution“425. Mosley schreibt darin Juden die Verantwortung für die antijüdische Hal-tung seiner Bewegung zu, sie hätten diese durch Gewalt und Ausbeutung provoziert. Sie seien Fremde inmitten der Briten geblieben, dürften nicht die britische Staatsbürgerschaft haben und sollten das Land verlassen. Jede Art der Masseneinwanderung, auch aus „Western nati-ons“, sei ein Problem, die der Juden jedoch besonders, denn sie seien „Orientals“426. Mosley entlarvt sich hier als überzeugter Antisemit.

Daneben konkretisiert Tomorrow We Live Mosleys Gesellschaftsvisionen. So negiere die BU keine Eigentumsrechte und gestatte jedem, der sein Vermögen erarbeitet habe, dieses an Erben weiterzugeben, knüpfe dies aber an die Bedingung des public service . Im korporativen Staat werde es Pflicht jedes Grundbesitzers, als Gegenleistung für sein Eigentum Dienst an der Gemeinschaft zu leisten.427 Die Ausführungen stellen in der Essenz eine Befürwortung der Rückkehr zu feudalen Prinzipien dar. Grundbesitzer in der countryside müssten wieder eine Führungsrolle übernehmen, wie sie dies vor „death duties and the victory of urbanism“428 ge-tan hätten. In Städten müssten Mieten staatlich kontrolliert und „slum landlords“429 enteignet werden. Die Grundstückswerte sollten Besitzer selbst einschätzen. Hochpreisiger Grund ziehe hohe Steuern nach sich. Finanziers und Spekulanten dürften ihr Vermögen nicht vererben, da es nicht erarbeitet sei und ihre Kinder kein Gefühl für die Verantwortung hätten, zu der Erbe verpflichte. Soziale Klassen seien das Produkt unfairer Mittelverteilung, die zur „apotheosis of the parasite deriving his snobbery from his father’s efforts“430 geführt habe.

Mosley nimmt in seiner Definition des originär britischen faschistischen Staates also ins-gesamt einen Brückenschlag zwischen Forderungen des Konservatismus und des Sozialismus vor und steigert diese. Er bedient auf der einen Seite Erwartungen konservativer ländlicher Milieus, vor allem derer mit Landbesitz und mit einer Tendenz zur antimodernen Agrarro-mantik. Auf der anderen Seite wendet er sich an ein urbanes kleinbürgerliches bis proleta-risches Milieu mit Sympathien für sozialistische Ideen, mit Verdrängungsängsten und einer ablehnenden Sicht auf den Liberalismus. Die ideologischen und programmatischen Texte ent-halten neben eindeutig antisemitischen Äußerungen Narrative von Inklusion und Exklusion in einer ‚Volksgemeinschaft‘. Neuausrichtungen und Auflösung

Im Sommer 1938 organisierte die British Union eine Reihe von Märschen und Kundgebungen mit dem bereits zuvor bemühten Slogan „Britain First“431. Sie sprach sich gegen ein Eingreifen Großbritanniens in den Spanischen Bürgerkrieg aus und nutzte Parolen wie „Britons Befo-re Basques“432. Die Kampagne setzte auf nationalistische und anti-interventionistische Posi-tionen. Zwischen 1938 und 1939 intensivierte die BU ihr Werben für eine britisch-deutsche Annäherung und ein Nicht-Eingreifen Großbritanniens und überführte dies in eine Peace Campaign .433 Ihre Positionierung kostete sie Unterstützung aus proletarischen und kleinbür-gerlichen anti-deutschen Milieus.434

Seit dem Frühjahr 1939 agitierte die BU auch gegen Polen. Martin Pugh beschreibt die Reak-tionen der britischen Faschisten auf den deutschen Überfall auf Polen als divergierend: Einige hätten Sympathien für das nationalsozialistische Deutschland frei bekundet, sich radikalisiert und Kontakt zu Nationalsozialisten gesucht. Andere hätten sich nun auf ihren britischen Pa-triotismus berufen und sich zu Gegnern Deutschlands erklärt. In britischen rechtsradikalen Organisationen habe eine Mitgliederabwanderung von einer zur anderen eingesetzt. Die BU habe eine Doppelstrategie verfolgt, einerseits eine Beendigung des Krieges zu fordern, ande-rerseits ihre einberufenen Mitglieder dazu anzuhalten, ihren Wehrdienstpflichten nachzu-kommen. Damit habe sie ein Parteiverbot verhindern wollen.435 Dieses umging sie allerdings nur kurzfristig. Seit 1939 verfügte der Innenminister über erweiterte Kompetenzen. Diese er-möglichten es, Personen zu inhaftieren, die eine Gefahr für „public safety or to the defence of the realm“436 darstellten. Im Kontext der um sich greifenden Ängste, eine fifth column sei in Großbritannien aktiv, erfolgte seit Mai 1940 unter Anwendung der Defence Regulation 18B die Internierung der Parteispitze, zahlreicher Funktionäre und Mitglieder der Basis.

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3 Ein Einfallstor faschistischer Gesellschaftspolitik: der Zugriff auf die Jugend

3.1 Adoleszenz, Bright Young Things und Giovinezza : die Politisierung des Themas Jugend im frühen 20. Jahrhundert und der faschistische Jugendmythos

Eine Sichtung des Altbestandes großer Bibliotheken wie der Berliner Staatsbibliothek oder der British Library offenbart einen in seinem Ausmaß überraschenden Trend des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts: Jugend und Adoleszenz entwickelten sich in dieser Zeit zu einem Thema, das alle Genres der zeitgenössischen Literatur und die bildenden Künste inspirierte und zu einem zentralen Inhalt sozial- und kulturwissenschaftlicher, pädagogischer, psycholo-gischer und politischer Abhandlungen wurde. Während sich in der Literatur und in den Küns-ten ein optimistischer und ein fatalistischer Zugang zum großen Komplex Jugend abwechsel-ten, waren die Schriften wissenschaftlicher und pseudowissenschaftlicher Art vor allem von Besorgnis geprägt. Adoleszenz stand hier oft im Kontext der virulenten citizenship -Debatten und der Auseinandersetzungen über die Implikationen, Rechte und Verpflichtungen, die sich aus der Staatsbürgerschaft ergaben. Vorrangig ging es um die männliche Adoleszenz, also um die Entwicklungsphase junger Männer, die sich zu verlässlichen Staatsbürgern, Arbeitskräften und potenziellen Soldaten entwickeln sollten. Das Thema mündete bisweilen in Theorien über eine Veranlagung zu Delinquenz, Apathie oder Anarchismus.

Die internationale Auseinandersetzung mit der Thematik Jugend speiste sich aus verschie-densten Richtungen und Quellen. Staatliche Einrichtungen, politische Parteien, die Arbeiter-bewegung, Gewerkschaften, Kirchen und andere religiöse Gemeinschaften, Sozialreformer, philanthropische Organisationen und Wohltätigkeitsverbände, akademische Institutionen und Akteure, Reformpädagogen, die entstehenden Frauenbewegungen – sie alle gestalteten den Boom der Adoleszenz als anscheinend neuen Komplex mit. Jugend- und Adoleszenzdis-kurse nahmen einerseits Anreize aus den Künsten und aus der sich entfaltenden Populärkultur auf, spiegelten sich andererseits in ihr und prägten sie nachhaltig.

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Nun war die Jugend natürlich keine Neuentdeckung dieser Zeit, doch die Beschäftigung mit ihr erfuhr im Kontext der Industrialisierung, der Urbanisierung und der einsetzenden Demo-kratisierung Beschleunigungen und Verstärkungen. Im 19. Jahrhundert hatte sich ein Trend der sozialanthropologischen Untersuchungen in urbanen Ballungsräumen entwickelt, die sich mit den Lebensumständen der Arbeiterklasse befassten. Veröffentlichungen wie die Friedrich Engels’, Henry Mayhews, Jacob Riis’ oder Charles Booths inspirierten zahlreiche Sozialrefor-mer und Akademiker verschiedenster Fachrichtungen sowie Philanthropen.437 Damit setzte sich allerdings auch eine zweifelhafte Mode in Gang: das ‚ slumming ‘, das nicht immer altruis-tisch motivierte Aufsuchen der Stadtgebiete, in denen die Armen lebten.438 Auf der einen Seite war es das gut gemeinte Ziel großbürgerlicher und bürgerlicher Besucher der desolaten Ge-biete, eigene Analysen der Lebensbedingungen, der sozialen und infrastrukturellen Probleme vorzunehmen, um Hilfsprojekte, Fürsorgeeinrichtungen und Spendenausgaben zu initiieren oder Wege zu finden, effizient gegen lokale Kriminalität vorzugehen. Auf der anderen, der dunklen Seite solcher lokalen Forschungen ging es darum, eine Form des Katastrophentouris-mus zu betreiben oder sozialdarwinistischen und sozialimperialistischen Haltungen Belege zu liefern und pseudowissenschaftliche Theorien über Armut und Kriminalität zu unterfüttern und so faktisch die vor Ort Befragten und Beobachteten vorzuführen. Das Projekt des Italie-ners Cesare Lombroso, der 1876 mit seinem Buch L’uomo delinquente behauptete, durch die Auswertung von Porträtaufnahmen straffällig gewordener Männer den Prototyp des Delin-quenten ausmachen zu können, also Kriminalität an den Gesichtszügen, der Kopfform und der Statur erkennen zu können, war keine Ausnahme. Sarah Wise, die sich mit den Lebensbedin-gungen in Londoner Slums in der Viktorianischen Zeit beschäftigt hat, beschreibt Lombrosos englische Gleichgesinnte als „the nation’s armchair eugenicists“439.

Die Perspektive auf die Jugend (gemeint war vor allem die proletarische Jugend) als Stör-faktor für die öffentliche Ordnung speiste sich nachdrücklich aus diesem Kontext. Die Furcht vor einer als vererbbar angenommenen oder als durch Lebensumstände bedingten Delinquenz oder Apathie bestimmte politische Überlegungen zu präventiven Maßnahmen und positiven Einflussnahmen auf die heranwachsenden Staatsbürger bis weit in die erste Hälfte des 20. Jahr-hunderts, und das sowohl in autoritären als auch in demokratischen Gesellschaften. Die Posi-tionen und politischen Forderungen reichten von pessimistischen Gesamteinschätzungen, die auf repressive Maßnahmen setzten, bis zu optimistischen Haltungen, die die Förderung der Jugendlichen in den Mittelpunkt stellten.

Seit dem ausgehenden 19.  Jahrhundert entwickelten sich in den Vereinigten Staaten von Amerika und in Europa distinkte Jugendkulturen in unterschiedlichen Milieus, darunter auch die der Hooligans oder Rowdys, die Gewalt ausübten oder sie zur Provokation einsetzten. Eige-ne Kleidungsstile und Performanzrituale nutzten sie zur demonstrativen Abgrenzung gegen-über rivalisierenden Gruppen, aber auch gegenüber der restlichen Gesellschaft. Behörden und Sozialreformer fürchteten, dass diese Abgrenzungsrituale auf die Masse der Generation über-greifen könnten.440

Die Thematik Jugend gewann aber noch aus anderer Richtung Dynamik als aus citizenship - und Delinquenz-Debatten. Im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts erlebten die Entwick-lungspsychologie und die Reformpädagogik einen Aufschwung. Als Schlüsselwerk der erst-genannten galt Stanley G. Halls 1904 erschienenes Werk Adolescence , das bemüht war, die Jugend als eine eigene Lebensphase in Abgrenzung zur Kindheit zu beschreiben und zu kennzeichnen und auf die körperlichen und geistigen Entwicklungsprozesse aufmerksam zu machen, die Jugendliche in dieser Zeit durchlebten.441 Die Abhandlung des amerikanischen Psychologen Hall, der die Altersspanne von vierzehn bis vierundzwanzig zur Phase der Ado-leszenz erklärte, verband entwicklungspsychologische und -physiologische sowie sozialkriti-sche Argumentationen. Er forderte darin einen zwar verständnisvolleren, aber zugleich autori-täreren Umgang mit der beschriebenen Altersgruppe. Halls Untersuchung rückte Adoleszenz in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Studien und machte sie zu einem Konsumfaktor. Das Thema löste sich aus dem Kontext der Betrachtungen über die urbane, proletarische bis sub-proletarische Jugend und wurde zu einem klassenübergreifenden generationsbeschreibenden Komplex. In der Folgezeit boomten Ratgeberpublikationen und Themenseiten in populären Magazinen wie etwa Good Housekeeping oder Harper’s Bazaar , die den richtigen Umgang mit Jugendlichen zu vermitteln versprachen.442 Hinzu kamen Publikationen, die sich direkt an die Jugend wandten und sie mit als altersgerecht und gesellschaftskonform erachteten Interessen in Kontakt zu bringen suchten.

In Großbritannien entwickelte sich bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein eigener, flo-rierender Markt für Kinder- und Jugendmagazine, von denen viele mit der Intention publiziert wurden, ein Gegenangebot zu den populären penny dreadfuls , den in bürgerlich-konservativen Kreisen als Schund verachteten und als gesellschaftsgefährdend beurteilten günstigen Roman-heften mit Schauergeschichten, anzubieten. Erbittert geführte Debatten um Schundliteratur und deren vermeintlich entwicklungsstörenden Effekt auf die Jugend wurden im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert zu einem internationalen Phänomen.443 Ein Alternativangebot sollten Magazine darstellen, die Abenteuerlust, das kindliche Interesse an der Natur und an Gemeinschaftserlebnissen in einer als erzieherisch wertvoll erachteten Weise bedienten, zu-gleich aber sehr konservative Gesellschafts- und Geschlechtervorstellungen sowie imperialis-tische Anschauungen enthielten.

Die ebenfalls zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufkommenden reformpädagogischen Ansätze forderten, Kinder und Jugendlicher stärker als eigenständige Persönlichkeiten zu betrachten und sie aktiver in den eigenen Lernprozess einzubinden. Traditionelle Unterrichtsvorstellun-gen wurden nun vielfach kritisiert, ebenso wie die sich an den sozialen Klassen orientierende Auslese der Schüler für bestimmte Schulformen und Bildungswege. Es setzte eine von einer breiteren Öffentlichkeit diskutierte Suche nach neuen Wegen in der Erziehung und der Bil-dungspolitik ein. Internationale Kongresse wurden organisiert, Vereinigungen gegründet und eine Vielzahl von Studien untersuchte die Bildungssysteme der jeweils anderen europäischen Länder hinsichtlich der Unterrichtsmodelle sowie des Erziehungs- und des Jugendverständ-nisses. Teilaspekt dieser Diskurse war der Themenkomplex physical education , bei dem es nicht allein um die Erziehung junger Menschen zu gesunden Erwachsenen ging, also um eine Mög-lichkeit, schlechter medizinischer Versorgung, katastrophalen Ernährungs- und Lebensbedin-gungen entgegenzuwirken, sondern in den sich eugenische Konzepte ebenso hineindrängten wie Vorstellungen von militärischer Fitness und Wehrhaftigkeit. In den Diskursen prallten immer wieder freiheitliche, das Individuum in den Mittelpunkt stellende Reformansätze und antiindividualistische Vorstellungen, die eine starke Lenkung der Jugend befürworteten und die Gemeinschaft zum Ideal erhoben, aufeinander. Jugendorganisationen als innovative Sozialisationsinstanzen um die Jahrhundertwende

Ein vergleichbar breites Spektrum bildeten die neuen und rasch populären Sozialisations-formen der Jugend im frühen 20. Jahrhundert. Von der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg wurden zeitgleich viele militaristisch inspirierte Jugendorganisationen mit straffen hierarchischen Strukturen gegründet und Jugendbewegungen, die sich freiheitliche Konzepte und die Negation autoritärer Organisationsformen auf die Fahnen schrieben. Einige bewegten sich mitten in den Spannungsfeldern Konservatismus oder Innovation und Hierarchien oder Selbstbestimmung. Gemein war den entstehenden Jugendorganisationen, dass sie Kindern und Jugendlichen durch eigene Betätigungsfelder außerhalb der Familie und der Schule wich-tige Freiräume schufen.

In Großbritannien formierte sich seit der Jahrhundertwende die europaweit wohl größte Anzahl an Jugendorganisationen und hier entstand die am schnellsten wachsende, sich inter-national etablierende Gemeinschaft, die der Pfadfinder. Die 1908 durch Robert Baden-Powell ins Leben gerufenen Boy Scouts erlangten innerhalb kürzester Zeit international großen Zu-wachs.444 Die Boy Scouts waren keineswegs die erste Jugendorganisation, die sich an die männ-lichen Kinder der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten richtete, ihnen Abenteuer, Gemeinschaftserlebnisse und sinnvolle Aufgaben versprach, den Eltern dagegen eine Unter-stützung bei der Erziehung ihrer Söhne zu ‚vernünftigen‘ Staatsbürgern in Aussicht stellte. Sie war nicht die einzige offen nationalistische und militaristische, das Ausmaß der Entlehnungen aus dem Militär war hier aber besonders groß. Bereits aus den Namen vieler früherer Orga-nisationen lässt sich ein militaristischer Impetus lesen. Oft waren sie im späten neunzehnten Jahrhundert einem religiösen Kontext und einem Missionsauftrag entsprungen, so etwa die Boys’ Brigade , die Girls’ Brigade , die Boys’ Life Brigade , die Girls’ Life Brigade die Church Lads’ Brigade , die Girls’ Guildry und die Jewish Lads’ Brigade .445 Ähnliche Initiativen hatten sich für die Gründung von Jugendclubs wie den Lads’ Clubs in deprivierten Stadtbezirken der Indust-riestädte eingesetzt, die als Freizeiteinrichtungen Jungen eine Alternative zum ‚Herumlungern‘ bieten und die Ausbreitung des neuen sozialen Problems der Jugendgangs verhindern sollten. Die Einrichtung von Mädchenclubs in diesen sozialen Kontexten war zunächst umstrittener, da sowohl das Bedürfnis weiblicher Jugendlicher nach einer regulierten Freizeitgestaltung als auch ihr Gewaltpotenzial als geringer eingeschätzt wurden.446 Besonders die Organisationen für heranwachsende Jungen verbanden militärische Tugenden und soldatischen Drill mit re-ligiöser Unterweisung und autoritärer Erziehung, boten aber ebenso sportliche und musika-lische Aktivitäten und Spiele; jene für Mädchen sollten anfänglich in erster Linie einer ge-schlechtsspezifischen Erziehung und der Prävention dienen: Ihre nicht explizierte, damit der Prüderie Rechnung tragende und doch für jeden verständliche Zielsetzung war es, Mädchen davon abzuhalten, in Schwierigkeiten zu geraten. Trotz des autoritären Modells entwickelten sich die Mädchenorganisationen rasch zu populären Freizeiteinrichtungen.

Robert Baden-Powell galt der britischen Öffentlichkeit als Held des Burenkriegs. Besonders in nationalistisch und imperialistisch gesinnten Kreisen der britischen middle classes genoss er daher eine positive Reputation, die sich als Vertrauensvorschuss seitens der Eltern auswirkte. Die Gründung der Boy Scouts war durch Publikationen Baden-Powells vorbereitet worden, die die Konzeption der Jugendorganisation, ihre Wertvorstellungen und geplanten Aktivitäten vorweggenommen hatten. Schon zur Gründung erschien ein Magazin für Jungen, das diese über die Treffen hinaus an die Bewegung band, sie unterhielt und so neue Mitglieder anwarb. Frühzeitig interessierten sich auch Mädchen für die Organisation, die sich der Geschlechter-trennung verschrieben hatte. Daher entstanden bereits zwei Jahre nach den Boy Scouts unter der Leitung von Baden-Powells Ehefrau Olave die Girl Guides , die einen ebenso rasanten Zu-wachs erfuhren wie die Gruppen für Jungen. In den frühen 1930er Jahren hatten die briti-schen Girl Guides und Boy Scouts zusammen eine Million Mitglieder.447 Konservative Werte, patriotische Haltungen und imperialistische Inhalte bildeten den Kern ihrer Weltanschauung. Als pädagogisches Ideal proklamierten sie den Dienst der Jugend an der Gesellschaft und der Nation, euphemisierten den Militärdienst und damit in der Konsequenz auch das Kriegswe-sen. Sie verstanden sich trotz ihrer deutlichen Ausrichtung an bürgerlichen Wertvorstellungen als klassenübergreifend und setzten auf die Uniformierung als Symbol klassenloser Gemein-schaft. Die Organisation hatte in allen Bereichen eine vorgegebene Hierarchie. Jugend sollte durch Erwachsene oder ältere Jugendliche geführt werden. Damit waren die Boy Scouts und Girl Guides wie die Mehrzahl der Jugendorganisationen ihrer Zeit eher autoritär organisiert, popularisierten aber zugleich freiheitsbetonte Ansätze der Kinder- und Jugendfreizeit. Ein me-ritokratisches System, das Leistungen, Mut und Abenteuer mit Abzeichen und Titeln belohnte, wurde schnell zu ihrem Aushängeschild und trug zu ihrer Attraktivität bei, ebenso wie eine Idealisierung der Natur und des survival training . Gerade in urbanen Ballungsräumen schufen ihre Inhalte Gegenangebote zu den Alltagserfahrungen vieler Kinder.

Camping bildete den Höhepunkt der Aktivitäten der Scouts und Guides , da es nicht nur eine idyllische und abenteuerreiche Gegenwelt evozierte, sondern die Kinder tatsächlich temporär aus den häufig schlechten Lebensbedingungen im urbanen Raum herausholte. Es ermöglichte ihnen Ausflüge in die Natur, in einer Atmosphäre, die bewusst von einer gewissen Weltferne geprägt war und das Leben in einer Gemeinschaft auf eingängige Regeln und Prinzipien he-runterbrach. In der Essenz war dies eine Form des Eskapismus, die für viele Kinder attraktiv war und die nicht nur durch Mitglieder, sondern auch in der öffentlichen Wahrnehmung fast schon glorifiziert oder sogar mystifiziert wurde. Der so erzeugte Mythos des Gemeinschafts-gefühls und des Dienstes der Jugend an der Nation inspirierte zahlreiche Nachahmer sowohl in demokratischen Systemen als auch in einer extremen politisierten Variante in den faschis-tischen Bewegungen.

Das Scouting entwickelte sich binnen kürzester Zeit zu einem internationalen Trend. Italien erreichte dieser bereits zwei Jahre nach Gründung des britischen Originals. Hier wurden be-reits 1910 Esploratori - und Esploratrici -Gruppen gegründet, unterstützt von britischen Staats-bürgern in Italien, die sich der Idee verschrieben hatten, auch dort die britische Jugendorgani-sation zu etablieren und ihr zu vergleichbarer Popularität zu verhelfen. 1912 veröffentlichten die ersten Ableger ihre Statuten. Wie in Großbritannien war in Italien die strikte Trennung von Jungen und Mädchen vorgesehen. Die Organisationen stießen dennoch auf die Ablehnung der katholischen Kirche. Interessant ist, dass sich der Trend über den Umweg des italienischen Mutterlandes in Auswanderergemeinden verbreitete und hier zur Gründung von Untergrup-pen der italienischen Dachorganisationen führte. Anders als in Großbritannien entstand in Italien keine Massenbewegung des Scouting , die Verbände nahmen aber an den internationa-len Kongressen der Scouts und Guides teil.448 ‚Die Jungen‘ und ‚die Alten‘: Generationen und Generationenkonflikte

Mit der Polarisierung, die das Thema Jugend im frühen 20. Jahrhundert erfuhr, entwickelte sich die verwandte Kategorie Generation zu einem Kernbegriff wissenschaftlicher, populär-wissenschaftlicher und politischer Diskussionen, moderner Literatur, künstlerischer Arbeiten und der Konsumkultur. Die Heftigkeit, mit der über die Adoleszenz gestritten wurde, übertrug sich in diesen Bereich. In den unterschiedlich weit industrialisierten Ländern Europas hatten sich wichtige Sozialisationsinstanzen und Einflussfaktoren auf das Leben junger Menschen gewandelt, die auch das Verhältnis der Generationen zueinander nachhaltig prägten. Der un-gebremste Trend der Urbanisierung, das Aufbrechen traditioneller Sozialisationsformen wie des Familien- und Arbeitsverbundes, die Auseinandersetzung breiter Bevölkerungsgruppen mit dem wirtschaftlichen und politischen System, ihre Forderung einer gleichgestellten Teil-habe und die Entstehung neuer Berufsmöglichkeiten sowie der Boom der städtischen Kultur und die Demokratisierung des Konsums: All diese Entwicklungen bewirkten, dass Gesell-schaftswahrnehmungen der Generationen divergierten. Abgrenzungen der Jugend gegenüber den Werten, Haltungen und Traditionen der Eltern- und Großelterngenerationen fielen ange-sichts dieser Dynamik stärker aus oder waren durch die sie begleitenden Diskurse sichtbarer. Zugleich förderten sie die Identifikation mit der eigenen Altersgruppe.

Für die in dieser Untersuchung analysierten faschistischen Bewegungen stellte der Begriff der Generation ein konstituierendes Element ihrer Ideologien, ihres Selbstverständnisses so-wie ihrer politischen Legitimationsstrategien und Machtgenerierungsmaßnahmen dar. Sie knüpften dabei an eine dynamische, bereits laufende und polarisierende Diskussion an, be-anspruchten mit unterschiedlichem Erfolg die Stellung als Wortführer in der Debatte und trugen aktiv den Faktor Gewalt in die Auseinandersetzung hinein. Die Behauptung beider faschistischer Parteien, der legitime Repräsentant einer Generation zu sein, die von den vorhe-rigen Generationen entmündigt, ins Unglück gestürzt und um wirtschaftliche oder territoriale Besitztümer des Landes betrogen worden sei, blieb während ihrer von Radikalisierungen und Schwerpunktverlagerungen gekennzeichneten politischen Agitations- bzw. Herrschaftspha-sen ein zentraler Dreh- und Angelpunkt. Hinzu trat das Motiv der eigenen Zukunftssicherung: Beide erklärten sich zu den Fürsprechern der kommenden Generationen. Dabei halfen ihnen die durchaus vage und variable Zuordnung, wer eigentlich eine Generation bildet, und das Potenzial dieser Kategorisierung, durch Behauptung von Gemeinsamkeit über soziale Unter-schiede hinweg zu mobilisieren.

In der Geschichtswissenschaft wird der Generationenbegriff häufig in methodischer Hin-sicht verwendet, um sozial- und kulturgeschichtlich gesellschaftliche Brüche in der Geschichte zu untersuchen oder nach den bestimmenden Faktoren für Gemeinsamkeiten einer ansonsten divergierenden Gruppe zu fragen.449 Ulrike Jureit definiert ihn als einen spezifisch modernen Ordnungsbegriff, der vor dem Hintergrund der durch Aufklärung und Industrialisierung be-dingten Änderung von Sozialisation, Erfahrungsraum und Zukunftserwartungen seine Be-deutung als eine verbindende Kategorie erhalten habe:

Wie Jureit betont, liegt der analytische Wert des Begriffs darin, dass er die Konsequenzen strukturellen Wandels in einer Gesellschaft in relativ kurzen Zeitspannen deutlich machen kann und dass er Einblicke in die Veränderung von Mentalitäten in diesen Zeitspannen er-möglicht.451 In methodischer Hinsicht ist er nicht unproblematisch, da er – ebenso wie die Analysekategorien Klasse, soziale Schicht oder Geschlecht  – vorschnell Homogenität einer Gruppe voraussetzt, die sich bei genauerer Betrachtung mit ebenso großer Berechtigung als heterogen beschreiben ließe. Grundsätzlich erleichtert er aber die Analyse dessen, was eine große gesellschaftliche Gruppe von einer anderen (zumindest partiell) zeitgenössischen trennt, welche Charakteristika einer Generation signifikant von denen einer älteren oder jüngeren Generation abweichen oder welche Gemeinsamkeiten Gleichaltrige in verschiedenen Ländern und Gesellschaften aufweisen. Hans Mommsen definiert die Generation als Analysekategorie zunächst über den negativen Weg:

Nicht Gemeinsamkeiten, sondern Abgrenzungen bilden demzufolge zuallererst das verbin-dende Element einer Generation. Eine Generation ist im Unterschied zur Alterskohorte nicht einfach vorhanden, sie muss gestaltet werden. Jureit nennt das generation building einen Ver-gemeinschaftungsprozess und spricht daher von der Imagination generationeller Einheiten.453Die Problematik der Ambiguität, dass sich also Trennlinien von einer Generation zur nächsten gerade nicht objektiv ziehen lassen, macht den Begriff nicht nur für die Forschung, sondern auch in hohem Maße für politische Akteure attraktiv. Es handelt sich um einen aufladbaren, wandelbaren Begriff, der einerseits kollektive Mentalitäten aufzeigen, sie andererseits aber auch diskursiv konstruieren kann.

Die Definition der Generation über den negativen Weg entspricht weitgehend den histori-schen Selbstbeschreibungen in literarischen und politischen Auseinandersetzungen der Jugend des frühen 20. Jahrhunderts, die hier eigentlich im Plural genannt werden müsste, da gleich mehrere Generationen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen den Generationenkonflikt ausriefen. Avantgardistische Bewegungen in den Künsten rekurrierten stark auf semantische Felder um Jugend, Generation und Dynamik, wenn sie sich als radikal mit Traditionen bre-chend, als innovativ und visionär beschrieben. In Italien setzte, diesem Selbstverständnis fol-gend, der Futurismus seit 1909 deutliche Akzente der Vermischung von künstlerischen und politischen Formen der Radikalität.454 Filippo Tommaso Marinettis Manifest des Futurismus und die folgenden Manifeste der futuristischen Künstlergruppen leiteten aus der Jugend eine Legitimation zur Revolte gegen alles Etablierte oder ‚falsche Neue‘ (besonders den Feminis-mus) ab. Nur die Jungen (die bis zu Dreißigjährigen) seien der neuen Schnelligkeit und deren Schönheit gewachsen; sie seien prädestiniert, durch Radikalität, Zerstörung, Kampf und Krieg ‚das Unmögliche‘ in der Zukunft zu erreichen.455 So radikal hier die Kritik an traditioneller Kunst, Kunstrezeption und höherer Bildung ausfiel und so rückhaltlos die Gewaltverherrli-chung wurde, so vage blieben die Gesellschaftsvisionen.

In Großbritannien fielen avantgardistische Strömungen vor allem in der Literatur weniger deutlich aufbegehrend, zugleich heterogener aus. Auch hier nahmen seit der Jahrhundert-wende Konnotationen von Jugend und Generation Einzug in die konkurrierenden, sich als innovativ verstehenden künstlerischen und literarischen Auseinandersetzungen mit der in-dustrialisierten und imperialen britischen Gesellschaft, deren Wertvorstellungen und Fort-schrittsdenken. Ähnliche Ausdrucksformen wie der italienische Futurismus wählten um 1910 etwa Wyndham Lewis und Ezra Pound, die sich beide später offen den italienischen und den britischen Faschisten zuwandten und sich als Schriftsteller in deren Dienst stellten; Pound war 1935/36 sogar mit dem Fascio di Londra eng verbunden, für dessen englischsprachige Zei-tungsbeilage er Texte lieferte.456 Wyndham Lewis kritisierte 1932 in seiner skurrilen Abhand-lung Doom of Youth die Omnipräsenz von Jugenddiskursen, deren Hochphase er als beendet betrachtete. Sie hätten zu einer Infantilisierung der Erwachsenen geführt.457

Der Topos des Generationenkonflikts gewann mit dem Ersten Weltkrieg eine neuartige Dynamik, die nicht allein die historischen Auseinandersetzungen prägte, sondern auch die Analysen der geschichtswissenschaftlichen Forschung strukturiert. Die Fragen, wessen Alters-gruppe wie in den Krieg involviert oder von ihm betroffen war, welche Handlungsoptionen wer hatte und welche Konsequenzen das Handeln der einen Altersgruppe für die anderen hat-te, waren und sind zentrale Faktoren. Der Konflikt der Generationen war nach Kriegsende eng an die Schlagworte Verantwortung, Schuld, Versäumnisse, Konsequenzen, Autorität, Pflich-ten und Freiheiten gebunden.

Dass die Differenzierung nach Generationen nur vage sein kann und sich stark an externen Faktoren orientiert, wird deutlich, wenn man die in der Forschungsliteratur verwendeten Mo-delle vergleicht. Sie weichen voneinander ab, zum Teil so weit, dass sich aus ihrer Kombination keine Trennschärfe der Altersgruppen mehr ergeben kann. Jon Savage versucht eine inter-national gültige Einteilung der Generationen dieser Zeit vorzunehmen. Diese deckt sich zum Teil mit der an den Phasen der deutschen Geschichte orientierten Einstufung, wie sie etwa Ursula Büttner erläutert. Savage unterscheidet zunächst die um 1880 Geborenen (Generation A), die der konservativen Ideologen, die weitgehend zur Verschärfung des Konflikts und damit zum Kriegsausbruch beigetragen hätten, und die um 1890 Geborenen (Generation B), die im frühen Erwachsenenalter in den Krieg gezogen seien. Generation C bildeten die etwas jünge-ren, die aus der Schule in den Krieg geschickt worden seien, während die Jahrgänge um 1902 (Generation D) zu jung für eine direkte Beteiligung am Kriegsgeschehen gewesen, wohl aber in vollem Bewusstsein mit ihm aufgewachsen seien. Savage folgert, dass in der Nachkriegszeit die stärksten Spannungen zwischen Generation B, C und D auf der einen und Generation A auf der anderen Seite zu Tage getreten seien, aber auch das Verhältnis der drei jüngeren Gruppen zueinander zwangsläufig sehr schwierig gewesen sei aufgrund der unterschiedlichen Vorkriegs-, Kriegs- und Nachkriegserfahrungen. Die extremsten Haltungen schreibt Savage den Generationen C und D zu, die kein Erwachsenenleben vor dem Krieg gekannt und ihre Erfahrungswerte allein aus der Ausnahmesituation des Krieges bezogen hätten.458

Die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war in allen kriegsbeteiligten Ländern Europas zu-sätzlich zu den gesteigerten innenpolitischen und klassenspezifischen Konflikten von den Spannungen zwischen Jung und Alt geprägt, von einem gegenseitigen Misstrauen und der Wahrnehmung eines fehlenden Verständnisses der anderen für die eigenen Erfahrungen und Lebenssituationen. Den Kontext bildeten die katastrophale Versorgungslage und Wirtschafts-situation, die nicht aufgearbeiteten Gewalterfahrungen, persönlichen Verluste und Tragödien. Politische Parteien warben um die jungen potenziellen Wähler und die Wirtschaft begünstigte vielfach junge Niedriglohnempfänger. Die Populärkultur als eine sich demokratisierende und von bürgerlich-elitären Bildungsansprüchen lösende Kultur, die das Vergnügen als Motivation bejahte und sich so liberalisierte, nahm einen rasanten Aufschwung. Sie war für die Jugend at-traktiv, die eigene kulturelle Räume suchte und ihre während des Krieges durch die Abwesen-heit der Vätergeneration erlangten Freiheiten und ihre Eigenverantwortung nicht abzugeben bereit war. Frauen forderten nicht nur eine politische und gesellschaftliche Anerkennung ihrer Arbeit und ihrer Entbehrungen während des Krieges ein, sondern ebenso politische Repräsen-tation. Vorstellungen von Autorität und von Moral hatten sich gewandelt oder wurden zum Gegenstand gesellschaftlicher Aushandlungen. Inmitten dieser Wandlungsprozesse der Ge-sellschaften traten die Bruchstellen zwischen den Generationen deutlich zu Tage.

Die im italienischen Faschismus manifestierten Generationsvorstellungen und  -konflikte hatten eine lange Nachwirkung in der italienischen Politik nach 1945, als sich die im Faschis-mus Aufgewachsenen mit ihren Erfahrungen, Handlungsspielräumen und Verantwortlich-keiten auseinandersetzten, sich in weiten Teilen als betrogene, fremdgesteuerte Generation werteten und Geschichtsklitterungen prägten.459

Wenngleich die Differenzierung nach Generationen als Analysemodell nicht über die Ma-ßen belastbar ist, so ist sie doch sinnvoll, wenn es darum geht, die Konflikte nachzuvollziehen, die in der Agitation der faschistischen Bewegungen erbittert angeführt oder heraufbeschwo-ren wurden. Ihre Selbstbeschreibung als ‚Jugendbewegungen‘ lebte von der geradezu exzessiv eingesetzten Abgrenzungsrhetorik zu ‚den Alten‘.

Im italienischen Faschismus erhielt das Motiv des Generationenkampfes eine zusätzliche Dimension, da es hier nicht nur um den Sieg der Jungen über die Alten gehen sollte, sondern um eine daraus abgeleitete Mission für Gegenwart und Zukunft: die Schaffung des ‚neuen Menschen‘, des ‚neuen Italieners‘ (vgl. Kap. 3.2). Die Fasci all’Estero trugen mit gleicher Em-phase Visionen des ‚neuen Italieners im Ausland‘ in die Auswanderergemeinden – Visionen, die einerseits auf eine Bekämpfung stereotyper Italienbilder abzielten und andererseits pat-riarchalisch ein Recht des faschistischen Staates auf Erziehung und Inanspruchnahme seiner emigrierten Staatsbürger, insbesondere der Kinder und Jugendlichen, behaupteten (vgl. Kap. 3.3). Die britischen Faschisten adaptierten dies nur zum Teil: Für Oswald Mosley und die BUF stellte die Konstruktion eines Duells der Generationen das entscheidende Stilmittel dar. Eine Notwendigkeit, den ‚neuen Briten‘ zu schaffen, riefen sie dabei allerdings nicht aus. Nicht der Nationalcharakter, für den sie sich als repräsentativ erachteten, sondern das System, das diesen einschränke, sollte revolutioniert werden. Die ‚Alten‘ waren in der Wahrnehmung der briti-schen Faschisten die personifizierte Korrumpierung von Britishness (vgl. Kap. 3.4).

Legt man das oben beschriebene Generationenmodell bei der Quellenanalyse faschistischer Jugenddiskurse, jugendpolitischer Äußerungen und Selbstbeschreibungen der Akteure an, so offenbaren sich eindrückliche Paradoxien in der Argumentation der faschistischen Bewe-gungen. Deutlich wird, wie sehr sie situationsbedingt die eigene Zuordnung auf der Genera-tionenskala zu variieren wussten. Sowohl im Falle des italienischen als auch des britischen Faschismus glich die Selbstzuordnung einer eingefrorenen Momentaufnahme, wurde doch konsequent die Frage vermieden, was nachkommende Generationen von jener der Faschisten trennen könnte. Insofern zeugt ihre Auseinandersetzung mit dem Thema von einem hohen Maß an Narzissmus. Die Faschisten sahen sich als Endpunkt einer Evolution, auf den nun nur noch identische Repliken folgen sollten.

Aus dem Konflikt mit den Älteren leiteten die Bewegungen vielfach ein ‚Naturrecht‘ des Umsturzes und radikalen Neubeginns ab, so auch die Mitglieder der bündischen Jugend in der Weimarer Republik. Faschistische Jugenddiskurse argumentierten zwar exkludierend, hatten aber durch den metaphorischen Jugendbegriff ein generationenübergreifend integrie-rendes Moment. Sie erhielten Zuspruch von Anhängern, die sich nicht mehr zur Jugend zählen konnten, sich aber von der Dynamik erfasst sahen. Diskussionen um die Selbstbeschreibung der italienischen faschistischen Bewegung als Jugendbewegung und die Frage, ob Jugend und Zukunftshoffnungen zu Gewalt und rechtswidrigen Aktionen legitimierten, erreichten sogar die italienischen Gemeinden in Großbritannien frühzeitig. In London erschien im Januar 1922 der in der Einleitung zitierte Kommentar Gioventù Italiana in La Cronaca , der den Lesern fernab von Italien die Gefühlslage der italienischen Jugend (gemeint war die faschistische Ju-gend) zu vermitteln suchte. Die Argumentation dieses Kommentars ist zunächst apologetisch, dann profaschistisch. Sein Autor will zur Bewunderung der vermeintlich tatkräftigen, enga-gierten, zukunftsbesorgten Jugend auffordern:

Der Autor, dessen Alter schwer zu deuten ist, da sein Kommentar zunächst aus der Vogelper-spektive auf Jugend blickt, dann aber deren Perspektive einnimmt, beschreibt Fanatismus als jugendlichen Überschwang, als eine positiv zu wertende Eigenschaft der Jugend. Er schließt mit einem Seitenhieb auf die Jugendlichen und jungen Erwachsenen des host country und auf die assimilierten jungen Einwanderer, der Minderwertigkeitsgefühle und ein nationalistisch-chauvinistisches mindset offenbart:

Zum Topos des Generationenkonflikts gehört eine weitere Form der Abgrenzung der ‚Jungen‘ gegenüber dem Lebensstil der ‚Alten‘, nämlich das Bedürfnis nach Vergnügen. Hedonismus und Faschismus erscheinen ideologisch entgegengesetzt. Oft predigten die faschistischen Ak-teure hier aber Wasser und tranken Wein, verdammten also Lebensstile, die sie zugleich mehr oder minder diskret pflegten oder gepflegt hatten. Im britischen Fall sind die Verbindungs-linien zwischen den Akteuren des Faschismus und einer unpolitischen und den Tabubruch suchenden Jugendkultur besonders paradox.

Wie in anderen europäischen Ländern und in den Vereinigten Staaten erlangten in Großbri-tannien nach dem Ersten Weltkrieg jene Jugendkulturen viel öffentliche Aufmerksamkeit, die sich über auffällige Kleidung, Symbole, Performanzrituale und einen gemeinsamen Lebens-stil definierten. Waren es zu Beginn des Jahrhunderts noch die mit Kriminalität assoziierten Gruppen aus den sozial deprivierten Gegenden, also Gangs, die sogenannten Hooligans oder Apachen in den Großstädten, so richtete sich das Interesse von Medien und Öffentlichkeit nun auf Jugendkulturen aus privilegiertem Kontext.

Im Falle der Bright Young Things war dieser Lebensstil der als Provokation inszenierte Hedo-nismus. Die Gruppe von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die beinahe ausnahmslos der britischen Oberschicht entstammten, erlangte Kultstatus. Sie prägte den Mythos der bri-tischen Roaring Twenties wie kaum eine andere gesellschaftliche Gruppe, und dies, obwohl sie tatsächlich so klein und so elitär war, dass weder der Begriff der Bewegung noch derjenige der Subkultur angemessen scheint. Entscheidend für diese Entwicklung war, dass der medien-wirksame Tabubruch zu ihrem Markenzeichen wurde. Diese Selbstinszenierung war nicht auf die tatsächlich relativ kurze Phase der Eskapaden der Bright Young Things begrenzt, sondern setzte sich in den folgenden Jahrzehnten fort, als die Akteure nostalgisch verklärende bis my-thologisierende Erinnerungen veröffentlichten oder die vermeintlich authentischen Skandal-geschichten in Romanen verewigten.

Tatsächlich ist die Generation der Bright Young Things schwer zu identifizieren: Wer gehörte bereits dazu, wer bildete ihren Kern und wer kann noch zu ihr gerechnet werden? Autoren wie D. J. Taylor und Alison Maloney haben sich an einem who is who der Gruppe versucht, die angesichts ihrer exklusiven Herkunft auch als The Mayfair Set bezeichnet wurde:462 Eliza-beth Ponsonby, Brenda Dean Paul, Brian Howard, Tallulah Bankhead, Harold Acton, Beverley Nichols, Patrick Balfour, Nancy Mitford, Bryan und Diana Guinness (geb. Mitford, spätere Mosley), ebenso wie Cecil Beaton und Evelyn Waugh, (die beide mit ihrem weniger wohlha-benden, bürgerlichen Hintergrund eine Ausnahme bildeten) – sie alle gehörten zu den Krei-sen, die öffentlichkeitswirksam gegen Moral- und Wertvorstellungen der älteren Generation aufbegehrten. Sie erhoben skandalumwitterte Partys, Besuche in Bars und dance halls oder Autorennen zu einem life-style und suchten diesen künstlerisch zu konservieren. Sie nahmen Trends auf und setzten neue. Musik und Tanzstile, Cocktails und Drogen, Kino und Literatur, Fotografie, Mode, Autos – die Verbindung zwischen moderner Konsumkultur, künstlerischer Avantgarde, internationalen Trends, rauschfördernden Substanzen, einer neuen Faszination für Geschwindigkeit und Exzess und den Bright Young Things war sehr eng. Dabei waren die Exzesse tatsächlich weniger riskant, als sie erscheinen mögen, da die meisten Angehörigen der Gruppe ein starkes Sicherheitsnetz aus Wohlstand und weitreichenden familiären und gesell-schaftlichen Beziehungen hatten. Ihre Existenz gefährdeten sie nicht, wohl aber temporär den guten Ruf ihrer Familie, und gerade darin lag der Reiz der Provokation.

Die Literaten und Künstler unter ihnen thematisierten den für ihre Generation als typisch angenommenen Verlust von Vertrauen in das politische und gesellschaftliche System, den durch den Ersten Weltkrieg entstandenen Bruch mit den alten Eliten und die Suche nach Sinn-haftigkeit. Sie bewegten sich dennoch vorrangig in den traditionellen Räumen. In den Partys der Bright Young Things spiegelte sich und – so hatte es zumindest in der zeitgenössischen Be-richterstattung den Anschein – kulminierte ein genereller Trend der Nachkriegszeit, der sich auch in den Metropolen anderer europäischer Staaten Bahn brach: Nach den Entbehrungen der Kriegszeit boomte nun die noch junge Unterhaltungsindustrie. „In the early 1920s this desire manifested itself in the craze for dances and nightclubs at all levels of society.“463

Die Bright Young Things waren also nicht die skandalöse absolute Ausnahme, als die sie sich verstanden, sondern eine elitäre Variante einer heterogenen Entwicklung, die sich in den kriegsbeteiligten Ländern in unterschiedlichem Maße abzeichnete. Außergewöhnlich waren die hohen Summen, die sie umsetzten, und das Image, das sie kultivierten. Die Popularisie-rung des Bright Young Things -Stils über die exklusiven Kreise hinaus führte allerdings zur Auflösung der Clique. Patrick Balfour machte, D. J. Taylor zufolge, die publicity für das schlei-chende Ende der scheinbar permanenten Party verantwortlich: Als die Gruppe zu einer Be-wegung geworden sei, habe sie ihren Reiz des Heimlichen, des Tabubruchs verloren. Brenda Dean Paul habe dagegen expliziter den Verlust der sozialen Exklusivität als Anfang vom Ende beklagt.464 Die Gruppe war letztlich ein Produkt der englischen Klassengesellschaft und Aus-druck sozialer Arroganz der Beteiligten. Der Lebensstil, den sie verkörperte, war der überwie-genden Mehrheit ihrer Alterskohorte vorenthalten. Den Bright Young Things blieben dagegen die Erfahrungen der meisten Altersgenossen vollkommen fremd.

Im Hinblick auf die British Union of Fascists ist der Rückblick auf die Bright Young Things naheliegender, als es zunächst erscheinen mag. Diana Mitford, die zweite Ehefrau Oswald Mosleys, verkehrte nicht nur in diesen Kreisen, sie galt geradezu als das eigentliche Socialite . Evelyn Waugh widmete ihr und ihrem ersten Ehemann Bryan Guinness sogar sein Werk Vile Bodies , das sich mit dem Lebensgefühl der gemeinsamen Jugend auseinandersetzte. Auch Os-wald Mosley stand den Protagonisten der Bewegung nahe und pflegte einen ähnlichen Lebens-stil. Wie in Kapitel 2.3 erwähnt, prägte er schon als junger Erwachsener den eigenen Mythos als Frauenschwarm, suchte bevorzugt die Nähe verheirateter Frauen aus der sozialen Elite und den potenziellen Skandal. Die Labour -Politikerin Ellen Wilkinson und andere Zeitgenossen beschrieben Mosley als den ‚Rudolpho Valentino des Faschismus‘.465 Die Ähnlichkeit Mosleys mit Valentino oder dessen Rolle in dem Film The Sheik von 1921 war nicht unbedingt frappie-rend, aber erkennbar. Der Film war international stilprägend und löste einen Hype um seinen Hauptdarsteller aus:

Mosleys Überbetonung von Virilität, sein betont schneidiger Look und seine Selbstinszenie-rung als Womanizer fanden Anklang, weil der Stil entsprechend vorgeprägt war. So sollte paradoxerweise ein Hauch ‚Hollywood‘ und ‚Exotik‘ das Erscheinungsbild des angeblich so ur-englischen Leaders abrunden. Allerdings war die Assoziation zweischneidig: Vielen galt der Stil Valentinos als das exakte Gegenteil von Männlichkeit. Britische Zeitungen erinner-ten in Nachrufen auf den 1926 verstorbenen Schauspieler an den sogenannten ‚ pink powder puffs ‘-Skandal, in dem eine amerikanische Zeitung in einer als homophob zu bezeichnenden Argumentation unterstellt hatte, Valentino und der Film hätten eine ungesunde Effemination junger Männer zur Folge.467 Die Daily Mail , die Valentino als Latin Lover bezeichnete, führte in ihrem Nachruf an, Valentinos Filme seien in Italien lange verboten gewesen; danach sei es bei ersten Aufführungen in Kinos zu Protesten junger Männer gekommen.468

Kapitel 5 wird die gegenseitigen Wahrnehmungen italienischer und britischer Faschisten eingehend behandeln, daher an dieser Stelle nur ein Vorgriff: Attitüde, Habitus und Optik Mosleys riefen bei italienischen Faschisten, die aus Rom als Beobachter nach London geschickt wurden, um die BUF zu analysieren und die Chancen einer Kooperation im Sinne einer „Fa-schistischen Internationale“ auszuloten, ganz unterschiedliche Assoziationen hervor, an denen sich Sympathien, Antipathien und Mentalitäten ablesen lassen. Schmeichelnd und zugleich doch degradierend urteilte ein Berichterstatter, Mosley könne ob seines sportlichen Körpers glatt als Spieler der ersten Mannschaft des AS Roma durchgehen, er habe jedoch etwas Auf-gesetztes bis Lächerliches an sich.469

Der in Großbritannien aufgrund der Umstände seiner Internierung durch die Nationalsozi-alisten lange umstrittene Schriftsteller P. G. Wodehouse karikierte Mosley als Roderick Spode, Leader der Saviours of Britain , umgangssprachlich Black Shorts , als einen Pfau, einen Gockel, einen abgehobenen Narzissten. Sogar in dieser Persiflage findet sich eine Fokussierung auf das Inszenatorische, eine humoristische Auseinandersetzung mit der Selbstinszenierung und deren Scheitern im Detail. So lässt Wodehouse seine Protagonisten in einem Gespräch über Spode dessen Tischmanieren analysieren:

Eine anschauliche Diskreditierung, deren Schärfe darin liegt, dass sie die Grenzen der Selbst-inszenierung im Verhalten des Sich-Inszenierenden verortet und diesen mit seinen eigenen Waffen konfrontiert, indem sie sozialdarwinistische Anklänge einflicht.

Der zum Bloomsbury -Kreis gehörende Literat und Verleger Leonard Woolf analysierte zeit-genössisch das Auftreten Mussolinis und Hitlers in einem „Quack, Quack!“471 betitelten Buch, in dem er karikierend Aufnahmen der Faschistenführer mit Statuen hawaiianischer Kriegs-götter vergleicht. Seine Betrachtung, die in ihrer Bezugnahme auf fremde Kulturen auch den britischen kolonialistischen Blick des Autors Woolf offenbart, beschreibt Mosley als einen Pro-fiteur des Irrglaubens Naiver an Zauberer und ‚ witch-doctors ‘472 – eine Analyse, die ebenfalls die Bruchlinien inszenatorischer Politik aufzeigt. In Woolfs Wahrnehmung muten Mosleys Gebaren und seine Verehrung durch andere als atavistisch an, als Resultat eines irrwitzigen Aberglaubens.

Mosleys Selbstdarstellung war Dandy -haft, auch dann, wenn er sich als ernstzunehmen-der, militanter Politiker inszenierte. Der Anführer der britischen Faschisten gerierte sich als Schönling. Darin ähnelte er Gabriele D’Annunzio, der nicht nur stilistisch, sondern ebenso in der Anwendung rechtswidriger und antidemokratischer Mittel ein Vorreiter Mussolinis war und der das Dandy-Image pflegte. Aufnahmen Dino Grandis aus seiner Zeit als Botschafter in London vermitteln den Eindruck, dass er sich in ähnlicher Weise zu inszenieren gedachte; gab er sich doch betont stilbewusst und weltmännisch.

In der Agitation der britischen Faschisten stellte sich eine paradoxe Haltung zur Vergnü-gungskultur der zwanziger und dreißiger Jahre ein: Vor allem das ultrakonservative bürgerli-che Milieu und die wenigen früheren Suffragetten, die sich dem Faschismus zugewandt hatten und die nun mittleren Alters waren, lehnten die unpolitische Populärkultur, insbesondere die junge unverheiratete Frauen ansprechende Konsumkultur und die Vergnügungen der Elite, vehement ab. Sie sahen hier geradezu einen Beweis für den einsetzenden Niedergang der Ge-sellschaft. Andere Mitglieder aus den Oberschichten führten ihren elitären Lebensstil inklu-sive der Partys und Dinner-Gesellschaften einfach weiter. Jüngere Angehörige der unteren Schichten suchten nach einer Kombination aus Konsumkultur, Tabubruch und faschistischer Vergemeinschaftung. Die Mosleys selbst thematisierten ihre bevorzugte Gesellschaft ebenso wenig wie ihren Lebensstil, der Mitgliedern aus einfacheren Verhältnissen hätte abgehoben erscheinen müssen. Oswald Mosley gab sich als Asket; eine Darstellung, die offensichtliche Brüche aufwies. Dies stellte aber kein Hindernis dar. Die Anziehung, die er auf Mitglieder aus-übte, ergab sich nicht trotz, sondern gerade aus seiner sozialen Herkunft und den paradoxen Allusionen.

Zeitgleich mit den Bright Young Things beanspruchten junge Erwachsene der britischen Oberschicht den Titel des politischen Sprachrohrs ihrer Generation. Robert Wohl hat sie als die englischen Vertreter der Generation 1914 ausgemacht, die den Mythos dieser Generation aus ihrer eigenen Warte nachhaltig gestalteten. Sie beschrieben sich als Universitätsabsolven-ten aus gutem Hause, die jahrgangsweise in den Krieg gezogen waren, die viele Altersgenossen durch ihn verloren hatten und die nun die alte Generation herausforderten:

Wohl analysiert hier kritisch ein Narrativ, das sich verselbständigt hat, demzufolge vornehm-lich die Elite der Generation ausgelöscht oder um ihre Zukunft betrogen worden sei. Dieser Mythos ist noch heute in der britischen Erinnerungskultur präsent. Er speiste sich in der Nachkriegszeit aus der literarischen und der politischen Auseinandersetzung elitärer Jugend mit der Kriegserfahrung und erfuhr hinsichtlich der klassenspezifischen Verengung des Blick-winkels lange kein Korrektiv. Er ignorierte die Verluste und Traumata der anderen sozialen Klassen. Trotz dieser engen, diskriminierenden Sichtweise hatte er eine klassenübergreifende und polarisierende Wirkung. Die British Union of Fascists machte sich dies später propagan-distisch zunutze, indem sie durch das mehr oder weniger unterschwellige Rekurrieren auf den sozialen Elitenstatus ihres Führungspersonals behauptete, prädestiniert zu sein, um der Kol-lektivmentalität ihrer Generation als der von 1914 Ausdruck zu verleihen und sie im Kampf gegen die old gangs anzuführen. Giovinezza  – Jugend als Metapher eines faschistischen Erneuerungsanspruchs

Faschistische Bewegungen verliehen sich selbst das Etikett ‚Jugendbewegung‘. Doch was war hier mit ‚Jugend‘ überhaupt gemeint? Eine Generation? Eine bestimmte Mentalität? Eine dif-fuse Kategorie für alles, was nicht zum etablierten politischen und sozialen System gehörte? Meinte der Begriff in den Faschismen unterschiedlicher Länder und Gesellschaften überhaupt dasselbe? Und blieb er über den gesamten Zeitraum der Agitation konstant oder veränderten sich seine Konnotationen? Wer bestimmte die Inhalte des Jugenddiskurses in den Bewegun-gen? Die Reihe der Fragen ließe sich noch fortsetzen. Ihre Beantwortung ist ein komplexes Pro-blem, dessen Kern vor allem darin liegt, dass das Etikett ‚Jugendbewegung‘ gerade nicht ein-deutig war und seine Ambivalenz im Interesse der Faschisten lag. Ein gemeinsames Merkmal der Bewegungen war die vorrangige Verwendung des Begriffs Jugend in einer metaphorischen Weise: als Symbol für den Neubeginn, die Erneuerung. Die geteilte Ablehnung des Alten, des Etablierten bedeutete allerdings nicht, dass die Anhänger der faschistischen Bewegungen eine jeweils widerspruchsfreie, kohärente Vorstellung des Neuen oder der Erneuerung verband.

Zugleich verstanden sich viele Mitglieder der faschistischen Bewegungen, allen voran ihre zentralen Akteure, ganz real als eine junge Elite. Verglichen mit den prominenten Politikern anderer Parteien waren sie jung. Während zu Beginn ihrer Agitation Jugend gleichzeitig ein Alter und eine Mentalität beschrieb, musste hier zwangsläufig eine Kluft zwischen der unauf-haltsamen Alterung und dem Festhalten an einem Anspruch entstehen, die sich irgendwann nicht mehr leugnen ließ. Im italienischen und im britischen Fall zeigt sich eine eigentümliche Dynamik: Je älter die jeweilige Parteiführung wurde, umso entrückter, weltfremder wurde der Jugenddiskurs. Zudem fällt eine starke Widersprüchlichkeit auf: Schien den Faschisten in beiden Fällen die eigene Generation in der Lage, eine nationale Erneuerung herbeizufüh-ren, trauten sie den kommenden Generationen den Erhalt eines solchen vermeintlich neuen, perfektionierten Zustands der Nation nur unter strikter Anleitung zu. Die gesellschaftspoliti-schen Konzepte, die italienische und britische Faschisten in Bezug auf die Jüngeren vertraten, waren, wie die folgenden Kapitel zeigen werden, nicht nur autoritär und begrenzt realisierbar, sondern auch vollkommen konträr zu ihrem metaphorischen Jugendbegriff.

Dem Erneuerungsanspruch hat sich die Faschismusforschung im Zusammenhang mit dem Fragenkomplex zugewandt, ob faschistische Ideologien der Zwischenkriegszeit als modernis-tisch und revolutionär oder als reaktionär und rückwärtsgewandt einzuordnen sind, welche Konzepte von Gesellschaft oder Gemeinschaft, von Nation und internationaler Ordnung sie vertraten. Roger Griffin hat den Erneuerungsanspruch der Faschismen als „palingenetic ul-tranationalism“ und „core myth of generic fascism“ identifiziert.474 Wenngleich Griffin in sei-nen Publikationen die eigenen Befunde als maßgeblich und richtungsweisend für einen neuen Konsens der Forschung wertet,475 so ist die Erkenntnis, dass die Vision einer ‚Wiedergeburt der Nation als Rettung vor Dekadenz‘ das Zentrum faschistischer Ideologien bildet, keine er-staunliche. Topoi der Erneuerung oder Regeneration drängen sich in den Publikationen der faschistischen Bewegungen förmlich auf; sie sind kein unterschwelliges Leitmotiv, sondern ein evidentes und explizites. Die Erneuerungsthematik verliert sich dabei oft in mythologisieren-den Konstrukten, deren Wesen darin liegt, dass sie gerade nicht deutlich machen, wie diese Wiedergeburt genau aussehen soll. Ob sich die Redundanz aus der Faszination faschistischer Ideologen für die Vorstellung einer von ihnen angeführten Wiedergeburt ihrer Nation ergab oder aus der opportunistischen Einsicht, dass das Propagieren einer transzendentalen Vision einen hohen Mobilisierungseffekt haben kann, wenn es in der Wahrnehmung der Adressaten eine Alternative zu einer Realität voller wirtschaftlicher und politischer Krisen zu versprechen scheint, kann nicht abschließend geklärt werden.

Griffin sieht die Spezifik faschistischer Ideologien von Untergang, Wiedergeburt (er bevor-zugt den Begriff der Palingenese) und eines Triumphs des Neuen Lebens über Dekadenz darin, dass dieses an sich universelle Thema religiöser, künstlerischer oder politischer Imaginationen hier in Kombination mit Nationalismus bzw. Ultranationalismus auftrete.476 Was die Faschis-men verbinde und gegenüber anderen philosophischen und politischen Strömungen, die eine Wiederbelebung des Alten anstrebten, abgrenze, sei, dass die von ihnen erzielte Palingenese auf eine radikal neue Ordnung der Zukunft ausgerichtet sei, unabhängig davon, wie sehr sie auf ‚goldene Zeiten‘ in der Vergangenheit rekurrierten.477 Dieses definitorische Modell lässt allerdings den vermeintlich authentischen Erneuerungsanspruch inhaltlich kaum greifbarer werden. Grundsätzlich ist einzuwenden, dass auch dezidiert reaktionär-traditionalistische Be-wegungen nicht die Wiederherstellung eines tatsächlichen komplexen historischen Zustandes anstreben, sondern ein nach subjektiven Präferenzen homogenisiertes, von ihnen dominiertes Re-Enactment von Geschichte entwerfen. Griffins Einschätzung der Authentizität ihrer Erneu-erungsvisionen ist bisweilen sehr nah an den Selbstbeschreibungen der Forschungsgegenstän-de. Ausgeblendet erscheinen dabei Fragen nach der Funktion ideologischer Konzepte in der Machtgenerierung und erzielten Mobilisierung von Anhängern. Die Verbindung von Nationa-lismus und Wiederauferstehungsrhetorik als ein Alleinstellungsmerkmal faschistischer Bewe-gungen zu definieren, als ein plötzlich aufkommendes Denkmuster ohne historische Vorläufer, ist eine verkürzende Sichtweise, da sie Traditionen solcher Mentalitäten außer Acht lässt.

Nicht nur in Italien und Großbritannien, sondern in vielen Nationalstaaten erlangte im 19. Jahrhundert ein Nationalismus Popularität, der ein starkes romantisierendes, mythologi-sierendes Moment hatte. Ebenso prägten zu Beginn des 20. Jahrhunderts Dekadenztheorien eine internationale literarische und künstlerische Szene. Das Leiden an der eigenen Zeit war dabei nicht auf einzelne politische Milieus beschränkt, sondern vielmehr Ausdruck zeitgenös-sischer kultureller Auseinandersetzung mit der Moderne. Sozialdarwinistische, imperialisti-sche, traditionalistische und nostalgische Positionen fanden Verbreitung, ebenso aber anar-chistische, modernistische und reformerische Ansätze. Verbindungselement blieb die Nation als eine vorherbestimmte Gemeinschaft, die sich durch besondere Qualitäten von anderen abhebe. Der Faschismus entlehnte zentrale Aspekte seines Erneuerungsanspruchs dem über-steigerten Patriotismus, Mystizismus und Historismus solcher früheren Diskurse.

Emilio Gentile verortet die italienische Entwicklung eines mythologisierenden Nationa-lismus in der langen Zeitspanne vom Risorgimento bis zum Faschismus und sieht die Kon-struktion einer „civic religion“ nicht als ein Nebenprodukt, sondern als ein zentrales Anliegen der politischen Akteure, das darauf zielte, eine emotionale Hingabe der Staatsbürger an den Nationalstaat, an das Vaterland zu festigen.478 Rituale seien fester Bestandteil der politischen Versuche gewesen, ‚Nation‘ zu popularisieren und eine gemeinsame Identität zu schaffen, dies habe sich aber als schwer durchsetzbar erwiesen:

Eine neue Dynamik erhielten Diskurse über die Nation als Schicksalsgemeinschaft mit dem Ersten Weltkrieg. Patriotismus wurde zu einer Massenmentalität, die eine Empfänglichkeit für gemeinschaftsstiftende Rituale in allen sozialen Milieus deutlich erhöhte, vor allem aber im Bürgertum. Dies betraf beide Geschlechter und alle Altersgruppen. Allison Scardino Belzer verortet die Entstehung eines neuen Frauentypus‘ in der Kriegsgesellschaft, den der „ donna italiana “ als „politically active female patriot sacrificing for victory“480.

In besonders hohem Maße prägte der Kriegspatriotismus die Jugend. Viele erhofften sich, dass sich eine während des Krieges propagandistisch beschworene Sinnhaftigkeit und ein neu-er positiver spirit in der Gesellschaft einstellen würden.481 Der faschistische Erneuerungsan-spruch (bzw. die Vielzahl heterogener Zukunftsvorstellungen, die in ihn eingingen), entsprang dieser Mischung aus Sinnsuche und Dekadenzkritik und überführte sie in einen langfristigen Diskurs und in Gewalt. In den folgenden zwanzig Jahren evozierten die Bezugnahmen auf den Krieg als Gründungsmythos der Bewegung und auf eine moralische Verpflichtung aller kommenden Generationen gegenüber den Gefallenen und den ‚Märtyrern der faschistischen Revolution‘ immer wieder die Atmosphäre der Extremsituation. Dieses Motiv prägte nicht al-lein die Propaganda im Inland, sondern ebenso die Kommunikation der italienischen faschis-tischen Partei mit den italienischen Emigranten. Sie wollte an den erstarkten Patriotismus der Auswanderer nach dem Krieg anknüpfen und ihn zur Basis einer emotionalen Verbindung der Emigranten zur Nation als Patria und zum Faschismus als deren Rächer, Verteidiger und Anführer machen.

Im britischen Faschismus bildeten bereits zwei Schlüsselereignisse den Kontext der Erneue-rungsrhetorik und des Dekadenzvorwurfs: der Erste Weltkrieg als die prägende Erfahrung der Generation von 1914 und die Weltwirtschaftskrise. Oswald Mosley richtete, wie in Kapi-tel 2.3 erläutert, das BUF-Parteiprogramm The Greater Britain stark wirtschaftspolitisch aus und widmete der Darstellung seines Korporatismuskonzeptes in der Publikation viel Raum. Erneuerung meinte in den Äußerungen der frühen Phase der BUF oft vorrangig eine Erneue-rung des Wirtschaftssystems. Ein Ziel der diskursiven Konzentration auf einen wirtschafts-politischen Umsturz war es, Themen wie Arbeitslosigkeit, Rezession und Strukturwandel zu okkupieren, instrumentalisierbare Krisenstimmungen zu identifizieren und vermeintliche Lösungsstrategien medienwirksam in den Raum zu stellen. In der Argumentationsstruktur Mosleys in den frühen dreißiger Jahren lässt sich dabei das Muster erkennen, die Idee des Staatsstreiches schrittweise anzudeuten und dessen Notwendigkeit über wirtschaftspolitische Umwege zu behaupten. Damit wird zunächst eine Zwangsläufigkeit des Zusammenbruchs des wirtschaftlichen, dann politischen Systems unterstellt und schließlich die Etablierung faschis-tischer Strukturen als präventive Maßnahme nahegelegt.

Italienische und britische Faschisten setzten auf eine Verkehrung der politischen Machtver-hältnisse. Ihnen ging es um die langfristige Machtübernahme durch die eigene Generation, wenngleich die BUF betonte, diese auf dem demokratischen, gesetzeskonformen Weg einleiten zu wollen, indem sie die Masse der britische Wähler von sich und von den ‚Reformen‘ überzeu-ge. Grundsätzlich fällt die Paradoxie der zeitlichen Dimension in der Wiedergeburtsrhetorik faschistischer Bewegungen auf, die zwar die Rettung der Zukunft zu ihrer Mission erklärten, ihren Anhängern einen ruhmreichen Platz in der Geschichte versprachen und sich Denkmäler zu setzen bestrebt waren, die Jahrhunderte überdauern sollten, jedoch nicht die Frage klärten, wer nach dem Tod ihrer Anführer wie regieren sollte.

Benito Mussolini verstand sich als Repräsentant der Generation von 1914 und beanspruchte, so machten seine zeitweiligen Pläne, den italienischen Faschismus als eine exportierbare Ideo-logie und Bewegung zu propagieren, deutlich, diese Rolle auch auf internationaler Bühne. Das Selbstverständnis als betrogene Generation korrelierte im italienischen Fall mit dem Revisio-nismus um die in den Friedensverhandlungen unberücksichtigten italienischen territorialen Forderungen, der sich in der von Gabriele D’Annunzio angeführten Annexion der Stadt Fiume

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Bahn brach. Mussolini hatte bereits nach seinem Beitritt zu den Fasci d’Azione Rivoluzionaria und dem Bruch mit der Sozialistischen Partei in Il Popolo d’Italia eine radikale Neuordnung der italienischen Politik gefordert und argumentiert, die künftige Elite des Landes konstituiere sich im Kampf und Krieg.482 Bereits in Mussolinis Leitartikel in der ersten Ausgabe, den Chris-topher Hibbert zitiert, war der Jugendmythos in Kombination mit bellizistischer Rhetorik also ein zentrales Motiv:

Die Verwendung von Gegensatzpaaren wurde zu einem prominenten Stilmittel der Fasci di Combattimento. Als Propagandatechnik wirkte die Dichotomie von mutiger Jugend und fei-gem Alter, von Dynamik und Stillstand, von Fortschritt und Dekadenz oder, kurz gesagt, von Freund oder Feind so persuasiv wie kaum eine andere. Erweitert wurde das Bild der Jugend als Heilsbringer durch die Assoziation des Frühlings, die etwa in dem zur Hymne der Be-wegung werdenden Giovinezza, Giovinezza geknüpft wurde. Der Erneuerungsanspruch einer auf brutale Gewalt und Zwang setzenden Bewegung wurde so in ein fast schon folkloristi-sches Gewand gehüllt, mit einem von den Arditi übernommenen Lied, das die Melodie einer Operette entlehnt hatte und damit in der italienischen Populärkultur der Zeit einen starken Popularisierungsfaktor besaß. Inhaltlich übermittelte es eine diffuse Jugendverherrlichung und einen Mobilisierungsaufruf. Die nationalsozialistische Propagandistin Louise Diel über-setzte einen Teil des Textes für eine Publikation über die Rolle der Frau im faschistischen Italien in einer Weise, die den mit Kitsch beladenen faschistischen Poesiestil ins NS-Deutsch transportierte:

Im italienischen und im britischen Faschismus entwickelte sich Pathos vom Stilmittel zum Inhalt, wenn es im britischen Fall auch etwas nüchterner erschien. Dieses Pathos war in den Narrativen des Führerkultes besonders ausgeprägt. Christopher Hibbert charakterisiert schon Mussolinis Darstellung der eigenen Jugend als Ausdruck eines „insatiable appetite for self-dra-matization“485. Hans Woller zeigt auf, wie nachhaltig Mussolini den eigenen Werdegang als Heldenepos kommunizierte und die Rezeption steuerte:

Der Mythos um Mussolini erfuhr durch das zunehmende Informationsmonopol des faschisti-schen Regimes und die rigide Zensur eine weitgehend ungehinderte Verbreitung. Die Charis-mazuschreibung, also die gelenkte Empfindung des Volkes für ‚seinen Duce ‘, fügte sich in ein immer komplexer werdendes System aus politischen Symbolen und Ritualen ein. Choreogra-fierte Festakte und Massenevents, die einer Massenhysterie erzeugenden Inszenierung folgten, und ein Staatskalender, der politische Daten zu quasireligiösen Feiertagen erhob, festigten den Mythos vom vermeintlich ewig jungen Führer.

Die Partei wirkte mit ihren Massenorganisationen aktiv an der Festigung und ab 1926 an der zusätzlichen Mystifizierung des Mussolini-Mythos, einer Transformation des Kultes in eine offizielle Mystik mit eigenen Riten und Symbolen, mit.487 Was bedeutete dies für den Erneue-rungsmythos? Ausgehend von der zentralen Rolle, die die Schlagworte Bewegung, Dynamik, Jugend, Erneuerung und Wiederauferstehung in der Ideologie des italienischen Faschismus spielten, konnte die Erneuerung nicht offiziell für abgeschlossen erklärt werden, ohne jeder Mobilisierung die Grundlage zu rauben. Die Einführung einer faschistischen Mystik stellte in ideologischer Hinsicht den Kulminationspunkt der Erneuerung dar, die nun eine transzenden-tale Ebene erreicht zu haben schien und den Duce zu einem allwissenden Übermenschen erhob.

Christopher Duggan liefert ein eindrückliches Beispiel aus einem Tagebuch: Ein Mäd-chen namens Zelmira, in den dreißiger Jahren Teenagerin aus der Mittelschicht, habe in einer Filmdokumentation in der Schule den Duce mit blankem Oberkörper bei der me-dienwirksamen Getreideernte gesehen und Unbehagen empfunden, da ihr dies als eine zu weltliche Sichtweise erschien. Es sei eine Diskussion mit gleichaltrigen Mädchen darüber entbrannt, wie alt der Duce eigentlich sei. Sie habe ihn bis dahin nicht als sterbliche Person wahrgenommen, während Altersgenossinnen eine sexualisierte Sicht auf den Diktator ge-habt hätten.488 Personenkult und Erneuerungsmythos waren, wie auch ähnlich gelagerte Beispiele illustrieren, weder eindeutig noch starr, sondern Teil eines asymmetrischen Kom-munikationsprozesses, zu dem die aktive Zuschreibung von Qualitäten und Konnotationen durch die Anhänger gehörte, ebenso wie eine Bereitschaft, Mythen zu verinnerlichen und mitzutragen.

In den Publikationen der BUF wurde Oswald Mosley zum Inbild und Helden der betrogenen Generation stilisiert. So betonte etwa die Biografie, die A. K. Chesterton über Mosley verfasste, genau die Erfahrungen und Motive zum politischen Handeln, die im öffentlichen Diskurs für die Generation von 1914 konstitutiv waren:

Chesterton spannte in seiner Darstellung den Bogen von Jugendlichkeit über Traditionsbe-wusstsein, Nationalismus und Virilität zu Heldenmut. In seinem pathetischen Stil erscheint der Text aus heutiger Sicht oft unfreiwillig nahe an der Persiflage. Die Absicht, Mosley in ei-nem mythologisierenden Ton zum faschistischen Helden zu stilisieren, tritt deutlich hervor. In einem larmoyant-rückblickenden Stil beklagt Chesterton des Weiteren den Niedergang der britischen Jugend seit Mosleys (und seiner eigenen) Jugendzeit. Letztlich drückt sich hier eine Entfremdung aus, die er als inzwischen Mittdreißiger gegenüber der Gesellschaft empfindet. Auch in der Weihnachtsansprache Mosleys von 1933 findet sich ein metaphorischer Zugang zur Jugend. Mosley beginnt mit seinen Erinnerungen an das Weihnachtsfest 1914/15 und fragt, ob seine Generation der verlorenen Jugend nachhänge, was gerade sie erlebt und gelernt habe. Er beschwört dann das Bild der Weihnacht in Elisabethanischer Zeit und schließt mit der Ver-kündigung einer glorreichen Zukunft, eines „Greater Day“490. Die Wahl der geschichtlichen Daten ist kein Zufall: Es sind jene, die schon in The Greater Britain die Hochphasen britischer Abenteuer, Heldenhaftigkeit, Virilität und Größe symbolisieren sollen. Reaktionäre Erneuerung mit modernistischen Stilelementen

Der Vergleich der BUF-Publikationen zeigt, dass die ultranationalistische Vorstellung einer nationalen Wiedergeburt im Laufe der Jahre präsenter wird. Die Thematisierung des Erneue-rungsanspruchs hat jedoch eine andere Ausprägung als im italienischen Fall. Sie ist sachbezo-gener und weltlicher, indem sie die Dekadenzkritik in den Mittelpunkt rückt, das Motiv einer nationalen Wiedergeburt einflicht, diese aber weniger pseudoreligiös verkündet. Zum einen spielt hier sicherlich der nüchternere britische Politik- und Medienstil eine Rolle, der sich nicht so sehr des Theatralischen bedient und den es gegenüber der Öffentlichkeit nicht zu weit zu überschreiten galt. Zum anderen ist die Agitation der BUF insgesamt weniger mystifizierend als die des PNF. Die Konnotationen aber sind auch hier bereits früh in Programmatik und Rhetorik angelegt; Erneuerungsprozesse werden als Kernanliegen der britischen Bewegung vorgestellt. In der ersten Ausgabe von The Blackshirt vom Februar 1933 sind Begrifflichkeiten der Metaphysik nur latent, wie das folgende Beispiel veranschaulicht:

Verklärungen und Mystifizierungen wurden im Zuge der vielen Neuausrichtungen der BUF intensiver. 1938 wählte Mosley den schon weit transzendentaleren Buchtitel Tomorrow we live! .

Der parteieigene Komponist der BUF, E. D. Randall, der die Hymne der italienischen Fa-schisten, Giovinezza, Giovinezza , für die BUF umdichtete, veröffentlichte im Juni 1934, also kurz vor der ersten Serie von BUF-Massenkundgebungen, den Artikel „Britain, Awake!“, der allein in wenigen Zeilen eine Vielzahl der gängigen Motive der faschistischen Wiederauferste-hungsrhetorik vereint – Kampf, Überleben, gesunder Körper versus Tod, Niedergang, Wieder-belebung, Chaos versus Ordnung oder auch Schatten versus Sonnenlicht:

Der Text liefert Bezugnahmen auf alle Feindbilder der BUF. Der immer gleiche Aufbau be-stätigte den schon empfänglichen Lesern verlässlich das eigene Weltbild. Die Kommunikation suggerierte, dass eine bestimmte Alltagssituation symptomatisch sei für die Konsequenzen eines gesellschaftlichen Niedergangs und dass sich an ihr zeige, wie dringend der Wandel zum Besseren kommen müsse, den eine faschistische Revolution bringe. Diese Art der Kommu-nikation ist manipulativ, sie ist aber ebenso reziprok. Sie erreicht denjenigen, der sich auf-geschlossen zeigt und aktiv nach einer Bestätigung der eigenen Verschwörungstheorien und Ressentiments sucht.

Zum Erneuerungsanspruch der faschistischen Bewegungen gehörten Ästhetik, Repräsen-tation und Performanz. Die britischen Faschisten zeigten hier offensichtliche Anleihen aus dem italienischen Vorbild, konnten aber keinen eigenen Kunststil hervorbringen. Im briti-schen Fall verlieh die Nähe der genannten Enfants terribles der Literaturszene der reaktio-nären Bewegung einen modernen, avantgardistischen Anstrich. In Italien hatten Futuristen und Faschisten eine politische Ästhetik aus der Kriegszeit in die Friedenszeit überführt, ohne sie grundlegend zu transformieren.493 Hier lässt sich ein Echo-Effekt feststellen: Die mit dem Faschismus assoziierte Ästhetik, die sich die BUF und andere faschistische Bewegungen zu eigen machten, funktionierte wegen des Wissens der britischen Öffentlichkeit um die Gewalt der italienischen Faschisten als Provokation. Mosleys Auftritte erzielten ihren gewünschten Effekt, mit der BUF als junge, radikal andere Bewegung wahrgenommen zu werden, trotz der zeitlichen Differenz von insgesamt dreizehn Jahren, die zwischen dem Gründungstreffen der italienischen Faschisten im März 1919 und dem der britischen Faschisten im Oktober 1932 lag, und trotz der seit 1923 bekannten British Fascists . Das lag an dem Inszenierungsaufwand, den die BUF mittels Militanz, Uniformierung, Aufmarschpraxis und Anspielungen auf das italienische Vorbild betrieb und zu steuern versuchte. Die britische Öffentlichkeit war politi-sche Kundgebungen aller Art gewohnt, doch Mosleys neue Bewegung spielte bewusst mit der Assoziation des Staatsstreiches.

Faschismen operierten inszenatorisch geschickt mit modernistischen Stilelementen und Technologien, insbesondere im Bereich der Massenmedien, und sie teilten eine Faszination für moderne und innovative Ästhetik. In der interdisziplinären Forschung zum Faschismus und in Debatten um dessen Definition als entweder rückwärtsgewandt oder modern wird die Position vertreten, der Faschismus sei insgesamt als modern in alternativer Auslegung des Be-griffs der Moderne zu werten. Ruth Ben-Ghiat sieht die Kultur des Faschismus als von Fascist Modernities bestimmt und faschistische Politik als von alternativen modernen Visionen des „social engineering“ geprägt.494 Dies trifft für die inszenatorische Praxis der Bewegungen und bestimmte Kulturformen zu, für deren Inhalte und faschistische Gesellschaftsvorstellungen allerdings insgesamt nicht. Ben-Ghiats Fokus liegt auf der Interaktion zwischen Intellektuel-len und Künstlern und dem Regime im Faschismus, in der die Betonung von Modernität im-mer eine politische Funktion gehabt habe. In ihrer Bewertung nimmt sie auch Bezug auf das Reaktionäre des Faschismus:

Tatsächlich handelt es sich bei diesen Aspekten nicht nur um Elemente, sondern um die Grundlagen moderner sozialer Ordnungen und gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die demokratischen Grundrechte beschnitt der Faschismus ebenso massiv wie alle wesent-lichen Prinzipien der Aufklärung. Eine modernistische Ästhetik, die Weiterentwicklung und Nutzung moderner Medien und Technik sowie Infrastrukturgestaltung und Konsum sollten als Surrogat für die inhaltliche Aushöhlung und Repression der modernen Ge-sellschaft fungieren. Ebenso diente die inszenatorische Überhöhung von Tradition und Patriotismus sowie die Behauptung einer kollektiven Prädestination bzw. Mission als Eti-kettenschwindel zur Legitimation antidemokratischer Repression und aggressiver Expan-sionspolitik.

Wie die folgenden Unterkapitel aufzeigen werden, sollten sich die italienische und die briti-sche faschistische Bewegung und die Fasci all’Estero in ihren Bestrebungen, Jugend zu mobili-sieren und zu vereinnahmen, in unterschiedlicher Weise mit den Implikationen und Grenzen ihres Jugendbegriffs konfrontiert sehen, sich zwischen Kontinuität und Diskontinuität bewe-gen, sich dem modernen Mainstream öffnen und zugleich reaktionäre Gegenwelten konstru-ieren. Dabei sollten sie in verschiedenen Modi Emotionalität instrumentalisieren und schüren, Geselligkeit politisieren und ritualisieren, während sie sie mit Argwohn betrachten. In allen drei Fällen zeigen sich die Wesenszüge, Ziele, aber auch Widersprüche und Grenzen einer Ge-sellschaftspolitik, in der das Performative programmatisch wurde.

3.2 Organisierte Kindheit und Adoleszenz: Jugend und Jugendpolitik im italienischen Faschismus

Dieser Ausspruch Mussolinis wurde zu einem geflügelten Wort und fand sich in Kinderbü-chern, als Wanddekor in Jugendeinrichtungen, auf Plakaten und sogar Postkarten wieder.497Die Jugendpolitik im italienischen Faschismus war von großem Pathos getragen, autoritär und sie argumentierte stark mit Wertvorstellungen, Verpflichtungen und dem Nutzen des Einzel-nen für die Gesellschaft. Sie politisierte die juvenile Geselligkeit und lenkte sie in eng abge-steckte Bahnen. So minimierte sie die Möglichkeiten individueller Entfaltung und Identitäts-bildung. In paradoxer Weise nahm sie militaristische Erziehungsvorstellungen, konservative Rollenbilder, Leitideen moderner Sozialisationsinstanzen für die Jugend, reformpädagogische Ansätze und internationale Trends auf. Das, worauf faschistische Erziehung zielte, war ein eigentümliches Konglomerat aus Diederich Heßling’schem Untertanengeist, soldatischer, na-tionalistischer und imperialistischer Mentalität, einem Pfadfinderpatriotismus und social en- gineering .

Diese Jugendpolitik erklärte die Integration der heranwachsenden Generationen in die Na-tion nicht nur zum vorrangigen Ziel, sondern nutzte sie auch inszenatorisch zur Legitimation übergeordneter Gesellschaftspolitik. Kinder und Jugendliche wurden in viele symbolpoliti-sche Akte eingebunden. International erlangte diese Politik – und mehr noch deren propa-gandistische Dimension – viel Aufmerksamkeit. Sie entwickelte sich, unabhängig davon, ob Kommentatoren sie positiv oder negativ bewerteten, Lob oder Warnungen äußerten, zu einem Aushängeschild des ‚neuen Italien‘, schien sich doch an der Verfasstheit der Jugend die Ziel-richtung des Landes abzuzeichnen. Dass sich dabei auch internationale Beobachter die Frage stellten, wie Repression und Zustimmung als Faktoren gesellschaftlicher Akzeptanz zu ge-wichten seien, illustriert ein Bericht der New York Herald Tribune , dessen Verfasser 1934 das alltägliche Leben in der faschistischen Diktatur beleuchten wollte:

Stark differierten in der internationalen Rezeption der italienischen Politik die Deutungen zu paramilitärischen Inszenierungen, in die Kinder und Jugendliche als Akteure eingebunden waren – wie die genannte Quelle paradigmatisch aufzeigt:

Bereits 1919, während der Konstituierung der ersten Fasci di Combattimento , rekrutierte die Bewegung zahlreiche Anhänger aus dem akademischen Milieu. Diese trieben den Aufbau neu-er Fasci voran oder schlossen sich zu eigenen, studentischen faschistischen Zellen zusammen. Dabei bildeten in dieser frühen Phase des Faschismus nicht nur diejenigen jungen Erwachse-nen, die als Kriegsteilnehmer Kampferfahrungen gesammelt hatten, das Jugendelement der Bewegung, sondern auch solche, die zu jung für eine Einberufung gewesen waren, dies als Makel empfanden und zu kompensieren suchten. Jugendliche und junge Erwachsene aus eli-tären Kreisen waren bereits seit März 1919 häufig die eifrigsten Anhänger.500 Die faschistische Propaganda richtete sich schon frühzeitig in einem hohen Maße an diese Generationen, die mit der gesellschaftlichen und politischen Überhöhung des Soldatentums und der allgegen-wärtigen Rhetorik des Patriotismus und Nationalismus der Kriegsjahre aufgewachsen waren. Sie hatten entweder durch eigene Kampfhandlungen oder durch die in vielen Kreisen euphe-misierte Kriegsteilnahme älterer Brüder oder der Väter eine Form der Gewaltsozialisierung erfahren und waren nun im jungen Erwachsenenalter mit den wirtschaftlichen und politi-schen Krisen Italiens konfrontiert. Die in der faschistischen Propaganda zentrale Deutung des Kriegsausgangs und der Resultate der Friedensverhandlungen als ‚verstümmelter Sieg‘ Italiens sollte hier einen Nerv treffen, ebenso wie die retrospektive Beschwörung eines Gemeinschafts-gefühls in den Kampfeinheiten der Arditi , die zu Vorbildern der kommenden Generationen erhoben wurden. Auch der Komplex aus Jugendkult und Dekadenzrhetorik sowie die ultra-nationalistischen und revisionistischen Parolen der Fasci , die bereits das Lager um Gabriele D’Annunzio bei der gewaltsamen Besetzung der Stadt Fiume propagandistisch begleitet hat-ten, erfuhren hier Resonanz.

Den Studenten, die mehrheitlich aus bürgerlichen und großbürgerlichen Kreisen kamen, die häufig antisozialistische Positionen vertraten und von denen sich viele aktiv an den Über-griffen und Gewaltaktionen der Squadre gegen Sozialisten beteiligten, sollte in der faschis-tischen Gesellschaft eine Elitenposition zukommen. Veröffentlichungen der faschistischen Bewegung bzw. Partei und ihrer führenden Vertreter verdeutlichen, dass Universitäten und, in noch höherem Maße, die Organisationen faschistischer Studenten zu Kaderschmieden werden sollten. Als Nachwuchsorganisation der Partei sollten sie die Führungselite einer ‚neuen italienischen Gesellschaft‘ hervorbringen. Zugleich fungierten sie als Jungbrunnen der Bewegung, die sich Jugendlichkeit auf die Fahnen geschrieben hatte und damit den ei-genen Alterungsprozess abfedern musste. Denn an der wachsenden Diskrepanz zwischen Jugendanspruch und Altersstruktur führten auch die zunehmend umständlichen Herlei-tungen der Propagandisten, Jugend sei eher eine Geisteshaltung als eine Lebensphase, nicht vorbei.

Über die faschistischen Universitätsgruppen sollten die studentische Jugend des Landes dis-zipliniert und die Universitäten infiltriert werden. Auch halfen sie, propagandistisch einen spezifisch faschistischen Intellektualismus zu proklamieren. Dieser trat neben die antiintel-lektuelle Rhetorik der Fasci und milderte den Widerspruch zwischen der Bevorzugung einer bürgerlichen Elite als künftige Führungsschicht und der gleichzeitigen Anprangerung ihrer traditionellen Vormachtstellung in der Politik ab.

Das Verhältnis der Fasci und der aus ihnen hervorgehenden Partei zum akademischen Milieu war ebenso komplex wie paradox. Die Partei rekrutierte hier besonders beflissene Anhänger, traf dabei aber auch auf eine Eigeninitiative, die sie als Störfaktor betrachtete. Die vermeintli-che künftige Elite des faschistischen Staates genoss größere Freiheiten der Meinungsäußerung gegenüber Partei und Regime als andere gesellschaftliche Gruppen, ein Aspekt, der – wie im Folgenden erläutert wird – Akteuren später Raum für eine Uminterpretation ihrer Vergangen-heit bieten sollte. Die Beschränkungen dieser Freiheiten betonend, spricht Simone Duranti von einer „libertà vigilata“501, einer ‚überwachten Freiheit‘ der Universitätsgruppen. Schon die ers-ten Zusammenschlüsse faschistischer Studenten gerieten in Konflikte mit der Führung der Be-wegung bzw. der aus ihr hervorgehenden Partei. Dabei ging es nicht in erster Linie um inhalt-liche und politische Differenzen, sondern um Macht- und Einflussfragen und damit um den Grad der Mitsprache und der Autonomie, die die Studentengruppen für sich reklamierten.502

Der erste exklusiv studentische Zirkel gründete sich schon im Januar 1920 in Mailand. Er sollte den Grundstein bilden für die Ausdifferenzierung einer Avanguardia Studentesca dei Fasci di Combattimento (AS), einer ‚Studentischen Avantgarde der Kampfbünde‘. Bereits zu Jahresende 1920 wurde eine Neuausrichtung beschlossen: Die Zirkel sollten nun Studenten und junge Arbeiter versammeln und stärker durch die lokalen Fasci kontrolliert werden. Mit der Neugründung der Nachwuchsorganisation als Avanguardie giovanili fasciste (AGF) im Herbst 1921, die der gesamten Jugend im Alter von fünfzehn bis achtzehn Jahren offen stehen sollte, wurde dieser Transformationsprozess verbindlich.503 Carmen Betti erklärt, mit dieser Umwandlung seien die Kompetenzen der Jugend deutlich beschränkt worden, da sie nun nur noch in Belangen der Jugendverbände ein Mitspracherecht erhalten habe und auch nur zu deren Diskussion an den Treffen der Führungskreise der Fasci habe teilnehmen können.504

Zusätzlich zu der AGF gründeten sich seit dem Herbst 1921 die ersten Gruppi Universitari Fascisti (GUF), die ‚Faschistischen Universitätsgruppen‘. Die ursprüngliche Leitidee, die Ju-gend nicht nach sozialen Klassen zu trennen, scheint hier bereits mit dem Klassenbewusstsein der Schüler höherer Schulen und Studenten der Universitäten kollidiert zu sein, die eine eigene Organisationsform anstrebten und für sich eine Elitenposition gegenüber jungen Arbeitern und Angestellten vorsahen. Das Bedürfnis nach Distinktion reichte noch weiter: Die Studen-ten der Universitäten suchten sich auch gegenüber den Schülern der weiterführenden Schu-len abzugrenzen, eine Bestrebung, die mit den GUF zunächst erreicht schien. Tracy H. Koon bewertet die Etablierung der GUF als einen raschen und durch die Initiative der Studenten forcierten Prozess, der bereits 1921 mit der Existenz lokaler Gruppen in den wichtigsten Uni-versitätsstädten Wirkung gezeigt habe und von einer erheblichen Gewalt begleitet worden sei: Gewalt und ein gewaltverherrlichender Aktionismus blieben nach dem ‚Marsch auf Rom‘ das Charakteristikum der GUF und sorgten für Spannungen zwischen der Partei und den Gruppen. Während erstere zuvor die Militanz offen gefordert und befördert hatte, sie sich zudem zur Unterdrückung oppositioneller Gruppen zunutze gemacht hatte, sah sie sich nun mit Schwierigkeiten konfrontiert, die Eigeninitiative der sogenannten Gufini in Schranken zu weisen.506 Wie Luca La Rovere betont, trugen die Universitätsstudenten, unter ihnen besonders die demobilisierten Reserveoffiziere, erheblich zur Formierung der faschistischen Bewegung bei und bildeten den hauptsächlichen Rekrutenkreis der Squadre .507

Im Februar 1922 trafen sich die Angehörigen der GUF in Bologna zu einer ersten Versamm-lung der Federazione Nazionale Universitaria Fascista (FNUF), des ‚Nationalen Faschistischen Universitätsverbandes‘. Als Delegierter des Partito Nazionale Fascista wohnte ihr auch Dino Grandi bei. Die faschistische Partei forderte, die studentischen Gruppen der Autorität der Partei zu unterstellen, und setzte dies im Juni 1922 durch. Benedetta Garzarelli erklärt, die FNUF sei in den folgenden zwei Jahren zunehmend als unfähig erachtet worden, eine effiziente Organisationsstruktur aufzubauen und in den Universitäten Einfluss zu gewinnen.508 Bereits seit 1922 fassten führende Parteivertreter angesichts wachsender Konflikte um den Autono-mieanspruch der Jugendverbände die Gründung von Organisationen für deutlich jüngere Ju-gendliche ins Auge, die zunächst von den AGF ausgestaltet werden sollten. Sie hofften, durch die Integration der Jüngeren die Parteijugend beizeiten disziplinieren zu können.509 Während die Propaganda die faschistische Partei als Sammlungsbewegung jugendlicher Energien und Sprachrohr einer Generation politisch Unzufriedener präsentierte, die nun selbst aktiv die Zu-kunft des Landes gestalten wollten, setzte die Partei auf eine immer stärkere Auslese, Kontrolle und Indoktrination. Zu Jahresbeginn 1923 wurden parallel zur Entwicklung der Miliz, der MVSN, Konzepte zur Ausweitung der Jugendorganisation ausgearbeitet, die das Eintritts-alter für die AGF auf dreizehn Jahre herabsetzten und jenes für die neugegründeten Balilla -Gruppen auf acht Jahre festlegten. Die Jugendgruppen wurden als eine vormilitärische Schu-le konzipiert, deren Absolventen, entsprechend ideologisiert und diszipliniert, in die MVSN übergehen sollten.510 Derweil hatten sich erneut Konflikte zwischen der Parteiführung und studentischen Anhängern entzündet. So führte etwa die Ankündigung des Bildungsministers Giovanni Gentile, die zusätzlichen Nachholprüfungen für Veteranen abzuschaffen, zu Protes-ten der GUF, die sich als Verbündete und Vertreter der ex-combattenti sahen. Zugleich ver-suchten die GUF in den Universitäten, konkurrierende Studentenorganisationen entweder zu infiltrieren und zum Übertritt zu bewegen oder sie gewaltsam zur Auflösung zu treiben. Schon die frühe Entwicklung dieser faschistischen Zellen in den Universitäten zeigt, dass sich viele Angehörige des akademischen Milieus mit Eifer dem Faschismus und seinen gesellschaftspoli-tischen Zielen zuwandten und alles andere als eine kritische Distanz einnahmen. Die Gruppi Universitari Fascisti : Korpsgeist, Karrierismus und konzedierte Kritik

Die Attraktivität der GUF und der Opportunismus ihrer Anhänger lassen sich an einem Bei-spiel aus den Quellen verdeutlichen: Im Dezember 1930 wandte sich in Arezzo der Verwal-tungssekretär des lokalen Zweigs S. Gruppo Universitario Arentino F. Rismondo schriftlich an das zentrale Büro der GUF in Rom, um sich nach der Möglichkeit von Ausnahmeregelungen hinsichtlich der Aufnahme neuer Mitglieder zu erkundigen. Zahlreiche Interessenten hätten die Gruppe kontaktiert. Daher frage er an, ob es möglich sei, das Eintrittsalter herabzuset-zen, um Schüler der Scuola Media und der Scuola Media Superiore zuzulassen, die noch keine achtzehn Jahre alt seien, sich aber enthusiastisch zeigten. Auch schlage er vor, Absolventen länger als Mitglieder in der Gruppe verweilen zu lassen. Bereits das Dokument der Anfrage ist mehrfach mit einem energisch gezeichneten No! versehen, das Antwortschreiben lehnte alle Ersuche ohne Begründung ab.511

Der Vorgang ist paradigmatisch für faschistische Verwaltungsakten, die den Bürokratismus jenseits der propagandistischen Mystifizierungen erkennen lassen. Vielsagend ist die freimütig übermittelte Begründung für die Beliebtheit der örtlichen GUF. So schrieb der Verwaltungs-sekretär, es seien die vielen Vergünstigungen und Vorteile für die weitere berufliche Laufbahn, die Interessenten veranlassten, um Ausnahmeregelungen zu bitten.512 Aus einem nach Rom ge-schickten Rechenschaftsbericht dieser GUF aus Arezzo, der vor Ort feierlich als Rede vorgetra-gen worden war, gehen einige dieser materiellen und immateriellen Vorteile der Mitgliedschaft hervor, die zeigen, dass jenseits von politischer Überzeugung und Enthusiasmus der Opportu-nismus eine starke Triebfeder darstellte: Geboten wurden die Mitbenutzung der Bibliothek des Dopolavoro Provinciale , eine Reise zur Mostra delle Scienze in Florenz, zahlreiche Ausflüge, die Teilnahme an einer Kundgebung in Florenz, bei der Mussolini gesprochen habe, ebenso wie eine Kreuzfahrt mit dem Zwischenziel Fiume. Auch Zeltlager mit anderen Gufini , der Besuch von Sportveranstaltungen, vergünstigter Eintritt zu Filmvorführungen, Besuche in Industrie- und Agrarbetrieben, eine eigene subventionierte Zeitschrift und die Möglichkeit, in überregio-nalen faschistischen Zeitschriften eigene Texte zu veröffentlichen, gehörten zu den Anreizen.

Der Schlusssatz des Berichtes beschreibt die Wandlung, die die studentischen Mitglieder vollzogen hätten, und wechselt aus der nüchternen Verwaltungssprache in den metaphori-schen und transzendentalen Stil faschistischer Publikationen: Anstelle von bacco, tabbacco e venere , also Bacchus, Tabak und Venus, frönten sie nun libro, moschetto e duce , also Buch, Muskete und dem Führer. Dies täten sie in dem Bewusstsein, morgen würdige Anführer des faschistischen Italien zu sein.513 Das erste Triplet von Synekdochen verweist auf die Laster, von der Völlerei bis zur Unzucht, die vermeintlich das typische Studentenleben kennzeichneten; das zweite Triplet umfasst die Bandbreite vorgeblich faschistischer Tugenden. Wie eine Mons-tranz trägt der Autor hier die Moral vor sich her; eine Scheinmoral, da sie zugleich im Kontext des faschistischen Virilitätskultes steht. Die zitierte Passage ist geradezu paradigmatisch für die vielen faschistischen Akten eigene Kombination aus alltäglichen Verwaltungsvorgängen und das in Schluss- oder Begrüßungsformeln eingewobene Pathos.

Trotz deutlich antiintellektueller Positionen in Schriften und Reden der führenden Partei-vertreter waren die Universitäten keine Räume, die sich dem faschistischen Einfluss entzogen, sondern sie wurden schon frühzeitig mit Hilfe der GUF zu einem Agitationsraum der Partei. So waren es auch die Gufini , die ihre Universitäten von innen heraus von oppositionellen Kräf-ten ‚säubern‘ sollten und in der Phase des Machtausbaus der Partei und der Konsolidierung des Regimes den Ausschluss antifaschistischer Lehrkräfte vorantrieben. In den GUF besaß die faschistische Partei in Universitäten eifrige Spitzel und Denunzianten. Dass sich aber auch seitens der akademischen Lehrkräfte keine breite Widerstandsbewegung bildete, wird in der Forschungsliteratur anhand der auffallend niedrigen Zahl von Professoren und Universitäts-rektoren aufgezeigt, die sich 1931 weigerten, den nun zur Pflicht erklärten faschistischen Eid zu leisten: Von 1250 Professoren hätten nur elf oder zwölf diesen Eid verweigert, die daraufhin ihren Posten verloren hätten, zwei von ihnen seien freiwillig vorzeitig in den Ruhestand gegan-gen und einer habe trotz Weigerung weiterhin gelehrt.514 Ferner erläutert Christopher Duggan, dass seit der Mitte der dreißiger Jahre antisemitische Kampagnen in Universitätskreisen auf breite Zustimmung getroffen seien und sich nur sehr wenige Professoren für ihre seit 1938 ver-folgten Kollegen eingesetzt hätten.515

Die neuere Forschungsliteratur zu den GUF setzt sich kritisch mit den Bewertungen älte-rer Publikationen zum Indoktrinationsgrad der akademischen Jugend auseinander. Kern der Kritik ist, dass Rechtfertigungsstrategien prominenter ehemaliger Mitglieder der faschistischen Universitätsjugend ungeprüft übernommen worden seien. Diese hatten für die späten dreißiger Jahre eine zunehmende kritische Auseinandersetzung der studentischen Elite mit dem Regime und eine ‚innere Loslösung‘ behauptet. Am deutlichsten benennt Alessandra Tarquini diese Form der Geschichtsklitterungen: Als eigene Verstrickungen in die GUF bekannt wurden, hät-ten prominente Politiker oder Personen des öffentlichen Lebens angeführt, einen ‚kritischen Faschismus‘ gelebt zu haben. Das Spektrum der Rechtfertigungsstrategien reiche bis zu der Darstellung, durch kritische Texte und Vorträge das System von innen heraus zu verändern, wenn nicht gar zu schwächen versucht zu haben.516 Die Brisanz dieser Thematik ergibt sich aus dem größeren Kontext der in der gesamten italienischen Nachkriegsgeschichte entstandenen und postulierten Mythen um einen breiten gesellschaftlichen Widerstand gegen den Faschis-mus, die darauf zielten, die Geschichte der tatsächlichen Resistenza sowohl in zeitlicher als auch in numerischer Perspektive deutlich auszudehnen und ein neues Narrativ zu etablieren.517 Dies erschwerte öffentliche Diskussionen um Verantwortlichkeiten, Schuld, Handlungsspielräume und die Auswirkungen der faschistischen Politik auf die italienische Gesellschaft nachhaltig. So sehr einige GUF-Angehörige später bemüht waren, die eigene Mitgliedschaft umzudeuten, so sehr hatten sie doch von der Elitenposition profitiert und so sehr hatten ihre Verbände ein Medium der faschistischen Durchdringung der italienischen Gesellschaft dargestellt.518

Ältere beschwichtigende Bewertungen führen häufig die Littoriali als Orte kritischer De-batten an: Bei diesen faschistischen Wettkämpfen in den Bereichen Sport, Kunst und Kultur hätten Studenten die Politik des Regimes hinterfragt und ihr widersprochen. Dies hätte die Entstehung einer breiteren Widerstandsbewegung im akademischen Milieu in den frühen 1940er Jahren vorangetrieben. Diese Interpretation ist nicht überzeugend angesichts der Dau-er und Intensität der Indoktrination der betreffenden Generation in allen Lebensbereichen, insbesondere durch die faschisierten Schulen und die Jugendorganisationen. Die Angehörigen der GUF, die zu den Vorbereitungskursen zugelassen wurden, stellten eine faschistische Elite innerhalb der sozialen und akademischen Elite dar. Sie waren gerade nicht diejenigen, die sich durch kritische Elternhäuser oder infrastrukturelle Bedingungen der Mitgliedschaft in den Jugendorganisationen hatten entziehen können, sondern gehörten einem parteinahen Umfeld an. Für das faschistische Regime erfüllten die Littoriali eine Kanalisierungsfunktion, da durch sie aufkommende Unzufriedenheit und Missbilligung tagespolitischer Maßnahmen in eine kontrollierte, in einem eng gefassten gesellschaftlichen Rahmen zu äußernde Kritik innerhalb des Systems umgemünzt werden konnte, statt sich außerhalb desselben Bahn zu brechen.

Das Kalkül des faschistischen Regimes wird in einer Publikation Giuseppe Renzettis deut-lich, die im Rahmen italienischer Auslandspropaganda erschien. Renzetti, Präsident der ita-lienischen Handelskammer für Deutschland und dort einer der führenden Propagandisten des italienischen Faschismus in den späten 1930er Jahren, bewertet in dieser deutschsprachi-gen Veröffentlichung die Littoriali aus der Sicht des Regimes. Sie seien „ein leichtes und si-cheres System zur Prüfung der Stimmung einer Kategorie, aus welcher vorwiegend die neue leitende Klasse Italiens hervorgehen soll.“519 Er argumentiert, der Fokus liege nicht allein auf einzelnen Fähigkeiten der Teilnehmenden, vielmehr interessiere ihre „gesamte geistige Orien-tierung nach dieser oder jener Kunstform, nach dieser oder jener Wissenschaft, Philosophie usw. hin“520. Nicht der einzelne Student werde als Sieger geehrt, sondern die Universität, der er entstammt.

Zur Prüfung standen neben Inhalten und Talenten vorrangig der Grad der Verinnerlichung faschistischer Grundsätze und die Bereitschaft, die ‚faschistische Revolution‘ fortzuführen, wie es das Regime von den Gufini als gesellschaftliche Elite erwartete. Damit nahmen die Wett-kämpfe eine nicht zu unterschätzende Rolle im interuniversitären Konkurrenzkampf ein. Ein Versagen bei den Littoriali kam einer Schmach für die Universität gleich. Sie entschieden über Karrieren und soziales Ansehen. Es ist unwahrscheinlich, dass sich bei diesen durchinszenier-ten Wettkämpfen eine für das Regime nicht tolerierbare Kritik am System äußern ließ, ohne unmittelbare Konsequenzen für den Betreffenden und die Hochschule nach sich zu ziehen. Renzetti erläutert, die vorrangige Aufgabe der GUF und der Fasci Giovanili di Combattimento (‚Kampfbünde der Jugend‘), also der Organisationen für die Achtzehn- bis Einundzwanzig-jährigen, sei die Pflege „der Charakterbildung ihrer Mitglieder“, indem sie in Betracht zögen, dass der Lebensabschnitt „größtenteils die kritischste Periode für die Formung des Denkens und des Bewußtseins darstellt, da die Jugendlichen in diesem Alter unfreiwillig zum Pessimis-mus und zum Individualismus neigen“521.

In den 1930er Jahren erschienen in Gerarchia , der offiziell von Mussolini herausgegebenen Zeitschrift für die faschistischen Eliten, regelmäßig Beiträge der GUF. 1936 setzte sich ein sol-cher Artikel mit den ersten Littoriali nach der Eroberung Abessiniens auseinander. Die Litto- riali , so der Verfasser Giuliano Magnoni, reflektierten die Geisteshaltung und Moral der fa-schistischen Jugend. Er begrüßte, dass die drei Jahre zuvor ins Leben gerufenen Wettbewerbe nun thematisch an die neue imperiale Realität Italiens angepasst worden seien. So sei garan-tiert, dass die Teilnehmer, insbesondere die Sieger, ein breites öffentliches Interesse vorfänden, wenn sie etwa ihre Abhandlungen über ‚Pioniere Italiens‘ vorstellten oder Märsche kompo-nierten. Die Littoriali seien ein Aufbegehren gegen traditionelle Hierarchien im akademischen Raum, die entgegen studentischer Erwartungen nicht zu einer Abstrafung der Teilnehmer durch brüskierte Universitäten oder Professoren geführt hätten, sondern  – hier findet sich eine Referenz an den korporatistischen Gedanken – alle Universitätsangehörigen unabhängig von ihrer Funktion in dem Ziel, zu gewinnen, geeint hätten.522 In paradigmatischer Weise wird das Aufbegehren als Kennzeichen der Adoleszenz hier mythisch überhöht zu einem mutigen Opponieren gegen traditionelle Hierarchien, während es tatsächlich als ein symbolpolitisches Widersetzen innerhalb des Systems zu werten ist, als ein Wettstreit der Akklamation oder der richtigen Auslegung faschistischer Doktrin. Euphorisch wird in dieser und in weiteren Vita dei G.U.F. -Kolumnen auf den Imperialismus rekurriert: Er verhelfe Italien zu wahrer Grandezza . Die GUF seien daher an vorderster Front am Ausbau des Imperiums, an seiner Popularisie-rung in der italienischen Gesellschaft und an ‚Zivilisierungsmissionen‘ in den eroberten Ge-bieten beteiligt.523

Doch wie repräsentativ sind solche veröffentlichten Bekundungen von Angehörigen der GUF? Der erklärte Anspruch des Regimes war es, den akademischen Raum nachhaltig zu durchdringen und die akademische Jugend zu mobilisieren. Wie weit infiltrierte dieser Macht-anspruch studentische Milieus insgesamt? Der Grad der Erfassung der italienischen Universi-tätsjugend durch das faschistische Regime wird in der Forschungsliteratur sehr unterschied-lich beurteilt. Tracy H. Koons Untersuchung gibt die Mitgliedschaft in absoluten Zahlen an: Diese seien von 1927 bis 1937 von 8854 auf 82 004 angestiegen; 1943 seien dann 164 667 Mit-glieder gezählt worden.524 Jens Petersen zufolge betrug der Anteil der Studenten unter den Angehörigen der faschistischen Bewegung im Mai 1920 schon 11,9 % und der Anteil der Mit-glieder faschistischer Studentengruppen an der Gesamtzahl der Studenten und Oberschüler im Winter 1921/22 weit über 10 %.525 Andere Analysen gehen davon aus, dass zur Mitte der dreißiger Jahre fast alle männlichen Studenten in den GUF eingeschrieben gewesen seien.526Dies erscheint selbst für eine Massenorganisation in einem sich als totalitär beschreibenden Staat ungewöhnlich hoch. Die Zulassungsbedingungen waren einem ständigen Wandel unter-worfen und zugleich oft regional unterschiedlich. Wurden sie zuweilen verschärft, um eine engmaschigere Kontrolle der Aspiranten zu gewährleisten, so verblieben andernorts viele Ab-solventen und Nicht-Studenten dauerhaft in den GUF.527 Im Umkehrschluss erschwert dies Deutungen über die Durchdringung rein studentischer Milieus, da unklarer wird, an welche Kreise sich die GUF wandten und wie ihre Mitglieder zuzuordnen sind. Die faschistischen Stu-dentengruppen genossen noch in den frühen vierziger Jahren einen nicht zu unterschätzenden Einfluss und regen Zulauf; dementsprechend hoch fiel der Anteil der Haushaltsgelder aus, die für die GUF bereitgestellt wurden.528 Für Partei und Regime ging es um die Sicherung des eige-nen Fortbestands durch die Ausbildung von Funktionären und Multiplikatoren. Die internationalen Aktivitäten der GUF

Die GUF zielten nicht nur auf eine Vormachtstellung im studentischen Milieu italienischer Universitäten, sondern sahen sich ebenso zu einer internationalen propagandistischen Arbeit berufen. Als gut ausgebildete Elite und als die erste im Geiste des Faschismus erzogene Gene-ration sollten sie die Wahrnehmung des ‚neuen Italien‘ im Ausland lenken. Benedetta Gar-zarelli, die sich mit den internationalen Netzwerken der Gruppi Universitari Fascisti befasst, weist nach, dass Vertreter der GUF in den zwanziger Jahren eine Anbindung an Studenten-organisationen wie die 1919 in Straßburg gegründete und in Brüssel ansässige Confédération Internationale des Etudiants (CIE) oder die Fédération Universitaire Internationale pour la Société des Nations (FUI) suchten und sich gezielt um führende Posten bemühten. Dabei hät-ten sie einerseits ihre Nähe zur faschistischen Partei zu verschleiern versucht, um nicht gegen Neutralität verlangende Satzungen zu verstoßen, andererseits reputierliche überparteiliche ita-lienische Studentenverbände absorbiert und sich zu deren Nachfolgeorganisation erklärt.529 Sie beabsichtigten, die internationalen Kontakte und Einflussbereiche italienischer Studenten und Universitäten zu erweitern und die Wahrnehmung des faschistischen Staates in akademischen Milieus anderer Länder zu beeinflussen, also sein internationales Standing aufzuwerten.

Die Propagandaaktivitäten der GUF beschränkten sich nicht auf die Teilnahme ihrer Ver-treter an länderübergreifenden Studentenkongressen und studentischen Olympiaden, son-dern gingen vielfach in vermeintlich triviale und touristische Bereiche über. So veranstalte-ten die GUF beispielsweise Touren für ausländische Studenten.530 Diese erinnern an andere historische und aktuelle Fälle von organisierten Gruppenreisen in Diktaturen: Reisende, die auf Schritt und Tritt von einer Funktionärselite begleitet und von ranghohen Vertretern des Systems begrüßt werden und deren Eindrücke des Landes gezielt auf Vorzeigethemen gelenkt werden.

Die mit dem Austausch und der Betreuung ausländischer Studenten an italienischen Uni-versitäten verbundene Erwartungshaltung des PNF und der GUF, international die Perzeption steuern und den italienischen Faschismus als Vorreiter eines universellen Faschismus preisen zu können, wurde in den 1930er Jahren in der Amtszeit Achille Staraces als Parteisekretär und damit auch als Sekretär der GUF noch einmal intensiviert; ebenso nahmen die Reisetätig-keiten der GUF und die Aufnahme von Studierenden anderer Länder als Gäste oder als ein-geschriebene Studenten an italienischen Hochschulen zu. In den Jahren 1932 bis 1934 organi-sierten die GUF sogar regelmäßig Kreuzfahrten ihrer Mitglieder (mit 350 bis 650 Passagieren an Bord) als Fernreisen.531

An dieser Stelle ist ein kurzer Vorgriff auf die Analyse der Rekrutierungsbemühungen der British Union of Fascists im akademischen Milieu sinnvoll – ein Themenfeld, das in der Forschungsliteratur zum britischen Faschismus wie zum Faschismus in internationaler Per-spektive kaum Beachtung erfahren hat. Die BUF setzte unmittelbar nach ihrer Gründung auf eine Beeinflussung studentischer Kreise und auf eine rege Propagandatätigkeit in britischen Universitätsstädten. Ebenso frühzeitig begann sie, für einen Austausch mit italienischen und deutschen Studenten zu werben und Touren in diese Länder anzubieten. Betrachtet man die Aktivitäten im Kontext des italienischen Engagements um Netzwerke zu anderen Studenten-organisationen in Europa, so wird deutlicher, weshalb die BUF trotz sich abzeichnender Mo-bilisierungsschwierigkeiten in diesem Milieu den Fokus beibehielt: Es schien ein vielverspre-chender Ansatz, sich im akademischen Raum nach italienischem Vorbild zu etablieren und so eine eigene Führungsschicht aus elitären Kreisen aufzubauen. Die Bewegung versuchte, einen Machtgenerierungsprozess zu adaptieren, der sich im italienischen Fall als äußerst effektiv er-wiesen hatte – jedoch in einem vollkommen konträren Umfeld und mit geringeren Hand-lungsspielräumen. Sie beabsichtigte, sich dem italienischen Regime als vorrangiger Ansprech-partner für die Knüpfung von studentischen Netzwerken zwischen den Ländern anzubieten (vgl. Kap. 3.4).

Wie erläutert, rekrutierte sich auch der Gründerkreis des Fascio di Londra aus der noch ver-gleichsweise kleinen Gruppe von Akademikern unter den italienischen Einwanderern in der britischen Hauptstadt. Der Kreis um Camillo Pellizzi sah sich, mit einem hohen Maß an Nar-zissmus und Missionierungseifer ausgestattet, berufen, unter eigener Führung eine Parteizelle zu etablieren und ihr bestehende Einrichtungen einzuverleiben (vgl. Kap. 2.2). Im Sinne ihrer Doppelfunktion, einerseits die Auslandspropaganda der faschistischen Partei im Gastgeber-land zu verbreiten und andererseits die italienischen Auswanderergemeinden zu faschisieren, nahmen die Fasci all’Estero in Großbritannien ihre Propagandatätigkeit in Universitätsmilieus in der Folgezeit nicht über eigene GUF vor, sondern verzweigter und subtiler über Literatur- und Studienkreise, die Società Dante Alighieri und die italienischen Kulturinstitute (vgl. Kap. 3.3).532

Einen transnationalen propagandistischen Effekt sollte auch die Einrichtung internationaler Studienzentren an italienischen Universitäten erfüllen, denn diese dienten unverhohlen der Verbreitung faschistischer Ideologien vor einem nicht-italienischen Publikum. L’Italia Nostra berichtete im August 1934 ausführlich über entsprechende neue Studiengänge an der Universi-tät von Perugia.533 Der Artikel ist ein anschauliches Beispiel für die Verknüpfung von traditio-nell in bildungsbürgerlichen Kreisen vorherrschenden Italienbildern – etwa durch Anspielun-gen auf Dante oder die Renaissance – mit einer offen faschistischen Propaganda. Deutlich wird zugleich, dass die Universität, die über eine ‚faschistische Fakultät‘, die Facoltà fascista , zur gezielten Förderung und Ausbildung des „fior fiore dell’intelletualismo nostro“534 (‚der Spitze unseres Intellektualismus‘) verfügte, die Studienprogramme für ausländische Gäste streng von dieser Einrichtung trennen sollte. Gäste sollten folglich in einer unterschwelligen Weise durch ausgewählte Kontakte und Inhalte beeinflusst werden und ein geschöntes und auf die einzel-nen Zielgruppen zugeschnittenes Bild des faschistischen Italien sehen.

Die Gruppi Universitari Fascisti stellten nicht nur Rekrutierungsorgane des PNF dar, sie wa-ren zugleich eine Massenorganisation, die Freizeit- und Bildungsangebote an Universitäten monopolisierte und faschisierte und somit das kulturelle Leben in den Universitätsstädten in erheblichem Maße beeinflusste.535 Ein Bereich, in dem sich diese Monopolisierung besonders stark ausprägte, war der des Nachwuchsjournalismus, denn die GUF verfügten über eine Viel-zahl von Zeitschriften und ihre Autoren kamen in den zentralen regimenahen Zeitschriften häufig zu Wort, mit dem Effekt, dass die künftige Elite sich in den Debatten um die Weiter-entwicklung des Faschismus engagierte.536

Die Faschisierung der Universitäten bedeutete einen erheblichen Eingriff in das Verhältnis zwischen Professoren und Studenten. In der Buchausgabe der 1939 verabschiedeten Schul-reform Giuseppe Bottais, der Carta della Scuola , findet sich eine Positionierung Bottais zur Frage der Disziplin an den Universitäten, die verdeutlicht, welch hohen Stellenwert die fa-schistische Partei der Kontrolle und der Mobilisierung der Studenten zumaß: Bottai sieht die vorrangige Aufgabe der Universität darin, aus der Masse der Studenten die künftige Führungs-riege für das politische, soziale und ökonomische Leben der Nation zu filtern. Um dies zu gewährleisten und einer Disziplinlosigkeit entgegenzuwirken, müssten sich Professoren und Studenten gegenseitig stärker überwachen.537 Er fügt hinzu, dass Überwachung eine negative Konnotation habe; lieber solle die Kontrolle der anderen im Dienste eines neuen Geistes als eine Art Incentive betrachtet werden; ein Prinzip, das sich in der Arbeitswelt bewährt habe.538De facto beschreibt er hier die Umwandlung des akademischen Raumes in einen Raum der Indoktrination und der vermeintlich durch ein höheres gesellschaftliches Ziel legitimierten Denunziation. Die Fokussierung auf jüngere Zielgruppen: die Opera Nazionale Balilla

Bereits zu Beginn der 1920er Jahre weitete die faschistische Bewegung ihr Blickfeld auf die junge Generation aus: Hatte sie bei der Konzeptualisierung der Avanguardie giovanili fasciste (AGF) zunächst die Fünfzehn- bis Achtzehnjährigen in den Fokus genommen, zwei Jahre spä-ter dann bereits Dreizehnjährige in das Modell eingerechnet, so verschob sich ihr Augenmerk zur Mitte des Jahrzehnts sukzessive auf Kinder. Balilla -Gruppen sollten Jungen im Alter von acht bis dreizehn zusammenführen. Den Namen Balilla entlehnten die Verantwortlichen einer Legende, in der ein Kind das Entfachen einer Revolution symbolisierte. Der Mythos verlieh der Jugendorganisation den Anschein einer geschichtlich gewachsenen Tradition und damit in nationalistischen Kreisen eine höhere Legitimität, als sie internationale Jugendorganisationen, die in Italien Fuß gefasst hatten, aufweisen konnten.

Der Name Balilla war, der Legende zufolge, der Spitzname des Genueser Jungen Giambat-tista Perasso (andere Quellen sprechen von Giovan Battista Perasso), der 1746 die österreichi-schen Truppen bei der Besetzung Genuas mit Steinen beworfen und so das Signal zum Angriff der Bürger auf die österreichischen Soldaten in der Stadt gegeben und den Aufstand entfacht haben soll. Die faschistische Partei übernahm nicht allein den Namen, sondern bettete den gesamten Kult um den Jungen in die Rituale der Jugendorganisationen ein, die 1926 als Ope- ra Nazionale Balilla (ONB) institutionalisiert wurden. Der hohe Symbolwert der Aneignung einer angeblich historischen Figur spiegelt sich in Pietro Caporillis L’Educazione Giovanile nello Stato Fascista wider, das der Autor dem Präsidenten der ONB , Renato Ricci, mit dem Zusatz „con fede squadrista“539 (‚in squadristischer Treue‘) widmete. Caporilli erläutert, dass am 5. Dezember bis in die entlegensten Dörfer in feierlichen Zeremonien des ‚heroischen Ka-meraden‘ gedacht werde. Gebe es unterschiedliche Deutungen, wer der Junge wirklich gewesen sei, so sei dies doch letztlich gar nicht ausschlaggebend. Vielmehr resultiere die Bedeutung daraus, dass der Name Balilla für alle Jugendlichen im faschistischen Italien eine Tradition und eine Quelle der Kraft sei, eine Realität und eine große Idee.540 Hier offenbart sich der propagandistische Wert des Vagen, der dem Mythos eigen war und der ähnliche pseudo-his-torische Legitimationsstrategien kennzeichnet: Nicht die historische Figur ist zentral, sondern die Attribuierungen, die sich an ihr vornehmen lassen, die Möglichkeiten, sie zu überhöhen und ihr Eigenschaften zuzuschreiben, die über die Jugendorganisationen eingeimpft werden sollen und deren höherer gesellschaftlicher Nutzen scheinbar belegt ist.

1926, als die Etablierung der Diktatur voranschritt, wurden die Jugendgruppen unter der Dachorganisation ONB zusammengeführt, dem sogenannten ‚Nationalen Balilla -Werk‘. Der Namenszusatz Opera erzeugte international den Eindruck, die ONB sei eine überparteiliche karitative Einrichtung. Die ONB war zunächst eine paradoxe Konstruktion: gleichzeitig eine der Partei unterstellte Organisation und eine ente morale , also eine Art gemeinnütziger Verein. Sie stand unter Aufsicht des Capo di Governo , des Regierungschefs. Dies führte zwar einerseits dazu, dass der Einfluss der Partei nach außen hin nicht allzu offensichtlich war, andererseits erhöhte die unklare hierarchische Struktur aber die Spannungen zwischen Partei und staat-lichen Einrichtungen, wenn es darum ging, Grundsatzentscheidungen für die Jugendorgani-sationen zu treffen. So entstand Raum für Machtkämpfe.

1929 wurde die ONB einer staatlichen Instanz unterstellt, dem nun umbenannten Bildungs- bzw. Erziehungsministerium Ministero dell’Educazione Nazionale . Der Einfluss von Partei und Miliz blieb dennoch gesichert, waren ihre Vertreter in der Binnenstruktur doch an wich-tigen Schaltstellen vertreten. Die ONB umfasste zunächst nur die Gruppen der Avanguardisti und der Balilla . Als sie in den Kompetenzbereich des Ministeriums überführt wurde, kamen die bis dato von den Fasci Femminili, den Frauenverbänden des PNF, geleiteten Organisatio-nen für Mädchen hinzu, die Piccole Italiane und Giovani Italiane .

Das im April 1926 verabschiedete Gesetz zur Institution der ONB, explizit mit der ‚Unter-stützung sowie der körperlichen und moralischen Erziehung der Jugend‘ befasst, hatte bereits vorgesehen, dass Minderjährige beider Geschlechter Zugang zu den Unterstützungsleistungen erhalten sollten; im Fokus standen jedoch die Jungen. Als Ziel der Jugendorganisationen de-finierte der Gesetzestext die Eingliederung und Vorbereitung der Jugend auf das militärische Leben.541 Beansprucht wurde damit ein Anrecht auf Fremdbestimmung der italienischen Ju-gend, das im Zeichen des Militarismus und eines autoritären Verständnisses von Staatsbürger-schaft stand.

In den Gesetzesgrundlagen fand der Bürokratismus reichlich Raum zur Entfaltung: Vor-sitzen sollte der ONB ein Consiglio aus einem Präsidenten, einem Vizepräsidenten und drei-undzwanzig Beratern, der durch den Regierungschef, also durch Benito Mussolini, zu ernen-nen sei. Der Präsident sollte aus dem Kreis der ranghöheren Vertreter der Miliz bestimmt werden. Der Consiglio sei ferner mit Vertretern der Ministerien, der Miliz, des italienischen Olympischen Komitees, der Sportverbände und der Opera Nazionale Dopolavoro (OND) zu besetzen. Das Konzept einer starren Hierarchie und Befehlskette wurde bis zur lokalen Ebene festgelegt. Eine richtungsweisende Ergänzung erfuhr das Gesetz schon im Januar 1927 mit dem Beschluss, die Erziehung der Jugend zur alleinigen Aufgabe der ONB zu erklären. Dieser kündigte damit die Ausschaltung konkurrierender Organisationen an. Wenngleich das Re-gime hier die katholische Pfadfinderorganisation als größten Konkurrenten noch nicht verbot, so schränkte es deren Handlungsspielraum doch bereits stark ein.542 Euphemistisch ließ es verlauten, andere Jugendorganisationen seien angesichts der Perfektion der ONB vollkommen überflüssig geworden.543 Deren Kernaufgabe und Ziel sollte es sein, den ‚neuen Italiener‘ zu formen. Das Gesetz bestritt, dass eine Erziehung zu gesellschaftlich gewünschtem Verhalten individuell geleistet werden könne. Vielmehr solle die ONB als Medium der Bildung, körper-lichen Ertüchtigung und spirituell moralischen Erziehung eine ‚Korrumpierung der jugend-lichen Seelen‘ verhindern und die Jugend in einer Atmosphäre der Disziplin an die Pflichten des Staatsbürgers heranführen, der verpflichtet sei, Grandezza und Wohlstand des Landes zu mehren.544

Ein für die Akteure positiv konnotiertes Totalitarismuskonzept prägte die Ausgestaltung der Aufgabenbereiche der Staatsjugendorganisation, die keine konkurrierenden Vergemeinschaf-tungsräume neben sich duldete, die dem Einzelnen das Recht auf Selbstbestimmung seiner Bildungs- und Freizeitinhalte absprach und die von einer so verwobenen Organisationshier-archie bestimmt war, dass sie der Partei bis in die lokalen ONB-Gruppen hinein die Kontrolle über die Jugend und deren Erzieher sichern sollte. Ein Netz aus Komitees in den Hauptstädten der Provinzen und in den Kommunen sollte die Umsetzung der Weisungen des ONB-Präsi-denten, des Consiglio und der einbezogenen Parteivertreter und Milizionäre garantieren.

Als lokale Treffpunkte waren standardisierte Balilla -Häuser vorgesehen, die Case del Ba- lilla . Da der Partei jedoch bei weitem nicht in jedem Ort ein geeignetes Haus gehörte oder eines nach den Vorgaben errichtet werden konnte, wurden Vereinsheime anderer Gruppen beschlagnahmt und umgewidmet oder Räumlichkeiten der Schulen genutzt. Der Zugang zum Balilla- Haus und zu den Freizeitaktivitäten war nur Mitgliedern der ONB gestattet; eine Rege-lung, die der Jugendorganisation angesichts mangelnder kindgerechter Alternativen in vielen Orten einen erheblichen Mitgliederzustrom sicherte. Eine elterliche Weigerung, die eigenen Kinder beitreten zu lassen, bedeutete folglich, dass diese von den Freizeitaktivitäten und der Gemeinschaft der Gleichaltrigen ausgeschlossen waren und die Familie Gefahr lief, sozial stig-matisiert oder isoliert zu werden. Gesellige Kindersoldaten? Erziehungsideal cittadini soldati

Was sich den Kindern als Chance zu größerer Freiheit als im familiären Heim oder im kirch-lichen Kontext darstellte und als beliebter Treffpunkt, der Aktivitäten und Belohnungen bot, war ein politischer Raum der antiindividualistischen und vormilitärischen Ausbildung einer Generation, in der die faschistische Partei die zukünftigen Funktionäre und ‚das Heer von morgen‘ sah. Der Aufbau der ONB reflektierte die Orientierung an militärischen Hierarchien und Organisationsstrukturen und an römischen Heereskennzeichnungen. Bei den Balilla , den acht- bis vierzehnjährigen Jungen, und den Avanguardisti , den Vierzehn- bis Achtzehnjähri-gen, bildeten jeweils elf Jungen und ein sogenannter Caposquadra eine Squadra . Drei Squadre bildeten ein Manipolo , drei Manipoli eine Centuria , drei Centurie eine Coorte und drei Coorti eine Legione . Diese Formationen waren jeweils einem im Rang entsprechenden Mitglied der Miliz weisungsgebunden. Die Legionen trugen die Namen gefallener Faschisten und angeb-licher Helden des Krieges und des Risorgimento .

Der starke Einfluss militärischer Vorstellungen von Disziplin, Drill und körperlicher Fitness auf die ONB spiegelte sich in ihren Konzepten zur Educazione fisica . Gespeist waren sie von pseudo-wissenschaftlichen Theorien und politischen Debatten, die seit dem späten neunzehnten Jahr-hundert international über die Fitness der Staatsbürger, über eine Erhöhung der Wehrtüchtigkeit und über Eugenik geführt wurden (vgl. Kap. 3.1 und 4.1). So offen militärisch und kriegsverherr-lichend die sportlichen Freizeitaktivitäten der Avanguardisti und Balilla waren, so fanden auch gegenläufige Trends wie international angesehene Sportarten Aufnahme in das Repertoire, um die Popularität der Aktivitäten und der Jugendorganisationen in den Altersklassen zu steigern.

Das Sportangebot war auf vier Altersstufen zugeschnitten: die Balilla -Gruppen der Acht- bis Elfjährigen und der Elf- bis Vierzehnjährigen sowie die Avanguardisti- Gruppen der Vierzehn- bis Sechzehnjährigen und der Sechzehn- bis Achtzehnjährigen. Wettkämpfe fanden für alle Altersstufen statt und der militärische Charakter der Sportaktivitäten differierte nur graduell. Bereits Elfjährige wurden an den Gebrauch von Waffen, wie etwa Schlagstöcken, herange-führt. Neben Leichtathletik, Märschen und Langstreckenläufen trainierten Jungen das Fech-ten, Boxen und Schießen. Die sportlichen Aktivitäten der Jugendgruppen standen in einem Spannungsfeld aus übersteigertem Gemeinschaftskult und erbitterter Konkurrenz, die nicht nur das Verhältnis der Gruppen, sondern auch das der einzelnen Mitglieder zueinander nach-haltig bestimmte. Das Leistungsprinzip im sportlichen Bereich wurde diskursiv verknüpft mit der Leistung für die Gesellschaft. Das meritokratische System, das der Faschismus in seinen Massenorganisationen zu vermitteln suchte, verband sportliche Erfolge mit Vorstellungen von Ehrbarkeit und Ansehen. Unter Bemühung des Führerkultes wurde der Einsatz des Einzelnen in dem durch Partei und Massenorganisationen vorgegebenen Rahmen als Weg zur Gunst des Duce präsentiert. Daneben garantierten Erfolge weitere konkrete Vorteile, wie Stipendien, Preisgelder und Sachpreise oder den bevorzugten Zugang zu höheren Schulen mit sportlichem Schwerpunkt. Ähnliche Kriterien galten bei Kunst- und Kulturwettbewerben: Eine möglichst linientreue Wiedergabe der Kulturpropaganda des Regimes und eine pathetische Lobpreisung Mussolinis und der ‚Faschistischen Revolution‘ war die Maxime.

Die ONB benötigte, wie die Partei und die anderen Massenorganisationen auch, hohe Sum-men, um die Versprechungen der faschistischen Propaganda umzusetzen, die karitativen Auf-gaben zu finanzieren und den Ausbau des Netzes von Balilla -Treffpunkten und Sportplätzen voranbringen zu können. Neben Staatsgeldern bildeten Patronatsbeiträge, die Firmen, Körper-schaften und Einzelpersonen leisteten, die finanzielle Grundlage.545 Für finanzkräftige Spon-soren war dies ein probates Mittel, sich mit der Partei gutzustellen und durch die Veröffent-lichung ihrer Zahlung ihre Wahrnehmung in der Gesellschaft zu steuern. Zugleich erschien, so der Umkehrschluss, eine Unterstützung der karitativen Maßnahmen als Einverständnis mit der faschistischen Partei.

Ein Bericht des Vorwärts thematisierte 1930 Hinweise, dass Massenorganisationen wie die ONB Gelder aus Requirierungen erhielten. Im Zusammenhang mit den sogenannten Verschi-ckungen politischer Gefangener in entlegene Gegenden hätten Geflohene berichtet, sie seien durch faschistische Behörden darüber informiert worden, dass beschlagnahmtes Geld unter lokalen Vertretungen dieser Organisationen aufgeteilt worden sei.546

Zum Präsidenten der ONB wurde, wie erwähnt, 1927 Renato Ricci ernannt. Dieser hatte sich als Squadrist bereits eine Art faschistische Reputation erkämpft, während ihm in sozialer Hin-sicht der Ruch des Aufsteigers anhaftete. Der aus einer Arbeiterfamilie in Carrara stammende, 1896 geborene Ricci hatte sich 1915 freiwillig dem Heer angeschlossen und wurde als Soldat mit militärischen Orden ausgezeichnet und befördert. Er erlangte durch die militärische Lauf-bahn einen gesellschaftlichen Aufstieg und, was für seine faschistische Karriere entscheiden-der war, den Ruf, radikal-patriotisch und militant zu sein. 1919 schloss sich Ricci dem Kreis der ultranationalistischen Besetzer Fiumes um Gabriele D’Annunzio an. 1921 organisierte er dann die erste Gruppe der Squadre in Carrara. Ricci trat hier nicht nur durch massive Ge-waltaktionen in Erscheinung, sondern sicherte sich zugleich Einfluss auf lokale Unternehmer. Nach dem ‚Marsch auf Rom‘ wurde Ricci zum Commissario Politico , zum politischen Kom-missar, in der Provinz Carrara ernannt. Er weitete seine Einflussnahme auf die örtliche Mar-morindustrie und die öffentliche Verwaltung aus, zum Teil durch Vorteilsgewährungen, zum Teil durch Erpressung, und riss entscheidende Posten an sich. 1924 wurde er in das Direttorio (Direktorium) des PNF berufen, zum Vize-Sekretär der Partei ernannt und schließlich zum Verantwortlichen für die Parteijugendorganisationen erklärt.547

Niccolò Zapponi führt an, Ricci sei in so hohem Maße korrupt gewesen, dass ihn 1932 nur die Intervention Mussolinis vor einer Inhaftierung bewahrt habe. Polizeiberichte, die an die Segreteria particolare del Duce gesandt wurden, hätten ihn als geldgierig, käuflich und arro-gant beschrieben und seine Unbeliebtheit bei der Bevölkerung herausgestellt. Laut eines Be-richtes fürchtete man, der sich schürende Hass auf Ricci seitens der örtlichen Arbeiter drohe sich zu einem Hass der Bevölkerung auf den Faschismus auszuweiten.548 Christopher Dug-gan bewertet Riccis Brutalität als besonders auffällig, er habe „an unusual amount of socialist blood on his hands“549 gehabt.

Nichts in Riccis Lebenslauf hätte ihn in einem anderen politischen System für eine solche Karriere qualifiziert. Tracy H. Koon sieht die Wahl Riccis als geradezu symptomatisch für die Schwierigkeiten des PNF, ministeriale Posten und Verwaltungsstellen aus dem eigenen Kreis zu besetzen, also Bürokraten aus den gewaltbereiten Squadristen zu machen, die Rhetorik einer andauernden Revolution einzuschränken und die Bewegung in ein Regime zu überfüh-ren.550 Sie betont die Ironie der Geschichte, dass er zum Verantwortlichen für die Erziehung und Bildung der Jugend bestimmt und mit dieser Machtposition elf Jahre betraut wurde, ihm dann aber 1940 der Posten des Ministers für Volkskultur nicht zugetraut worden sei, da er als Mann von geringer Bildung und Herkunft gegolten habe.551

Paradoxerweise qualifizierte all das, was in anderen Kontexten strikt gegen ihn gesprochen hätte, Ricci in den Augen Mussolinis: Jugend, Militanz, Gewaltbereitschaft und Kompromiss-losigkeit, eine militärische anstelle einer pädagogischen Vorbildung, eine Aufstiegsorientie-rung, die keine moralischen Bedenken kannte, und ein narzisstischer Drang, als Anführer Ruhm zu erlangen. Die ONB sollte einen radikalen Bruch mit klassischen Erziehungsmodel-len und Bildungsgedanken einleiten und über militärischen Drill Gehorsam und konformisti-sches Denken fördern. Dementsprechend oblag es ihrem Präsidenten, Dynamik und Kampf-bereitschaft zu vermitteln anstelle einer humanistischen, klassischen und an christlichen Werten orientierten Bildung. Deutlich lässt sich dies regimenahen Publikationen über das Bildungswesen und die Jugendorganisationen entnehmen: Der Duce habe bewusst keinen bär-tigen Mann, der hunderte von Traktaten über Pädagogik verfasst habe, gewählt, sondern einen jungen Mann, der im Krieg gekämpft, den Squadrismo und die Revolution gelebt habe und die Organisation zu einem schlanken, agilen und perfekt im Einklang mit den Prinzipien des faschistischen Lebens stehenden Organismus ausbauen könne.552 Die Erziehung der Jugend sollte unter neuen Vorzeichen erfolgen. Vorrangiges Ziel war die Formung der heranwachsen-den Generation zu einer Generation der cittadini soldati , der soldatischen Bürger oder Bürger-soldaten. Ricci sollte sich in den knapp zehn Jahren, in denen er an der Spitze der ONB stand, einen Machtkampf mit der Partei um die Vorherrschaft über die Jugendpolitik liefern. Seit 1933 suchte er auch zur Stärkung seiner eigenen Position einen Austausch mit der Hitlerjugend und dem Reichsjugendführer Baldur von Schirach zu initiieren. 1936 organisierten Ricci und von Schirach dann gegenseitige Besuche von ONB- und HJ-Delegationen.553 Diese Vernetzung beobachteten kleinere faschistische Bewegungen in Europa – wohl auch in der Hoffnung, An-schlussmöglichkeiten zu finden. So intensivierte die BU just zu diesem Zeitpunkt die eigenen Bemühungen um eine Jugendsparte (vgl. Kap. 3.4). Von der ONB zur Gioventù Italiana del Littorio

Schon 1928 zählte die ONB rund 812 000 Balilla und 424 000 Avanguardisti .554 Nach dem Wil-len der Verantwortlichen sollte sie durch die systematische Erfassung weiterer Jahrgänge und durch Übernahme der Mädchengruppen weiter wachsen. In den Akten des Regimes finden sich für die Folgejahre bis 1934 divergierende Zahlen zur Mitgliederstärke der Organisationen; die Schwankungen liegen bisweilen sogar im sechsstelligen Bereich, so dass sich kein klares Bild ergibt.555 Dennoch zeichnet sich ab, dass die Zahlen in den jüngeren Altersstufen der ONB höher lagen als in den älteren, nicht allein bei den Jungenorganisationen, sondern auch bei jenen der Mädchen. Die Vergemeinschaftung von Mädchen und jungen Frauen war zugleich in weiten Teilen der Gesellschaft umstritten. In den Diskursen führender Vertreter des Re-gimes zeigt sich häufig ein deutlicher Unterschied in der Bewertung der Jugendorganisationen und ihrer sozialen Relevanz. Achille Starace, Parteisekretär von 1931 bis 1939, bezeichnete die Mädchenorganisationen der aus der ONB hervorgehenden Gioventù Italiana del Littorio (GIL), so viel sei hier vorweggenommen, gar als „campo più delicato di tutta l’attività della Gioventù Italiana del Littorio“556, also als das heikelste Feld ihrer gesamten Tätigkeit.

In den Jahren nach der „ministerializzazione dell’Opera“557, der „Ministerialisierung des Werks“, wuchsen die Organisationen für die jüngeren Jungen und Mädchen deutlich stärker als jene für die älteren Jugendlichen – eine Entwicklung, die sich vor dem Hintergrund der en-gen Vernetzung von Schule und Jugendorganisationen erklärt. Die älteren Jugendlichen hatten einerseits weniger freie Zeit zur Verfügung, andererseits standen sie nach dem Schulabschluss nicht mehr unter der engmaschigen sozialen Kontrolle, die die Schulen noch hatten gewähr-leisten können. Dem Austrittstrend versuchte das Regime entgegenzuwirken, indem es das Netz an Massenorganisationen sukzessive ausbaute.

Die Öffnung der Klassenräume für den Faschismus war nicht allein durch Zwang und Re-pression bedingt, sondern ebenso sehr durch die Vergünstigungen und Auszeichnungen, die Lehrer und Lehrerinnen erhielten, die sich in den Seminaren des Regimes aus- und fortbil-den ließen. Mit der zunehmenden Faschisierung der Lehrerausbildung wurde die Verbindung von Schule, Partei, Miliz und Jugendorganisationen immer enger. Tracy H. Koon sieht in der Schule daher einen „particularly fertile ground for recruitment“ und weist darauf hin, dass, obgleich die Mitgliedschaft bis 1939 freiwillig gewesen sei, von einer Freiwilligkeit kaum ge-sprochen werden könne, wenn der Klassenlehrer zugleich der Leiter der am Nachmittag statt-findenden ONB-Gruppe gewesen sei.558 Dies trifft in besonderem Maße auf Grundschulen in kleinstädtischen und ländlichen Regionen zu. Eine weit verbreitete Rekrutierungshilfe waren die Schulbücher: Seit 1930 führten beispielweise in Grundschultexten die Kinder-Charaktere Bruno und Mariolina, deren größte Sehnsucht es war, endlich den Jugendorganisationen bei-treten zu können, durch den faschistischen Kalender und popularisierten die faschistischen Rituale. Die Abenteuer Brunos und Mariolinas waren so aufdringlich ideologisch, dass sie internationale Aufmerksamkeit erhielten.559

Das Prinzip der Erfassung der Kleinsten fand Mitte der 1930er Jahre einen Höhepunkt, als die ONB Gruppen für das Kindergartenalter einführte, die Figli della Lupa und Figlie della Lupa , die Söhne und Töchter der Wölfin. Die kleinen Jungen, die den Figli della Lupa angehör-ten, sahen in ihren überladenen Uniformen aus wie Miniatursoldaten. Die Bekanntgabe der neuen Gruppen erregte international Aufsehen. So nannte ein Autor der britischen Zeitung The Times die Mitglieder, durch deren Eingliederung in das System die bisher Jüngsten, die Balilla- Jungen, fast schon zu Veteranen mutieren würden, „Infant Fascists“ und „tiny warri-ors“560. Die Namen für die Kinderorganisationen waren in zweifacher Hinsicht berechnend gewählt: Einerseits verwiesen sie im Kontext der faschistischen Vorstellungen von Romanità auf den Gründungsmythos Roms, auf die Aufzucht Romulus’ und Remus’ durch eine Wölfin, und standen damit in einer Assoziationslinie mit den bildlichen Darstellungen zum Ursprung des Römischen Imperiums, zu dem der Faschismus eine Tradition zu behaupten versuchte: Die ‚Kinder der Wölfin‘ sollten als die erste Generation eines ‚Faschistischen Imperiums‘ als Wie-derbelebung des Römischen Reiches erscheinen. Andererseits wurde hier eine Bezeichnung übernommen, die sich in ähnlicher Form international bei den Pfadfindern etabliert hatte und entsprechend bekannt und positiv konnotiert war, nämlich die der Wolf Cubs , also der ‚Wölf-linge‘, für die acht- bis zehnjährigen Jungen. Die zweite gewollte Assoziation war also die, dass es sich hier um eine spezifisch italienische, legitime und nationalistische Variante der Pfadfin-der handele – faktisch also jener Organisation, die der Faschismus in Italien hinsichtlich ihrer imperialistischen und patriotischen Inhalte wie auch ihrer inszenatorischen Charakteristika imitiert, zu absorbieren versucht und schließlich verboten hatte.

1937 verkündete das Regime die Umbenennung und Restrukturierung der Staatsjugendor-ganisation, die wieder in den Verantwortungsbereich der Partei wechseln sollte. Die Gioventù Italiana del Littorio (GIL) war noch offenkundiger militaristisch. Der Beiname Opera , also des Werkes im Sinne einer karitativen öffentlichen Einrichtung, fiel weg; der Balilla -Mythos blieb aber ein Leitmotiv. Die neue Bezeichnung als ‚Jugend des Liktorenbündels‘ wies die Jugend-organisation offen als faschistische Organisation aus, nahm den Faden der Romanità -Glori-fizierung auf und erhob den Anspruch, die gesamte italienische Jugend unter dem Zeichen des Faschismus und des ‚italienischen Imperiums‘ als Nachfolger des römischen Weltreiches zu versammeln.

Die Neuausrichtung erfolgte im Kontext der Maßnahmen zur verstärkten Faschisierung der italienischen Gesellschaft unter Parteisekretär Achille Starace in den 1930er Jahren. Während die Mitgliederzahlen der Jugendorganisationen stiegen, manifestierten sich regionale Unter-schiede und Konflikte wurden virulenter. Lokale Verantwortliche sollen Starace in pessimis-tischen Berichten eine zunehmende innere Distanzierung von Mitgliedern bekundet haben.561Den lokalen Befund zu verallgemeinern, ist allerdings problematisch. Insgesamt waren, laut Jens Petersen, 1939 50 % der italienischen Jugendlichen eingeschrieben, je nach Region variier-te die Erfassungsdichte aber zwischen 20 % und 70 %, in den Städten des Nordens war sie noch höher. 1939 habe die GIL dann mit 7,9 Millionen Mitgliedern den größten Einzelverband im faschistischen Organisationssystem dargestellt.562 Die Umwidmung von der Staats- zur Partei-jugendorganisation trennte diese formal wieder vom Bereich der Schule; tatsächlich waren sie durch die personellen und ideologischen Übereinstimmungen aber längst verflochten. Die GIL trug nun das Motto credere, obbedire, combattere (glauben, gehorchen, kämpfen) und verlang-te somit explizit von ihren Mitgliedern die Bereitschaft, sich indoktrinieren und mobilisieren zu lassen, Anweisungen und Ideologien nicht in Frage zu stellen und sich als Soldat in den Dienst des Landes bzw. des nun ausgerufenen Imperiums und des Regimes zu stellen.

Die Mädchen wurden in Figlie della Lupa (vom Kindergartenalter bis zu acht Jahren), Piccole Italiane (acht bis vierzehn Jahre), Giovani Italiane (vierzehn bis siebzehn Jahre) und Giova- ni Fasciste (‚Junge Faschistinnen‘, siebzehn Jahre bis zum Übergang in die Reihen der Fasci Femminili ) eingeteilt. Die Jungen wurden den Figli della Lupa (Kinder unter acht Jahren), den Balilla (acht bis elf Jahre), den Balilla moschettieri (elf bis dreizehn Jahre), den Avanguardisti (dreizehn bis fünfzehn Jahre), den Avanguardisti moschettieri (fünfzehn bis siebzehn Jahre) und den Giovani Fascisti (‚Junge Faschisten‘, siebzehn bis einundzwanzig Jahre) zugeteilt.563

Dass erneut Altersgruppen umstrukturiert und neue Kategorien eingeführt wurden, trug nicht zur Vereinfachung des Systems bei, sondern bewirkte das Gegenteil. Die GIL war, wie auch die anderen Massenorganisationen, weit entfernt vom einst reklamierten Ideal der Dy-namik. Vielmehr wurde das, was die faschistische Bewegung dem demokratischen System mit Furor vorgeworfen hatte, nämlich lähmende Strukturen der Verwaltung zu begünstigen, zu ihrem eigenen Charakteristikum. Sogar in der von Starace veröffentlichten Beschreibung der neuen GIL erscheint die Verwaltungsstruktur der Organisation als ein riesiger, starrer Apparat, der durch die ständige gegenseitige Kontrolle aller Verantwortlichen auf den un-terschiedlichen Ebenen seine Funktionsfähigkeit erhalten und den Gehorsam sicherstellen sollte. Faschistische Probezeit – die Fasci Giovanili di Combattimento

Die Giovani Fascisti waren in den 1930 gegründeten Fasci Giovanili di Combattimento , den‚Kampfbünden der Jugend‘, organisiert, die der direkten Kontrolle und Weisung des PNF un-terstellt worden waren. Ursprünglich sollten die Avanguardisti bei den hochgradig inszenier-ten Feiern der Leva Fascista (der ‚Faschistischen Erhebung‘) in die Reihen der Partei befördert werden, wenn sie das geforderte Alter erreicht hatten und als geeignet eingestuft wurden. Die Fasci Giovanili di Combattimento wurden als Zwischenstufe eingerichtet, in der Anwärter, insbesondere jene, die nicht der ONB angehört hatten, indoktriniert und militärisch geschult werden sollten. Aber auch die Altersgenossen, die bereits die ONB-Laufbahn hinter sich hat-ten, sollten hier erneut auf Herz und Nieren geprüft werden. In einer Publikation Staraces über die Fasci Giovanili di Combattimento ist der Begriff des fede zentral: Glaube und Treue der Anwärter (bezogen auf die Parteimitgliedschaft) seien zu festigen, da die Jugend im Alter von achtzehn bis einundzwanzig Jahren an ihrem kritischsten Punkt sei.564

Die Etablierung der Fasci Giovanili war folglich Ausdruck des Misstrauens in die nachrü-ckenden Generationen. Staraces Veröffentlichung ist auffallend redundant in ihrer Betonung, dass der Parteieintritt, den die Älteren in der Leva Fascista zelebrierten, nicht die erwartbare Progression nach der Laufbahn der Jugendorganisationen sei, sondern eine besondere Aus-zeichnung, die der Duce nur denjenigen verleihe, die sie sich durch Treue und Taten verdient hätten. Eine entsprechende Erklärung war in den Statuten der Fasci Giovanili festgeschrieben, die zudem über einen Dekalog, den Decalogo dei Giovani Fascisti , verfügten.565 Damit wur-de einerseits eine Mystik bemüht, der zufolge der Duce als entrückte, höhere Instanz über Verdienste und Sünden seiner Untertanen entscheide und belohne oder bestrafe. Andererseits wurde der Parteieintritt von einem Verwaltungsakt, der auf der Einhaltung bestimmter Re-gularien basiert, zu einer Weihe umgedeutet, die die Assoziation hervorrief, Faschisten seien Auserwählte. Aus der Sicht der Parteimitglieder war dies eine Reminiszenz an die Ursprünge, als die Partei noch eine Bewegung gewesen war und sich angeblich in einem Kampf gegen korrumpierte alte Eliten und innere Feinde des Landes gewähnt und eine Revolution ange-strebt hatte. Die Glorifizierung dieser Revolution und ihrer Kämpfer konnte damit auf die nachrückenden Kader ausgedehnt werden: Sie führten vermeintlich eine heroische Mission der faschistischen Bewegung weiter. Dem unbeweglichen Apparat der Partei und seiner Mas-senorganisationen verlieh dies rhetorisch und inszenatorisch wieder Dynamik.

Bezüglich ihrer Bedeutung für die Zukunft des Landes wurden die Fasci Giovanili di Com- battimento den Gruppi Universitari Fascisti explizit untergeordnet – hier zeigt sich eine unan-getastete soziale Hierarchie. Während die GUF die Elite formten, sollte in den Fasci Giovanili die breitere Masse der Altersgenossen militärisch erzogen und mobilisiert werden. Prinzipien, die sich seit 1930 in den Fasci Giovanili di Combattimento bewährt zu haben schienen, wurden 1937 auf alle GIL-Gruppen ausgeweitet. So hatte etwa das neue Motto der GIL – credere , ob- bedire , combattere  – bereits Erprobung als Leitgedanke der Fasci Giovanili erfahren. Auch die paramilitärische Ausstaffierung wurde auf die anderen Altersklassen übertragen. Dass sich die Jungfaschisten ebenso wie GUF-Mitglieder als Elite verstanden, die durch ihren Status befugt sei, sich Vergünstigungen zu verschaffen, veranschaulicht ein Beispiel aus den Verwaltungs-akten: So wandte sich ein verärgerter und verzweifelter Fahrradhändler aus Tarquinia bei Rom per Brief direkt an Mussolini, um auf eine seit elf Monaten ausstehende Zahlung aufmerksam zu machen. Die Fasci Giovanili aus Florenz hatten auf einer Radtour seine Reparaturdienste in Anspruch genommen und die Rechnung nie beglichen. Der Brief wurde von einer Verwal-tungsinstanz zur nächsten gereicht und schließlich mit dem Hinweis versehen, für den Mann sei die Summe gewichtig, die Existenz seines Geschäftes hinge davon ab, man möge endlich zahlen.566

Zum Kosmos der GIL gehörten nicht nur die Jugendorganisationen, sondern auch Lehrer- und Lehrerinnenseminare z. B. in Udine und Orvieto, Sportakademien, die Schifffahrtkol-legien in Venedig und Brindisi, Luftfahrtschulen wie jene in Forlì und die als Eliteinternat konzipierte Akademie für Leibeserziehung ( Accademia Fascista di Educazione Fisica ) auf dem Foro Mussolini in Rom. Ihr Schwerpunkt lag in einer Kombination aus Sportwissenschaften, Pädagogik, Biologie und Medizin, in den wiederum kriegswissenschaftliche, rassistische und eugenische Vorstellungen weit hineinragten. Die militärische Ausbildung der Jugend und ih-rer Erzieher wurde zu einem Aushängeschild des neuen, faschistischen Italien erhoben, das in den Eliteschulen altrömische Traditionen wiederbelebe. Zugleich offenbarte sich der antiintel-lektuelle Zugang zu den akademischen Fachbereichen der Biologie und der Medizin, die dem Monopol der Universitäten entzogen und funktionalisiert wurden.567 Die ‚Leibeserziehung‘ sollte durch die zentralisierte Ausbildung der Sportlehrer und Trainer zu einem Massenphä-nomen ausgebaut werden, das sich nach politischen Vorgaben lenken ließe.568 Der Komplex aus Gebäuden, Stadien und Sportplätzen, der in 1930er Jahren erweitert wurde, zeugte von Gi-gantomanie: Ein Stadion, das von Statuen stilisierter Athleten aus Marmor umrandet war, das Stadio dei Marmi , gehörte ebenso zum Komplex wie die hervorstechende Colonna Mussolini , ein riesiger Monolith aus Marmor, der in seiner Aufschrift ‚ Mussolini Dux ‘ die Verbindung des Faschismus und seines ‚Führers‘ zum Alten Rom deutlich machen sollte. Eugene Pooley, der die städteplanerischen Auswirkungen des Führerkultes auf die Stadt Rom beleuchtet, betont, dass trotz der Namensgebung hier nie eine Statue Mussolinis aufgestellt worden sei; dies habe mystifizierenden Narrativen eher genutzt als geschadet:

In Mosaiken an den Gebäuden des Foro sei dies motivisch aufgenommen worden, etwa durch die Einarbeitung des Buchstabens M und der Wörter Dux und Duce . Die abstrakte Gestaltung der Bezugnahme habe schließlich im Verlauf der ohnehin halbherzigen Aufarbeitungen in der Nachkriegsgeschichte dazu geführt, dass das Foro nur sehr oberflächlich umgestaltet worden sei.570

Das Forum entwickelte sich zu einem zentralen Schauplatz der Masseninszenierungen des Regimes und zu einem Vorzeigeprojekt in der Erziehung des ‚neuen Menschen‘. Zur Ausbil-dung an der Akademie wurde zugelassen, wer sich als besonders regimetreu erwiesen hatte. In einem 1939 in Rom erschienenen Propagandaband heißt es, die Zulassung erfolge unter anderem „nach öffentlicher Bewerbung und dreimaliger Durchsicht über die Sitten, die poli-tische Anschauung und die Rasse des Kandidaten und seiner Familie“571. Nicht allein die Zu-gangskriterien, auch die Studiengänge waren faschistisch, rassistisch und eugenisch geprägt.572Ihnen schloss sich ein Praxisjahr an, in dem die Absolventen mit den Strukturen der GIL vertraut gemacht wurden und in dem sie Ferienlager für jüngere Altersstufen betreuten. Die Absolventen wurden dann in den Dienst der GIL übernommen; nach Angaben des Regimes waren es zwölfhundert in zehn Jahren.573 Faktisch bildete die GIL also ihre eigene Führungseli-te aus, die dann die Betreuung und Unterweisung der italienischen Jugend leisten sollte. Einen pädagogischen Zugang hatte sie nicht erlernt, dies war auch gar nicht erwünscht. Sie hatte vielmehr eine militärische, politische und weltanschauliche Schulung absolviert und eine Aus-bildung in ‚Leibeserziehung‘. Kindheit in Uniform

Im November 1934 erschien im Manchester Guardian ein kurzer Bericht eines Reuters- Kor-respondenten in Rom, der ein Rundschreiben des italienischen Erziehungsministeriums an Schulen und Schulverwaltungen thematisierte. Internationale Aufmerksamkeit hatte dieses Rundschreiben ob seiner Rigidität erlangt: Es habe, so der Korrespondent, die überragende Be-deutung militärischer Kultur für alle Schüler im Alter von acht bis einundzwanzig betont, die Einhaltung aller Leitgedanken zur Pflicht erhoben und deutlich gemacht, dass es keine Tren-nung mehr zwischen zivilem und militärischem Leben geben dürfe.574 Als oberster Grundsatz für die Erziehung der Jugend müsse die faschistische Formel der Verbindung von Buch und Gewehr gelten,575 – libro e moschetto , ein Grundsatz mit Betonung auf dem zweiten Begriff. In dieser plakativen Doktrin war Kindheit eine Vorbereitungszeit auf die zentralen Aufgaben des Erwachsenenlebens, die als im Militärdienst mündend beschrieben wurden. Hier manifestier-te sich ein ebenso eindimensionales und antiindividualistisches wie utilitaristisches Verständ-nis von Jugend. Achille Starace beschrieb die Zielsetzung 1939 so:

Solche regimenahen Publikationen zu den Jugendorganisationen behaupten in der Regel pseu-dowissenschaftlich einen höheren gesellschaftlichen Nutzen der Massenorganisationen für die Nation. Dabei konstruieren sie eine Kontinuitätslinie zur römischen Antike, mit einer hohen Flexibilität in der Kombination republikanischer und kaiserzeitlicher Aspekte, und nehmen eklektisch weitere historische Anleihen auf. Aus einem Totenkult um die Gefallenen des Welt-kriegs und der ‚Faschistischen Revolution‘ leiten sie eine historische Mission der Jugend ab. Il popolo , la stirpe , lo stato , la nazione , l’impero , also Volk, Stamm, Staat, Nation und Imperium, haben in diesen Texten keine Trennschärfe und werden bisweilen sogar synonym gebraucht. Jugendschriften, wie das den Jungen ausgehändigte Libro del Balilla oder Il Duce ai Balilla , das sogar den Stellenwert eines Vangelo del Balilla , also eines Evangeliums, reklamiert, nutzen die genannten Kategorien als Druckmittel: Ihnen allen sei der Einzelne, hier das Kind, ver-pflichtet.577 Das faschistische Italien erscheint als in einer Revolution oder in einem Kampf befindlich, die in einer goldenen Zukunft münden sollen und die Mitwirkung aller voraus-setzen. Grandezza ist ein prägendes Schlagwort, das sich immer wieder findet. Das diesen Schriften eigene Pathos zeigt ein enormes Maß an Theatralik. Der Duce wird als Anführer einer Bewegung beschrieben, der sich opfere, um der Nation zu höherer internationaler An-erkennung, zu Wohlstand und zu territorialem Zugewinn zu verhelfen. Er suche ein Land, das durch die Unfähigkeit des alten politischen Systems beinahe zugrunde gerichtet worden sei, in eine Weltmacht zu transformieren.

Auffällig ist, dass sich in der Beschreibung dieser Revolution ein technokratisch anmutender und ein mystifizierender Stil abwechseln; ein Widerspruch, der weder in die eine noch in die andere Richtung aufgelöst wird. Mussolini wird zeitgleich als gewählter Regierungschef prä-sentiert, der die Aufgaben, mit denen er betraut worden sei, umsetzen wolle, und als Anführer, den die Geschichte dazu bestimmt habe, das Land zu historischer Größe zurückzuführen. Hier eingewoben ist der Kult der Romanità . Die Kompilation Il Duce ai Balilla , die Auszüge aus Reden Mussolinis für Kinder aufbereitet, schließt dem Kapitel über den Duce als den vom Schicksal bestimmten Anführer eines über ihn als „Servitore della Nazione“578, als Diener der Nation, an. Es gibt die Deutung vor, das Volk beneide ihn nicht um sein Amt, da es wisse, wie fordernd und schwierig seine Arbeit sei.579 Die Inszenierung, die hier Ausdruck findet, ist die des Despoten als bescheidener Diener des Volkes, der den antizipierten Volkswillen umsetze und sich aufopfere. Aus der Rhetorik der fortwährenden Revolution lässt sich argumentativ die Notwendigkeit der Mobilisierung und Militarisierung der Jungen ableiten. Sie müssten ein Erbe fortführen, das ihnen die toten Soldaten des Krieges hinterlassen hätten. Dabei schwingt stets der Umkehrschluss mit, dass sie, wenn sie dies verweigerten, Verrat an der Geschichte und an der Nation begingen – eine perfide Argumentation, die Munition für das gegenseitige Sich-Bespitzeln in allen Altersklassen liefert.

Faktisch wurde nicht nur diskursiv, sondern mit allen inszenatorischen Mitteln die Asso-ziation zwischen den Gefallenen und den Jugendorganisationen ausgedehnt. Der behauptete Nexus zwischen den Kriegstoten und den ihnen angeblich verpflichteten Heranwachsenden war schon frühzeitig in Rituale überführt worden. Einige verankerten ihn sichtbar im öf-fentlichen Raum, so etwa die seit 1922 organisierten Ehrerweisungen von Schulkindern in den parchi della rimembranza , also in Parks, in denen sie den Gefallenen gewidmete Bäume pflanzten.580 Im In- und Ausland, also auch im Einflussbereich der Fasci all’Estero , trugen Gruppen der Balilla Namen toter Faschisten oder vereinnahmter getöteter Soldaten. Auch in-szenatorisch rekurrierten sie auf das vermeintliche Märtyrertum ihrer Namenspaten; so war auf den kleinen Gewehren, mit denen Jungen an den Waffengebrauch herangeführt werden sollten, der Name eines Gefallenen eingraviert. Die in Kinder- und Jugendschriften enthalte-nen Mobilisierungsaufrufe legten Jungen sogar explizit die Bürde auf, dem Tod der Soldaten einen nachträglichen Sinn zu verleihen und deren Mission weiterzuführen. So erläuterte Vito Perronis Il Duce ai Balilla den jungen Lesern, wenn der Duce ihnen ‚Avanti!‘ als Marschbefehl zuriefe, riefe sie eigentlich die Nation, es riefen sie das Vermächtnis des Alten Rom, die An-führer aus zwanzig Jahrhunderten, die Märtyrer, die sich gegen fremde Herrschaft aufgelehnt hätten, die fünfhunderttausend Helden, die zuletzt für Italien gefallen und die tausenden toten jungen Faschisten, die für Italiens Aufleben gestorben seien.581 Den Balilla und Avan- guardisti obliege in besonderer Weise die Pflicht, sich zu einem würdigen ‚neuen Italiener‘ zu entwickeln, da sie nicht mit der Vergangenheit belastet, sondern die erste Generation im ‚neuen Italien‘ seien. Sie sollten daher nicht nur anlässlich der Treffen ihrer Gruppen und der öffentlichen Veranstaltungen stolz marschieren, sondern in jedem Moment des Tages und an jedem Ort.582 Verlangt wird hier nicht weniger als die Militarisierung des Alltags und der eigenen Identität. Das Kind erscheint in dieser Ideologie nicht als Individuum, sondern als Teil einer auf Abstammung gründenden Gemeinschaft. Hier entwickelte sich zunehmend eine rassistisch exkludierende Argumentation. Die öffentliche Aufgabe des Kindes sei es, sich einzubringen, zu gehorchen und die Interessen der zeitgenössischen wie historischen und zukünftigen Gemeinschaft, der nazione oder stirpe , voranzubringen. Die Zurückstellung eigener Bedürfnisse sei eine Prüfung, deren Bestehen mit Anerkennung durch das familiäre Umfeld, die Dorfgemeinschaft oder städtische Nachbarschaft, die gesamte Gesellschaft und, vor allem, durch den Duce honoriert werde. Der inszenatorischen Umsetzung dieser groß-spurigen propagandistischen Versprechungen dienten Feste, Abzeichen, Preise oder Stipen-dien, die Distinktionen zu den weniger verdienten Mitgliedern zeigten und so Konkurrenz-druck und Ehrgeiz anstachelten, ebenso die Uniformen, die eine angebliche Gemeinschaft der Kämpfenden sichtbar machten.

Das größte Massenspektakel einer solchen Belobigung und Beförderung stellte die Leva Fa- scista dar. Im Rahmen eines paramilitärischen und mit Reminiszenzen an faschistische Kulte gespickten nationalen Großereignisses wurden seit 1927 Kinder und Jugendliche in die nächst-höhere Ebene der Jugendorganisation befördert. Die Leva Fascista war eine rituell aufgeladene Staatsfeier, die nicht nur in Italien stattfand, sondern von den italienischen Gemeinden im Ausland adaptiert wurde (vgl. Kap. 3.3). Die Angehörigen der Jugendorganisation marschier-ten hinter ihrer Standarte auf, sangen die Nationalhymne und die faschistische Hymne Gio- vinezza . Vor dem Parteisekretär oder einem ranghohen lokalen Repräsentanten leisteten sie einen Treueschwur gegenüber dem Duce und der ‚Faschistischen Revolution‘; in einer Tausch-zeremonie überreichten sie Teile ihrer Uniform den Angehörigen der anderen Altersstufen – ein Zeremoniell, das, wie Roberta Suzzi Valli erläutert, im Laufe der Jahre komplexer wurde, Parallelen zu anderen faschistischen Staatsfeiern aufwies und Entlehnungen aus den Sakra-menten der Taufe und Firmung inkorporierte.583

Dass Staatsfeiern wie der Leva Fascista eine kompensatorische Funktion zukam, dass sie zur Camouflage gesellschaftspolitischer Disparitäten den Revolutionsmythos heraufbeschwören, mobilisieren und harmonisieren sollten, wird an einer Rede Mussolinis in der Camera dei Deputati im März 1928 sehr deutlich. Unmittelbar anknüpfend an seine Ausführungen zur Arbeitslosigkeit wertete Mussolini die Leva Fascista als einen Gradmesser für die Disziplin und die Konversion der Bevölkerung zum Faschismus, sei sie doch mit dem größtmöglichen Enthusiasmus begangen worden.584

Die Leva Fascista war also eine Inszenierung, eine Symbolpolitik mit starkem emotiven An-spruch. Sie ist als performatives Ereignis zu sehen, das gesellschaftspolitische Bedeutung be-hauptete, aber jenseits des Zwecks der Aufführung keinen wirklichen Inhalt hatte. Suzzi Valli betont, die Funktion der Leva Fascista habe in der Verstärkung totalitärer Pädagogik bestan-den; sie sei ein wirkungsvolles Medium dieser Pädagogik gewesen und im Kontext des Faschis-musverständnisses als eine politische Religion mit quasi-religiösen Ritualen zu werten.585 In der Zeremonie schien die militarisierte, mobilisierte Nation als Gemeinschaft transzendental mit Vergangenheit und Zukunft verbunden und sich in einer Revolution zu befinden, die Ita-lien zu einer glorreichen Wiedergeburt verhelfe, zu einer Reinkarnation des römischen Impe-riums in der Moderne. Sie war keine schlecht verschleierte Inszenierung eines selbstreferen-ziellen Rituals, sondern eine unverhohlene, bei der sich letztlich die Frage stellt, wer eigentlich in der Konstellation als Zuschauer und wer als Darsteller agierte. Jenseits der Formelhaftigkeit handelte es sich um eine recht ereignislose Feier, die zur Entwicklung ihres pseudo-religiösen oder mystischen Charakters eine rigide Vorbereitung und straffe Organisation voraussetzte. Damit war sie nur der Schein einer transzendentalen Zeremonie –durchschaubar, aber den-noch für Teilnehmer und ein internationales Publikum eindrucksvoll. Thomas Meyer benennt die fehlende diskursive Unterfütterung des Scheins als Grund seiner Attraktivität:

Im italienischen Faschismus kommt zu dieser Funktionalisierung des Scheins und zu seiner redundanten Inszenierung noch eine aufgesetzte diskursive Ebene hinzu, die allerdings nicht notwendig rezipiert werden musste. Sie nahm dort ideologisch und vorgeblich intellektuell den Faden auf, wo die reine Aufführung in Form von Medien, Festakten, Zeremonien oder Ritua-len nicht ausreichte. So stellte die zunehmende Herausbildung einer faschistischen Schule des Mystizismus einen Versuch dar, das Performative und Rituelle durch eine intellektuelle Ebene zu legitimieren.

Ein Teilaspekt der inszenatorischen Politik, der besonders in die Jugendpolitik hineinragte, waren die Uniformen. Sie waren das sichtbarste Symbol des autoritären Projektes, die Gesell-schaft zu transformieren und die Nation von einem Stigma zu befreien; sie bildeten ein „core element of the Fascist project to remake Italians in a new mould“587. Ein propagandistisch om-nipräsentes Vorhaben, das mit der faschistischen Wahrnehmung korrelierte, Italien sei eine im internationalen Vergleich minderwertige Nation oder werde von führenden Nationen als eine solche betrachtet – eine Schmach, die nicht zuletzt durch unwürdiges Verhalten vieler Bürger verursacht worden sei. Wie erläutert, waren von dieser Einschätzung der faschistischen Partei in besonderem Maße die italienischen Auswanderer betroffen, die die Partei daher mit besonderer Vehemenz umzuerziehen suchte. Die Befürchtung, Emigranten aus den unteren Schichten beschädigten durch ihr Verhalten, ihren Lebensstil und ihren Bildungsstand das Ansehen Italiens in der Welt, war dabei keineswegs neu, sondern bereits im 19. Jahrhundert ein erbittert umkämpftes politisches Thema gewesen (vgl. Kap. 2.2 und 4.3). Perry Willson und Silvana Patriarca erklären, die Bekämpfung eines Stigmas sei im ventennio zu einem Massen-projekt erhoben worden, an dem die gesamte Bevölkerung teilnehmen konnte und sollte und in dem den Uniformen eine Schlüsselrolle zukam.588 Bis zur Mitte der 1930er Jahre wurden die Uniformen und Abzeichen der ONB stetig weiter ausgestaltet; selten erwarben Familien sie als fertige Kleidungsstücke, in der Regel schneiderten sie sie nach Schnittmustern und Vor-gaben selbst oder gaben sie in Auftrag – eine zeitraubende und kostspielige Angelegenheit. Die Fasci Femminili gaben daher in den dreißiger Jahren Uniformen bei Befana-Fascista -Feiern an bedürftige Familien aus. Insgesamt war die Zahl uniformierter Parteimitglieder im Norden stets höher als im Süden. Aber auch in Städten des Nordens besaß nicht jeder eine Uniform, in Mailand nur jedes dritte Mitglied der Jugendorganisationen.589 Die Parteipropaganda er-zeugte freilich ein anderes Bild und schrieb dem Idealtyp der Uniform die Fähigkeit zu, den Träger sozial aufzuwerten. Die Balilla trugen kurze Hosen, schwarze Hemden und ein Fez, die jüngeren Mädchen weiße Blusen und schwarze Röcke. Unterschiede in Rang und Alter mar-kierten Insignia. Mit zunehmendem Alter wurde die Ausstaffierung der Jungen komplexer, nach militärischem Vorbild kamen Sport- und Ausgehuniformen hinzu. Der Avanguardista war mit einer hellen anzugähnlichen Uniform mit Fez und mit Langgewehr ausgestattet; der Giovane Fascista trug eine Kniebundhose – eine Reminiszenz an die Miliz. Die Uniformen der älteren Mädchen waren dunkler und strenger als die der jüngeren und wenig feminin. Eine karnevalesk anmutende militaristische Tracht trugen die Kleinsten, die Figli della Lupa , die mit einem schwarzen Hemd, kurzen Hosen, einem kleinen Fez und einem auf den kleinen Körpern riesig wirkenden weißen über der Brust gekreuzten Gürtel mit stilisiertem M aufmar-schieren sollten. Das aus der römischen Bilderwelt abgeleitete Zeichen der Wölfin und weitere Insignia rundeten die Tracht ab. Mit dem M in der Körpermitte schien der Besitzanspruch des Diktators auf das Kind gestempelt. Anders als der seit dem 19. Jahrhundert anhaltende inter-nationale Trend der Matrosenkleidung für Kinder ließ diese Uniform wenig Bewegungsfrei-heit und überdeckte jede Kindlichkeit. Emotionalisierung: Vergemeinschaftung von Gefühlen

Als höchsten Lohn des Gehorsams wiesen faschistische Kinderbücher den Stolz aus, den ihre Familien und die ganze Nation empfänden, wenn sie die Jugend in ihren Uniformen marschie-ren sähen. In einer anbiedernden, schwülstigen Ansprache Perronis an seine jungen Leser ist dieses Motiv zentral:

Kinder waren in diesen Diskursen kollektive Missionsträger, auf deren Leben ein politischer Anspruch erhoben wurde. Schon ihre Geburt wurde zu einem politischen Ereignis umgedeu-tet, ihr Heranwachsen in den Kontext der Hoffnungen der Nation gestellt und ihr künftiger Status als cittadino soldato zu einer Zwangsläufigkeit erklärt. Nicht nur ihre öffentliche Auf-gabe war damit festgelegt, sondern auch die ihrer Eltern, die zunächst einmal in der ‚Bereit-stellung‘ von Kindern lag, also in einer hohen Geburtenrate. Sie umfasste zugleich die Un-terstützung der vormilitärischen und faschistischen Erziehung, also einen Verzicht auf die familiäre Privatsphäre und eine Unterordnung der elterlichen unter die staatliche Erziehung. Das italienische faschistische Familienbild war insgesamt sehr widersprüchlich, denn es in-tegrierte traditionelle katholische Vorstellungen von Familie, Sittenstrenge und patriarchaler Autorität sowie eine vom Futurismus inspirierte Ablehnung des Familiären, Misogynie und die Glorifizierung des Männerbundes und der Virilität.591 Sah die katholische Kirche generell eine Einmischung des Staates in die Belange der Familie als unzulässig an, so ergaben sich doch Übereinstimmungen der Interessen:

Zu einem Feindbild in der faschistischen Propaganda entwickelte sich die bürgerliche oder großbürgerliche Familie, deren Lebensstil ein hohes Maß an Privatheit und Indi-vidualität kennzeichnete. Das Regime pries dagegen die ländliche traditionelle Familie mit ihren vermeintlich klaren Hierarchien und die städtische Kleinbürgerfamilie. Diese habe sich, wie Paul Ginsborg erläutert, tatsächlich gar nicht so deutlich zum bürger-lichen Pendant abgrenzen lassen, wurde aber zu einem Archetyp der Propaganda, da das Regime in der wachsenden Angestellten- und Beamtenschicht die größten Rekru-tierungserfolge habe verzeichnen können.593 Die faschistische Familienpolitik war zwar kontradiktorisch, aber sehr entschlossen in ihren Bemühungen, Familienstrukturen zu unterwandern, Privatheit zu stören und Familienmitglieder in getrennten Organisatio-nen neu zu vergemeinschaften.

Eine öffentliche und politische Aufgabe von Kindern und Jugendlichen, die sie mehr oder weniger selbstbestimmt und enthusiastisch erfüllten, bestand darin, in Briefen ihrer ‚Zunei-gung zum Duce ‘ Ausdruck zu verleihen. Diese Briefe wurden an das Sekretariat Mussolinis, die Segreteria Particolare del Duce , gesendet oder, wie andere ideologiekonforme Texte junger Autoren, in Zeitungen veröffentlicht. Wie noch erläutert wird, beschränkte sich der Kreis der Verfasser solcher Gefühlsbekundungen nicht auf Kinder in Italien, sondern schloss Kinder italienischer Emigranten in den faschisierten Auslandsgemeinden ein (vgl. Kap. 3.3). In einem befremdlich ergebenen Tonfall drückten Jungen und Mädchen dem Diktator Bewunderung und Dankbarkeit für faschistische Errungenschaften aus oder gratulierten zu Geburtstagen und faschistischen Feiertagen. Im großen Archivbestand zur Segreteria Particolare del Duce im Archivio Centrale dello Stato in Rom sind, Paola Bernasconi zufolge, zahlreiche Briefbündel ganzer Schulklassen erhalten. Das gemeinsame Schreiben und Veröffentlichen von patrioti-schen, mobilisierenden Kinderbriefen sei bereits im Ersten Weltkrieg etabliert worden, um den Soldaten und der Gesellschaft ein positives Stimmungsbild zu vermitteln. Im Faschismus sei diese Praxis erheblich ausgebaut worden.594 Laut Christopher Duggan umfasst der weitere archivarische Bestand der ‚Gefühlsbekundungen für den Duce ‘ ganze 122 Kisten mit Brie-fen, Zeichnungen, Telegrammen, Gedichten und Fotografien, von denen die meisten aus den späten 1930ern und den frühen Kriegsjahren stammten.595 Dass die Zuneigungsbekundun-gen vom Sekretariat Mussolinis gesammelt wurden, ist interessant, weil sich die Frage ergibt, weshalb ihnen in einer Diktatur, die massive Repression einsetzte, ein so hoher Stellenwert attestiert wurde. Sie fungierten letztlich als eine Art Gradmesser für die Stimmungslage der Bevölkerung und die Reichweite der Propaganda.

Die schiere Masse an Briefen beleuchtet, wie weit der Führerkult reichte, der mit großem In-szenierungsaufwand gepflegt wurde und in alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens der Bevölkerung vordrang. Zu seinem Repertoire gehörten auch vermeintlich kindgerechte Darstellungen: Während der älteren Jugend Mussolini als junger und viriler ‚Führer‘ gepriesen werden sollte, wurde er jüngeren Kindern propagandistisch als Vaterfigur präsentiert, stets etwas entrückt, um nicht zu alltäglich zu erscheinen. Bernasconi hat neben den Bezugnahmen auf konkrete politische Ereignisse oder Ziele in einigen Kinderbriefen Anspielungen auf Mär-chen entdeckt, die sie als repräsentativ erachtet. So hätten Fotografien Mussolinis als Reiter die älteren Kinder an Heldenepen denken lassen und die jüngeren, vor allem Mädchen, an Prin-zen.596 Neben diesen Märchenassoziationen stand das Genre auch ganz konkret im Fokus der Ideologen. Traditionelle und beliebte Geschichten wie Rotkäppchen und Pinocchio erfuhren in faschistischen Büchern eine Umdichtung: Sie wurden ideologisch angepasst und zur Popu-larisierung von imperialistischen Zielen genutzt.597 In die mit der Dichotomie gut versus böse operierende Kinderliteratur eingewoben, bahnte sich die Ideologie einen Weg in die Mentali-tät der Kinder und ging nahtlos in die Populärkultur über. Hier erweist sich die umfassende Aufhebung des Privaten, da sich die Bekundung von persönlicher Zuneigung – normalerweise dem eigenen Umfeld vorbehalten – durch die altersgerechte Vermittlung, die entstehenden Massenmedien und die Massenorganisationen auf die Kommunikation mit dem Diktator und dem Regime ausdehnen ließ.

Die gesellschaftliche Rolle, die der italienische Faschismus Mädchen zudachte, war noch ste-reotyper als die ihrer männlichen Altersgenossen. Die Propaganda diskreditierte die Frauen-arbeit und zeichnete ein Ideal der Mutterschaft, das mit der Lebenswirklichkeit von Familien aus allen sozialen Schichten und mit den Vorbildern der Mädchen oft nur wenig gemein hatte. Dem enggefassten Rollenbild stand die Mobilisierung in den Massenorganisationen gegen-über, also eine Vergemeinschaftung Gleichaltriger außerhalb der elterlichen Kontrolle. Die Mädchen- und Frauenorganisationen boten den Rahmen für Freizeitaktivitäten, die sich zwar deutlich am propagierten Ideal der faschistischen Frau orientierten, auf der anderen Seite aber auch internationale Trends der Populärkultur oder des Sports aufnahmen. Sie schufen einen Freiraum für Mädchen, den ein traditionelles Familienbild nicht vorsah – einen überwachten Freiraum, in dem eifrig indoktriniert wurde, der aber familiäre und kirchliche patriarcha-le Kontrolle reduzierte und ihnen Zugang zu organisierten und subventionierten Aktivitäten bot, an denen es sonst in vielen Regionen mangelte. Im ventennio wuchsen, wie Victoria de Grazia betont, mindestens zwei Generationen von Mädchen bzw. jungen Frauen auf: diejeni-gen, die den Krieg miterlebt hatten, und diejenigen, die keine andere politische Realität als die Diktatur kennengelernt hatten. Den starken Generationenkonflikt zu höheren Altersgruppen empfanden beide; sie wuchsen einerseits mit streng katholischen Familien- und Sittlichkeits-vorstellungen, andererseits mit wachsenden Bildungschancen und Angeboten einer interna-tionalen Populär- und Konsumkultur auf. 598 Viele strebten eine Berufstätigkeit an, auch da sie sich angesichts des kriegsbedingten Mangels an jungen Männern nicht auf eine Heirat verlas-sen konnten. Sie einten ähnliche Erfahrungen, doch Unterschiede zwischen Stadt und Land, zwischen einzelnen Regionen und vor allem zwischen sozialen Klassen blieben groß.599 Das Spannungsfeld aus Modernisierungstendenzen und Projektionen neuer Lebensstile für junge Frauen und traditionellen Verhaltenskodizes und Klassenkonflikten bildete den Hintergrund, vor dem das faschistische Regime eine weitgehende Vergemeinschaftung junger Frauen und Mädchen vorzunehmen versuchte. Gemeinschaftsaktivitäten bildeten einen Ausgleich zu dem eindimensionalen Bild ihrer Zukunft, das die politische Agenda vorgab und das in Schule und Jugendorganisationen vermittelt wurde. Sie transportierten aber auch das Ideal körperlicher Fitness und Gesundheit, das in einem eugenischen Zusammenhang stand mit der künftigen Aufgabe als Mütter und in inszenatorischer Hinsicht wichtig war. Mädchen stützten die Selbst-inszenierung des Regimes, indem sie an Paraden und Massensportevents teilnahmen und so das Bild einer jugendlichen, militärisch dynamischen und gesunden Nation vermittelten.

Schon seit den 1920er Jahren, als die Piccole Italiane und die Giovani Italiane den Fasci Fem- minili unterstanden hatten, waren die Aktivitäten für die Mädchen beider Altersklassen um die Erziehung zur Mutterschaft zentriert. Die Jüngeren sollten mit Puppen spielerisch an die richtige Säuglingsfürsorge herangeleitet werden und Erste Hilfe erlernen, die Älteren nahmen an hauswirtschaftlichen Kursen teil, erhielten Hygiene- und Hebammenschulungen. Daneben gingen sie Wohltätigkeitsarbeiten nach, wurden politisch unterrichtet und auf die Aufgaben der Fasci Femminili vorbereitet.600 Das Angebot der Organisationen war weniger restringiert und im Hinblick auf die tatsächliche Notwendigkeit der Frauenarbeit realitätsnäher, als das propagandistische Frauenbild suggerierte, denn es schloss fachliche, sprachliche und hand-werkliche Schulungen ein, die seine Popularität erhöhten.601 Der kirchlichen und elterlichen Akzeptanz der Vergemeinschaftung kam zugute, dass sich die Organisationen als einem prä-ventiven Ziel verpflichtet präsentierten: Die Gruppen sollten den Kontakt der Mädchen zu Jungen verhindern oder ihn nur in einem kontrollierten Rahmen stattfinden lassen. Eigen-tümlich explizit und prüde zugleich erklärt Caporillis Propagandaband, es seien alle Aktivi-täten verboten, die zur ‚Promiskuität der Eingeschriebenen‘ führen könnten.602

In den Quellen finden sich Hinweise auf transnationale Aufgaben der Mädchengruppen, die ihren politischen Wert illustrieren: So fertigten sie etwa Babykleidung für italienische Mütter an, die in ‚ terra straniera ‘ lebten, sich aber entschlossen, ihre Kinder in Italien zur Welt zu bringen.603 Damit erhielten diese Kinder allein die italienische Staatsbürgerschaft. Die Ange-hörigen der Jugendorganisationen wurden so zur Vermittlung eines nostalgisch aufgeladenen Bildes der Gemeinschaft aller Italiener eingespannt, zur Nationalisierung der Emigranten und zur Konstruktion eines Italianità -Mythos, der Familialismus und Faschismus in der öffentli-chen Wahrnehmung verknüpfen sollte. In nuce bedeutet dies, dass sie die Ausgewanderten für das Regime umwerben sollten, das eine hohe Geburtenzahl, eine restriktive Emigrationspoli-tik und eine gesteigerte Remigrationsquote anstrebte.

Die politische Mobilisierung junger Mädchen und Frauen in den Gruppen der ONB und GIL ist als paradox zu bewerten. Perry Willson sieht in diesen Gruppen den größten Moder-nisierungseffekt der faschistischen Mobilisierung insgesamt.604 Dies ist zu relativieren: Zwar stellten die durchchoreografierten Massenevents, bei denen die Gruppen junger Frauen und Mädchen bewusst zur Inszenierung von Modernität und Fortschrittlichkeit des faschisti-schen Italien eingesetzt wurden, sowie die organisierten Aktivitäten auf lokaler Ebene einen Bruch mit dem traditionell durch Familie und Kirche enggefassten sozialen Umfeld junger Frauen dar. Zugleich waren aber die propagierten Zukunftsvisionen für Mädchen ein Rück-schritt, der nur wenig mit dem wirklichen Leben der unterschiedlichen sozialen Klassen zu tun hatte. Weder die Realität vieler junger Frauen in städtischen wie in ländlichen Räumen, zum Familieneinkommen beitragen zu müssen oder zu wollen, noch die mit einer Berufstä-tigkeit verbundene Selbstverwirklichung und Selbstständigkeit, die viele junge Arbeiterinnen und aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammende Angestellte für sich entdeckten, wurden thematisiert. Berufsvorbereitende Kurse, Fortbildungen oder Schulungen, wie jene für Steno-typistinnen, wurden propagandistisch kontrafaktisch in den Kontext der Glorifizierung von Mutterschaft und Hausfrauenleben eingebettet. Frauenarbeit wurde als etwas präsentiert, das mit der Heirat aufzugeben, aber für die Haushaltsführung nützlich sei. Die sportlichen Akti-vitäten standen für beide Altersklassen unter dem Leitgedanken, Anmut und Grazie zu för-dern, Reinheit und gentilezza zu erhalten. Sie waren weit weniger militärisch inspiriert als die Aktivitäten der gleichaltrigen Jungen. In den späten dreißiger Jahren wirkte sich die gezielte Militarisierung der Gesellschaft allerdings auf die Educazione fisica der Mädchen aus. Die GIL schulte Sportlehrerinnen und Gruppenleiterinnen nun in ihren Akademien. Aktivitäten wie das Bogenschießen und ein höheres Maß an Drill nahmen Einzug in die Kurse. Die faschistischen Ferienlager und ihre propagandistische Überhöhung

In den Erinnerungen vieler Mitglieder der italienischen faschistischen Jugendorganisationen im Inland und in Auswanderergemeinden haben sich die Ferienlager als Topos gefestigt. Sie galten während des ventennio im nationalen wie im internationalen Kontext als Aushänge-schild faschistischer Sozialpolitik. Die fotografische Dokumentation dieser Maßnahmen war als Propagandainstrument so beliebt wie kaum ein anderes. Daher verwundert es nicht, dass sich faschistische Bewegungen anderer Länder gleicher Inszenierungsmechanismen bedien-ten, die italienischen Aktivitäten in diesem Bereich lobten oder Kooperationen anstrebten. Be-hauptete Wohltätigkeit ließ sich propagandistisch besonders gut an strahlenden Kinderaugen nachweisen. Die Bedürftigkeit der eingeladenen Kinder durfte allerdings nicht allzu drama-tisch erscheinen, um keine Rückschlüsse auf sozialpolitische Versäumnisse der faschistischen Regierung zu bieten.

Ranghohe Faschisten besuchten vielfach Ferienlager für benachteiligte Kinder sowie Veran-staltungen mit Geschenke- und Spendenausgaben und ließen dies fotografisch dokumentieren und veröffentlichen. Neben der offenkundigen Propaganda trug die Begeisterung vieler jun-ger Teilnehmer zur breiten Popularität dieser Maßnahmen und, in einem zweiten Schritt, zu einer stärkeren Akzeptanz des Faschismus in der Bevölkerung bei. Für viele Kinder boten die

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Ferienlager die einzige Möglichkeit eines Urlaubs, eines Spieltreffs und eines Aufenthaltsortes während der Schulferien. Sie standen für Freiheit von elterlicher Aufsicht, für Abenteuer, Ge-meinschaftserlebnisse, Erholung und in vielen Fällen für bessere Ernährung und medizinische Versorgung als in ihrem Alltag. Die Organisation der Ferienlager erfolgte im Zusammenspiel der Jugendorganisationen mit anderen faschistischen Massenorganisationen, wie den Frau-enverbänden, den Dopolavoro -Gruppen und dem ONMI, dem Werk zum Schutz der Mütter und Kinder. Die Finanzierung erfolgte daher auch mit Beiträgen und Spenden aus diesen Be-reichen.

Nach der Restrukturierung zur GIL und dem Ausbau der faschistischen Lehrerseminare kam älteren Jugendlichen und den Absolventen dieser Akademien die Aufgabe der Betreu-ung in den Lagern zu. Quellen betonen, dass die Ferienlager vorrangig der Fürsorge und der Gesundung der Kinder dienen sollten, weniger deren Freizeitgestaltung. Häufig rekurrieren Berichte auf die Bekämpfung von bedrohlichen Krankheiten wie der Tuberkulose oder der Malaria, aber auch auf die Behebung von Unterernährung und von Atemwegserkrankungen. Neben der Politisierung und Indoktrinierung von Kindern lag der vorrangige Zweck darin, die dramatischen Probleme auszugleichen, die das unzureichende Gesundheitssystem, die in sanitärer und hygienischer Hinsicht mangelnde Infrastruktur und die in vielen Regionen schlechte Wirtschaftslage mit bedingten.

Ferienerholungsreisen für Kinder aus armen Familien waren bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert eine feste Institution. Staatliche Stellen, Hilfsorganisationen, Jugendorganisa-tionen, die Kirche und die politischen Parteien hatten sie eingerichtet, um die Negativeffekte der Industrialisierung, aber auch Krankheiten, die schlechte Versorgung großer Teile der Be-völkerung mit Lebensmitteln und die fehlende Betreuung zu kompensieren. Die faschistische Propaganda negierte jede Orientierung an historischen Vorbildern der Armenfürsorge in Ita-lien, ebenso alle Übereinstimmungen mit internationalen Beispielen. Stattdessen stilisierte sie das Engagement der faschistischen Regierung zu einer Innovation. War es eigentlich Aufgabe des Staates und damit de facto in der Einparteiendiktatur jene des PNF, sich der Behebung dieser katastrophalen Zustände zu widmen, so präsentierten faschistische Publikationen die getroffenen Maßnahmen zur Bekämpfung der Krankheiten und ihrer auslösenden Faktoren sämtlich als außergewöhnliche Errungenschaften und die Fürsorge- und Präventionseinrich-tungen als Zeichen der Wohltätigkeit des Duce und des Faschismus. Staatliche Sozialpolitik wurde hier propagandistisch verkehrt in eine karitative Unterstützung, die aus reiner Milde und Altruismus erfolge.605 Damit trat (freilich begünstigt durch Zensur) diskursiv die Frage nach den Ursachen der schlechten Versorgung in den Hintergrund, ebenso wie die nach der Verantwortlichkeit und den langfristigen Lösungen, während im Vordergrund eine Gleich-setzung von Faschismus und Fürsorge erfolgte.

Bei genauerer Betrachtung der Zahlen wird klar, dass sich der enorme Verwaltungs- und Kostenaufwand, den die Ferienlager bedeuteten, deshalb bewältigen ließ, weil es sich oft um eine Tagesbetreuung für Kinder auf lokaler Ebene handelte. In anderen Ferienlagern wechsel-ten die Gruppen turnusmäßig. Nach offiziellen Angaben für das Jahr 1938 fanden 4375 Ferien-lager statt, 447 von ihnen am Meer, 927 in den Bergen, 2025 zumeist als Tageseinrichtung, 392 an einem Fluss oder See und 17 an Thermalkurorten. Insgesamt hätten 772 000 Kinder teilgenommen.606 Diese hohen Teilnehmerzahlen lassen erahnen, weshalb die Generation der Kinder des ventennio häufig den Faschismus positiv bewertete und verharmloste, eine Einstel-lung, die, wenn überhaupt, erst im Krieg ins Wanken geriet und die vielfach (offen oder unter vorgehaltener Hand) in der Nachkriegszeit weiter tradiert wurde. Sie lassen Rückschlüsse zu auf den Indoktrinationsgrad einer ganzen Generation, die kein politisches System vor dem Fa-schismus kennengelernt hatte und mit der omnipräsenten Propaganda aufwuchs – einer Ge-neration, die mit diesem System eigene positive Erlebnisse verband, unter denen sicherlich die Ferienlager ganz oben rangierten. Auch unter denen, die nicht teilgenommen hatten, prägte sich so das Bild der Ferienlager als etwas Begehrenswertes ein, um das man andere beneidete. Einen noch langfristigeren Effekt hatte ihre fotografische Dokumentation. Die so verewigten Teilnehmer erschienen freiwillig oder unfreiwillig vor dem symbolträchtigen Bildhintergrund des Meeres oder der Berge, Sinnbildern Italiens, als lebendiger Beweis eines erfolgreichen ka-ritativen Engagements des Regimes – ein Eindruck, der nicht nur in Italien vermittelt werden sollte, sondern gezielt als Auslandspropaganda und in den Little Italies .

3.3 Im Namen der Italianità : die Jugendpolitik der Fasci all’Estero in Großbritannien

In den italienischen Gemeinden im Ausland erfolgten die Beeinflussung der jungen Ge-nerationen und der Aufbau faschistischer Jugendorganisationen in vielerlei Hinsicht un-terschwelliger als in Italien. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Agitation seitens der faschistischen Akteure weniger vehement betrieben worden wäre. Sie wies nur andere kom-munikative Strategien und inszenatorische Muster auf. Geselligkeit, Kinderliebe, Hoffnung, Tradition und Familiensinn, Fürsorge, Nostalgie und Heimat waren hier entscheidende Schlagworte, während auf performativer Ebene Inszenierungen von Gemeinschaft, Ritu-alisierungen und Symbolismen das Bild prägten. Die Jugendpolitik der Fasci all’Estero in Großbritannien dominierte der Topos, an einer Weggabelung zu stehen, die entweder in den Identitätsverlust oder in eine neue Italianità und in einen neuen Gemeinschaftssinn führe. Die Fasci suggerierten, es gehe um nicht weniger als die Zukunft und das Lebens-glück der Kinder. Sie prägten eine emotionalisierte Kommunikation, die vorgab, durch Ver-gesellschaftung dem Individuum zu seinem Recht zu verhelfen, seinen Status und den seiner Nachkommen aufzuwerten und seine seelischen Bedürfnisse zu erfüllen. Zugleich präsen-tierten sie das faschistische Italien als die wirkliche Heimat der Emigranten; als jene, die die-se sich doch eigentlich erhofft hatten, als sie auswanderten. In den italienischen Gemeinden setzten sie gezielt auf die Förderung einer reglementierten Geselligkeit, die so zum Medium der Indoktrination wurde. Kinder und Jugendliche müssten darin unterstützt werden, ihre italienische Identität zu finden. Sie seien es, auf die der Duce , die Nation und die Italiener ihre Hoffnungen setzten. Es bedürfe nur ihrer Reintegration in die faschistische Nation. Zudem sei es die Aufgabe des faschistischen Staates, für ihr Wohl, ihr Glück und ihre Er-ziehung zu sorgen.

Die Fasci unterwanderten Institutionen mit Tradition und guter Reputation, brachten neue Rituale, Symbole und Deutungsmuster ein und nahmen die seit langem vor Ort gepflegte Ge-selligkeit in Geiselhaft. Der oft als wohltätig präsentierten Inklusion in die faschistisch do-minierten Strukturen standen die mit Moralitäts- und Identitätsvorstellungen operierenden Maßnahmen der Exklusion gegenüber. Die Teilhabe an der Gemeinschaft als exterritorialer Teil der italienischen Gesellschaft hing zunehmend von politischer Loyalität ab. Die Agitato-ren appellierten an den Familialismus, Patriotismus und Nationalismus der Ausgewanderten und erhielten oft Zuspruch. Inmitten der britischen Gesellschaft, aber von ihr relativ unbeach-tet, entwarfen sie Abgrenzungen zu dieser Mehrheitsgesellschaft, stellten die Integration als Leistung des Einzelnen in Frage und brachten sie in Misskredit. Sie machten sich dabei Aus-grenzungserfahrungen ihrer Adressaten, deren unerfüllte Erwartungen und Ablehnung und Gleichgültigkeit in Teilen der Mehrheitsgesellschaft zunutze. Die Faschisierung der Kinderfeste: vom Albero di Natale zur Befana Fascista

Die Fasci all’Estero setzten in ihren Bemühungen, die Angehörigen der italienischen Ge-meinden im Ausland an sich zu binden und zu indoktrinieren, häufig auf eine Politisierung von Kultur- und Wohltätigkeitsveranstaltungen, die den Gemeinden unmittelbar zu Gute

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kommen sollten. Die Vertreter der Fasci wandelten bei der Wahl der Anlässe bewusst auf ausgetretenen Pfaden, okkupierten karitative Einrichtungen, deren Renommee und Wohl-tätigkeit nicht in Frage zu stellen war. Wie sich ein solcher Prozess der zunächst schleichen-den, dann aber forcierten und nachhaltigen Infiltration und Indoktrination vollzog, lässt sich exemplarisch an einem Thema, das von der Forschungsliteratur zu den Fasci all’Estero ver-nachlässigt worden ist, nachvollziehen: der Geschichte der Gemeindefeiern, insbesondere der Weihnachtsfeiern.

In den italienischen Vierteln Großbritanniens wurden traditionell zum Jahresanfang Weih-nachtsfeste für die Schüler der italienischen Abendschule und für die ärmeren Kinder ver-anstaltet, in deren Verlauf Weihnachtsgeschenke verteilt wurden. Finanziert wurde diese Einrichtung über Spendensammlungen, an denen sich die Fasci schon frühzeitig beteiligten. Sie boten sich als Organisatoren an und übernahmen de facto eine ursprünglich unpolitische Veranstaltung, die nun zunächst mit nationalistischen, dann offen mit faschistischen Motiven und Symbolen ausgestaltet wurde.

Das als Albero di Natale etablierte Fest wurde zum Fest der Befana Fascista : Christliche Tra-ditionen und britische Einflüsse auf die Feierlichkeiten wurden sukzessive zurückgedrängt; stattdessen setzte sich ein Kult der faschistischen Fantasiegestalt durch, die, so die begleitende Propaganda, durch den Duce beauftragt worden sei, den Kindern des ‚neuen Italien‘ Gutes zu tun. Die traditionelle Figur der Befana , abgeleitet von Epiphania , als eine alte Frau, die guten Kindern zum Dreikönigstag Geschenke und den bösen Kindern Kohle bringt, ersetzte der ita-lienische Faschismus durch die ideologisch aufgeladene Mär einer jungen faschistischen Frau, die den braven Kindern Geschenke macht.

In der italienischen Gemeinde Londons fand die Feierlichkeit in den frühen 1920er Jahren auf Initiative der italienischen Schule von St. Peter bzw. San Pietro in großen Sälen wie der Memorial Hall in der Farringdon Road statt. Mehr als dreihundert Kinder nahmen daran teil. Wie groß die Bedeutung dieses Kinderfestes war, zeigt sich daran, dass nicht nur Vertreter aller wichtigen Gemeindeinstitutionen anwesend waren und kurze Reden hielten, sondern da-rüber hinaus der italienische Botschafter und der Generalkonsul.

Schon den 1922 veröffentlichten Bericht der Zeitung La Cronaca prägten nationalistische Formulierungen, die diese Bescherung als Ausdruck der Güte, Stärke und Großzügigkeit des italienischen Volkes präsentierten, und nostalgische Motive, wie das der unfreiwilligen Ferne zur Heimat, einwoben. Die Wohltätigkeit, die durch die Spenden geleistet wurde, verklärte der Artikel in einer für die Zeitung paradigmatischen Weise zu einem Dienst am Vaterland und zu einer heiligen Aufgabe der Exilanten. Damit konstruierte der Autor ein Bild des Konsenses, das deutlich von der Realität abwich, und stellte die Spendentätigkeit als Zustimmung zu den von La Cronaca inzwischen verbreiteten faschistischen Diskursen des Zusammenhaltes dar. Nicht zufällig erfolgte die Argumentation in der ersten Person Plural, ohne nähere Definition,

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wer dieses ‚Wir‘ sei. Dagegen fanden Schule und Kirche, die das Fest getragen hatten, kaum Erwähnung.607

Das in Londons Little Italy so populäre Fest war noch bis in die zwanziger Jahre hinein von der Lebenswirklichkeit der Kinder geprägt, in kultureller Hinsicht in zwei Gesellschaften gleichzeitig zu leben, und es vereinte ganz selbstverständlich Bräuche aus der italienischen und aus der britischen Kultur. Dies sollte sich aber mit zunehmender Aktivität der italienischen faschistischen Partei vor Ort ändern. Beim Albero di Natale am 7. Januar 1928, dem Samstag nach dem Dreikönigstag, brachte noch Father Christmas die Geschenke, während die faschis-tischen Jugendorganisationen schon fest in den Ablauf eingebunden waren. Die Weihnachts-feiern dieser Jahre waren also bereits von konkurrierenden Einflüssen bestimmt. Sie waren ein sowohl italienisch als auch britisch inspiriertes christliches Fest und zugleich eine politische Veranstaltung, die den Grad der Faschisierung des Gemeindelebens abbildete.608

Neben dem Weihnachtsfest der Schule richtete der Club Cooperativo eine Feier für alle Kin-der der italienischen Gemeinde aus, also auch für diejenigen, die nicht in die italienischen Schulen integriert waren. Zugangsvoraussetzung war der Erwerb einer Eintrittskarte, also eine Form der Registrierung. L’Eco d’Italia meldete vorab, es seien mehr als 800 Karten ausgegeben worden. Der Artikel betonte, die Italienische Botschaft und der Fascio führten die Riege der großzügigen Spender an; es folgte eine detaillierte Spendenliste, auf der neben den Institutio-nen auch die lokalen Dependancen italienischer Unternehmen und Banken, die großen Ho-tels und Restaurants mit italienischer Geschäftsleitung oder italienischem Personal zu finden sind.609

Dieses Muster war nicht auf die italienischen Gemeinden in Großbritannien beschränkt. In Berlin etwa brachte sich der lokale Fascio in zunächst ähnlich subtiler Weise in gesellschaft-liche Ereignisse der dort lebenden italienischen Einwanderer ein. Er übernahm die Direktiven für die Weihnachtsfeier, veranlasste Privatpersonen und lokale karitative italienische Einrich-tungen, ihm bedürftige und kinderreiche Familien zu melden, dazu auch jene, deren Kinder schlicht ein Geschenk verdient hätten, und erstellte Listen für die Bescherung. Am 23. Dezem-ber 1923 erhielten beim Albero di Natale in einem festlich dekorierten Saal der Brauerei in der Schönhauser Allee beinahe 200 Kinder ein Geschenk. Gagliardetto , die Zeitung der Fasci in Deutschland, pries dies als Resultat der gelungenen Zusammenarbeit von Fascio , Konsulat, Vertretern der Opera Bonomelli , der Dante -Schule und der örtlichen Società di Mutuo Soccor- so . Die Geschenkpakete enthielten Süßigkeiten, Früchte und Grundnahrungsmittel wie Pasta, Reis, Salz, Zucker, Konserven mit Fleisch, aber auch Wein und Heftchen mit patriotischen Hymnen und eine kleine Italienflagge.610 Es waren also letztlich Pakete für die ganze Fami-lie, die eine politische Botschaft übermittelten, während die Feier Assoziationslinien knüpfte zwischen Familialismus, Geselligkeit, Fürsorge, Patriotismus, Nationalismus und Faschismus.

Die Einflussnahme auf solche Veranstaltungen, die die Fasci in Kooperation mit der Bot-schaft und den Konsulaten ausübten, erzeugte für politische Gegner und unpolitische Ge-meindemitglieder ein erhebliches Dilemma und sozialen Druck: Die Spendentätigkeit er-schien nicht zuletzt durch die in der parteinahen Zeitung veröffentlichten und sich auf die faschistischen Institutionen beziehenden Artikel mit Namenslisten der Geldgeber als Zu-stimmung. Vielen Spendern wird dies bewusst gewesen sein und sie dürften Chancen ge-sehen haben, das eigene Ansehen aufzuwerten. Geldgeber jedoch, die aus unpolitischen, altruistischen Motiven spendeten, wurden politisch vereinnahmt. Eine Verweigerung aus politischen Gründen wirkte wie mangelnde Anteilnahme an der Bedürftigkeit der Kleinsten und Ärmsten; sie barg also die Gefahr, soziale Isolation in der Gemeinde zu bewirken. Das Engagement der Fasci all’Estero in entsprechenden Kontexten ist daher über das jeweilige Er-eignis hinaus als Teil der schleichenden Unterwanderung, der Erzeugung politischer Konflik-te und der Spaltung der Auswanderergemeinschaften zu sehen. Diese Spaltung beförderten die Fasci , indem sie sich zum Hüter der Gemeinden erklärten und damit jede Opposition gegen die faschistische Partei zu einer Opposition gegenüber der Gemeinde umdeuteten, zu Integrationsverweigerung und Egoismus der Betroffenen. Integration wurde hier zu einem Kampfbegriff: Sei die Integration in die Gesellschaft des host country ein notwendiges Übel, so bedeute wirkliche Integration eine Reintegration in die italienische Gemeinde und damit in die italienische Nation.

In London kam es in den 1920er Jahren bei den Feierlichkeiten noch nicht zu einer mit den 1930er Jahren vergleichbaren offenen Propagandatätigkeit und einer unverhohlenen Lobprei-sung des Faschismus, wie sie dann unter der Führung Dino Grandis und Carlo Camagnas praktiziert wurde. Aber gerade die vermeintliche politische Zurückhaltung der Vertreter des Fascio öffnete in den zwanziger Jahren die Türen für eine nachhaltige Einflussnahme, und schon 1928 war die sogenannte ‚Hymne auf den Duce ‘ fester Bestandteil der Zeremonie.611 Zu dieser Zeit wurden die Feste immer noch von britischen Geldgebern und Vertretern karitativer Organisationen unterstützt.612

Hatten die italienischen Kinder in Großbritannien in den zwanziger Jahren in Father Christ- mas den Stifter der Geschenke sehen sollen, so kündigte L’Italia Nostra 1932 die Umgestaltung nach Vorbild des in Italien zelebrierten faschisierten Festes an. Dort habe die neue ‚verjüngte‘ und faschistische Befana schon tausende Kinder beschenkt; sie sei liebevoller und nehme kei-ne Bestrafungen mehr vor. Die wesentliche Veränderung bestand allerdings darin, dass nicht länger soziale Gerechtigkeit das Leitmotiv sein sollte, sondern familiäre Parteinähe und Re-gimetreue belohnt werden sollten – eine Entwicklung, die in Italien schon eingesetzt hatte, wie L’Italia Nostra mit Blick auf die Heimat anmerkte:

In London fanden zum Jahreswechsel 1932/33 die Feierlichkeiten, ein Pranzo Natalizio und das Fest der Befana Fascista , erstmals in Anwesenheit des neuen Botschafters Dino Grandi statt. Die Inszenierung und die mediale Verwertung des Ereignisses unterscheiden sich signifi-kant von denen der Vorjahre. Auf einer Fotografie, die den Pranzo Natalizio , das Weihnachts-essen, zeigt, sind Grandi und seine Ehefrau in festlicher Kleidung inmitten der Kinderschar zu sehen. Antonietta Grandi, die Abendgarderobe, einen Pelzmantel und eine Perlenkette trägt, hält die Hand eines lächelnden Mädchens, während ihr Ehemann einem kleinen Jungen die Hand schüttelt.614 Die Fotografie vermittelt einerseits eine Atmosphäre der sozialen Distanz, die Besuche von Würdenträgern und Diplomaten prägt, andererseits aber Emotionalität und Nähe. Neben der bildlichen Inszenierung von Kinderliebe und Paternalismus offenbaren die Quellen einen aufdringlich sentimentalen Ton, der die Kommunikation des Botschafters mit den Anwesenden und der Leserschaft bestimmte. Insgesamt zeigt sich eine Infantilisierung der Kommunikation zwischen dem diplomatischen Vertreter und den Staatsbürgern, die letztere beinahe als unmündig erscheinen lässt. Die Befana -Feier, an der laut L’Italia Nostra 600 Kinder teilnahmen, unterstützte dieses manipulative Vorgehen. Dort erklärte Grandi in gefühlsbetonter, faktisch übergriffiger Weise,

Unterschwellige Leitmotive dieser Berichte sind die Nähe der Gemeinde zu Staat und Partei und vice versa  – wie auch die behauptete gegenseitige Wertschätzung. Nationalistische Re-den, die auf der Feier gehalten wurden, und die retrospektive mediale Inszenierung stellten einen deutlichen Bezug zum italienischen Faschismus als zu verinnerlichende Leitkultur dar. Die Bescherung stand zudem unter dem Motto einer festeren Einbindung der Kinder in die faschistischen Staatsjugendorganisationen. So erhielten etwa die jüngeren Mädchen als Ge-schenk anstelle der zuvor üblichen Spielzeuge und Süßigkeiten ein Béret für die Uniform der Piccole Italiane .616

Die Feiern entwickelten sich in den 1930er Jahren zu einem wichtigen Raum der Selbstin-szenierung ortsansässiger Vertreter des PNF und der italienischen Diplomatie und damit des Regimes. Sie erleichterten das Eindringen der Partei in den Alltag und in den privaten Raum des Familienlebens. Dabei erzeugten sie soziale Zwänge, denn eine elterliche Verweigerung der Teilnahme ließ Kinder als Außenseiter erscheinen. Nur die alljährlichen Reisen von Kindern der italienischen Gemeinden in die großen faschistischen Ferienlager in Italien und in eigene Camps an der englischen Küste wurden als jugendbezogene Agitation noch stärker medial in-szeniert als die Weihnachtsfeiern.

Das erprobte Muster setzte sich nun jährlich fort. 1934 veröffentlichte L’Italia Nostra eine Fotografie Dino Grandis bei der Befana-Fascista -Feier. Sie zeigt ihn mit einem kleinen Jungen auf dem Arm, dessen Wange Grandi streichelt. Der Junge trägt die Uniform der Balilla . Betitelt ist es als: „Un Balilla Fortunato!“ („Ein glücklicher Balilla !“). Ein Sprichwort, das jemanden als Glückspilz beschreibt, dient dem Autor zum Wortspiel: der Balilla sei „nato con la … camicia (nera naturalmente)“617, also „mit dem Hemd geboren, (mit dem schwarzen natürlich)“.

Die emotive Wirkung verstärkte der Kommentar, der kleine Junge habe dieses Bild eini-ge Tage nach der Feier als Geschenk erhalten, in einem schönen Rahmen mit persönlicher Widmung Dino Grandis, der an den besonderen Moment habe erinnern wollen.618 Es scheint, dass hier die Intention der Vermarktung solcher vermeintlich spontanen Momentaufnahmen und die der Instrumentalisierung der Kinder als Propagandaakteure verschleiert werden soll-te. Stattdessen sollte Grandi als ‚Vater‘, den Volksnähe und Charisma auszeichnen, präsen-tiert werden: Die Kommunikationssituation ist asymmetrisch, einerseits durch die ungleiche Machtverteilung zwischen dem Botschafter und den ‚einfachen Leuten‘, den Staatsbürgern, andererseits durch die einseitig kontrollierte Inszenierung. Die hier analysierten Gemein-defeiern führten allerdings nicht nur naive, manipulierte oder durch ihre Bedürftigkeit zur Teilnahme gezwungene Menschen zusammen, sondern ebenso solche, die sich begeistert ein-brachten, die mit dem Faschismus sympathisierten, die sich eine kollektive oder individuelle Aufwertung oder ökonomische Vorteile von ihm versprachen oder aus opportunistischen Mo-tiven die Politisierung in Kauf nahmen.

Grandi stilisierte sich bereits bei seinem Amtsantritt im August 1932 zum Vater der comu- nità und hatte Mussolini dies auch in einem Brief angekündigt.619 Allerdings war Grandi kei-neswegs der Erste, der über die Fasci all’Estero den Posten einer väterlichen Autoritätsfigur für sich reklamierte. Ähnliche Ansprüche waren zuvor aus der zentralen Organisation der Aus-lands- Fasci , der Direzione Generale degli Italiani all’Estero , erhoben worden. 1931 war es deren Leiter Piero Parini gewesen, der sich anbiedernd in einem öffentlichen Brief an alle Auslands-italiener zum „buon Papà“ der Kinder der Emigranten erklärt hatte.620 Der Weg, sich über die Ansprache der Kinder und Eltern Einfluss zu sichern, schien so lukrativ, dass der Posten des ‚guten Papas‘ hart umkämpft war. Vielleicht trug gerade Carlo Camagnas Zurückhaltung in dieser Angelegenheit dazu bei, dass die Zusammenarbeit mit Dino Grandi vergleichsweise reibungslos verlaufen zu sein scheint.

Die Agitation blieb von der Verschlechterung der bilateralen Beziehungen nicht unberührt. Dass die Feiern durch ihren zunehmend explizit politischen Charakter in der Abessinien-krise polarisierten und als Provokation aufgefasst werden konnten, scheint den verantwort-lichen Organisatoren 1936 mehr als bewusst gewesen zu sein. So glorifizierten sie doch auf britischem Territorium, inmitten der britischen Gesellschaft und doch isoliert, offen das ita-lienische Regime. Das Spannungsverhältnis, in dem sich die italienische Gemeinde mit Ver-schärfung des Konfliktes um die Expansionspläne Italiens befand, zeigte sich hier deutlich. Die italienischen Einwanderer in Großbritannien gerieten durch die politischen Differenzen zwischen den beiden Ländern, in denen sie verwurzelt waren, auch in ihrem Alltag und in ei-gentlich unpolitischen Situationen unter Positionierungsdruck. Innerhalb und außerhalb der Gemeinde stand nun die Frage nach Loyalitäten im Raum. War zuvor keine eindeutige Festle-gung erforderlich gewesen, so wurde diese seit dem Spätherbst 1935 täglich relevant. Dass die faschistische Partei die Einwanderer zwar zur Neutralität und zur Achtung der Gesetze und Normen des Gastlandes aufforderte, parallel aber die soziale Isolation der italienischen Ge-meinden in der britischen Gesellschaft vorantrieb, verschärfte die Situation für den Einzelnen noch. Was die Fasci von den Italienern vor Ort forderten, war eine scheinbare Neutralität, die einen Schleier über die von der Partei betriebene Umgestaltung der Gemeinde hin zu einer Parallelgesellschaft mit ausschließlicher Loyalität zum faschistischen Italien legte. Öffentlich werden durfte dies nicht.

Die Fasci bemühten sich nach außen um eine möglichst unauffällige Agitation. Sie sollte im Gastland nicht zum Politikum werden. Dies lässt sich, im Kleinen, wieder an den Weihnachts-feiern nachvollziehen. 1936 fielen die Befana -Feiern an einigen Orten aus, da anlässlich des Todes des britischen Königs George V. eine solche Massenveranstaltung als deutliches Zeichen fehlenden Respekts und als Provokation aufgefasst werden konnte. Da sie jedoch eine zentrale Funktion bei der Sicherung des Zusammenhaltes der Gemeinden erfüllten, sahen es einige Sekretäre der Fasci wohl als einen Fehler, ganz auf sie zu verzichten. Dies hätte innerhalb der Gemeinden den so vehement vertretenen Machtanspruch der Parteizellen in Frage gestellt und die Autoritätsfrage zugunsten der britischen Gesellschaft entschieden. Öffentlichkeitswirksam betonten sie, die Absage hätte nichts mit den politischen Spannungen zu tun, sondern sie sei Ausdruck hehrer italienischer Tugenden. Der Liverpooler Fascio holte die Weihnachtsfeier-lichkeiten Ende März 1936 nach.621

Die Befana-Fascista -Feiern der späten dreißiger Jahre bewiesen noch einmal eine deutliche Verstärkung des politischen Charakters und des faschistischen Zeremoniells. Nach der Er-öffnung der Casa del Fascio in Soho fand zu Jahresbeginn 1938 die Feier erstmals in der Sala dell’Impero statt. Antonietta Grandi überreichte den Kindern die Geschenke ausdrücklich ‚als Gaben des Duce ‘.622 Die italienischen Schulen, die ohnehin durch den Fascio und die Zentral-stellen in Italien kontrolliert wurden, fungierten nicht mehr als Veranstalter und die Festivi-täten dienten nun offen der Huldigung des faschistischen Regimes.

1939 war die Verzahnung mit den faschistischen Jugendorganisationen so eng, dass sie zum Inhalt der Feier wurde. 900 Kinder und Jugendliche gehörten L’Italia Nostra zufolge der jetzt als Gioventù Italiana del Littorio all’Estero (GILE) firmierenden, deutlich paramilitärische-ren Organisation an. Gruppen dieser GILE gestalteten das Rahmenprogramm und führten ein Theaterstück auf, das die Prinzipien des ardimento , des Wagemutes und des soldatischen Gemeinschaftssinns, in den Mittelpunkt stellen sollte. Es pries also Antiindividualismus und Militarismus und präsentierte die Jugendorganisationen (einschließlich jener der Kleinsten) als Kampfgemeinschaft. Vor der Bescherung erfolgte die Mahnung an alle, regelmäßig und mit Enthusiasmus an den Treffen teilzunehmen. Ein aufgeführter ‚Monolog der Befana Fa- scista ‘ argumentierte, sie sei vom Faschismus herbeigerufen worden, der gegen alle bösen und ungerechten Dinge vorgehe. Im Unterschied zu der traditionellen, bitteren Befana sei sie eine wirklich gerechte.623 Die Befana widmete sich nicht mehr der Verteilung milder Gaben an die ärmeren Kinder der Gemeinde, sondern der Belohnung der Mitglieder der GILE. Damit hatte sich nun auch hier der Adressatenkreis deutlich gewandelt.

Die Veranstaltung hatte den christlichen Kontext der Epiphania endgültig verloren, die Weihnachtsgeschichte fand keine Erwähnung, stattdessen war der Feierlichkeit ein neuer Gründungsmythos verliehen worden, der ihren Ursprung im italienischen Faschismus veror-tete. Die Beteiligung der GILE war selbstreferenziell und diente der Beschwörung eines Esprit de Corps , der Inszenierung der gleichgeschalteten Institutionen als wohltätig und letztendlich der Entfremdung der Kinder von der Kultur der Gesellschaft, in der sie lebten, zugunsten der-jenigen, die sie exterritorial einzugliedern beanspruchte. Die Indoktrination der Kinder im Ausland zwischen Umwerbung und Zwang

Der Aufbau faschistischer Jugendorganisationen im Einflussbereich der Fasci all’Estero in Großbritannien ist paradigmatisch für den Verlauf, den die Faschisierung hier in vielen Be-reichen nahm. Sie fand zum einen inmitten der britischen Gesellschaft und dennoch von dieser unbeachtet statt, zeigte eine Radikalisierung und eine Abgrenzung zu den öffentlichen Räumen, in denen potenziell konkurrierende Organisationen agierten. Sie zielte darauf, die Angehörigen gleichzeitig in Beschlag zu nehmen und von der britischen Gesellschaft zu iso-lieren.

In faschistischen Büchern und Zeitschriften für junge Leser wurden die im Ausland leben-den Kinder italienischer Herkunft zu kleinen Märtyrern stilisiert, die von den anderen ita-lienischen Kindern für ihr Opfer, fern der Heimat leben zu müssen, zu lieben und zu achten seien. Die Argumentation war stets gleich: Die durch andere Staaten verursachte wirtschaft-liche Misere Italiens habe die Eltern oder die Vorfahren zur Auswanderung gezwungen. Sie seien dann von den Gastländern ausgebeutet und verachtet worden, hätten niedere Tätigkeiten verrichtet und seien zu Dienern degradiert worden. Damit habe das Ansehen Italiens gelitten. Die italienischen Regierungen vor dem Faschismus hätten sich nicht um die Ausgewanderten geschert, sie nicht als italienische Mitbürger wahrgenommen. Erst der Faschismus interessiere sich für die Emigranten. Er habe sich ihrem Schutz und ihrer Wiedereingliederung in das na-tionale Leben verschrieben.624 In diesen nicht nur stark vereinfachenden und monokausal ar-gumentierenden Diskursen wurde zum einen der Anspruch erhoben, rechtmäßiger Repräsen-tant der Auswanderer seien die faschistische Regierung und die faschistischen Institutionen im Ausland; zum anderen wurde das Bild einer glorreichen Zukunft Italiens mit gesteigerter internationaler Reputation und einem Weltmachtstatus gezeichnet, an dessen Verwirklichung die angesprochenen Kinder mitwirken sollten. So waren auch Schriften für die Kleinsten auf-geladen mit nationalistischer, rassistischer und imperialistischer Rhetorik, mit einer Glori-fizierung behaupteter soldatischer Tugenden und mit Mobilisierungsphrasen.

Im Umkehrschluss zeichneten die Diskurse ein Bild der historischen Auswanderung, das ein vernichtendes Urteil über die Lebensleistung vieler Emigranten und Emigrantinnen fällte. Ihre wirtschaftlichen Erfolge, die nicht zuletzt erhebliche Unterstützungsleistungen für die in Italien gebliebenen Verwandten ermöglichten, wurden ebenso pauschal kleingeredet wie die Berufe und Tätigkeiten, die sie ausübten. Die individuellen Anstrengungen zum Aufbau einer komplexen Infrastruktur der italienischen Gemeinden, die häufig ein effizientes soziales Netz gewährleistet hatte, wurden als unzulänglich dargestellt. Den Angehörigen der Opera Nazio- nale Balilla in Italien wurden die Kinder im Ausland als bedürftige ‚Brüder in der Ferne‘ be-schrieben, die bei ihren Aufenthalten in den faschistischen Ferienlagern in Italien euphorisch zu empfangen und von der Schönheit des ‚neuen Italien‘ zu überzeugen seien.625 Avanguardisti , Balilla oder Piccole Italiane wurde damit nicht nur ein Verhaltenskodex im Umgang mit den zu Heimkehrern stilisierten Gästen vorgeschrieben, sondern auch offen eine Propagandatätig-keit zugewiesen.

Im März 1928 erschien in der Zeitung L’Eco d’Italia die Ankündigung Piero Parinis, die ONB auch in den Auswanderergemeinden zu verankern, um, so die Argumentation, die fern des Vaterlandes weilenden Kinder mit ihren Altersgenossen in Italien gleichzustellen, in ih-nen wieder das Prinzip der Italianità als Lebensgefühl, Wertekodex und Identität zu stärken und sie dem Einfluss der fremden Gesellschaften, in denen sie temporär lebten, zu entziehen. Die Organisation der italienischen Jugend im Ausland sei von enormer Bedeutung. Es gehe um nicht weniger als die Rettung der kommenden Generation, auf der die Hoffnung des Vaterlandes ruhe und die die Soldaten von morgen stelle.626 Der Aufruf veranschaulicht, wie weit über die Landesgrenzen hinaus der militaristische Grundgedanke bei den Organisatio-nen für Jungen reichte und dass auch hier nicht allein ein soldatisches Auftreten und Korps-geist zelebriert werden sollten, sondern militärischer Drill eingeübt und der Militärdienst als Norm verinnerlicht werden sollte. Parini forderte, jeder Fascio müsse eine Gruppe der Balilla , eine der Avanguardisti und eine der Piccole Italiane einrichten. Balilla und Avangu- ardisti müssten durch einen Lehrer der italienischen Schule angeleitet werden, der im Krieg als Offizier oder zumindest als Soldat gedient habe; wenn kein solcher Lehrer zu finden sei, müsse in jedem Fall ein Kämpfer des Großen Krieges rekrutiert werden, der einen Rang in der Milizia erhalte. Bei den Gruppen für die Mädchen waren die Anforderungen geringer. Die Leitung sollte hier eine Lehrerin oder eine junge Frau aus der Gemeinde übernehmen, die ‚guten Willens‘ sei.627

Dass der Fascio di Londra schon vor der offiziellen Adaption, den Organizzazioni Giovanili Italiani all’Estero (OGIE), über Gruppen der Balilla und Avanguardisti verfügte und sie nun unmittelbar in die Aktivitäten der ONB in Italien einzubinden suchte, geht aus Berichten der Zeitung über Reisen dieser Gruppen nach Italien hervor.628 Aber nicht nur in der britischen Hauptstadt mit ihrer großen italienischen Gemeinde wurde die Maßgabe aus Rom frühzeitig umgesetzt, sondern auch in Städten mit kleineren Auswanderergemeinden, wie im walisischen Cardiff, fand dies Anklang.629 Der Glasgower Fascio richtete eilfertig sogar eine Gruppe der Giovani Italiane für die älteren Mädchen ein.630

Die Jugendgruppen in den italienischen Gemeinden im Ausland sollten einheitlichen Richt-linien folgen und sich an der ONB orientieren. Die Anweisungen dafür erhielten die Fasci im Ausland aus Italien. Besondere Aufmerksamkeit galt den Avanguardisti . Sie wurden ermahnt, die Gesetze und Konventionen des Gastlandes ebenso zu achten wie Anordnungen der Perso-nen, die für ihre Erziehung und Ausbildung zuständig seien.631 Wie schon in dem jahrelangen Konflikt zwischen Partei und Diplomatie über die Befugnisse und die potenziellen Gefahren eines zu offenen Agierens der Fasci in Gastländern fürchteten Außenministerium und Diplo-matie wohl auch hier ein provokantes oder sich verselbstständigendes Verhalten, das den Arg-wohn der Gastländer auf sich ziehen könnte. Das in Italien gewünschte militante Auftreten der Jugend war im Hinblick auf internationale Beziehungen problematisch. Dementsprechend sah der Regelkatalog der OGIE Disziplinierungsmaßnahmen für die Avanguardisti vor; je nach Schwere des Verstoßes eine Abmahnung oder den Ausschluss von der Jugendorganisation und einen Verlust des Anspruchs auf mit ihr verbundene Unterstützungsleistungen.

Avanguardisti und Balilla sollten nicht nur an sportlichen Aktivitäten und Ausflügen teil-nehmen, sondern auch an weltanschaulichen Schulungen, deren Inhalte die ONB bestimmte. Die alltäglichen Aktivitäten und Aufgaben der Piccole Italiane im Umfeld der britischen Fasci sind in den Quellen weniger greifbar als die der Jungengruppen. Hier scheinen vor allem die Bildung einer Gemeinschaft und die Vermittlung traditionell-konservativer sowie faschisti-scher Vorstellungen von Weiblichkeit im Mittelpunkt gestanden zu haben.

Die Attraktivität der Offerten lag für Eltern – auch für diejenigen, die nicht unbedingt dem Fascio und damit dem PNF nahestanden – darin, ein Betreuungsangebot zu erhalten. In sei-ner dezidiert italienischen Ausrichtung war es vergleichsweise konkurrenzlos, denn die ita-lienischen Autoritäten in den Kirchengemeinden und die italienischen Schulen kooperierten mit den Jugendorganisationen und fielen als Alternativen aus. Spezifisch italienische Betreu-ungs- und Unterhaltungsmöglichkeiten für Kinder und Jugendliche jenseits der unmittelba-ren religiösen Unterweisung oder der nachbarschaftlichen Hilfe waren schon im ausgehenden 19. Jahrhundert gering gesät. Charles Booths Studie, die eine Tendenz zur Abschottung der italienischen Nachbarschaften erkannte, beschrieb zwar die Sozialarbeit und Wohltätigkeit der katholischen Kirchengemeinde als gut aufgestellt, wertete das Engagement im Bereich re-gelmäßiger Gemeinschaftsaktivitäten für Kinder und Jugendliche aber als schwach. Booths Studie mutmaßte, dies sei wohl angesichts der unterschiedlichen Nationalitäten der Katholi-ken im Viertel insgesamt schwierig, es sei aber auch wahrscheinlich, dass die örtlichen Priester gesellige Organisationen als kontraproduktiv erachteten.632

Trotz der Polarisierung und der sozialen Spannungen in der Gemeinde, die sich aus der Propagandaarbeit des Fascio und den sich ausdehnenden Machtbefugnissen der Direzione Generale degli Italiani all’Estero ergaben, bestand für die Italiener in Großbritannien als An-gehörige der britischen Gesellschaft grundsätzlich ein großes Alternativangebot an Freizeit-aktivitäten und Jugendorganisationen. Von einer Mitgliedschaft in den Gruppen der OGIE versprachen sich sicherlich viele Familien unmittelbare Vorteile und Vergünstigungen. Be-absichtigt oder unbeabsichtigt drückten sie dabei politische Zustimmung aus und öffneten ihr privates Umfeld einer politischen Einflussnahme. Die Mitgliedschaft in den Jugendorgani-sationen war zumindest bis zur Einrichtung der GILE in den späten 1930er Jahren freiwillig. Eine in Memoiren häufig behauptete Zwangsläufigkeit existierte so nicht. Wendy Ugolini und Gavin Schaffner erinnern in ihrer kritischen Analyse von Nachkriegsnarrativen daran, dass der Diskurs von früheren Mitgliedern der faschistischen Jugendorganisationen und Erwach-senenverbände dominiert wurde und nicht selten einer Darstellungsintention folge, die den offen politischen Charakter der Organisationen herunterspielt und Eigenverantwortlichkeit tendenziell negiert zugunsten eines Mitläufer- oder Opfer-Narrativs. Auf der anderen Seite hätten die Internierungen, die Übergriffe und die Stigmatisierungen, die Italiener und italie-nischstämmige Briten während des Krieges und in der Nachkriegszeit seitens der britischen Gesellschaft erfahren hätten, eine Aufarbeitung der Geschichte der italienischen Gemeinden im 20. Jahrhundert behindert.633

Im Gegensatz zum dominierenden Eindruck ist davon auszugehen, dass sich viele italie-nischstämmige Briten und italienische Einwanderer von der Gemeinde entfernt hatten und deutlich stärker in die britische Gesellschaft integriert waren. Nicht zuletzt die Heftigkeit, mit der das faschistische Regime die Assimilation seiner früheren Landsleute in den Gastländern anprangerte und die Auswanderung mit einem erheblichen Verlust potenzieller Arbeitskräfte, vor allem aber potenzieller Soldaten gleichsetzte, legt dies nahe. Durch die Quellenlage ist der Teil der italienischen Gemeinde, der Züge einer Parallelgesellschaft annahm, sichtbarer als die Geschichte der geglückten Integration. Einwanderer, die nicht in dem engen Verbund der Immigrantenviertel blieben oder sich zwar in der Gemeinde bewegten, aber ihre politische Unabhängigkeit vom italienischen Staat bewahrten, sind in den Quellen unterrepräsentiert. Dennoch, die mangelnde Integration vieler italienischer Einwanderer jener Zeit, die enge In-frastruktur der Gemeinde, aber auch Ausgrenzungsprozesse und Diskriminierung durch die britische Mehrheitsgesellschaft sowie fehlende politische Maßnahmen zur Einbindung der Immigranten begünstigten den Zugriff der faschistischen Jugendorganisationen auf die italie-nische Jugend vor Ort; gleiches gilt für den auf beiden Seiten gepflegten Nationalismus.

Der Fascio di Londra setzte die Anordnung aus Rom, die faschistische Jugend an allen wich-tigen Zeremonien des Fascio und der Gemeinde insgesamt teilnehmen zu lassen, konsequent um. In Olive Besagnis Oral-History -Kompilation lässt sich dies anschaulich an der Lebens-geschichte Francesco Luratis nachvollziehen, die zugleich ein zentrales Problem solcher Zu-sammenstellungen von Erinnerungen der Little Italies offenbart, nämlich die Wirkmächtig-keit des Campanilismo .634 Die Vorstellung einer gemeinsamen Identität basiert hier auf der absolut gesetzten Tatsache, eine gleiche, geografisch stark eingegrenzte Herkunft zu haben. Sie beruht also – um das Bild des Campanile aufzugreifen – auf der Nähe zu ein und demselben Kirchturm oder Sprengel. Dabei werden aus der zunächst rein räumlichen Nähe eine größere soziale Verbundenheit untereinander als zu anderen Menschen abgeleitet und gemeinsame Werte antizipiert. Noch heute gilt der Campanilismo in italienischen Auswanderergemeinden als starkes verbindendes Element. Wenngleich die Populärkultur ihn ironisch reflektiert, so wird seine Berechtigung oft nicht in Frage gestellt.

Bei der Beschreibung einer Einwanderergruppe birgt die Gleichsetzung von räumlicher Nähe und gemeinsamer Identität die Gefahr der Verkürzung und der Ausblendung individuel-ler Lebensentwürfe zugunsten eines einheitlichen Narrativs. Im Fall von Besagnis Buchprojekt ist der Kirchturm des italienischen Viertels in Clerkenwell sowohl tatsächlicher als auch me-taphorischer Referenzpunkt einer kollektiven Identität. Einleitend erklärt die Herausgeberin, Francesco Lurati sei nie Bewohner des italienischen Quartiers in Clerkenwell gewesen, er habe stattdessen im Stadtteil Highbury gewohnt und dort die katholische Schule besucht. Seine vie-len Kontakte zur italienischen Kirche St. Peter und zu der ihr angegliederten Schule rechtfer-tigten jedoch die Aufnahme seiner Geschichte in die Kompilation.635 Dass die Herausgeberin diese Erläuterung überhaupt für wichtig erachtet, zeigt, dass Little Italy von ihr nicht vorrangig als eine soziale Kategorie, als ein Milieu verstanden wird, dessen Angehörige durch ihre Ein-wanderungsgeschichte, gleiche Herkunft, ähnliche Traditionen oder Lebensweise miteinan-der verbunden sind, sondern dass der Begriff noch exklusiver ist: Er schließt die genannten Faktoren zwar ein, wählt aber einen engeren Fokus auf einen kleinen Raum, in dem tägliche Präsenz, Zugehörigkeit zu Institutionen und ständige Rückbesinnung auf das Herkunftsland als eine Form von Konformismus identitätsstiftend sind.

Francesco Luratis Anbindung an andere Milieus des Londoner Raumes und der britischen Gesellschaft erscheint in dieser Logik als ein Manko, als Abweichen von der Norm. Gemein-samkeiten werden betont, nicht Unterschiede – abweichende Lebensläufe eher nicht berück-sichtigt. Das sich ergebende Bild der individuellen Handlungsoptionen der Einwanderer und der Integration oder Exklusion ist insofern ein unvollständiges.

Luratis Schilderung seiner Kindheit ist aufschlussreich, denn sie ist, gemessen an dem be-schriebenen Muster, typisch und zugleich untypisch. Er wurde als Sohn eines italienisch-stämmigen Vaters und einer britischen Mutter 1919 in London geboren. Schon sein Vater war dort als Kind eines italienischen Vaters und einer britischen Mutter zur Welt gekommen. Francescos Großvater war als Siebzehnjähriger von Ponte Chiasso nach London emigriert, an-geworben von einem Unternehmer aus seiner Nachbarschaft, der in London ein Geschäft für Kunstblumen betrieb. Francesco wuchs in einem von zwei Kulturen geprägten Haushalt auf, bestimmend blieb aber die italienische Herkunft. Die Familie lebte außerhalb des italienischen Viertels, jedoch in angrenzenden Bezirken und in Anstellung bei italienischen Arbeitgebern. Eine erste nachhaltige Konfrontation mit der misstrauischen Haltung britischer Behörden gegenüber italienischen Einwanderern erfuhr die Familie zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Luratis Vater habe der britischen Navy beitreten wollen, sei jedoch wegen seines italienischen Namens abgelehnt worden.636 Die Familie wandte sich in den 1920er Jahren stärker der ita-lienischen Gemeinde und damit den faschistischen Organisationen zu. Lurati beschreibt dies als „natural progression“. Er besuchte seit 1927 die Abendklassen der italienischen Schule von St. Peter, wurde Messdiener, dann Balilla und später Avanguardista . Als Mitglied der zu den faschistischen Jugendorganisationen gehörenden Musikgruppe Fanfara di Londra nahm er an Festen und Prozessionen der Gemeinde teil und reiste 1929 erstmals mit ihr ins faschistische Sommerferienlager nach Italien.

Luratis Erinnerungen an die Colonie Estive , die er sechsmal besuchen durfte, sind pa-radigmatisch für die vieler Kinder aus den Auswanderergemeinden, die den Faschismus häufig als in besonderem Maße mit ihren Belangen befasst wahrnahmen. Für sie blieb eine direkte Konfrontation mit faschistischen Gewalttaten und Repressionen in der Regel aus. Stattdessen wurde ihnen in Schule, Kirche, Freizeit und Familie die durch die faschistische Propaganda verbreitete Vision einer Wiederherstellung und Wahrung ihrer Italianità nahe-gebracht. Für Kinder wie Lurati und seine sechs Geschwister, von denen ein in den dreißiger Jahren geborener Bruder sogar Benito genannt wurde, stellten die durch den faschistischen Staat subventionierten und durch Spenden von Gemeindemitgliedern mitgetragenen Feri-enlager des Fascio eine günstige, wenn nicht die einzige Gelegenheit dar, nach Italien zu rei-sen, dort Familienmitglieder zu treffen und das Land kennenzulernen, das in ihren Familien nostalgisch verklärt wurde. Luratis Narrativ spart die politischen Implikationen der Mit-gliedschaft seiner Familie in den faschistischen Organisationen aus und ist darin typisch. Er lässt sich zu den propagandistischen Inhalten der Treffen, Kurse und Ferienlager nicht ein, geht dagegen direkt zur Geschichte seiner Internierung nach dem Kriegseintritt Italiens 1940 über. Seine Zugehörigkeit zu den faschistischen Jugendorganisationen schildert er als selbstverständlich, alternativlos und durch den Wunsch begründet, in Italien Sonne und Kultur zu genießen.637 Die Palestra in der Handel Street – eine ‚Schmiede der Italianità ‘?

Zum Jahresbeginn 1932 rückte ein bestimmter Veranstaltungsort für die Treffen der Jugend-gruppen in den Fokus L’Italia Nostras , die diesen in den folgenden Jahren zu einem ur-italie-nischen Ort und einem nationalen Jungbrunnen stilisierte und als Versammlungsort popula-risierte. Tatsächlich handelte es sich bloß um eine große Sport- und Veranstaltungshalle nahe dem British Museum , die in erster Linie von der britischen Royal Artillery genutzt und dem Fascio vom London County Council an Samstagen zur Nutzung überlassen wurde. Die italieni-sche Gemeinde verfügte zu dieser Zeit selbst nicht über ein geeignetes Gebäude oder Grund-stück, um die wöchentlichen Treffen, insbesondere die sportlichen Aktivitäten, der Jugend-gruppen abzuhalten und öffentliche Vorführungen zu veranstalten. Genau das war aber ein wichtiges Anliegen des Fascio : Bei diesen Vorführungen ging es nicht allein um die Gruppen und die Angehörigen der Kinder, die deren Erfolge bestaunen sollten. Sie waren vielmehr von Beginn an als Publikumsveranstaltungen konzipiert und adaptierten – im Kleinen – inszena-torische Muster der großen faschistischen Sportwettkämpfe in Italien. Den Aktivitäten der Gruppen kam eine offen angesprochene Propagandafunktion zu. Sie sollten Gemeinschafts-geist und militärischen Gehorsam, Wagemut und Disziplin – im Falle der Mädchengruppen Anmut und Grazie – als faschistische Grundsätze demonstrieren und inszenieren. Ende Ja-nuar 1932 erschien der erste Artikel über die Halle als neuen Treffpunkt eines faschistischen Samstages, an dem sich nacheinander alle Gruppen dort begegnen sollten. Eine Bedingung für den Zutritt war die Anmeldung über den Fascio .638

Der hohe Symbolwert der Treffen in der Palestra di Handel Street und ihre propagandis-tische Funktion zeigen sich bereits in kurz darauf veröffentlichten Artikeln. Ein Autor stei-gert sich in seinem Bericht über einen samstäglichen Besuch vor Ort in überschwängliche Lobgesänge, die nostalgische, nationalistische, aber auch rassistische Anklänge enthalten. Von der Feststellung, die Kinder erlebten durch die faschistische Initiative einen Tag der gesunden und lehrreichen Rekreation, schlägt er einen Bogen zu der Aufforderung, alle Ita-liener, insbesondere diejenigen, die sich sonst von der Gemeinde absonderten, sollten dort den Tag verbringen, um mit neu belebtem Geist und einem mit Freude gefüllten Herzen wieder herauszukommen. Der Besuch der Halle sei an einem solchen Samstag ein „vero e proprio bagno di Italianità“639, also ein „echtes und wirkliches Bad in Italianität“. Neben die Freude, sich mit der Jugend zu umgeben und an ihrem Spiel teilzuhaben, trete „der innere Stolz, einem typisch italienischen Werk beizuwohnen, denn italienisch ist die schöpferische Initiative, die gewollt hat, dass in der ganzen Welt unter neuem Impuls der Stolz unserer Rasse hervorsprieße“640.

Es fällt auf, dass der Autor den Faschismus verklausuliert als ‚neuen Impuls‘ beschreibt und diesen mit der Italianità gleichsetzt. Implizit stellt diese Gleichsetzung die These auf, wer die faschistisch geförderte Aktivität in der Palestra nicht unterstütze, zeige, dass er kein richtiger Italiener sei. Der Artikel wandelt sich sodann von einem Lobgesang auf die schöne Atmosphäre zu einer im Ton schärfer werdenden Ermahnung; es sei Pflicht, die Halle zu kennen, in der die Hymne der Giovinezza und des Enthusiasmus erklinge. Dies gelte ins-besondere für diejenigen, an denen eigentlich nur der Name noch italienisch sei.641 Auch in diesem Fall zeigt sich die frühzeitige Erzeugung von sozialem Druck: Eine gesellschafts-politische Maßnahme von auf den ersten Blick geringer Bedeutung, nämlich die Einrichtung fester Termine für Jugendsportveranstaltungen, wird zur Londoner Version des Sabato fa- scista , des faschistischen Samstags, erklärt und diskursiv zu einer Probe der Italianità und damit zu einer Charakterprobe erhoben. Auf perfide Art und Weise wird ein vorgeblich höherwertiges Alternativangebot zu der Freizeitkultur und den Erholungsritualen der bri-tischen Gesellschaft geschaffen und für den Fall, dass dennoch die britische Konkurrenz wahrgenommen werden sollte, die Drohkulisse eines öffentlichen Ansehensverlustes ge-zeichnet. Tatsächlich wird es vielen Erwachsenen und Jugendlichen aus der italienischen Gemeinde gar nicht möglich gewesen sein, an Samstagen an Treffen und Veranstaltungen teilzunehmen, war doch ein sehr hoher Anteil von ihnen im Gastronomie- und Hotelgewer-be oder als Händler tätig und der Samstag somit ein Werktag. Dennoch ergab sich auch für sie die Zwangslage, sich rechtfertigen und Position beziehen zu müssen in Angelegenheiten, die eigentlich allein in ihrer Privatsphäre lagen.

In den folgenden Monaten veröffentlichte L’Italia Nostra oft Fotografien der unterschied-lichen Gruppen bei sportlichen Aktivitäten. So wurden gleichzeitig die Treffen beworben und durch Bildunterschriften in dem immer gleichen, erst verzückten und anbiedernden, dann mahnenden und drohenden Ton zu einer Pflichtveranstaltung erhoben.642 Trainer und Grup-penleiter der Kinder waren Angehörige der MVSN, der Miliz. Wie ein harmloses Freizeittref-fen und Gymnastik- und Sportstunden muten die Kurse vor diesem Hintergrund ganz und gar nicht an.

Die Mitglieder der Jugendgruppen, die nicht nur unter anderen italienischen Kindern Wer-bung für die Veranstaltungen machen sollten, sondern, so L’Italia Nostra im Mai 1932, auch britische Kinder als Gäste mitbringen durften, um ihnen die neue italienische Disziplin vorzu-führen,643 wurden so zu kleinen Agenten im Dienste der Propagandamaschinerie ausgebildet. Im Laufe der Zeit wurde die als „fucina di italianità“644, als „Schmiede der Italianità “, verklärte Halle auch für weitere Großveranstaltungen genutzt, wie Feiern der OGIE, bei denen die Ju-gendgruppen und die faschistische Jugendkapelle Fanfara di Londra das Programm gestalte-ten und zu denen, so der Wortlaut, ‚die Autoritäten‘ erschienen, also Vertreter des Fascio , der Fasci Femminili , des Generalkonsulats und der Botschaft.

Um im Bild der Schmiede zu bleiben: Geschmiedet wurde in der Palestra , die darin sym-ptomatisch ist für ähnliche Kontexte und politisierte Räume, nicht ein komplexes Verständ-nis von Italianità oder von italienischer Identität und Geschichte, sondern eine faschistische Identität und die Partei- bzw. Regimetreue der Veranstaltungsteilnehmer sowie, im Nach-hall, die ihres Umfeldes. Dazu wurden auch Propagandafilme, die aus Italien an die Fasci geschickt worden waren, vorgeführt, wie etwa Guerra Nostra . Vor großem Publikum fand die Sport- und Gymnastikvorführung der OGIE im April 1933 in der Halle statt. Sie war eine Mischung aus Sportfest, Folklore-Feier und offiziellem Empfang in Anwesenheit des Botschafters Dino Grandi. Den Zutritt gewährte der Fascio über den von ihm verwalteten Ticketverkauf.645

Bei Filmvorführungen achteten Fascio und Botschaft darauf, dass die in den 1930er Jah-ren vom Ministero della Cultura Popolare ausgewählten und übersandten Medien einem aus-schließlich italienischen Publikum vorgeführt wurden. So lehnte der Fascio di Londra 1936 – wohl angesichts der Spannungen, die die Abessinienkrise auch vor Ort verursachte, und des brisanten Inhaltes des Propagandafilms – die Anfrage einer interessierten englischen Dame nach einer Teilnahme an einer künftigen Vorführung ab. Dies geschah mit dem Hinweis, es habe sich um eine reine Privatveranstaltung gehandelt und man bitte sie eindringlich, nicht darüber zu berichten oder für sie zu werben.646

Die Fasci in Großbritannien setzten in den dreißiger Jahren zunehmend auf eine Tren-nung der Propagandaarbeit unter italophilen Briten, wie sie etwa von britisch-italienischen Vereinen, der Società Dante Alighieri oder dem lokalen Kulturinstitut getragen wurde, und der an die Emigranten gerichteten Propaganda, die als Gemeindearbeit verklausuliert wurde. Letztere löste sich immer stärker aus dem Blick der Öffentlichkeit der britischen Gesellschaft. Kontakte zu den britischen Faschisten in London versuchten Fascio und Botschaft im Ver-borgenen zu halten. Dies war keine reine Vorsichtsmaßnahme, um der Beobachtung durch die Sicherheitsbehörden zu entgehen. Die Distanz reichte weiter: Auf beiden Seiten zeigte sich auf dieser lokalen Ebene ein markantes Schweigen. Sowohl in den Medien des Fascio als auch in jenen der BUF fanden die Aktivitäten des Anderen, also des ähnlich gesinnten Nachbarn, nicht statt. Sie verfolgten divergierende Mobilisierungsinteressen und -strategien und wandten sich an unterschiedliche, oft unvereinbare Milieus (vgl. auch Kap. 5).

Die Aktivitäten der Fasci und der Jugendorganisationen verlagerten sich im Laufe der 1930er Jahre aus dem nahen öffentlichen Raum in entferntere Gegenden zugunsten einer vom bri-tischen London County Council unabhängigen Wahl des Veranstaltungsortes. Zu dieser Zeit befand sich die italienische Gemeinde Londons in einer Umbruchphase. Vor dem Hinter-grund der Maßnahmen des slum clearance wurden in dem früher in großer Zahl von italie-nischen Einwanderern besiedelten Stadtgebiet um Clerkenwell und Finsbury Wohnblöcke abgerissen und Straßen neu konzipiert, so dass viele Italiener aus diesem Bereich wegzogen. Auch sorgte die Entstehung neuer italienischer Zentren in Southwark und Lambeth sowie der für die Zeit typische Boom der Vororte als nun bevorzugte Gegenden der lower middle und working classes für eine stärkere Aufspaltung der zuvor engen Auswanderermilieus. Der Fascio mahnte immer wieder zum Zusammenhalt und forderte die Neugründung von Untergruppen der Jugendorganisationen, um weiterhin eine Erfassung vieler Kinder zu ge-währleisten. Entsprechende Artikel in L’Italia Nostra muten eigentümlich an, da sie eine Entfernung von wenigen Kilometern in einer Stadt mit gut ausgebautem Verkehrsnetz zu einer problematischen, die soziale Harmonie gefährdenden Ferne stilisieren. In emotionalen Worten loben sie etwa die Italiener in Southwark, die sich von der trennenden Distanz zu den Zentren der Gemeinde nicht hätten abhalten lassen, Gruppen der Balilla , der Avangu- ardisti , der Piccole Italiane und Giovani Italiane einzurichten.647 Schon die vergleichsweise kurze Entfernung, die die Themse zwischen den Stadtteilen erzeugt, genügte, um diskursiv das nostalgische Bild einer engen Gemeinschaft zu zeichnen, die auseinanderzubrechen dro-he, sollten sich nicht alle Italiener vor Ort in die faschistischen Organisationen eingliedern. Das Lamento um die räumliche Distanz täuschte darüber hinweg, dass es in Wirklichkeit um die Einbuße an sozialer Kontrolle ging, die vor allem der Fascio fürchtete, und um die sich in den neuen Bezirken aufzeigenden Möglichkeiten der Freizeitgestaltung und der so-zialen Integration.

In der Konsequenz begrüßten es die Faschisten enthusiastisch, wenn neue Jugendgruppen in italienischen Nachbarschaften gegründet wurden. Hier organisierten sich nun auch ältere Mädchen als Gruppe. Sie nutzten für ihre geselligen Runden, ebenso wie viele britische Mäd-chen- und Frauentreffs, benachbarte Gemeindesäle, verabredeten sich zu Ausflügen, Spazier-gängen und Museumsbesuchen.648 Die Anlässe und Formen der Vergemeinschaftung unter-schieden sich folglich kaum vom weit verbreiteten Angebot britischer Organisatorinnen und Organisatoren. Faschistische Initiativen sattelten hier auf gängige Freizeitveranstaltungen der entsprechenden Altersklassen auf und politisierten sie.

1934 stellte die Banca Commerciale Italiana dem Fascio unentgeltlich den in ihrem Besitz befindlichen großen Sportplatz in Edgware zur Verfügung. Dieser löste in der Folgezeit in den Publikationen des Fascio die Palestra di Handel Street als sogenannte Quelle und Schmie-de der Italianità ab. Vergleichbare Initiativen zum Erwerb eines Sportplatzes für die Jugend-organisationen und die Dopolavoro -Gruppen für Erwachsene hatte es bereits Ende der 1920er Jahre auch in anderen britischen Städten gegeben. Der Segretario des Glasgower Fascio kün-digte zu Jahresbeginn 1929 an, einen solchen Versammlungsort schaffen zu wollen, analog zur Entwicklung in Italien, wo es bereits jeder Kommune gelinge, den Raum für eine Erziehung ‚italienischster Art‘ zu bieten, die geeignet sei, die Jugend physisch stark zu machen und sie moralisch auf das neue Italien auszurichten.649

Die Banca Commerciale Italiana , die zugleich einer der größten Anzeigenkunden L’Italia Nostras gewesen zu sein scheint, wurde in Berichten über Veranstaltungen auf dem Platz stets namentlich genannt. Sie erhielt also eine sie mit Wohltätigkeit assoziierende Publicity. Auf dem Platz fanden Sportkurse der Jugendorganisationen statt, Erwachsenensport und Feste ebenso wie ‚Freundschaftsspiele‘ der Fußballmannschaft der OGIE gegen Dopolavoro -Gruppen und vom Dopolavoro -Gedanken inspirierte italienische Teams, wie etwa das Spiel der OGIE gegen die zweite Mannschaft des Londoner Ritz Hotels .650

Der Platz in Edgware diente zudem einmal jährlich als Veranstaltungsort einer der wich-tigsten Feiern der faschistischen Institutionen, der Leva Fascista . Im Hinblick auf die Jugend-politik war die ‚faschistische Weihe‘ sogar das wichtigste Großereignis. Damit wurde der Platz zum Austragungsort eines Spektakels, das geradezu ein Paradebeispiel für symbolische Politik darstellt. Die aus Italien adaptierte Feierlichkeit wies auch im Ausland ein komplexes Zere-moniell auf. Unter der Führung Camagnas und des Botschafters Grandi übernahm der Fascio di Londra dieses Ritual 1934 und lud zu der Feier in Edgware die Tochter Benito Mussolinis, Edda Ciano Mussolini, ein, die sich anlässlich einer Reise in London aufhielt. Sie sollte bei der Leva Fascista als Schirmherrin agieren und der Veranstaltung Glanz und ‚faschistische Noblesse‘ verleihen.

L’Italia Nostra hatte schon in den Vorjahren über die Leva Fascista in Italien berichtet und eindrucksvolle Teilnehmerzahlen insbesondere aus Regionen, denen die Auswanderer mehr-heitlich entstammten, veröffentlicht. Ihre Angaben, es seien 1932 insgesamt 101 000 Avangu- ardisti in die Fasci Giovanili aufgestiegen und 110 000 Balilla des Geburtsjahrgangs 1918 in die Reihen der Avanguardie , musste vor Ort den Wunsch nach einer ebensolchen Anerkennung nähren.651 Noch vor der ersten lokalen Feier war damit vielen die gesellschaftliche und vor-geblich transzendentale Bedeutung des Weihe-Festes geläufig. Im Juni 1934 kündigte L’Italia Nostra die Leva Fascista als „ Festa della Gioventù Italiana di Londra “ an:

Die Erhebung der Kinder in die nächsthöhere Stufe der Jugendorganisation und die Segnung der Abzeichen ihrer Gruppen wurden als sakral präsentiert: Es handle sich um eine Beförde-rung, die nicht selbstverständlich sei, sondern verdient werden müsse. Sie habe eine in die Ver-gangenheit zurückreichende und in die Zukunft weisende gesellschaftliche Tragweite. Damit wurde der Großveranstaltung und den Jugendorganisationen ein elitärer und quasi-religiöser Anstrich verliehen. Dem meritokratischen Geist entsprang der zuvor ausgeschriebene Wettbe-werb, welches Gruppenmitglied es verdiene, das Emblem seiner Gruppe für die Feier kaufen zu ‚dürfen‘. In London wurde eine Art Aufsatzwettbewerb für die Piccole Italiane veranstaltet, die nun um die vermeintliche Ehre wetteiferten, welche von ihnen ihr Taschengeld für den Wim-pel opfern dürfe. Die Mädchen schrieben dazu Briefe an die Fiduciarie, die Vertrauensfrauen der Fasci Femminili .653 Die in L’Italia Nostra veröffentlichten Briefe scheinen von Erwachsenen angeleitet oder überarbeitet worden zu sein. So sind die Anreden des faschistischen Personals und die Grußformeln bürokratisch präzise formuliert und der Ton mutet nicht durchgängig kindlich an. Wenn sie als Quellen daher kritisch zu betrachten sind, so fällt der sich in ihnen abzeichnende Grad der Indoktrination doch auf, insbesondere da sie junge Leser zu ähnlichen Gefühlsbekundungen motivieren sollten. Kinder bitten in den Briefen, von den Geschichten der Gefallenen und Kriegshelden berührt, ein Opfer für ihr Land bringen zu dürfen, und sehen dieses in der freiwilligen Abgabe ihres Taschengeldes zum Wohl der faschistischen Jugend-organisationen. Zugleich versprechen sie lebenslange Opferbereitschaft und erklären ihre Ver-ehrung für den Duce . Wettbewerbe wie dieser erzeugten nicht nur zwischen den einzelnen Gruppen der Jugendorganisationen ein Konkurrenzverhältnis, sondern auch unter den Kin-dern aus einer Gruppe. Ziel solcher Inszenierungen war es, Eifer zu schüren und die soziale Kontrolle innerhalb der konkurrierenden Gruppen zu behalten.

Als Patin sollte Edda Ciano Mussolini 1934 den Labaro, eine von der römischen Kaiser-zeit inspirierte Standarte, an die Jugendorganisationen verleihen; eine symbolische Handlung, die die Anerkennung der örtlichen Jugendorganisationen durch das faschistische Regime und so dessen Autorität über die Gruppen repräsentieren sollte. In den nächsten Wochen stellte L’Italia Nostra die Feier in den Mittelpunkt ihrer Berichte, betonte den faschistischen, patrio-tischen und feierlichen Charakter sowie die Disziplin und Ernsthaftigkeit, mit der die Kinder Treueschwüre geleistet hätten.654 Der propagandistische Nutzen des Festes offenbarte sich auch in der Veranstaltung des Folgejahres. Die Zeitung wählte hier eine Schlagzeile, in der sich die Vereinnahmung christlicher Glaubensvorstellungen zur Legitimation nationalistischer und faschistischer Interessen spiegelte, nannte sie es doch das ‚symbolischste unter den nationa-len Festen, die Gott Italien geschenkt‘655 habe. Nicht nur die Gleichsetzung von Faschismus, Italianità und Romanità sowie die im Titel klar erkennbare Herleitung, der Faschismus sei gottgewollt, dienten als Leitmotive, auch vehementer Nationalismus, Militarismus und das Rekurrieren auf die Gefallenen des Ersten Weltkrieges prägten den Ton: Der Aufmarsch der Jugendlichen in ihren Gruppen erinnere an „ein kleines Heer, eingeteilt in Zenturien, das stolz die heiligen Symbole des ewigen Rom gen Himmel streckt“656.

Es handelte sich um ein erkennbar faschistisches Spektakel, das dort im Nordwesten Lon-dons zwar auf dem Gelände der Banca Commerciale Italiana , aber dennoch in aller Öffent-lichkeit stattfand. 1936 sollen allein 1197 Mitglieder der faschistischen Jugendorganisationen Londons daran teilgenommen haben.657 Dementsprechend hoch wird die Zahl der Zuschauer gewesen sein. Angesichts dieser Dimension erstaunt es, wie wenig Aufmerksamkeit die Er-eignisse in der britischen Öffentlichkeit erregten. Die Anwesenheit des Botschafters und des Generalkonsuls sowie der Vertreter des PNF vor Ort und erst recht der Besuch von Edda Ciano Mussolini 1934 hätten eine sehr viel stärkere Resonanz erzeugen können. Wie aber eine Mehr-zahl der italienischen Veranstaltungen dieser Zeit vor dem Angriff auf Abessinien scheint die Leva Fascista als eine interne Angelegenheit der Italiener betrachtet und ihre Legitimität nicht hinterfragt worden zu sein. Nach der Umstrukturierung der ONB in Italien in die Staatsju-gendorganisation GIL wurden die Gruppen im Ausland in der GILE, der Gioventù Italiana del Littorio all’Estero , zusammengefasst. Die noch gesteigerte Glorifizierung alles Militärischen und der Militanz in der GIL spiegelte sich in den Gruppen in Großbritannien, die einen stär-keren Zulauf verzeichneten. Die Guida Generale degli Italiani in Gran Bretagna aus dem Jahr 1939 gab die Zahl der nun eingeschriebenen Mitglieder mit 1500 an.658

Es irritiert, welchen Freiraum das italienische Regime bei der Indoktrination seiner Staats-bürger im Ausland und der italienischstämmigen Bürger der Gastländer hatte. Unbeobachtet blieb das Vorgehen allerdings nicht. Sowohl der britische Inlandsgeheimdienst MI5 als auch die Britische Botschaft in Rom fertigten in den 1930er Jahren Dossiers zur Vorlage im briti-schen Innenministerium an, die sich vor allem mit der Arbeit der Direzione Generale degli Italiani all’Estero befassten, die verschiedenen Wege der Verbreitung von Propagandamaterial aufzeigten und die Agitation der italienischen Institutionen in Großbritannien, allen voran des Fascio in London, im Blick behielten (vgl. auch Kap. 5).659 Im April 1936 legte der MI5 dem Home Office ein ausführliches Dossier vor, das italienische Institutionen vor Ort hinsichtlich ihrer Propagandatätigkeit, ihrer Vernetzung untereinander und der Anbindungen an die Kon-sulate und die Botschaft beleuchtete.660 Im Falle der Fasci auf britischem Boden entstand diese Analyse allerdings erst fünfzehn Jahre nach den ersten öffentlichen Aktivitäten der italieni-schen faschistischen Partei auf britischem Territorium.

Der Bericht ist in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich. Er bietet einen detaillierten Über-blick über die Entwicklung der Einrichtungen der italienischen Gemeinde unter faschistischer Einflussnahme, trägt belastende Informationen über die beteiligten Personen und deren Netz-werke zusammen, offenbart daneben aber auch antiitalienische Ressentiments der Verfasser. So werden die Sekretäre des Fascio di Londra , die auf Camillo Pellizzi folgten, als „several mediocre nonentities of the maitre d’hotel type, one or two of whom were almost illiterate“661beschrieben. Die lokalen Funktionäre des PNF wurden offenbar nicht als ernst zu nehmen-de Gefahr gewertet. Da die Quellen oder Informationswege zu der Einschätzung ungenannt bleiben, lässt sich die Frage nach den Hintergründen nicht klären. Denkbar aber ist, dass eine diskriminierende Haltung hier lange ein Desinteresse begünstigt und den Blick auf die politi-schen Konstellationen und die faschistischen Akteure verstellt hatte.

Der Bericht thematisiert auch die Leva-Fascista -Feierlichkeiten in Edgware und die Teil-nahme britisch-italienischer Kinder an faschistischen Ferienlagern in Italien. Er informiert darüber, dass seit 1935 in London ein Absolvent der Accademia Fascista di Educazione Fisica in Rom für die Jugendorganisationen zuständig sei, der sein Gehalt aus Rom beziehe. Der 35-jährige Carmelo Zullino, der sich selbst als „physical culture expert“ beschrieben habe, sollte demnach die Rekrutierung von Mitgliedern der Jugendorganisationen voranbringen.662Im Juni 1937 wurde dem Home Office ein ergänzendes Dossier der Geheimdienste vorgelegt, das die mangelnde Integration der italienischen Einwanderer deutlich stärker analysierte und kritisierte:

Die Sorge der Sicherheitsbehörden galt nun den in Großbritannien geborenen und damit im Besitz eines britischen Passes befindlichen Kindern. Die Argumentation in diesen Akten ist allerdings von Empathielosigkeit geprägt: Nicht die Befürchtung um die jungen Staatsbürger, die von einer demokratiefeindlichen Propaganda angeworben werden, steht im Mittelpunkt, sondern die Angst vor ihnen als Bedrohung der Gesellschaft, etwa durch eine mögliche Sabo-tagetätigkeit im Kriegsfall. Kinder werden hier als potenziell illoyal gegenüber dem britischen Staat beurteilt. Ganze Listen der Namen und Adressen von Kindern und Jugendlichen, die im Auge zu behalten und eventuell später zu vernehmen und zu verhaften seien, sind in den Geheimdienstakten enthalten.664 Die faschistischen Ferienlager in Italien und Großbritannien

Die Maßnahme, die wohl den größten propagandistischen Erfolg in der exterritorialen Agita-tion des faschistischen Regimes darstellte, waren die Reisen der im Ausland lebenden italieni-schen Kinder in die faschistischen Ferienlager in Italien. Sie hatten einen hohen Symbolwert: Der Faschismus zeigte sich hier vorgeblich von einer besonders wohltätigen Seite, da er nicht nur um die Erholung und Regeneration ärmerer Kinder bemüht schien, sondern auch um das Wiedererwachen ihrer italienischen Identität, und sie temporär zurückbrachte in das in den italienischen Gemeinden häufig nostalgisch verklärte Heimatland der Eltern oder der Vor-fahren. Die 1928 zum ersten Mal staatlich organisierten Reisen der Emigrantenkinder nach Italien galten dem Regime als eine, wenn nicht gar als die entscheidende Maßnahme, um die Italianità der Kinder zu festigen und eine weitere Entfremdung von der Heimat zu verhindern, für die das Regime den Begriff der „ snazionalizzazione “665, der „Entnationalisierung“, prägte. 1937 berichtete Il Legionario , das Zentralorgan der Fasci all’Estero , rückblickend, dass bereits 1928 insgesamt 5000 italienische Kinder und Jugendliche aus aller Welt an den Heimatreisen teilgenommen hätten, 1936 seien es dann schon 17 200 gewesen.666

In Bezug auf die Reisen der italienisch-britischen Kinder in die faschistischen Ferienlager der 1930er Jahre betont Claudia Baldoli, dass sich der hohe propagandistische Wert nicht aus der Zahl der tatsächlich mitgereisten Kinder ergeben habe, sondern vielmehr aus der monate-langen Thematisierung der Reisen in der Zeitung und bei Gemeindeveranstaltungen. Dies sei für die Konstruktion des Mythos um den Duce , die Darstellung Mussolinis als Vater aller Ita-liener und Italiens als Mutter aller Italiener im Ausland, entscheidend gewesen.667

Ähnliches lässt sich allerdings bereits für die 1920er Jahre konstatieren. Schon zu Beginn des Jahrzehnts hatten die Fasci in Großbritannien begonnen, eigene Ferienlager an der englischen Küste für die Kinder der Gemeinden zu organisieren, bei denen zwar einerseits die Erholung im Mittelpunkt stand, andererseits aber ebenso die Vermittlung faschistischer Vorstellungen von Gemeinschaft und Disziplin. Erste Reisen für Kinder veranstaltete der Fascio di Londra im Sommer 1923. 16 Kinder nahmen an dieser betreuten Reise teil, die in ein Hotel in Ramsgate führte.668 1927 war die Zahl der Teilnehmer des dreiwöchigen Aufenthalts auf 122 gestiegen. Der Fascio konnte nun auch über ein Haus verfügen, das den Kindern als Unterkunft diente, die Villa Italia in Felixstowe.669 Die Vertretung der italienischen faschistischen Partei in Lon-don organisierte hier also noch vor Beginn des groß angelegten Projektes, die Auswanderer-kinder mit dem zeitgenössischen Italien vertraut zu machen, Reisen in ein stilisiertes ‚kleines Italien‘, inmitten der boomenden britischen Ferienindustrie an den allseits beliebten Badeor-ten und doch abseits der vielen Ferienlager anderer Jugendorganisationen. Das Haus am Meer, das einem italienischen Arzt gehört haben soll, der dem Fascio nahestand,670 bildete bis in die späten 1930er Jahre beständig einen Zielort für die Ausflüge der faschistischen Jugendorgani-sationen. Die Schirmherrschaft dieser Sommerreisen hatte 1927 der italienische Botschafter Chiaramonte Bordonaro inne, der die Finanzierung des Ferienlagers unterstützte. Darüber hinaus wurden Spenden akquiriert, die sowohl von den lokalen Unternehmen oder italieni-schen Großunternehmen mit einem Sitz in London als auch durch ‚einfache‘ Angehörige der italienischen Gemeinde geleistet wurden.

Nicht nur Felixstowe, auch andere prominente englische Küstenorte steuerten die faschis-tischen Jugendorganisationen an. So reiste im Sommer 1928 eine Gruppe der Piccole Italiane nach Herne Bay. In Begleitung der Fiduciaria der Gruppe, Signora Morighetti Biondi, ver-brachten im ersten Turnus 27 Mädchen einen Monat in einem angemieteten Bungalow. Den Urlaubstag der Mädchen, den die Gruppenleiterin in einem von L’Italia Nostra veröffentlichten Brief an den Segretario des Fascio schilderte, strukturierten hauptsächlich Ausflüge an den Strand oder in die Natur und die vier Mahlzeiten. Dem Schreiben der Gruppenleiterin ist zu entnehmen, dass für sie die Genesung der Mädchen aus ärmlichen Verhältnissen im Mittel-punkt stand.671 Für viele Familien waren Erholungsreisen für Kinder nicht finanzierbar, da sie nur ein geringes Einkommen zur Verfügung hatten. Hilfen, wie sie etwa die Salvation Army in den Nachbarschaften und den angrenzenden Stadtteilen leistete, erreichten sie nicht oder wurden von der sich insgesamt um eine möglichst große Unabhängigkeit von britischen Or-ganisationen bemühenden italienischen Gemeinde nicht unterstützt, sondern eher mit Miss-trauen betrachtet. Der politische Kontext war bei aller karitativen Ausrichtung offensichtlich: Es handelte sich schließlich um eine Reise, die eine Mitgliedschaft bei den Piccole Italiane voraussetzte. Den Familien wurden also die Vorzüge einer Einbindung in die Strukturen der faschistischen Partei und der faschistischen Jugendorganisationen demonstriert. Dementspre-chend endete die Fiduciaria ihren Bericht mit der Versicherung an den Segretario , alle Kinder und Eltern hätten den Namen des Duce gepriesen.672

Ebenfalls 1928 fand die erste Reise der Mitglieder der Balilla und einiger Avanguardisti nach Italien statt – eine Reise, die unter dem Motto der Integration in das faschistische System und der Erzeugung und Inszenierung von Zusammengehörigkeitsgefühlen stand. Sie folgte einem Zeremoniell, das eher an einen Staatsbesuch denken lässt als an eine Klassenfahrt. So wurden die Kinder bei ihrem Aufenthalt von faschistischen Funktionären und Regierungsvertretern besucht sowie von den Söhnen Benito Mussolinis, Bruno und Vittorio. Bei der An- und Ab-reise empfing die Teilnehmer in London bereits der Segretario des Fascio , Bernardo Patrizi. Mit der Reise wurde eine Weisung der Segreteria Generale per i Fasci all’Estero umgesetzt, die, wie der Gruppenleiter der Balilla betonte, darauf zielte, bei allen Italienern Gefühle für die Heimat wieder zu entfachen und den Sinn für ‚die faschistische Solidarität‘ zu wecken.673 Die Kinder reisten über Dunkerque, Straßburg, Basel, Mailand, Genua, Pisa und schließlich Florenz. Dort empfing sie eine Gruppe der lokalen Balilla mit einem kleinen Festakt. Dem Bericht zufolge begrüßte sie der örtliche Vorsitzende der ONB, bevor sie zu wichtigen Sehenswürdigkeiten der Stadt geführt wurden. Während ihres Aufenthaltes im Zeltlager erhielten die Jungen neben den genannten Aufwartungen Besuch von lokalen Vertretern der Miliz, von einem Inspekteur der Segreteria Generale per i Fasci all’Estero und von Mitarbeitern des Istituto Luce .674 Es folg-ten Ausflüge, unter anderem nach Ravenna, und die Weiterreise ins große Ferienlager in Porto Corsini, dem Piero Parini sowie Bruno und Vittorio Mussolini einen Besuch abstatteten. Der Gruppenleiter der Balilla , Berigliano, erklärte pathetisch, das Ferienlager sei wie das Leben der Soldaten gewesen, Tag und Nacht hätten es Avanguardisti bewacht und der einzige Unter-schied zum militärischen Lager habe in der reichhaltigen Versorgung bestanden. Die Balilla und Avanguardisti seien mit neuen Kenntnissen jeder Art zurückgekehrt und „mit dem Ge-fühl im Herzen und dem Glauben: an die große Sache, die heute das ganze Italien belebt und die sich Faschismus nennt“675.

Der Aufwand, den das Regime trieb, erscheint sehr hoch. Es verband mit den Reisen die Er-wartung, Auswandererkinder an die Nation zurückzubinden und sich ihre Loyalität zu sichern. Von Beginn an stand zudem der symbolische Wert der Reise im Fokus, also die Chancen, die sich aus ihrer Thematisierung und der Publikation entsprechender Bilder im In- und Ausland ergaben. Den Teilnehmern und den Rezipienten der Berichte wurden zentrale faschistische In-stitutionen vorgestellt, und zwar in einer Weise, die sie in einem militarisierten, aber gewalt-freien Kontext präsentiert und mit der Pflege der Beziehungen des Regimes zum Einzelnen, vor allem zum einzelnen Emigranten, assoziiert. Dadurch entstand das Bild eines Regimes, das sich auch den Kleinsten aus weiter Ferne verbunden fühle und deren Belange ernst nehme. Tempo-rär durch das Ereignis und langfristig durch dessen wiederholte mediale Verwertung wurde eine Assoziationslinie von Faschismus, italienischer Kultur und Fürsorge konstruiert, die ein Gegenbild schaffen sollte zu den Berichten über massive Gewalttaten der Squadre und der aus ihr hervorgegangenen MVSN sowie zu den Berichten über Repressionen und Zensur, die durch die ins Exil geflohenen politisch Verfolgten in die italienischen Gemeinden im Ausland vor-drangen. Diese Regimegegner wurden zugleich als unglaubwürdig diffamiert; ihre Aussagen schienen unvereinbar mit der behaupteten Erfahrung der ‚Anderen‘, also auch der Kinder, die tatsächlich Teil der Selbstinszenierung des Regimes wurden. Über den Umkehrschluss der ge-nannten Assoziationslinie wurden die Exil-Italiener, die der Faschismus mit der Bezeichnung fuorusciti , ‚Abgehauene‘, diskreditierte, als ‚unitalienisch‘ stigmatisiert und isoliert.

Neben den unverkennbar faschistischen Riten, die in den Alltag im Ferienlager eingebunden waren, und den ideologischen Schulungen, die je nach Altersstufe mehr oder weniger intensiv ausfielen, wurden den Kindern und Jugendlichen Sport, Spiele und Ausflüge mit Besichtigun-gen geboten, die die Popularität der Reisen erklären. Überspitzt formuliert ermöglichte die Organisation der Reisen emigrierter Kinder nach Italien eine Ausbildung kleiner Propagan-disten, die nach ihrer Rückkehr mehr oder weniger freiwillig eifrig für die Jugendorganisatio-nen und damit für den Faschismus in Italien warben, den sie ja nur sehr eingeschränkt und in Szene gesetzt kennengelernt hatten. Die Zahl der Teilnehmer aus den Fasci in Großbritannien stieg in den Folgejahren stetig an. 1929 waren es 112 Kinder, darunter auch Mädchen. L’Italia Nostra schrieb vorab, 1928 hätten 7000 Kinder aus dem Ausland die Reise nach Italien unter-nommen, 1929 rechne man mit 12 000 Teilnehmern. Aus dem Artikel wird deutlich, dass es vor Ort auch lautstarke Kritik gegeben haben muss. Der Autor betont, 12 000 Familien hätten ihr Wertvollstes den faschistischen Organisationen anvertraut, da sie wüssten, wofür diese ständen. Dieses Vertrauen hätten Rufmord und üble Nachrede nicht erschüttern können.676Hier zeigt sich, dass die Teilnahme als Zeichen des Konsenses instrumentalisiert wurde, auch wenn die Motive vieler Eltern vielleicht weniger politisch denn Ausdruck von Opportunismus oder Naivität waren oder dem Wunsch entsprangen, ihren Kindern Ferien zu ermöglichen und sie nicht sozial auszuschließen.

Die Reiseroute verlief über Dover, Ostende, Köln, Basel und Chiasso mit einem Aufent-halt in Brüssel. Unterwegs schlossen sich weitere Kindergruppen an. Die Bahnreise wur-de L’Italia Nostra zufolge durch die deutsche Eisenbahn unterstützt, die Zug und Personal zur Verfügung stellte.677 In Italien angekommen, trennten sich die Gruppen; die Mädchen fuhren weiter nach Riccione, die Jungen nach Albaro und Arezzano in der Provinz Genua. Balilla und Avanguardisti sollten alle wichtigen Städte Italiens zu sehen bekommen, letztere auch Ausflüge zu den Orten der Schlachtfelder des Ersten Weltkrieges unternehmen.678 Im Jahr 1931 brachen 127 Teilnehmer in London auf. Insgesamt 7000 Kinder aus europäischen Auslands- Fasci gingen auf die Reise nach Italien.679 Die transnationale Dimension dieses Projektes ist offensichtlich, wenngleich aus Sicht des Regimes all diese Enklaven ja Teil der Nation waren.

In den Jahren 1932 und 1933, den ersten Jahren Camagnas als Segretario und Dino Gran-dis als Botschafter, erschienen zum ersten Mal Erlebnisaufsätze, die mitgereiste Kinder und Jugendliche verfasst hatten, und die, wie es im italienischen Faschismus zunehmend zu einer üblichen Praxis wurde, im Rahmen eines Wettbewerbs, eines Concorso , prämiert wurden.680Erneut sollte der Eifer der jungen Verfasser geschürt werden, sich in Lobpreisungen auf das Re-gime gegenseitig auszustechen. Der Ton der Aufsätze unter dem Motto „Il Mio Mese in Italia“ („Mein Monat in Italien“), ist für heutige Leser mehr als irritierend. Subordinationsformeln und Schmeicheleien in pseudoreligiösem Stil reihen sich aneinander, gefolgt von militaristi-schen Wendungen. Um die Erlebnisse in Italien geht es am allerwenigsten, sehr viel eher um das vermeintliche Erweckungserlebnis. So schrieb ein Avanguardista 1933 über seinen Besuch in Mussolinis Geburtsort Predappio:

Im Zusammenhang mit einem Besuch Mussolinis im Zeltlager der Avanguardisti schrieb der-selbe Junge, er sei zum Glück schon Avanguardista , denn so gehöre er schon dem Duce .682

Der Stil dieser Briefe und Aufsätze weicht häufig von kindlicher Diktion ab. So drängt sich der Eindruck auf, dass eine Überarbeitung durch die Redaktion, die Eltern, das Lehr-personal oder die Gruppenleiter der Jugendorganisationen erfolgte, die durch ihre Ausbil-dung an den faschistischen Akademien in Italien und durch die Richtlinien aus der Zent-raldirektion der Schulen den gewünschten Ton nur zu gut gekannt haben dürften. Diesem Muster folgt auch die Einlassung eines Mädchens, das im selben Jahr an den Reisen teil-genommen hatte:

Eine Neuerung in Dino Grandis Amtszeit war die professionellere Gestaltung und Ausweitung einer Maßnahme aus den 1920er Jahren, nämlich der Spendensammlungen zur Finanzierung der Ferienlager. Als Ziel gab der Londoner Fascio vor, so viel einzunehmen, dass doppelt so viele Kinder wie im Vorjahr nach Italien reisen könnten. Matteo Pretelli erläutert, dass sich in Italien in den frühen 1930er Jahren zunehmend Finanzierungsprobleme der Ferienlager erge-ben hätten und 1934 die Durchführung in Gefahr gewesen sei.684 In London fand 1933 erstmals eine Kampagne zur Sammlung statt, in der die Spendenbereitschaft zu einer Frage der wahren Italianità , also zu einer Prüfung des Charakters, erklärt und somit erheblicher Druck aufge-baut wurde: Das Fehlen des Namens in der veröffentlichten Liste denunzierte die Betreffenden nicht nur als geizig, sondern auch als ‚Nicht-Italiener‘. Die Listen führten die Geldgeber nicht in alphabetischer Reihenfolge sortiert, sondern nach der Höhe der Spende. Die namentliche Nennung wurde auch für die Mitreisenden eingeführt, und zwar an prominenter Stelle auf der Titelseite.685 Damit wurden Sympathisanten und Mitglieder der faschistischen Partei und ihrer Organisationen auch für die britischen Sicherheitsbehörden sichtbarer, die in den drei-ßiger Jahren L’Italia Nostras Berichte und Namensveröffentlichungen durchaus zur Kenntnis nahmen und eigene Listen von potenziell illoyalen Eingewanderten anfertigten. Diese Infor-mationen wurden dann 1939 im Zuge der Vorbereitung von Internierungen in Dossiers zu-sammengeführt.686

1933 reisten 200 Kinder und Jugendliche nach Italien, darunter Angehörige der Jugendorga-nisationen aus Dundee, Greenock, Newcastle, Belfast, Manchester, Birmingham, Liverpool, Cardiff, Glasgow und Edinburgh. Sie wurden zunächst im Londoner Fascio empfangen und trafen dort auf die Teilnehmer aus London, die in einem uniformierten Marsch durch das Zentrum der italienischen Gemeinde zogen, bei dem die Fanfara di Londra Lieder wie Giovi- nezza anstimmte.687 Die Abreise wurde folglich als eine Art Militärparade inszeniert, die für ein hohes Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit sorgen und den zeremoniellen Charakter der Reise hervorheben sollte.

Zugleich setzten Fascio und Botschaft seit 1933 auf weniger aufwendige Wege der Verge-meinschaftung. Sie nahmen einerseits die Villa Italia in Felixstowe wieder in Anspruch, die jetzt den Beinamen „ Colonia Marina Italiana “ erhielt und jüngeren Kindern vorbehalten war, die für eine Reise nach Italien noch zu klein waren. Zu ihrer Betreuung stellten die italie-nische Kirchengemeinden San Patrizio in Soho und San Pietro in Clerkenwell Nonnen und einen Pater ab. Andererseits wurde ein Zeltlager für die Avanguardisti in Maidstone organi-siert, das den wenig subtilen Namen Campo Benito Mussolini erhielt. Dieses Camp war eine wichtige Neuerung. Es sollte die älteren Jugendlichen abseits ihres Alltags in der britischen Gesellschaft versammeln, sie mit militärischem Drill vertraut machen und ideologisch schu-len. Die männlichen Jugendlichen waren oft bereits ins Berufsleben integriert, die Mehrzahl von ihnen im gastronomischen Gewerbe. An den Lagern in Italien teilzunehmen, war ihnen nicht möglich. Zudem waren sie nicht mehr der engmaschigen Kontrolle der faschistischen Institutionen ausgesetzt, die zuvor durch die italienischen Schulen und die Kirchengemein-den garantiert worden war. Auf exterritorialem Gebiet waren die Möglichkeiten des Regimes, einen Parteieintritt zu erzwingen und eine Einberufung ins italienische Militär im Kriegsfall durchzusetzen, deutlich geringer als in Italien. Vor dem Hintergrund dieser Lücke in der Er-fassung richtete Dino Grandi seine Aufmerksamkeit auf eine Adaption des inzwischen auch international beachteten Campo Dux in Rom. Persönlich inspizierte er 1933 und 1934 das Camp in Maidstone mit einer ganzen Delegation aus Botschafts-, Partei- und Pressevertre-tern.688 Weitere Pressetermine mit der britischen Lokalpresse wurden vereinbart, so dass sich eine über die italienische Gemeinde hinausreichende Propagandawirkung ergab. Unterstützt wurde das Camp von lokalen Restaurantbesitzern und Geschäftsinhabern, die dafür wiede-rum eine öffentliche Nennung und Dankesbekundung durch Botschaft und Fascio erfuhren, also von diesem Engagement und damit von ihrer Unterstützung des Faschismus wirtschaft-lich profitierten.

Grandi rühmte sich im September 1933 in einem Brief an Mussolini, mit der Wahl des Or-tes nahe Maidstone und der stark befahrenden Route nach Norden, insbesondere aber mit der Aufstellung eines großen Hinweisschildes einen genialen Schachzug gemacht zu haben: Das Camp locke kontinuierlich interessierte englische Touristen an, die sich Inspirationen für ihre Zeltlager holten. Das Schild mit der Aufschrift Campo Mussolini sei für tausende täg-lich vorbeifahrende Automobilfahrer gut sichtbar, ebenso wie die an einem acht Meter hohen Mast befestigte italienische Flagge und die Fahne des Fascio . Grandi schickte Mussolini zur Dokumentation seines Erfolges mit diesem Brief wohl auch eine Ausgabe einer Lokalzeitung, des Kent Messenger , der über das Campo Mussolini berichtet habe.689 Es sind also die Einnah-me des öffentlichen Raums, die Sichtbarkeit an den symbolträchtigen und gut frequentierten Orten der britischen Gesellschaft und die Resonanz, derer sich der Botschafter hier rühmt. Als erfolgreiche Propagandamaßnahme preist er dem Duce das Camp an, das dabei erstaunlich blass bleibt. Während hier die teilnehmende Jugend im Hintergrund steht, nehmen die In-szenierung und das Echo dieser Inszenierung den Vorrang in Grandis Bewertung ein. Seine Einlassungen sind nicht zuletzt ein Rechenschaftsbericht, eine Rechtfertigung seiner Person und seiner Arbeit vor dem Duce . Der Erfolg scheint hier an der Resonanz dieser italienischen faschistischen Performanz im eigentlich fremden britischen Raum gemessen, also am propa-gandistischen Potenzial, aber auch am Provokationspotenzial.

Die Jugendorganisationen veranstalteten auch Wochenendausflüge nach Felixstowe und seit 1936 ein zusätzliches Ferienlager an den Osterfeiertagen, das einen Sinnzusammenhang zwi-schen dem christlichen Fest und dem Faschismus konstruierte, mit dem Kompromiss an die katholischen Kirchengemeinden, dass alle Teilnehmer verpflichtet seien, am Ostergottesdienst teilzunehmen.690 Dass dabei den Teilnehmern immer auch ein übersteigerter Patriotismus und ein eng mit ihrer Zugehörigkeit zu den faschistischen Organisationen verknüpftes Selbstbe-wusstsein eingeimpft wurde, zeigt die Schilderung einer Schulung: Unter dem Stichwort „Bri-tannia Romana“ erfolgte ein Vortrag über die Römische Herrschaft auf den britischen Inseln und deren Rückwirkung auf die italienische Geschichte.691 Hier wurde das Leitmotiv, die Ju-gend im Ausland erfülle eine Pionieraufgabe und eine Kolonisationsmission im Geiste der Romanità , auf die Spitze getrieben.

Waren in den 1920er und frühen 1930er Jahren Verweise auf die britischen Altersgenossen der Jugendlichen ausgeblieben, ganz so, als handele es sich bei der italienischen Gemeinde um eine isolierte Gruppe, so fanden in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre offene Seitenhiebe Eingang in die Diskurse. L’Italia Nostra sprach dabei pauschal von den „stranieri“, den Frem-den, die angesichts der Disziplin und Freude, die italienische Jugendliche bei ihren Ausflügen zeigten, eine profunde Eifersucht auf die Italiener fühlten.692 Diese Wortwahl demonstriert die verquere Perspektive des Autors: die ‚Anderen‘, also Briten und andere Einwanderer, seien die ‚Fremden‘, die Italiener wiederum die ‚Einheimischen‘. Er sieht folglich die italienische Gemeinde als die entscheidende Gesellschaft, eine Einbeziehung der anderen scheint un-erwünscht. Die Gemeinde ist hier ein Mikrokosmos Italiens, nicht Teil der Gesellschaft des Gastlandes, deren Einmischung man sich verbittet. Was sich hier ausdrückt, ist die Tendenz weiter Kreise der italienischen Gemeinden in dieser Zeit, ihr Milieu als eine gewollte Parallel-gesellschaft zu sehen und sich zunächst dieser und dem Heimatland Italien, nicht aber der Mehrheitsgesellschaft verpflichtet zu fühlen. Gegenstimmen in den Gemeinden wurden durch die massive Propaganda bekämpft, die andersdenkenden Italienern eine subversive Haltung und unitalienisches Verhalten vorwarf.

Im Kontext der Abessinienkrise mehrten sich antiitalienische Demonstrationen in Groß-britannien und Übergriffe auf italienische Läden und gastronomische Einrichtungen. Für die Italiener in Großbritannien erhöhte sich vor diesem Hintergrund der offenen Ablehnung und der nicht nur verbalen, sondern auch tätlichen Angriffe durch Briten und andere Einwanderer der Druck, den sie zugleich auch aufeinander ausübten: Sie mussten sich entweder zugunsten ihres von der faschistischen Propaganda vereinnahmten Heimatlandes oder jenes Landes, in dem sie seit Jahrzehnten oder gar seit Generationen lebten, positionieren. Dies verstärkte ei-nerseits die Distanz zwischen Mehrheitsgesellschaft und Einwanderern und trieb andererseits die Spaltung der Gemeinde selbst voran.

Vor diesem Hintergrund forcierte die OGIE bzw. die 1937 eingeführte GILE die ‚morali-sche‘ Reintegration der Emigrantenkinder in das Herkunftsland. Die Ferienlager blieben das effizienteste Mittel, um eine enge emotionale Bindung zum Faschismus und zur Heimat her-zustellen. Auch wenn sich die Institutionen um eine gegenteilige Darstellung bemühten, es war nicht immer die Bedürftigkeit der Kinder, die bestimmte, wer mitreisen durfte und wer nicht. Oft war es die Loyalität der Kinder und ihrer Eltern zu den faschistischen Einrichtungen und vermutlich persönliche Beziehungen, die einen Platz sicherten. Dies vermerkte auch der Verfasser des britischen Geheimdienstberichtes über die Organisation und die Aktivitäten der italienischen faschistischen Partei in Großbritannien. Er verwies auf eine Anordnung Piero Parinis, die 1935 strengere Kriterien für die Auswahl der mitreisenden Kinder festgelegt hatte, und schrieb, im Fall der italienischen Kinder in Großbritannien seien einige bis zu sieben Mal in Folge ausgewählt worden.693

Einige Kindheitserinnerungen verdeutlichen, wie offen paramilitärisch und faschistisch die Ferienlager waren, insbesondere das 1934 eröffnete Lager am Meer in Cattolica, für das als Unterkünfte stilisierte Schiffe am Strand gebaut worden waren. In der Erzählung des 1923 ge-borenen Alberto Cavalli aus London ist der Grad der Indoktrination und der militaristische Charakter dieses Ferienlagers manifest:

Der Erfolg der Indoktrination durch die Ferienlager lässt sich schwerlich genau bestimmen, zumal nicht nur die offene Propaganda auf die Kinder einwirkte, sondern auch unterschwellig eine Verknüpfung der Urlaubserlebnisse mit dem Faschismus stattfand. Piero Parini gab 1935 an, allein im Jahr 1934 hätten 12 826 Kinder aus 217  Fasci im Ausland teilgenommen.695 Fa-schistische Politik hatte sich hier in einem scheinbar unpolitischen Bereich ein Einfallstor für die Generierung von Zustimmung, für soziale Kontrolle und Indoktrination geschaffen. Die exterritoriale Jugendpolitik griff auf perfide Weise Sehnsüchte und Bedürfnisse von sich ent-wurzelt fühlenden Emigranten auf, die sich im Umkehrschluss nicht scheuten, die verstärk-te Aufmerksamkeit ideeller und materieller Art mit Akklamation zu vergüten. Während die faschistische Politik mit viel Pathos die Reintegration in die Nation in Aussicht stellte und allerlei Heilsversprechen machte, verstärkte sie die Isolation ihrer Anhänger von allen anders-denkenden italienischen Emigranten und von der britischen Mehrheitsgesellschaft, die der importierten Faschisierung zu wenig entgegensetzte und sich so lange gleichgültig zeigte, bis sie ihre Sicherheit bedroht sah.

3.4 ‚ The Army of Youth ‘: Jugendverständnis und Jugendpolitik der British Union of Fascists

Ein Topos des britischen Faschismus ist das Narrativ, die britischen Faschisten repräsentierten eine Auflehnung der jungen Generation gegen die alten Eliten des Landes, gegen die Gene-ration der Väter und Großväter (vgl. Kap. 3.1). Insbesondere die BUF erklärte sich in ihren Propagandaschriften zum Sprachrohr junger Erwachsener. Die Dichotomie ‚jung versus alt‘ und die pauschalisierende Unterstellung, die ‚Alten‘ seien korrupt, dienten der Mobilisierung einer Generation, die sich vermeintlich im Parteiensystem nicht vertreten sah. Die BUF schür-te das Misstrauen der Jungen gegenüber den Alten, denen sie Gleichgültigkeit gegenüber den Zukunftsperspektiven der Jugend und eine Mentalität der Selbstbereicherung attestierte. Doch was versprach die BUF den jungen Briten konkret? Wie versuchte sie, in den unterschiedlichen sozialen Milieus die Jugend zu politisieren und zu mobilisieren?

Jugendpolitik bildet einen wichtigen Bereich von Gesellschaftspolitik. Dies gilt in beson-derem Maße für antidemokratische Kontexte. Die Zielrichtung der Jugendpolitik offenbart das grundsätzlichere Verständnis von Gesellschaft, vom Verhältnis zwischen Individuum und Gemeinschaft, zwischen Staat und Staatsbürger sowie zwischen Generationen und Ge-schlechtern. Wie unter einem Vergrößerungsglas zeigt sich an ihr die Reichweite von Ideo-logien, Mobilisierungsmaßnahmen und Exklusionsstrategien. Dieses Unterkapitel untersucht die jugendbezogene Agitation der British Union of Fascists und ihre Bestrebungen, eine Partei-jugendorganisation aufzubauen. Die Analyse folgt den Thesen, dass die BUF in der Zielgrup-penwahl und in ihren Versuchen, in Jugendmilieus einzudringen, deutliche Anleihen aus dem italienischen Fall aufwies, dass sie zudem, paradox zu ihrer Programmatik, klassenbewusst agierte und klassenspezifische Angebote entwarf; ferner dass ihr Jugendverständnis so stark in der eigenen Generation verortet war, dass sie sowohl ihre eigenen Konzepte zur Anspra-che jüngerer Generationen als auch ihre Vision eines zukünftigen faschistischen Staates selbst aushöhlte. Es zeigt sich zudem, dass die britischen Faschisten trotz ihrer Orientierung am italienischen Vorbild merklich Abstand zu den Fasci all’Estero in Großbritannien und deren erfolgreicheren Maßnahmen der Jugendvereinnahmung hielten.

In der Forschungsliteratur zum britischen Faschismus dient in der Regel das niedrige Durchschnittsalter der Führungseliten als Nachweis, die Selbsteinschätzung dieser faschisti-schen Bewegung als Jugendbewegung träfe zu. Einige Untersuchungen zur Mitgliederstruktur der BUF bieten darüber hinaus Schätzungen zur Altersstruktur der Basis der Bewegung.696Eine umfassende Analyse des Themenkomplexes Jugend steht für die BUF jedoch aus. Weder ihr Zugang zur britischen Jugend noch ihre Einschätzung, welche Generationen der Terminus ‚Jugend‘ einbezieht, noch die Implikationen der behaupteten Jugendlichkeit für den Umgang der Mitglieder untereinander sind von der Forschungsliteratur eingehend untersucht worden. Besonders deutlich wird dies im Hinblick auf die Jugendorganisationen der Partei. Haben viele Autoren das Thema gänzlich ausgespart, so finden sich in einigen Untersuchungen zum briti-schen Faschismus lediglich Hinweise auf die Existenz einer Greyshirt -Sparte als Jugendorga-nisation der BUF.697 Angaben zu ihrer Größe, zu ihrer Organisationsstruktur und Funktion, zu ihren Aktivitäten und Zielen fehlen. Ursächlich hierfür ist auch die Quellenlage: Belastbare Bestände der Bewegung, die Aufschluss bieten könnten, sind nicht erhalten. In den Akten staatlicher Institutionen, wie Geheimdienst- und Polizeiberichten, sind zwar Zweigstellen der BUF aufgeführt, denen eine Jugendgruppe zugeschrieben wurde, diese Berichte liefern aber keine weitergehenden Informationen.698 Es ist daher notwendig, tiefer in Quellen zur BUF-Agitation und Propaganda einzutauchen, um deren Jugendpolitik zu rekonstruieren und zu analysieren.

Tatsächlich war die Parteiführung verhältnismäßig jung. Junge Männer in ihren Zwanzi-gern und Dreißigern waren hier überrepräsentiert. Die BUF sprach gezielt die Generation an, die ihre Jugend überwiegend in der Nachkriegszeit erlebt hatte und mit deren Auswirkun-gen auf die britische Wirtschaft und Gesellschaft aufgewachsen war; die Generation, deren Väter und ältere Brüder Soldaten gewesen und zum Teil gefallen waren. Das Jugendelement in der BUF stellten also junge Erwachsene, aber auch die an der Schwelle zum Erwachsenen-alter stehende Generation dar. Die Partei wandte sich damit an eine Altersklasse, die stark von Arbeitslosigkeit bedroht war, die die Wirtschaftskrise gleich zu Beginn ihres Arbeitslebens traf und die sich als vom politischen System entfremdet begriff. Sie nahm eine große gesellschaftli-che Gruppe in den Blick, die den bestehenden Jugendorganisationen entwachsen, mehrheitlich noch relativ ungebunden war und mehr Freizeit als Generationen vor ihr hatte.

Bei der genaueren Quellenanalyse zum Jugendverständnis der BUF und zu ihrer Parteiju-gend ergeben sich zunächst mehr Fragen als Antworten: Die Ausführungen und Einlassungen sind oft vage oder widersprüchlich. Sie münden vielfach in mythisch aufgeladenen Diskursen mit historischen und literarischen Verweisen. Zu ein und demselben Themenbereich lassen sich einerseits hochtrabende Schilderungen finden, die in hyperbolischen Wendungen die Be-wegung als ein Massenphänomen und ihre jugendbezogenen Angebote als Erfolg präsentieren, und andererseits energische Aufrufe, die eine prekäre Situation andeuten und Mitglieder zu größerem Engagement auffordern, um die Aktivitäten der Bewegung in diesem Bereich auf-rechterhalten zu können. Von der Nupa zur BUF: Jugend als Katalysator und Indikator der Faschisierung

Schon vor der offiziellen Gründung der Bewegung im Oktober 1932 gab Oswald Mosley in The Greater Britain die zentralen Diskurse zum Thema ‚Jugendrevolte‘ vor, die die BUF in den folgenden Jahren ausbauen und zu ihrer eigenen Verortung in der Parteienlandschaft nutzen sollte. Mosley bediente sich bei der Wahl der Leitmotive stillschweigend an der zeitgenössi-schen Literatur und an jener des ausgehenden 19. Jahrhunderts sowie an den Jugenddiskursen, Jugendmythen, Mystifizierungen und Dekadenztheorien des italienischen Faschismus. Die Bewegung charakterisiert er unter Verwendung des Attributes Jugend als Modern Movement oder New Movement , als innovativ und singulär.699

Ein metaphorischer Jugendbegriff hatte schon die Rhetorik bei der Selbstbeschreibung der New Party geprägt. Offen betonte die BUF die Verbindung zwischen der Jugendorganisation der New Party , der Nupa, und den Blackshirts bzw. der Defence Force als deren Eliteeinheit. Wie die Nupa-Angehörigen – von der zeitgenössischen Presse Biff Boys genannt – wurden nun Blackshirts im Boxen und in Kampfsporttechniken trainiert, angeblich um bei Wahlkampf- und Parteiveranstaltungen als Saalordner und Sicherheitspersonal gegen Störer vorzugehen. Die Parteijugendorganisation war so konzipiert, dass sie den erklärten Anspruch der Partei, auf parlamentarischem Wege an Macht zu gewinnen, konterkarierte. Sie sollte als Stoßtrupp oder Rollkommando wahrgenommen werden. Viele ihrer Stewards waren junge Studenten „of the ‚hearty‘ undergraduate type“700; mit der Verpflichtung des Box-Champions Ted ‚Kid‘ Lewis als Trainer von Mosleys Bodyguards stießen aber auch viele junge Angehörige aus den Arbei-tervierteln des East Ends hinzu.701 Die Clubs entstanden parallel zu den New-Party -Büros und unterstützten sie als vorgeblich unpolitische Treffpunkte bei der Rekrutierung neuer Mitglie-der. Angesichts vieler Parteiaustritte wurde die Nupa immer mehr zum Kern der New Party .702

Die Umbenennung der Nupa und ihre Überführung in die neue Parteiorganisation kön-nen als eine Art Erwachsenwerden, ein coming of age , interpretiert werden, als ein kollektiver Übergang der Jugend der ersten Partei in die Riege der jungen Erwachsenen der Nachfolge-partei. Den Mitgliedern der Defence Force und den Blackshirts , die zuvor der Nupa angehört hatten, kam damit, zumindest rhetorisch und in ihrer Selbstwahrnehmung, die Position einer Avantgarde zu, waren sie doch die erste Generation, die unter Mosleys Anleitung an der Eta-blierung eines britischen Faschismus teilnahm. In seiner Autobiografie bewertet Mosley die Transformation der New Party und der Nupa als Resultat der gewalttätigen Konfrontationen mit der kommunistischen Partei. Er behauptet eine Zwangsläufigkeit der Militarisierung, die sich aus der Störung der Redefreiheit durch kommunistische Gruppierungen ergeben habe. Dies habe viele junge Männer motiviert, sich hier ‚zu engagieren‘: „We had to develop a diffe-rent character to meet an entirely new situation. New men came to us, who were ready to fight for their beliefs, in type the dedicated blackshirt.“703

Dieser Euphemismus für die unverhohlene Gewaltbereitschaft, die von der Nupa beinahe nahtlos in die BUF übertragen wurde, bestimmte in den folgenden Jahren deren Selbstdar-stellung. Der Kult von kollektiver Gewalt und Rechtfertigungsstrategien, die jegliche Schuld auf andere zu übertragen suchten, dürfte einerseits zur Mentalität der radikalen Anhänger geworden sein, andererseits wird er es vielen Mitgliedern erleichtert haben, Fragen nach ihrer individuellen Mitverantwortung für die Übergriffe der BUF nicht an sich heranzulassen.

Das Elitenbewusstsein sollte später die Versuche der Parteiführung erschweren, eine Reduk-tion des Militarismus in der Bewegung vorzunehmen, um ‚wählbarer‘ zu erscheinen, denn der Stoßtrupp der Bewegung wertete dies als einen Angriff auf seine Position und Wertvorstellun-gen. Angeführt wurde die Defence Force von Eric Hamilton Piercy, der schon den Nupa- Ste- wards vorgestanden hatte und sich vehement gegen die Zulassung von Frauen ausgesprochen haben soll.704 Die Defence Force und die Blackshirts waren das weithin sichtbare provokante Symbol der Männerbundatmosphäre. Die Entscheidung, die Nupa 1932 nicht für aufgelöst, sondern als in die neue Partei überführt zu erklären, war für Mosley von Vorteil, hatte sie doch für beträchtliche öffentliche Aufmerksamkeit gesorgt, nicht zuletzt durch den medial ausge-tragenen Streit der Mitglieder der Parteiführung um eben diese Einrichtung, der zur Spaltung geführt hatte. Zudem hatte sich die Jugendorganisation der New Party als Rekrutierungsin-stitution bewährt. In Gestalt der Nupa stand die Faschisierung nicht nur als Provokation, son-dern als spürbare Drohung bereits im Raum.

In Mosleys The Greater Britain wird der Begriff Jugend vorwiegend rhetorisch genutzt. Wie im italienischen Faschismus werden hier Erneuerungsvisionen evoziert und der Anbruch einer neuen Zeit in Aussicht gestellt, die Negativentwicklungen der unmittelbaren Vergangenheit umkehre, die Entstehung neuer Eliten begünstige und einen gesellschaftlichen Umsturz brin-ge. Seiner Bewegung schreibt Mosley – auch hier wesentliche Charakteristika des italienischen Faschismus übernehmend – die Rolle einer Avantgarde zu, die wie eine Armee für das Wohl des Landes kämpfe, das sich durch die Versäumnisse der etablierten Parteien und Politiker in einer Krise befinde und dem ein Niedergang drohe:705

Die Jugendrhetorik bezieht sich stets vorrangig auf eine männliche Jugend und sie spielt mit Assoziationen von Widerstand, Abenteuer und Heldentum. Auch in Mosleys Begründungen zur Notwendigkeit eines Aufbegehrens aus Unmündigkeit und Bevormundung klingt dies an; seine Ausführungen schlagen einen Bogen zur staatlichen Einmischung in die persönliche Freiheit und Geselligkeit:

Mosley verweist in diesem Zusammenhang gezielt auf die Regelungen des Defence of the Realm Act (DORA) als staatliche Bevormundung und als unrechtmäßige Begrenzung individueller Freiheiten. Diese Ausnahmeregelungen oder Notverordnungen, die 1914 zur Sicherung der öffentlichen Ordnung und der ‚Moral‘ erstmals beschlossen, dann stetig ausgeweitet und in der Nachkriegszeit aufrechterhalten worden waren, stellten ein polarisierendes Thema dar, das insbesondere junge Erwachsene geprägt, oft erzürnt hatte. Die Fortführung der Ausnahme-regelungen nach dem Krieg empfanden viele junge Briten als einen ungerechtfertigten Über-griff auf ihre bürgerlichen Rechte und Freiheiten. Während des Krieges hatten die DORA-Verordnungen eine politische Zensur umfasst, die in erster Linie Schriftsteller, Intellektuelle und Kritiker der Regierung auf der Seite der politischen Linken traf, die den Krieg ablehnten. Obgleich die BUF hier nicht in der Traditionslinie stand, sah sie sich doch als kriegskritisch und den sozialistischen Ursprüngen verhaftet. Einige ihrer führenden Köpfe hatten zudem Freundschaften zu namhaften Angehörigen der Literatur- und Kunstszene unterhalten.

Andere Regelungen des DORA griffen auf das Freizeit- und Konsumverhalten über. Nicht al-lein der Alkohol- und Drogenkonsum und das Ausgehen waren hier gebannt; während des Krie-ges waren auch Spiel- und Sportveranstaltungen untersagt worden. In der Folge nahmen viele Bürger den Staat als autoritär und bevormundend wahr.708 Wie Jon Savage erläutert, steigerte sich die Verärgerung vieler junger Briten nach dem Krieg und brach sich in Provokationen Bahn: Zwar wurden die Reglementierungen im Laufe der zwanziger Jahre gelockert, doch für die Generation junger Erwachsener war DORA untrennbar mit ihrem coming of age und ihrer Politisierung verbunden – das Akronym war ein Reizwort. Daher erstaunt es nicht, dass es in Mosleys The Greater Britain als Beleg für die behaupteten Verschwörungen der old gang dienen sollte.

Die Positionierung der BUF barg eine Ironie, denn sie sollte sich selbst zunehmend offen für autoritäre Übergriffe auf das Freizeitverhalten und das Privatleben der Staatsbürger aus-sprechen. Während sie ihre eigene Gängelung durch den Staat anprangerte, befürwortete sie durchaus die Unterdrückung anderer und desavouierte, was nicht ihrem Verständnis von Kultur und Lebensart entsprach. Insbesondere weibliche Mitglieder kritisierten mit einer de-monstrativen Moral das Verhalten junger Frauen (vgl. auch Kap. 4.4).

Das Jugendverständnis, das Mosleys Schrift als Ideal vermittelt, ist das einer männlichen Jugend, die sich durch Tatkraft, Virilität, Athletizismus, Disziplin und Gehorsam gegenüber explizit faschistischen Autoritäten auszeichnet, zuallererst gegenüber dem Leader der Bewe-gung.710 Mosley suchte hier noch vor dem Aufbau einer Massenbewegung seine eigene Autori-tät zu festigen. Die Schrift durchziehen sexuelle Andeutungen, etwa in der Bezugnahme auf den Puritanismus oder auf viktorianisch-bürgerliche Moralvorstellungen als Bedrohung der Virilität. Gleich mehrfach wird das zeitgenössische politische System mit ‚ old women ‘ assozi-iert und damit sowohl die Arbeit der als ‚ spinsters ‘ verunglimpften Politikerinnen diskreditiert als auch eine Wertung hinsichtlich der Männlichkeit etablierter Politiker vorgenommen. Sei-ner Bewegung schreibt Mosley die Fähigkeit zu, eine urenglische Virilität wiederherzustellen und es mit den Gefahren der modernen Zeiten aufzunehmen:

In der Assoziation der empfänglichen Leser erscheinen die Anhänger also als Gegenentwurf zu ‚verweichlichten Unmündigen, die sich unter Bettdecken verstecken‘, nämlich als ‚scharf-sinnige Abenteurer‘. Jugend als Kampfbegriff des britischen Faschismus

Jugend ist relativ – dieser politisch instrumentalisierte Allgemeinplatz fand in den Parteizei-tungen der BUF ebenso Raum wie der Generationenkonflikt. Dies ist einerseits als Resultat des unterschiedlichen Alters der Autoren zu werten, zum anderen als eine für die Bewegung strategisch wichtige Entscheidung. Die Selbstbeschreibung als Bewegung der Jugend verdeckt, dass hier mindestens zwei junge Generationen und viele Angehörige einer älteren zusammen-trafen. So erläuterte eine Autorin namens Mary Hearn in einem für die Kombination aus Ge-sellschaftskritik, Diffamierung und Mobilisierungsrhetorik paradigmatischen Blackshirt -Ar-tikel 1934, dass ein neuer Glaube die britische Jugend vereine, der Glaube an den britischen Faschismus. Hearn beschreibt die britische Jugend als eine heterogene Bevölkerungsgruppe, die aber mit den gleichen Sorgen, Nöten und Bedrohungen konfrontiert sei. Eine „Army of Youth“ bildeten demnach „young men and women from every walk of life – university graduates, typ-ists, clerks, actors and farmers; men and women engaged in industry, the professions and agri-culture“712. Neben dieser Armee, der sich Hearn zugehörig zu fühlen scheint, marschiere eine weitere, die der „unemployed youth of Britain“713: „The faces of these youths are expressionless, their gait slouching and their eyes dull“714. In der wenig schmeichelhaften Ansprache fällt die Unterscheidung von Arbeitenden und Arbeitslosen auf, die Letztere stigmatisiert. Zudem sind die bürgerlichen Muster der Erwerbstätigkeit eindeutiger definiert als die unterbürgerlichen – möglicherweise ein Hinweis auf den Hintergrund der Autorin. Es sei eine nationale Schande, dass Großbritannien seine Kinder nicht ernähren könne, sodass diese auf der Straße herum-lungerten oder sich dem Kommunismus verschrieben. Auch die erwerbstätige Jugend sei des-illusioniert; ihr Leben bestehe nur aus Arbeit, dem Kino oder der dance-hall . Verursacht wor-den sei diese Krise der Jugend durch das Parteiensystem und dessen Vertreter sowie durch den Verlust imperialer Größe und Macht. Die natürliche Vaterlandsliebe britischer Kinder verrotte zusammen mit der verwesenden Leiche der Demokratie. Rettung bringe nun der Faschismus als neuer Glaube.715 Der auch von einer sozialen Überheblichkeit geprägte Artikel vereint eine antidemokratische, imperialistische, anti-moderne Argumentation mit diffusen Heilsverspre-chen und dem Topos der bedrohten Zukunft. Jugend war in der Agitation kein eng gefasster Be-griff. Auch die Mitglieder der Bewegung, die der älteren Generation angehörten, fanden in der Jugendrhetorik der BUF ihren Platz auf der ‚richtigen‘ Seite der Dichotomie, denn wenn diese in ihren Veröffentlichungen einen Aufstand der Jungen gegen die Alten forderte, umschrieb sie Jugend oft als eine Geisteshaltung. Das Aufbegehren gegen das politische System wurde meta-phorisch als national awakening , national re-awakening oder national rebirth bezeichnet.716 Es zeigen sich also Ähnlichkeiten zum Jugendbegriff der italienischen Faschisten, die die Metapher des Frühlings sogar in ihrer Hymne Giovinezza verankerten.

In den ersten anderthalb Jahren ihres Bestehens erwähnte die BUF das Thema Jugendgrup-pen in ihren Publikationen sehr selten, es scheint noch kein zentrales Anliegen gewesen zu sein. Im Februar 1934 informierte The Blackshirt über die Aktivitäten der Zweigstelle in Wol-verhampton und gab an, diese verfüge über eine Jugendgruppe, die nicht nur Kinder der er-wachsenen Mitglieder der lokalen Parteiniederlassung in ihren Reihen versammle, sondern gezielt weitere Jugendliche anwerbe.717 In einem Polizeibericht, der die Binnenstruktur der BUF beleuchtet, werden Youth Groups als Untergruppen vieler Branches erwähnt, die von er-wachsenen Sub-Branch Officers geleitet würden.718 Organisatorisch wurden die Youth Groups in eine Youth Section eingegliedert, die im Gebäude am Lower Grosvenor Place in Westminster ihren Sitz hatte, in dem auch die Women’s Section residierte. Damit waren sie relativ weit vom Hauptquartier der Männer in Chelsea entfernt. Die Bezeichnungen für die Jugendgruppen variierten; sie fanden als Youth Groups , Youth Sections oder als Junior Branches Erwähnung in den Parteizeitungen. Den Vorsitz der Jugendsektion hatte ein Mann namens Loring inne, ein Sub-Branch Officer der Bewegung. Der Polizeibericht warnte, dass sich Loring um Kontakte zur deutschen Hitlerjugend bemüht habe, um einen Jugendaustausch zu initiieren. Einige Ju-gendliche seien daraufhin nach Stettin eingeladen worden.719 Voraussetzung für die Teilnah-me an einem Austausch sollte die Bereitschaft der Familie sein, in demselben Zeitraum einen deutschen Jungen als Gast aufzunehmen.720

Die Jugendgruppen der BUF-Zweigstellen boten ihren Mitgliedern  – männlichen Teen-agern – zwar begrenzt einen eigenen Raum, aber noch kein eigenes Agitationsfeld. Sie han-delten in Abhängigkeit von den Erwachsenen-Parteizellen vor Ort und der Parteiführung in London und hielten Branch Meetings , Schulungskurse und Freizeitaktivitäten getrennt von den Erwachsenen ab. Fraglich ist, ob dies ihrem Zusammengehörigkeitsgefühl dienen oder die Atmosphäre des Männerbundes in den Erwachsenengruppen wahren sollte. Daneben ließ sich über die Jugendgruppen wohl Druck auf die regulären Branches aufrechterhalten. So merkte der Verfasser einer Meldung in The Blackshirt über die Zweigstelle in Edinburgh im Januar 1934 an: „Twenty Juniors of the Junior Branch were present last Tuesday, the evening set aside for them, and their drill and enthusiasm would shame many of the senior sections.“721 Dies erzeugte den Eindruck, die jungen Mitglieder bildeten eine Art Reservearmee, die sich auf die Posten der Älteren warmlaufe.

Der am 1. Juni 1933 erschienene Artikel „The Call To Youth“ zeigt ein Charakteristikum der jugendbezogenen BUF-Propaganda: Der Autor beschreibt die angestrebte faschistische Revolution als eine Bewegung für alle wahren Briten; die Jugend stehe nur solange im Fokus, bis die Bewegung gewachsen sei. Sie solle als Speerspitze dienen. Die BUF sei die einzige Par-tei, die die Jugend verstehe; die anderen Parteien hätten dies nie vermocht. In den vorange-gangenen zwanzig Jahren sei die Jugend nie auch nur zu einer praktischen Ambition ermun-tert worden.722 Jugend bezeichnet hier weniger eine Alterskohorte als ein gesellschaftliches Problem, mit aktuellem Bezug sowie in historischer und in zukunftsgerichteter Perspektive. Adressaten sind folglich nicht nur die zeitgenössischen Jungen, sondern auch diejenigen, die rückblickend mit der Gesellschaft ihrer eigenen Jugend hadern oder sich um die Disziplin künftiger Generationen sorgen. Ein Exkurs über die Notwendigkeit einer Bildungsreform verstärkt dies noch. Auffällig ist, dass der als Appell an die Jugend betitelte Text nicht diese gezielt anspricht, sondern über sie redet. Er nimmt nicht ihre Perspektive ein, sondern die einer älteren Generation:

Der Text ist letztlich ein Lamento über ‚die Jugend von heute‘, das eine moderne kosmopoli-tische Vergnügungssucht als Zeichen kulturellen Verfalls deutet und eine imperialistisch und nationalistisch geprägte Nostalgie pflegt. Anstelle einer mobilisierenden Ansprache erscheint die Bezugnahme auf die britische Jugend von Fatalismus und Weltschmerz geprägt. Die Mo-bilisierungsrhetorik findet sich erst im Verweis auf die italienische und deutsche Jugend, deren Vorbild die britische folgen solle:

Das Sprechen über die Jugend statt mit ihr ist symptomatisch. Es prägte die Agitation der BUF auch in den folgenden Jahren und verband sich oft mit militaristischer und antiquier-ter patriarchaler Rhetorik. Was bedeutete dies für die Rekrutierung der Jugend und jungen Erwachsenen? Worin lagen die Motive junger Erwachsener, der BUF beizutreten? Ange-sichts der sehr heterogenen Sozialstruktur und der stark schwankenden Mitgliederzahlen ist es kaum möglich, allgemeingültige Erklärungen zu finden. Milieubedingte Unterschiede der Motive waren groß. Auch müsste angesichts der mehrfachen Neuausrichtung der BUF der Beitrittszeitpunkt bekannt sein, um kategorisieren zu können. Thomas Linehan und Frederic Mullally haben versucht, Stereotypen von BUF-Anhängern festzulegen. Linehans Regionalstudie zur BUF im Londoner Osten und im Süd-Westen Essex’ thematisiert die soziale Herkunft, Altersstruktur und Erwerbstätigkeit namentlich bekannter Mitglieder. Der Autor folgert u. a., dass die verbreitete Annahme, die BUF habe vorrangig eine klein-bürgerliche bis bürgerliche Anhängerschaft gehabt, zu relativieren sei, denn in der Region seien unter den Mitgliedern gelernte und ungelernte Arbeiter in nicht zu vernachlässigen-den Zahlen gewesen. Als ebenso heterogen wie die soziale Herkunft seien die Motive ein-zuschätzen.725

Frederic Mullally näherte sich 1946 dem Problem auf andere Weise: In seinem ersten Ka-pitel schildert er, wie sich Peter Fletcher, ein fiktiver siebzehnjähriger Junge, „son of a Roman Catholic civil servant, old boy of Clapham Academy, new employee of the Britannia Electric Works“726, entschließt, der BUF beizutreten, nachdem er 1933 zufällig dem Auftritt eines ihrer Redner beigewohnt und sich durch die Inszenierung, die Ansprache und die Anwesenheit junger weiblicher Blackshirts angezogen gefühlt hatte. Mullally versucht also eine sozialpsy-chologische Einschätzung vorzunehmen, welche Charakteristika der Bewegung junge Briten anzogen, was junge Anhänger in der BUF sahen und welche Rolle die Selbstbeschreibung als dynamische Bewegung spielte. Interessant an seiner Schilderung ist, dass er weniger die ex-plizit faschistischen Charakteristika der BUF hervorhebt als die Anknüpfungspunkte der Be-wegung an Mentalitäten und bestehende Organisationen sowie ihr Rekurrieren auf etablierte Werte, die sie überzeichnet und ihrer Weltanschauung anzupassen versucht habe.727 Mullally attestiert seinem Protagonisten eine Faszination für Uniformen, die ihn seit seiner Zeit als Pfadfinder begleitet habe. Die Uniform der Blackshirts verkörpere für Fletcher „an impression of selfless dedication to a noble, if somewhat obscure, cause“728. Was in Mullallys Augen den Reiz der Bewegung für einen jungen Mann aus der Mittelschicht ausmachte, der geprägt ist durch Erfahrungen mit patriotischen, nationalistischen Jugendorganisationen, der gerade die Schule abgeschlossen und den Berufseintritt vorgenommen hat, sind der „gang appeal“, der Politikstil, Gemeinschaftserlebnisse, die Betonung des Patriotismus, aber auch der Reiz, der von ihrem Ruf als provokante Bewegung ausging, ferner die an eine Armee erinnernde Hierarchie, das Martialische und die Großkundgebungen.729 Ist dies als Quelle für die Motive konkreter Personen nur bedingt belastbar, vermittelt es doch einen Einblick in die Mentalität eines Teils der jungen Erwachsenengeneration der frühen dreißiger Jahre aus der Perspektive eines kaum älteren Zeitgenossen.

Die Quellenlage erschwert es, Motive tatsächlicher Mitglieder zu rekonstruieren. Einige äußerten sich rückblickend über ihren Parteieintritt in Veröffentlichungen, die als inside sto- ries von noch immer überzeugten Anhängern erschienen – so Leonard Wise, der als Teenager der Bewegung beitrat und zu einem prominenten Sprecher der Parteijugend wurde. Wise schildert, dass er eines Tages zufällig mit den Publikationen der BUF in Berührung kam und ihn deren Ziel einer nationalen Wiedergeburt begeistert habe. Später habe er eine neue Zweigstelle in seiner Nachbarschaft entdeckt, in der man ihn als zu jung abgelehnt habe. Im Hauptquartier habe er aufgrund seiner Eignung und Vehemenz eine Ausnahmegenehmigung erhalten und sei Mitglied geworden.730 Auffallend an seiner Schilderung ist, dass sie gängige Muster der BUF-Selbstdarstellung bedient und diese damit noch retrospektiv zu manifestie-ren sucht.

Frühzeitig wandte sich die BUF in ihrer Parteizeitung The Blackshirt an eine bestimmte Grup-pe der jüngeren Generation, nämlich an die Studenten der renommierten Universitäten Groß-britanniens. Die Bemühungen um die akademische Elite, die weitestgehend von der sozia-len Elite des Landes gestellt wurde, waren allerdings widersprüchlich, denn sie folgten einem Muster des gleichzeitigen Umwerbens und Diffamierens. Die männliche Universitätsjugend stellte eine wichtige Zielgruppe der britischen Faschisten dar. Sie sollte die Elite eines korpora-tiven Staates bilden, die in wirtschaftlichen und politischen Fragen gebildete Führungsschicht, die intellektuelle Speerspitze, und den Kreis der Ideologen der faschistischen Partei erweitern. Bei aller Rhetorik über eine klassenlose Gesellschaft im korporativen Staat war Mosley tat-sächlich durch und durch klassenbewusst. Die funktionale Hierarchisierung der Gesellschaft erscheint in den programmatischen Schriften auffällig konform mit der etablierten Differen-zierung nach Klassen. So finden sich zwar Ausführungen zu einem möglichen Statusverlust reicher Briten, die nicht bereit seien, Dienst an der Gemeinschaft zu leisten; Fragen nach einer sozialen Mobilität des Aufstiegs werden jedoch nicht gestellt, geschweige denn beantwortet.

Das früh aufkommende und über Jahre anhaltende Interesse der BUF an den Studenten und dem akademischen Milieu ist in der Forschungsliteratur zum britischen Faschismus nur am Rande betrachtet worden. Dass die Mobilisierung elitärer Jugend ein wichtiger Faktor der Machtgenerierung war, ist nicht nur aus der nationalen Perspektive einleuchtend, sondern erklärt sich auch vor dem Hintergrund der italienischen faschistischen Studentenorganisa-tionen, deren internationaler Aktivitäten und der Relevanz, die der italienische Faschismus ihnen beimaß. Wie erläutert, rückten in einer ebenso frühen Phase der Konstituierung des italienischen Faschismus die Studenten als Zielgruppe in den Fokus. Sie waren maßgeblich an der Ausbreitung der Bewegung beteiligt. Ihnen wurde die Rolle der künftigen Führungs-elite und damit eine dauerhaft systemstabilisierende Funktion zugeschrieben. Der PNF suchte die gesamte Studentenschaft in faschistischen Universitätsgruppen zu organisieren und schuf mit den GUF den Rahmen zur Faschisierung der Studenten und der Universitäten (vgl. Kap. 3.2). Aus der Perspektive der BUF bot eine Adaption dieser Strategie die Möglichkeit, in ei-nem gesellschaftlichen Milieu Einfluss zu gewinnen, das noch sehr viel stärker als in Italien traditionell die Führungsschicht und politische Klasse hervorbrachte. Gleichzeitig hätte eine Infiltration der Universitäten das Ansehen der BUF in Italien gesteigert und die angestreb-te internationale Vernetzung vorangebracht. Die britischen Faschisten agierten hier vor dem Hintergrund eines zunehmenden Austausches der faschistischen Bewegungen in Europa. Im Hinblick auf Studentenaustausche, Kongresse oder eine internationale Propagierung faschis-tischer Zielsetzungen in akademischen Kontexten hoffte die BUF, die Rolle eines Ansprech-partners für das italienische Regime einnehmen zu können. Einen starken Rückhalt in studen-

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tischen Kreisen zu generieren, wäre für sie also nicht nur aus innenpolitischen Gründen von Vorteil gewesen, sondern ebenso in außenpolitischer Perspektive.

Seit Jahresbeginn 1933 versuchte Mosley mit der BUF in Cambridge Fuß zu fassen. Im Febru-ar trat er zu einem Rededuell gegen Clement Attlee zum Thema ‚Faschismus oder Sozialismus‘ an, das die Cambridge Union Society organisiert hatte. Bei der Abstimmung des studentischen Publikums, welcher Redner mehr überzeugt habe, unterlag Mosley mit 218 zu 335 Stimmen.731Der Präsident der Cambridge Union nahm im Sommer des darauffolgenden Jahres an einem Treffen des sozial exklusiven January Club teil, den die BUF zwar nicht offiziell leitete, aber de facto organisierte und finanzierte (vgl. Kap. 2.3 und 5). Die BUF nannte den Präsidenten dabei namentlich in einem ihrer Artikel, räumte ein, er habe seine Ablehnung bezüglich der Blackshirt -Bewegung geäußert, der Zeitkritik Mosleys aus The Greater Britain inhaltlich aber zugestimmt.732 Hier lässt sich eine Parallele zur Agitation der Fasci all’Estero in Großbritan-nien im akademischen Milieu erkennen: Anders als die faschistische Partei in Italien setzten deren Parteizellen im Ausland und die British Union of Fascists nicht auf eine Gründung von Universitätsgruppen, die ihre Zugehörigkeit zur Partei in den Statuten klar benannten und ranghohe Parteifunktionäre zu ihren Vorsitzenden machten, sondern auf die Etablierung so-genannter Studienkreise, Gesellschaften oder Clubs, die zwar zum Teil die Bezeichnung Fas- cist im Namen trugen, die sich aber als unabhängige Vereinigungen zu präsentieren suchten und nur eine Interessenverwandtschaft einräumten.

Im Falle der Cambridge University Fascist Association (CUFA) und der Oxford University Fascist Association (OUFA) war Oswald Mosley bei den Einweihungsfeiern anwesend.733 Er-hielt die BUF keinen direkten Zugang zu studentischen Verbindungen und Clubs, so verlagerte sie ihre Aktivität in die Universitätsstadt, um so Kontakte zu knüpfen und wohl auch, um sich mit dem Namen der Städte eine Art Leumundszeugnis verleihen zu können. Bei einer Rede Mosleys im November 1933 in der Oxford Town Hall kam es zu gewalttätigen Auseinanderset-zungen von BUF-Anhängern und studentischen Gegendemonstranten. In ihrer Stellungnah-me gegenüber der Universität beanspruchte die BUF die Opferrolle, warf den Demonstranten vor, sich unpatriotisch geäußert zu haben und sich durch die mutwillige Störung der Ver-anstaltung nicht dem Ideal des Gentlemans entsprechend aufgeführt zu haben.734 Der in der Parteizeitung veröffentlichte Artikel spiegelt die symptomatische larmoyante Inszenierung als Opfer von Gewalt und einer Beschneidung der Redefreiheit. Der Verweis auf das Ideal des Gentlemans ist als Provokation zu sehen, gab sich der Autor hier doch belehrend und ver-meintlich überlegen. Seiner Version der Ereignisse steht eine anderslautende Sicht der großen Zeitungen gegenüber, die das Labour Research Department in einer Synopse zusammenstell-te: Daily Telegraph , Morning Post , News Chronicle und Manchester Guardian berichteten von zahlreichen studentischen Opfern der Übergriffe durch Blackshirts , von Körperverletzungen seitens der BUF- Stewards und von einem Nichteingreifen der Polizei.735

Die BUF behauptete in den folgenden Jahren immer wieder, mit faschistischen Organisa-tionen an den Universitäten des Landes zu kooperieren. Ein solches Treffen an der Oxford University im Januar 1934 beschrieb sie als „extraordinarily successful“736. Im September desselben Jahres vermeldete sie, ihre Oxford Branch sei umgezogen und ihre Mitglieder hät-ten nun am neuen Standort für das Training der Sportgruppen Zugang zu den Sporthallen der Universität erhalten.737 Der Titel der Meldung „Blackshirts in University City“ suggeriert eine stärkere Präsenz der BUF vor Ort als der dann folgende Inhalt und eine Nähe zur Uni-versität, die über die Mitnutzung einer Halle hinausgeht. Die BUF erzeugte in solchen Mel-dungen die Assoziation, sie werde von den Universitäten als gesellschaftsfähig angesehen und es gelinge ihr, im universitären Milieu Fuß zu fassen. Es bleibt offen, inwieweit ihr dies tatsächlich glückte. Im Fall der Cambridge University Fascist Association hielt William Joyce die Einweihungsrede.738 Der Director of Propaganda , der schon seit 1923 den BF angehört hatte, war ein radikaler Antisemit. 1937 verließ er die BU, gründete eine neue nationalsozia-listische Vereinigung und wurde später als ‚ Lord Haw-Haw ‘ wegen seiner Kollaboration mit den Nationalsozialisten hingerichtet. Präsident der genannten Vereinigung in Cambridge wurde Major-General Fuller, der sich ebenfalls von den British Fascists zur BUF orientiert hatte und Mosley nahestand.739 Er beriet diesen dann im Jahr 1935 zu einer Umstrukturie-rung der Bewegung und erhielt einen Beratervertrag. Seit 1933 kam es an verschiedenen Eliteuniversitäten zur Gründung kleinerer faschistischer Gesellschaften, die je etwa zwei Dutzend Mitglieder zählten.740 William Joyce war für die Propagandaaktivitäten an Univer-sitäten zuständig; er selbst hatte in den 1920er Jahren am Birkbeck College Englisch studiert, sein Studium mit Auszeichnung abgeschlossen und auch zwischenzeitlich der Conservative Party angehört.741

Die BUF vollzog in ihrem Werben um die Studenten eine auffällige Entwicklung: Als sie um 1936 ihren präferierten Agitationsraum zunehmend im Londoner East End verortete und stär-ker das Kleinbürgertum und die Arbeiter in den Blick nahm, stellte dies ihr klassenbewusstes und bisweilen snobistisches Umgarnen der akademischen Elite vor Herausforderungen. Woll-te sie die Glaubwürdigkeit in den divergierenden Milieus nicht vollends gefährden, musste sie die unterschiedlichen Strategien populistischer Agitation in Einklang bringen. Dies tat sie durch die Fokussierung auf antisemitische Inhalte. Ihre rückhaltlose Hetze bildete ein ver-bindendes Element unter Sympathisanten aus beiden Zielgruppen. Die paradoxe Verzahnung ihres Elitendiskurses mit ihrer East End Campaign bedingte, dass sie in der Rednerauswahl nicht mehr bevorzugt auf Akademiker setzte. So sprach im November 1937 Clement Bruning vor der Cambridge University Fascist Association .742 Bruning, ein Mann in seinen späten Zwan-zigern, der aus Ealing im Westen Londons stammte und zuerst der dortigen BUF-Zweigstelle beigetreten war, gehörte dem Kleinbürgertum an und besaß inzwischen einen Laden in Be-thnal Green, der sich zu einem zentralen Treffpunkt der Blackshirts entwickelte.743 Er wurde ein führender Propagandist der Kampagne im East End. Schon sein dortiges Auftreten ist Aus-druck einer Paradoxie: Die BUF- Redner erklärten sich unter Bedienung aller populistischen Mittel zu Beschützern eines Milieus vor einer Bedrohung durch ‚Fremde‘, dem sie selbst gar nicht entstammten und von dem sie ein reaktionär nostalgisches Bild hatten, das sie gefährdet sahen. In Cambridge bezeichnete Bruning die demokratischen Freiheiten als Farce und werte-te die demokratische Presse als eine ‚Lügenpresse‘ – eine Diskreditierung, die sich auch heutige populistische und rechtsradikale Organisationen zu eigen machen.

Die Auftritte der britischen Faschisten beschränkten sich nicht auf britische Universitäten. Im Januar 1934 berichtete The Blackshirt , einer ihrer Redner habe auf Einladung der Studenten einen Vortrag in der Kölner Universität gehalten.744 Aus Dossiers des britischen Inlandsge-heimdienstes geht hervor, dass sich noch in den späten 1930er Jahren vermehrt Studenten der BUF anschlossen oder eigene Branches gründeten. So rekrutierte etwa die Londoner Padding- ton Branch gezielt Studenten der London University. Der Inlandsgeheimdienst und die für die Überwachung von Extremisten zuständige Special Branch der Metropolitan Police versuchten, aus diesem Kreis Informanten anzuwerben.745

In transnationaler Hinsicht wurde die BUF frühzeitig aktiv. Entsprechende Versuche, junge Briten durch Reisen für den Faschismus einzunehmen und Kontakte zwischen eigenen stu-dentischen Anhängern und denen anderer europäischer Bewegungen zu befördern, unter-nahm sie spätestens im Mai 1933. In ihrer Parteizeitung warb sie für eigene Studienreisen nach Deutschland und Italien:

Es ist unklar, bis zu welchem Grad diese Pläne in die Tat umgesetzt und wie häufig solche Rei-sen unternommen wurden. Die BUF berichtete im Anschluss nicht über die Touren. Dass ein Austausch mit italienischen Studenten stattfand, geht aus einer Akte des Home Office über die BUF hervor. In einem Bericht über das Black House in Chelsea schreibt der Verfasser, italieni-sche Studenten, die in Mosleys Anwesen in Denham zu Gast gewesen seien, hätten im August 1933 das neue Hauptquartier besucht und seien dort zu einem Dinner eingeladen gewesen. Zuvor hätten diese Studenten im BUF-Camp in Pagham übernachtet, zu sechst in einem Zelt, und hätten sich über eine schlechte Behandlung beschwert. Sie seien daraufhin vorzeitig ab-gereist. Der Vorfall habe zu Konflikten mit den Verantwortlichen des Camps geführt.747

Auf Berichte des Botschafters Grandi an das italienische Außenministerium Bezug nehmend erläutert Claudia Baldoli, 27 Studenten aus Aosta und Florenz hätten dabei 15 Tage in London verbracht und in Mosleys Anwesen auf dem Land gewohnt. Die Studenten hätten Grandi in Begleitung zweier BUF-Vertreter in der Botschaft besucht. Der Botschafter habe diesen Aus-tausch als sehr wertvoll erachtet, um Beziehungen zu festigen. Zuvor seien 30 britische Faschis-ten in Aosta gewesen; eine andere Gruppe werde noch nach Florenz reisen.748 Interessant ist, dass aus diesen Berichten Grandis nicht hervorzugehen scheint, dass es zu einem Zwischenfall und einer Auseinandersetzung zwischen den italienischen Gästen und den britischen Gast-gebern gekommen ist. Doch die Version des externen britischen Berichtes verdeutlicht, dass trotz der Bemühungen der faschistischen Parteien, enge Verbindungen der Faschisten unter-schiedlicher Nationalität herzustellen, solche Zusammenkünfte nicht störungsfrei abliefen. Offen bleibt in diesem Kontext, in welcher Sprache die Verständigung der Studenten beider Länder erfolgen sollte, welche Inhalte besprochen und welche gemieden werden sollten. Nicht allein Sprachprobleme standen der Ausweitung solcher Kontakte im Weg, sondern auch der in beiden faschistischen Bewegungen kultivierte Nationalismus und Chauvinismus, die Kon-kurrenz um die Deutungshoheit, welcher Faschismus ‚der richtige‘ sei und, nicht zuletzt, frem-denfeindliche und rassistische Haltungen. Die BUF scheint bei dem Besuch der italienischen Studenten bewusst darauf verzichtet zu haben, die Unterkunft der Gäste, wie für ihre Reisen nach Italien und Deutschland vorgesehen, in Privathaushalten zu organisieren und stattdessen auf ihr Sommercamp als repräsentativere Variante und leichter kontrollierbares Umfeld ge-setzt zu haben. In den späten 1930er Jahren reisten einzelne studentische Mitglieder der BUF nach Deutschland, um hier Kontakte zu etablieren und als Propagandisten der Partei aktiv zu werden.749 Allein waren sie mit diesem Ansinnen gewiss nicht, denn wie Unity und Diana Mit-ford besuchten nicht wenige junge Briten aus der gesellschaftlichen Oberschicht regelmäßig München, Nürnberg oder Berlin und umgaben sich dort mit führenden Nationalsozialisten.750 Eine jüngere Zielgruppe: das Werben um die Schüler der public schools Nachdem sich die angestrebte Faschisierung der britischen Studenten für die BUF in ihrer Frühphase schwieriger gestaltet hatte als erhofft, nahm die Bewegung eine ebenso sozial ex-klusive Gruppe in den Blick: die Schüler der public schools . In der ersten Jahreshälfte 1934 wurde die Ausrichtung der Agitation auf die von der Oberschicht und gut situierten Familien der Mittelschicht frequentierten Privatschulen deutlich. Die BUF selbst lenkte den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit auf ihre Bemühungen um die noch jüngere Elite des Landes. Wie die italienische faschistische Bewegung bzw. Partei zog die BUF die strategische Konse-quenz, ein jüngeres Publikum anzusprechen und sich dessen vermeintlich stärkere Empfäng-lichkeit zunutze zu machen. Während im italienischen Fall die zunehmende Eigeninitiative der Studentengruppen diesen Schritt mit bedingt hatte, waren es im britischen Fall eher die Rekrutierungsschwierigkeiten im akademischen Raum.

Die Berichte der Parteizeitung fanden schon bald Widerhall in der Tagespresse und darauf-hin in den Akten der Sicherheitsbehörden und des Innenministeriums. Um 1934 setzte die BUF ihre kleinen Zellen in Privatschulen mit ihrem Youth Movement gleich. Die präferierte soziale Zielgruppe war damit offenkundig. Das bedeutet nicht, dass die Bewegung aus dieser Gruppe auch zwangsläufig den größten Zulauf erhielt, es lässt aber hinsichtlich des Klassen-bewusstseins ihrer Führung tief blicken. Sprachlich nahm sie erneut Entlehnungen aus mili-tärischen und paramilitärischen Organisationen vor und machte sich die in den Oberschich-ten hohe Akzeptanz soldatischer Tugenden zunutze.751 Die Strategen erachteten die sonst so prominente wirtschaftsbezogene Krisenrhetorik hier als nicht zielführend. Einer der ersten The - Blackshirt -Artikel zu einer anvisierten Unterwanderung der public schools prangerte die geringe Empfänglichkeit der Schüler für das Thema wirtschaftlicher und sozialer Krisen an: Diejenigen, die für diese Themen sensibilisiert seien, hätten sich – mangels Alternative – den Sozialisten oder Kommunisten angeschlossen. Der Faschismus sei als new creed nun aber eine solche Alternative, mit der schon zahlreiche converts in den public schools sympathisierten.753Der Artikel zeigte pseudo-religiöse Anklänge und bemühte das Bild einer Mission, eines intel-lektuellen Kampfes gegen den Kommunismus und eines Aufstandes gegen Apathie und ‚fal-sche Darstellungen‘ des Faschismus durch die Schulen.754

Die BUF selbst lancierte die Kampagne einer geplanten Infiltration der Privatschulen und hatte damit hinsichtlich der Erhöhung ihrer Medienpräsenz und ihrer öffentlichen Wahrneh-mung Erfolg. Die überregionale Presse griff das Thema auf und die Sicherheitsbehörden waren alarmiert. Diese Agitation erfolgte zeitlich parallel zur großen Medienkampagne der Rother-mere-Presse zugunsten der British Union of Fascists . Zu dieser Zeit genoss die Bewegung ein hohes Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit. So berichtete der Manchester Guardian im Juni über die Rekrutierungsmaßnahmen in Privatschulen; eine Einschätzung, ob der behauptete Zuwachs von zwei auf zwanzig Zweigstellen in public schools in sechs Monaten realistisch sein könnte, nahm der Guardian -Autor nicht vor.755 Allerdings brachte ein Kommentar in dersel-ben Ausgabe Zweifel an der Richtigkeit zum Ausdruck: „We quote to-day a number of extracts from Sir Oswald Mosley’s paper which illustrate the ramifications of his organisation. They do not err on the side of understatement.“756

Tatsächlich führte die BUF zu diesem Zeitpunkt eine regelrechte Publicity-Kampagne, stand sie doch unmittelbar vor ihrer Parteigroßkundgebung in der Londoner Olympia Hall, die später wegen der Gewaltexzesse berüchtigt und zum Wendepunkt in der öffentlichen Wahrnehmung der BUF wurde. Die zitierte Ausgabe von The Blackshirt weicht von der Linie einer eklektischen und polemischen Binnenkommunikation ab. Als Werbung für die Groß-kundgebung scheint sie an ein heterogeneres Publikum gerichtet zu sein, nicht nur an eine Leserschaft von Mitgliedern, sondern an eine breitere Masse, die sie bei der Olympia Rally an-zuziehen hoffte. Der Artikel „Youth Movement Activities“ präsentiert die zuvor seltene Erwäh-nung der Jugendsektion als geschickten strategischen Schachzug der Tarnung. Alle Zweifel des aufmerksamen Lesers bezüglich deren Existenz, Effizienz oder der Aktivitäten sollen so vorab gekontert werden.757 Die Formierung der Jugendorganisation wird als Bewegung ‚von unten‘, als Resultat reger Nachfrage dargestellt.758 Die Schilderung der Aktivitäten und der Ziele der jungen Mitglieder ist geeignet, die öffentliche Beunruhigung über eine Anwerbung von Ju-gendlichen durch eine extremistische Bewegung zu verstärken:

Die BUF plante, sich aus der gesellschaftlichen Oberschicht und oberen Mittelschicht einen Parteinachwuchs heranzuziehen und ihn fernab elterlicher Kontrolle zu vereinnahmen, wenn-gleich sie erklärte, die schulinternen Regeln zu achten. Die Aussicht einer faschistischen In-doktrination von Schülern (unter den Augen der Schulleitung) ergibt ein beunruhigendes Bild. Zwei literarische Verweise kommen hier in den Sinn: Die mit der Anwerbung von Jugendli-chen befassten Erwachsenen scheinen sich in einer Art ‚Peter-Pan-Rolle‘ zu gefallen, als Retter der ‚verlorenen Jungs‘, als ewig junge Anführer, die die männliche Jugend durch Abenteuer leiten und eine Schicksalsgemeinschaft bilden. Die Fremdwahrnehmung ist allerdings eine an-dere: Angesichts der antidemokratischen Agitation im eigentlich geschützten Raum der Schule entsteht die Assoziation vom ‚Rattenfänger von Hameln‘, der, um sich für die Verkennung seiner vermeintlichen Leistung zu rächen, die Jugend anlockt, sie der Gesellschaft entfremdet und ins Verderben führt.

Die Altersspanne des Youth Movements bezifferte die Bewegung auf vierzehn bis achtzehn Jah-re. Neben Schülern der public schools seien Gleichaltrige, die in der Industrie oder als Büroarbeits-kräfte beschäftigt seien, eingetreten. Künftig sollten sie und auch weibliche Jugendliche eine Fas- cist Youth League bilden, die ins Leben gerufen werde, wenn die Youth Sections groß genug seien.760Von diesem Vorhaben scheint die BUF allerdings frühzeitig wieder Abstand genommen zu haben; eine solche Dachorganisation findet in den Publikationen später keine Erwähnung mehr.

Auffällig ist der Umgang mit einem inhärenten Problem der public-school -Propaganda, nämlich mit der übermäßigen Fokussierung auf Jugendliche aus besser situierten Kreisen: Nur in vagen Formulierungen, wie „Fascists finds [sic!] public schoolboys fighting side by side with the sons of road-sweepers for a common cause“761 und „It is definitely the intention of the British Union of Fascists to cater for people of all classes and all ages, for it is only by this method that Fascism will be able to represent the people of Britain as a whole“762, werden andere soziale Klassen erwähnt. Eine Ausführung dessen, was die BUF den Söhnen des Straßenkehrers politisch anbieten will, bleibt aus.

In einigen Stellungnahmen zu bildungspolitischen Themen nahm die BUF Bezug auf Schu-len in proletarischen Gegenden; sie kritisierte deren schlechte Unterrichtsbedingungen sowie die veraltete und unhygienische Ausstattung. Hier warf sie der Labour Party vor, Schulpolitik zur reinen Selbstinszenierung zu nutzen.763 Die Thematisierung sozialpolitischer Problemfel-der seitens der BUF weist ein Muster auf: Eine von vielen Zeitgenossen und gesellschaftlichen Gruppen geteilte, mehrheitsfähige konkrete Kritik an Missständen in bestehenden Einrich-tungen und an sozialpolitischen Maßnahmen verknüpft sie mit einer Fundamentalkritik an der Regierung und den politischen Parteien sowie mit Bezichtigungen und Verschwörungs-theorien. Sich selbst verleiht sie die Rolle des Aufklärers. Sie appelliert an die betroffene ge-sellschaftliche Gruppe, sich der Bewegung anzuschließen, um weiteren Niedergang abzuwen-den. Was sie in all diesen Fällen nicht bietet, sind präzise Lösungsansätze zur Behebung der Missstände oder konkrete Maßnahmen. Wie bei heutigen populistischen Bewegungen steht die Rhetorik der Krise im Mittelpunkt, die Mobilisierung der Masse gegen die politische Eli-te, die Spaltung der Gesellschaft in ‚Verursacher‘ und ‚Opfer‘. Nicht Lösungen und politische Programme sollen präsentiert werden, sondern es ist die Bewegung in ihrer selbst zugeschrie-benen Rolle als Sprachrohr und Verteidiger der angeblich Übervorteilten, die aus der Empö-rungsdynamik gestärkt hervorgehen soll.

Wie eingangs erwähnt, offenbart die Analyse der Parteipublikationen zum Youth Movement eine Widersprüchlichkeit: Sporadisch wurde die Rekrutierung Jugendlicher als ein Erfolg kommuniziert, dann verschwand das Thema aus den Veröffentlichungen, bis Aufrufe an die Branches erschienen, die Etablierung von Jugendsektionen endlich mit größerem Elan voran-zutreiben. Die faschistische Bewegung befand sich in einem Dilemma zwischen großspuriger Kommunikation nach außen und Disziplinierung nach innen. Eine umfassende Kampagne lancierte die sich nun kurz British Union (BU) nennende Bewegung im Sommer 1936. Dass die Agitation hier intensiviert wurde, ist in internationalem Kontext zu betrachten: Zur glei-chen Zeit erfuhren die italienischen faschistischen und die deutschen nationalsozialistischen Jugendorganisationen einen forcierten Ausbau und eine Vernetzung. Mit der Umwandlung der ONB in die GIL nahm der PNF dann die Jugendorganisationen wieder in den Verantwor-tungsbereich der Partei, straffte die Strukturen und stellte imperialistische und militaristische Vorstellungen noch deutlicher in den Mittelpunkt der Erziehung als zuvor (vgl. Kap. 3.2). Im nationalsozialistischen Deutschland wurde 1936 die Hitlerjugend zur Staatsjugendorganisati-on erklärt und die Pflichtmitgliedschaft eingeführt. Die in dieser Zeit erfolgende Fokussierung der BU auf die Jugend erscheint daher auch als strategische Konsequenz aus ihrer versuchten Anbindung an die beiden Regime und aus ihrem Streben nach deren Anerkennung.

Die BU verkündete, nun eine Restrukturierung ihres Youth Movement vorzunehmen. Die-ses sollte künftig in zwei Altersgruppen untergliedert werden, die Cadets als ältere Jugendli-che zwischen vierzehn und achtzehn Jahren und die Youths zwischen neun und vierzehn. Im Unterschied zu den erwachsenen Blackshirts trugen die Jugendlichen ein graues Hemd; die Uniform dieser auch als Greyshirts bezeichneten Jugendmitglieder glich damit jener der Nupa. Zahlen zur Stärke der einzelnen Gruppen und zur Parteijugend insgesamt veröffentlichte die Partei nicht. Im April 1936 erschien in The Blackshirt der Artikel „Youth: Activities of the Blackshirt Cadets“, der erstmals detailliertere Informationen bot:

Die Cadets hätten, so erklärte der Artikel, Forderungen nach mehr Aufmerksamkeit und Par-tizipationsmöglichkeiten erhoben und den Herausgeber überzeugt, ihnen eine eigene Kolum-ne zu gewähren. Diese sollte das gesellige Miteinander und den Spaß betonen, das moderne Angebot an sportlichen Aktivitäten und Ausflügen bewerben und so zur Teilnahme anregen. Geplant waren beispielsweise cycling clubs .765 Die sportlichen Aktivitäten der Cadets entspra-chen, wie jene für die erwachsenen Mitglieder, dem Zeitgeist und orientierten sich an den mehrheitsfähigsten Hobbys dieser Generation. Sie waren weder innovativ noch provokant. Doch die BU kam damit dem Geschmack und den Bedürfnissen ihrer Mitglieder und der brei-teren Masse nahe, bot eine Art ganzheitliche Erfahrung der Parteimitgliedschaft und unter-strich ihren Anspruch, eine dynamische, moderne Bewegung zu sein.

Mit der Bezeichnung Cadets bedienten sich die britischen Faschisten einerseits der mili-tärischen Terminologie und untermauerten ihr paramilitärisches Auftreten. Andererseits nahmen sie hier Anleihen aus der Geschichte der britischen karitativen Jugendfürsorge vor: Seit den 1880er Jahren waren in sozialschwachen Ballungsräumen im Rahmen der Gründung von settlements , also von universitätsgebundenen Sozialforschungs-, Sozialarbeits- und Wohl-fahrtszentren vor Ort, sogenannte Cadet Corps als Trainingssparten von Boys’ Clubs eingerich-tet worden. Die Boys’ Clubs wiederum wurzelten in kirchlichen Initiativen, deren Hauptaugen-merk darauf lag, durch eine Freizeitangebote schaffende Jugendfürsorge soziale Deprivation zu verhindern. Männliche Adoleszente aus proletarischen, armen Verhältnissen sollten in den Cadet Corps nicht nur auf einen möglichen Militärdienst vorbereitet, sondern in einem allge-meineren Sinne zu guten, gehorsamen, verlässlichen Staatsbürgern erzogen und zu einem ge-sunden Freizeitverhalten angeleitet werden. Die Boys’ Clubs mit den Cadet Corps entwickelten sich dabei auch zu Freizeiteinrichtungen.766 Die britischen Faschisten orientierten sich somit an einem bereits beliebten, anerkannten Programm und suggerierten, sie böten eine patrioti-schere und dynamischere Variante an .

Wenige Wochen nach der Bekanntgabe vermeldete The Blackshirt , die Cadet Organisation sei ein solcher Erfolg, dass das graue Shirt nun „a familiar sight“ sei. Zwei kurze Porträts infor-mierten über die Aktivitäten der Gruppen in der „West London Area“ und in „South-Western London“. Beide betonten die Nützlichkeit der Jugendgruppen für die Erwachsenenverbände und forderten von diesen Spenden ein.767 Die „keen bodies of Blackshirt Cadets and Fascists Youths“768 erledigten demnach für die Erwachsenen lästigere Parteiarbeiten und Kurierdiens-te. Dass gerade das Fahrradfahren als gesellige Aktivität für die Jugend betont wurde, hatte also auch praktische Gründe. Den Mitgliedern der Jugendorganisation wurden Hilfstätigkei-ten wie Botengänge zugewiesen; folglich waren die cycling clubs nicht nur als Angebot an die Teenager konzipiert, sondern auch als eine Möglichkeit, Parteiarbeit zu delegieren und die Effizienz zu erhöhen. Die Zuweisung solcher Hilfsdienste war allerdings durchaus ein Cha-rakteristikum der früheren und der zeitgenössischen großen Jugendorganisationen, ebenso wie militärisch inspirierte Hierarchien, Uniformen und Abzeichen, die durch das Absolvieren von Arbeitsaufträgen und Prüfungen erworben wurden. Die BU orientierte sich an Organi-sationen wie den Boy Scouts , appellierte an ein jugendliches Bedürfnis nach Beteiligung und Verantwortung, eine Sehnsucht nach Abenteuern und Missionen und alludierte zugleich auf die Hilfsdienste der Pfadfinder im Ersten Weltkrieg.769

Auch ideologisch schienen einige Charakteristika der frühen Boy Scouts in der BU wieder-belebt: die starke Betonung von Nationalismus und Vaterlandsliebe, Imperialismus, Rassismus und Missionierungsanspruch; und die neue Fokussierung der BU auf die Kinder und Jugendli-chen der working classes zeigte eine spürbare Nähe zu den autoritären Gesellschaftsvorstellun-gen der frühen Boy Scouts . Deren Zeitschriften und Bücher hatten mit erzieherischem Nach-druck Kindern, insbesondere Jungen, aus proletarischen Verhältnissen imperialistische und militaristische Weltanschauungen und Werte der middle classes einzuimpfen gesucht und As-pekte der Arbeiterkultur in Abrede gestellt.770 Der Zugang der britischen Faschisten zur Jugend aus armen Verhältnissen war – beinahe dreißig Jahre nach der Gründung der Boy Scouts  – ähnlich autoritär und auch er nahm Anschluss an die Theorien der physical deterioration .

Die British Union bediente sich bei der Konzeption ihres Youth Movements vieler Vorbilder; sie kopierte Elemente, die in anderen Organisationen Erfolg hatten. Dabei griff sie Einflüsse aus einem nationalen und internationalen Kontext auf. Die Gründung der Jugendbewegung wurde nun als „formal inauguration of the Fascist and National-Socialist Youth Movement“771auf den 20. Juli 1936 datiert und der Ausbau noch einmal forciert. Die Orientierung an den NS-Jugendorganisationen, an der ONB sowie an den Fasci Giovanili di Combattimento, die aus den Quellen ersichtlich ist, gestand die BU nicht ein: Sie nutzte die Attribute faschistisch und na-tionalsozialistisch vielmehr zur Selbstbeschreibung. Der ‚Spirit‘ der Jugendorganisation sollte ein nationalsozialistischer sein. Implizit orientierte sie sich am italienischen Beispiel der Leva Fascista , denn der altersbedingte Wechsel sollte als Belohnung für verdienstvolles Verhalten verstanden werden, als eine Ehrung, die nicht selbstverständlich sei, sondern verliehen werde:Im Unterschied zum deutschen Nationalsozialismus und zum italienischen Faschismus ver-fügte der britische Faschismus als Bewegung ohne Machtbasis nicht über repressive Maß-nahmen und gesetzgeberische Möglichkeiten, die Jugend des Landes zum Eintritt in die Ju-gendorganisationen zu bewegen oder zu zwingen. Während in den beiden Diktaturen eine Umdeutung der Mitgliedschaft als Verdienst und als leistungsabhängig im Grunde ein insze-natorisches Beiwerk ist, klingt im Falle einer sich noch konstituierenden faschistischen Bewe-gung eine solche Erklärung gewagt, denn sie droht, Interessenten zu verprellen. Die propagan-distische Inszenierung des Übergangs von einer Gruppe zur nächsten diente aber dazu, eine Mystik zu konstruieren und Profanes zu einer Mission zu verklären. Dies schürte den Ehrgeiz des ‚Gefallen-Wollens‘. Die BU präsentierte sich als eine Elitenbewegung, die nicht darauf an-gewiesen sei, die Masse anzuwerben. Aus dieser Sicht erschien eine Mitgliedschaft demnach als ein Qualitätsmerkmal.

In der Parteizeitung Action wurden die Parteijugendorganisationen nun, zehn Jahre nach Gründung der Opera Nazionale Balilla , in einen Zusammenhang mit der ONB und mit der Hitlerjugend gestellt. Den Auftakt dieser Kampagne bildete ein Porträt der Balilla , verfasst von einem promovierten Theologen, der als Rev. G. W. H. Webb, D. D. vorgestellt wurde. Foto-grafien kontrastierten vier Figli della Lupa und eine Gruppe von Blackshirt Cadets mit der Erläuterung „Blackshirt Cadets standing easy before a march. Bringing the Twentieth Cen-tury Creed to Britain“773. Durch die Verpflichtung eines vorgeblich objektiven Autors mit der Autorität des Kirchenmannes wurde das Vorhaben, die Parteijugend auszubauen, in ein mil-deres Licht gerückt. Zugleich schwang allerdings ein chauvinistischer Ton mit.774 In anderen Bezugnahmen auf das italienische Vorbild trat die Behauptung einer britischen Überlegen-heit inzwischen deutlich hervor. Die BU sah nun den deutschen Nationalsozialismus eher als Inspiration und als potenziellen Förderer ihrer Amibitionen. Der Einfluss der Olympiade in Berlin 1936 auf die BU lässt sich trotz einer erstaunlich geringen Thematisierung der Spiele in den Veröffentlichungen nachzeichnen. Denn die Selbstbeschreibung als athletischer Männer-bund war plötzlich wieder sehr präsent. Diskurse zur Fitness der Nation und zur Wehrtüchtig-keit sowohl im sportlichen als auch im sozialdarwinistischen Sinne waren erneut prominent platziert, ebenso faschistische Körperbilder und das Schlagwort Virilität. A. K. Chesterton rief einen „New World Spirit“ und den „Return to Manhood“ aus.775 Chestertons Beiträge mit Fotomontagen in einer futuristisch-faschistischen Ästhetik analog italienischer Publikationen sind paradigmatisch für faschistische Rhetorik. Pathologisch mutet Chestertons Behauptung einer Verweiblichung von Politik und Gesellschaft an. Ein misogynes Vokabular zieht sich wie ein roter Faden durch seine Argumentation. Mädchen – ein blinder Fleck?

Vergleicht man die Pläne der BUF, die britische Jugend zu organisieren, mit den Diskursen und Organisationen im faschistischen Italien und im nationalsozialistischen Deutschland, so fällt eine wichtige Diskrepanz auf: Im britischen Fall erfolgte nahezu keine Erwähnung der Mädchen. Weibliche Jugend und die Möglichkeiten ihrer Vergemeinschaftung, Jugend-organisationen für Mädchen und weibliche Teenager, Erziehungsideale oder Freizeitaktivi-täten für Mädchen – all diese Themen bilden eine Leerstelle im britischen Faschismus. Es finden sich keine britischen Entsprechungen zu den Giovani Italiane , Piccole Italiane oder Figlie della Lupa . Während die Fasci all’Estero in Großbritannien Mädchenorganisationen aufbauten und damit ihren Einfluss auf die Heranwachsenden und deren Familien vergrö-ßerten, ließen die britischen Faschisten hier kaum Engagement erkennen. Die BUF war auf Organisationen der männlichen Jugend fokussiert. Nach den anfänglich kommunizierten Plänen, Mädchen in eine Fascist Youth League aufzunehmen, ließ sie in ihrer Kampagne zum Youth Movement keine entsprechenden Absichten mehr verlauten; ebenso wenig the-matisierte sie in einer mit dem italienischen Faschismus vergleichbaren Weise, welche Erzie-hungsprinzipien und Frauenbilder im britischen Faschismus der nachfolgenden Generation von Frauen nahegebracht werden sollten. Es finden sich lediglich vereinzelt Belege dafür, dass Mädchen durch ihre Eltern in die Aktivitäten der BUF eingebunden wurden. So über-reichte bei einem Ball mit einer „fancy-dress parade“ im Mai 1935 ein kleines Mädchen in einem Anzug, der den Uniformen der Division 1 (dem Nachfolger der Defence Force) nach-empfunden war, Maud Mosley einen Blumenstrauß.776 Mitglieder der Basis handelten in die-sen Fällen offenbar inszenatorisch eigenmächtig. Einen Widerhall fand dies nicht, obgleich im Frühjahr 1934 Esther Makgill, zu diesem Zeitpunkt noch ranghohes Mitglied der Wo- men’s Section , kurz darauf aber wegen veruntreuter Gelder entlassen, das Problem fehlender Pläne für Mädchengruppen angeprangert hatte: „Women will also be required to assist in the Organisation of the Youth Movement. We cannot organise the Fascist boys of the country, without including the Fascist girls.“777

Während im italienischen Faschismus die ONB-Gruppen für Mädchen und weibliche Jugendliche auf die frühzeitige Vermittlung politisch gewollter Rollenbilder zielten, einen Kult der Mutterschaft verankern und faschistische Vorstellungen von Körperlichkeit und Fitness propagieren sollten, scheint dies im Fall des britischen Faschismus nicht gewollt oder als nicht zielführend erachtet worden zu sein. Auch in inszenatorischer Hinsicht setzten die britischen Faschisten nicht auf den Tabubruch, kleine militarisierte Mädchen an öffentlichen Parteiveranstaltungen teilnehmen zu lassen, geschweige denn am italie-nischen Beispiel orientierte Sportveranstaltungen für Kinder und Jugendliche zu organi-sieren.

Dabei war die Popularität von Mädchenorganisationen in Großbritannien sehr groß. Nicht nur für jüngere Mädchen bestand, wie erwähnt, ein vielfältiges Angebot, auch für die Jugend-lichen und jungen Erwachsenen, denn gesellschaftlich wurde ihrer Betreuung und der Ermög-lichung eines angemessenen Freizeitverhaltens eine große Bedeutung beigemessen. Die Ado-leszenten und die schon arbeitenden oder arbeitsuchenden jungen Frauen gerieten tendenziell schneller aus dem Blick als die Jüngeren. 1942 erschien die Sozialstudie Girls Growing Up von A. P. Jephcott, die sich mit Lebenswelten, Erfahrungen und Interessenlagen heranwachsender Mädchen befasste. Jephcott hatte über Jahre selbst Girls’ Clubs an verschiedenen Orten gelei-tet. Ihre Studie ging von jährlich 240 000 Mädchen zwischen vierzehn und fünfzehn Jahren aus, die die Schule verließen und eine Arbeit aufnähmen. Viele von ihnen suchten nach Mög-lichkeiten, sich in ihrer verbliebenen Freizeit mit Gleichaltrigen zu treffen, sich auszutauschen oder einem Hobby nachzugehen.778 Jephcott sah Mädchen als generell spontaner und indivi-dueller in ihrer Freizeitgestaltung an:

Für die breite Masse an jungen Frauen war die BUF bzw. BU nicht zuletzt wegen ihrer Män-nerbundrhetorik und ihrer repressiven Moralvorstellungen unattraktiv. Die Women’s Section pochte, wenn sie sich an jüngere Frauen wandte, so sehr auf Ernsthaftigkeit, Disziplin und Mütterlichkeit, dass sie altbacken wirkte. Dennoch schlossen sich zahlreiche junge Erwachse-ne an, die Branches und Women’s Sections als Orte der Geselligkeit empfanden und von denen einige die Treffen und Demonstrationen sogar als Heiratsmarkt nutzten. Wie ihre männlichen Altersgenossen brachten sich junge Frauen aus einer radikalen politischen Überzeugung und einer Faszination für den Extremismus und die Gewalt aktiv ein. Es handelte sich beim Ju-gendelement der Frauenabteilung allerdings eher um die Generation zwischen Anfang zwan-zig und dreißig. Thematisch versuchte die BU Rückhalt bei jungen Frauen als potenziellen Wählerinnen oder Multiplikatorinnen zu finden, indem sie eine wirtschaftliche Ausbeutung anprangerte, sich zum Interessenvertreter erklärte und dies mit ihrem Extremismus kombi-nierte. So nahm sie eine breitere zeitgenössische Kritik an den Arbeitsverhältnissen von shop girls oder factory girls auf und nutzte das Thema zur Untermauerung ihrer radikalen antise-mitischen Hetze.780 Die Geselligkeit des Youth Movements

Mit ihrer räumlichen Fokussierung auf das East End und strukturell ähnliche Ballungsräume intensivierten die britischen Faschisten das Motiv, sie seien um das gesundheitliche Wohl der Jugend des Landes bemüht, vor allem um jenes der Kinder und Jugendlichen aus ärmeren Gebieten. In dem für sie typischen Stil argumentierten sie, der britische Faschismus strebe eine noch nie dagewesene Form der Sozialfürsorge an; diese sei der politischen Weitsicht des Leaders zu verdanken. Zur Visualisierung dieses Narrativs veröffentlichten Action und The Blackshirt eine Fotografie des uniformierten Leaders Oswald Mosley mit fünf Kindern am Strand. Das Bild sollte die Verbundenheit des Parteiführers mit der Jugend symbolisieren, das Propagandamotiv des Führers als Vater der Nation bildlich inszenieren. Objektiv betrachtet vermittelt die Aufnahme weder den Eindruck von Zugewandtheit noch von väterlicher Au-torität, lässt die Beteiligten vielmehr eigenartig deplatziert wirken, auch wenn der Leitartikel einen anderen Eindruck zu vermitteln suchte:

Im britischen Faschismus fand das im italienischen und deutschen Fall so häufig beschworene Motiv des Führers als Vater kaum Entsprechung, weder als Metapher noch in der Bildsprache. Die wenigen in den Medien der Bewegung veröffentlichten Fotografien Mosleys mit der Jugend sollten vorrangig Disziplin, Respekt und Haltung inszenieren, nicht Nähe, Emotionalität oder den bei den benachbarten Fasci so hervorstechenden Familialismus.782

Die fehlende Konzeption der britischen Faschisten als Väter war, wie Julie Gottlieb konsta-tiert, eine Leerstelle im Selbstverständnis der BUF, die sich nicht zuletzt aus der anhaltenden Selbstwahrnehmung als Söhne im Generationenkonflikt ergab: „Mosley appropriated the voi-ce of rebellious youth, not controlling and demanding father.“783

Doch der Inszenierung als primus inter pares hätte die Erwähnung von Mosleys Vaterschaft eigentlich noch keinen Abbruch tun müssen, waren viele junge Männer in der BUF doch selbst junge Väter. Mosley hatte 1936 bereits drei Kinder aus seiner ersten Ehe, diese aber der Fürsor-ge ihrer Tanten und Kindermädchen übergeben. Seine Rolle als Familienvater, die er wohl be-vorzugt im Urlaub reaktivierte, war in den Parteipublikationen ein Tabuthema. Wie erwähnt, gab Mosley erst 1938 in einem Statement in Action bekannt, dass er und Diana Mitford zwei Jahre zuvor geheiratet und nun einen Sohn bekommen hatten.784

Laura King, die sich mit der gesellschaftlichen Sicht auf Vaterschaft in Großbritannien im 20. Jahrhundert befasst hat, wertet die Zwischenkriegszeit als eine Phase des langsa-men Wandels, in der vor allem bürgerliche Familien eine stärkere Beteiligung der Väter an der Erziehung der Kinder und eine größere emotionale Nähe in Vater-Kind-Beziehun-gen akzeptiert hätten. Vaterschaft sei zunehmend als Aspekt moderner Männlichkeit an-erkannt worden.785 Einflüsse eines solchen Zeitgeistes lassen sich bei der BUF trotz des Widerspruchs, dass sie die bürgerliche Familie unterschwellig idealisierte und dennoch keine Definition der Vaterrolle oder zu deren Vereinbarkeit mit ihrem Männlichkeitskult bot, identifizieren. So ließen einige Mitglieder von Rang Geburtsanzeigen ihrer Kinder in The Blackshirt veröffentlichen oder ihre Kinder in einer sogenannten Fascist Christening taufen.786 Für die Mehrheit aber waren die Branches und das Hauptquartier ein Refugium abseits des familiären Alltags.

Mosley inszenierte 1937 seine Nähe zur Parteijugend, indem er seinen Sohn Nicholas an einem Camp der Bewegung teilnehmen ließ. Nicholas Mosley erinnert sich in Beyond the Pale , sein Vater habe ihn in seinem ersten Schuljahr in Eton unter falschem Namen ins Camp rei-sen und eine Nacht dort verbringen lassen. Er gibt an, niemand vor Ort habe gewusst, dass er Mosleys Sohn war.787 Der propagandistische Zweck dieser Episode dürfte eher darin gelegen haben, den Sohn demonstrativ unter falscher Identität als gewöhnlichen Jungen teilnehmen zu lassen, um dem Verdacht entgegenzuwirken, die eigene Lebenswelt gegenüber der Bewegung abzuschotten. Interessanterweise führt Nicholas Mosley an, sein Vater habe selbst nicht am Camp teilgenommen, sondern in einem nahegelegenen Country House übernachtet.788 Dass es vor allem um die Außenwirkung einer nur scheinbar anonymen Teilnahme ging, lässt sich auch aus einem unmittelbar nach dem Ferienlager in Action veröffentlichten Artikel schließen, in dem der Herausgeber die ganze Episode um diesen Jungen namens „Smith“ schilderte.789

Aus Nicholas Mosleys Erzählung geht hervor, dass Oswald Mosley mit seinen Kindern in den Ferien einen gehobenen Lebensstil bevorzugte – dieser fand allerdings nie Erwähnung in Parteipublikationen. Urlaube verbrachte die Familie zumeist in Südfrankreich, in Vene-dig und in den luxuriösen Badeorten Süditaliens. 1935 reiste sie über Rom, wo sie im Grand Hotel nächtigte und Mosley Mussolini traf, weiter nach Posillipo bei Neapel. Dort wohnte sie in einer Villa, die dem ehemaligen britischen Botschafter in Italien, Rennell Rodd, ge-hörte und in der sie die italienische Kronprinzessin besuchte. 1936 war die Familie dann in Sorrento.790

Während die BUF die spartanischen Blackshirt Camps an der englischen Küste als ideale Ferien für britische Faschisten pries, pflegte ihr Leader stillschweigend den Lebensstil, den er seit jeher gewohnt war. Die Hypokrisie gipfelte in zeitgleich veröffentlichten Angriffen der BUF auf Vertreter anderer politischer Parteien wegen deren Urlaubs- und Freizeitverhaltens, das angeblich Ignoranz und Arroganz offenbare. Entsprechende Artikel schürten Sozialneid und gaben die BUF kollektiv als Repräsentanten jener aus, die sich einen solchen Lebensstil nicht erlauben konnten.791

Im November 1936 stellte B. D. E. Donovan, der Assistant Director General , noch einmaldas Fascist Youth Movement in seinen Grundzügen vor und versuchte, dieses von offensicht-lichen Vorbildern abzugrenzen und die Originalität der britischen Jugendorganisation zu betonen:

Donovan bestritt hier folglich, dass die BUF Charakteristika der Staatsjugendorganisationen Italiens und Deutschlands oder der erfolgreichen zeitgenössischen britischen Jugendorganisa-tionen übernommen habe – in beiden Fällen stimmte dies nicht. Das Youth Movement besaß nun sogar ein Motto, das dem italienischen ähnlich schien, aber eine weniger demokratie-feindliche Botschaft vermittelte: Statt credere, obbedire, combattere galt hier loyalty, principle and service .793

Ihren Anspruch, die einzige wirklich patriotische Jugendorganisation zu führen, unterstrich die BUF durch Enthüllungsberichte mit reißerischen Titeln wie „Moscow Plans To Capture British Youth“794. Sie behauptete eine Infiltration von Jugendorganisationen und Clubs durch Kommunisten, bezeichnete große Jugendverbände und  -einrichtungen als gefährdet und suchte sie so zu delegitimieren und zu schmähen. Das Verhältnis der BUF zu den großen, erfolgreichen Jugendorganisationen ihrer Zeit war insgesamt erratisch. Diffamierungen wech-selten sich mit offenen Briefen ab, in denen sie die Gemeinsamkeiten betonte und für eine Kooperation warb.795 Erwies sich diese Strategie als nicht zielführend, griff sie die jeweilige Organisation erneut an und unterstellte ihr, ähnlich wie es die italienische faschistische Partei sowohl in Italien als auch in den Auslandsgemeinden gegenüber Konkurrenten praktizierte, die Ziele ihrer Gründer verraten zu haben.796 In anderen Fällen prophezeite sie, schon bald alle Mitglieder der betreffenden Organisation abgeworben zu haben; eine Androhung, die sich nicht bewahrheitete, die sie allerdings in einem anderen Bereich, nämlich bei den British Fa- scists , tatsächlich erfolgreich umgesetzt hatte.

Wie es scheint, hatte die Bewegung im Sommer 1936 erkannt, dass sie in einem Kernbereich faschistischer Agitation nur geringe Aktivitäten vorweisen konnte und Gefahr lief, Chancen einer internationalen Vernetzung zu verpassen. Das Interesse der Führung galt wohl weni-ger einer tatsächlichen Vergemeinschaftung der britischen Jugend als der Inszenierung und Funktionalisierung einer solchen. Denn schon der Anschein, in ungeschützte Bereiche der Gesellschaft vordringen und Kinder wie Jugendliche vereinnahmen zu können, war ein wirk-sames Instrument der Selbstvermarktung. Dass aber die Einführung von Jugendgruppen in Mitgliederkreisen keine durchweg populäre Maßnahme war, gaben die Parteipublikationen offen zu. Anlässlich der Lokalwahlen in Bethnal Green betonten sie, wie nützlich die Kinder bei der Vorbereitung der BU auf die Lokalwahlen gewesen seien. Die Partei wisse, dass einige Zweigstellen die jungen Mitglieder als einen Störfaktor, als ein Ärgernis betrachteten, sie soll-ten aber den Nutzen bedenken, den die Jugendgruppen haben könnten, während die Kinder gleichzeitig zu guten Staatsbürgern erzogen werden könnten.797

Die Cadets besaßen, wie erwähnt, zeitweilig eine eigene Kolumne in der Zeitung The Bla- ckshirt , in der sie sich zur Elite ihrer Generation erklärten und einander aufforderten, als Multiplikatoren unter Gleichaltrigen aktiv werden. Sie kündigten hier gemeinschaftsstiftende Aktivitäten an, wie Radtouren, die nebenbei der Verteilung von Wahlwerbung dienen soll-ten, oder Modellbautreffen.798 Im Sommer 1938 wurde ein eigenes Cadet Headquarters ein-gerichtet , ein Raum in der Parteizweigstelle in Streatham, in Süd-London. Hier sollten Jugend-treffen stattfinden und Morsekurse, Vorträge oder Fitnesstrainings angeboten werden. Dass sich Cadets inzwischen aus den marginalen Verbänden der Parteijugend lösten und regulären Branches anschlossen, erregte das Missfallen des National Headquarters der Partei, das zur Disziplin und zur Wahrung der Trennung von Jugend und Erwachsenen mahnte:

Die Fokussierung auf das Performative seitens der Parteiführung kollidierte hier mit der Ei-geninitiative der Mitglieder. Die Inszenierung militärischer Ordnung bei den wöchentlichen Aufmärschen drohte ins Leere zu laufen und die Parteiführung fürchtete, die Kontrolle über die jungen Mitglieder zu verlieren. Gerade das, was die BUF für junge Männer mit einer Fas-zination für das Paramilitärische, mit einer Disposition für Gewalt und einer antisemitischen Einstellung attraktiv machte, nämlich die radikale Männerbund-Atmosphäre mit ihrer Ma-chismus- und Gewaltrhetorik, wollte die Parteiführung exklusiv halten. In gewisser Weise war hier eine Generation bestrebt, sich von der nachfolgenden abzugrenzen und eine Durchmi-schung der Altersgruppen zu verhindern.

Wie sehr die BUF bei ihrer Selbstinszenierung versuchte, mit geringem Aufwand eine hohe propagandistische Wirkung zu erzielen, zeigt sich exemplarisch am Shoreditch Youth Move- ment , das intern Prominenz erlangte und oft hervorgehoben wurde. Dass es der Bewegung gelang, im East End-Bezirk Shoreditch mit einer auf Familien und auf Kinder zugeschnit-tenen Propagandaaktivität Einfluss zu gewinnen und Kinder zu rekrutieren, ergab sich aus der schlechten sozialen Infrastruktur des Viertels und einer gezielten lokalen Aktivität der britischen Faschisten. Hier trug die Unterwanderung von Gemeindestrukturen und nachbar-schaftlichen Verhältnissen vor Ort durch die sehr rührigen Propagandisten und, mit noch nachhaltigerem Erfolg, durch die Propagandistinnen in den Vierteln Früchte.

In The Blackshirt erschien zunächst nur eine Fotografie einer Gruppe von fünfzehn Jungen, in zwei Reihen aufgestellt und in gleicher Kleidung (einem helleren Hemd, einer schwarzen kurzen Hose und schwarzen Kniestrümpfen). Alle Jungen halten die Arme verschränkt vor dem Körper und sehen mit strengem Blick geradeaus. Hinter ihnen steht eine Frau mittleren Alters in der Uniform der BU-Frauen.800 Rund zwei Wochen später berichtete die Zeitung über einen öffentlichen Auftritt der Gruppe auf dem Gelände einer Grundschule. BU-Mitglieder hatten hier ein Fest ausgerichtet, bei dem ein Boxwettkampf der Cadets und eine Art Talent-show für Kinder stattfanden. Es seien über 300 Personen gekommen und die Stimmung sei sehr positiv gewesen.801 Der kurze Artikel zeigt, dass die BU in perfider Weise die Nähe einer lokalen Institution, der Schule, und der Nachbarschaften gesucht hatte und dabei erneut auf beliebte Freizeitaktivitäten setzte, die mit ihrem Bild der virilen Jugend gerade noch korres-pondierten und zugleich geeignet waren, eine gelöste, familientaugliche Atmosphäre zu er-zeugen. Kinder waren als Akteure eingespannt, führten ihre Talente vor und wurden mit viel Aufmerksamkeit bedacht. Parteiintern galt das Ereignis als wichtig genug, dass Olga Shore, eine der beiden Leiterinnen der Women’s Section , vor Ort war und über die jugendbezogenen Ziele der BU informierte. Sie erklärte dabei das Shoreditch Youth Movement zu einer Blaupause für die geplante faschistische Jugendorganisation. Über die kleine Gruppe der Parteijugend sollte ein potenziell empfängliches Umfeld unterhalten und so für die Initiative der Bewegung eingenommen werden. Exponierte die BU sich hier als Organisator von Kinderfreizeitaktivi-täten oder Kinderfesten, so sprach sich dies unter den Kindern des Viertels sowie unter deren Müttern herum. Die faschistische Bewegung gab sich dabei einen zivilen, karitativen und fa-miliären Anstrich.

Dass die genannte Jugendgruppe durch ein Mitglied der Frauensektion geleitet wurde, ist insofern aufschlussreich, als sich hier eine Schnittstelle zweier konträrer Vorstellungen inner-halb der BUF bzw. BU offenbart: Auf der einen Seite standen die zum Teil aus den British Fascists übergetretenen weiblichen Mitglieder, die sich schon in den 1920er Jahren für die Ein-richtung von Fascist Children’s Clubs unter weiblicher Leitung eingesetzt hatten, und auf der anderen Seite die Befürworter einer hierarchischen, von Männern geleiteten, paramilitärisch anmutenden, Nupa-ähnlichen Jugendorganisation. Das Shoreditch Youth Movement erscheint als eine Mischform beider Ansätze, als Kompromiss. Die Jugendgruppen für die Jüngeren blie-ben wohl unter weiblicher Leitung. Diese Frauen wurden nur als Organiser betitelt statt mit einem in der BUF insgesamt üblichen pseudomilitärischen Rang. Als Parteijugend traten alle Jungengruppen der Greyshirts bzw. der Cadets und der Youths in paramilitärischer Uniform auf, die den Stil der Nupa imitierte.

Die Jugendgruppe hatte einen hohen Symbolwert. Doch welche Bedeutung hatte der Lo-kalbezug zu Shoreditch? Warum dieser Stadtteil anstelle eines bürgerlicheren urbanen, eines kleinstädtischeren oder eines ländlicheren Kontextes? Die Gründung des Shoreditch Youth Movements erfolgte während der Neuausrichtung der Bewegung auf deprivierte Gegenden in Industriestädten, vor allem im Londoner East End. Die British Union konzentrierte sich da-mit auf Ballungszentren, in denen erhebliche wirtschaftliche Strukturprobleme aufgekommen waren, in denen eine heterogene Sozialstruktur vorlag, die von Immigration und Binnenmi-gration geprägt waren und in denen soziale Spannungen zu Tage traten. Die BU versuchte sich in einem historisch mit Armut, mit der Verelendung der Industriearbeiter und deren Kinder sowie mit katastrophalen Wohn- und Lebensbedingungen assoziierten Brennpunkt zu posi-tionieren und hier Themen politisch zu besetzen.

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hatten sich Sozialreformer und karitative Institutionen immer wieder dem East End zugewandt und in umfassenden Sozialstudien das Ausmaß, die Ursachen und die Konsequenzen der Armut in Großbritanniens größtem Industriezentrum untersucht und zu mildern versucht (vgl. Kap. 3.1). In den 1930er Jahren erschien mit der von

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Hubert Llewellyn Smith herausgegebenen Abhandlung The New Survey of London Life and Labour ein Pendant zu Charles Booths Monumentalwerk. Die Analyse der Sozialstruktur und der Lebensbedingungen in den Bezirken des East Ends bietet Aufschluss über die schlechten Verhältnisse im Stadtteil Shoreditch: So wies Shoreditch den zweithöchsten prozentualen An-teil in Armut lebender Menschen auf, mit 18 % der Gesamtbevölkerung des Stadtteils, und bot mit engen Straßen, vernachlässigten und baufälligen Häusern aus dem 18. und frühen 19. Jahrhundert sowie einigen Wohnblockanlangen miserable Wohnverhältnisse.802 Über den westlichen Teil, Hoxton, urteilte der Verfasser:

Insgesamt erscheint Shoreditch noch in den frühen 1930er Jahren als ein von großer Armut und einer sehr hohen Bevölkerungsdichte geprägter Stadtteil mit einer hohen Mortalitätsrate und Säuglingssterblichkeit; ausgestattet mit 23 Grundschulen für 19 200 Kinder, aber keiner einzigen weiterführenden Schule, mit einem großen Mangel an Grünflächen, öffentlichen Er-holungsräumen und vor allem an Spielplätzen. Kein anderer Stadtteil sei in dieser Hinsicht schlechter ausgerüstet. Ein weiteres Problem, auf das der Verfasser hinwies, war das verhält-nismäßig geringe Engagement freiwilliger Sozialarbeit vor Ort. 804

Anlässlich ihrer East End-Kampagne gab die British Union von 1936 bis 1937 eine eigene Lokalzeitung, den East London Pioneer , für die Stadtteile Bethnal Green, Bow, Hackney, Sho-reditch und Stepney heraus. Kinderarmut war ein zentrales Thema der Zeitung. Deren Arti-kel zeichneten ein düsteres Bild von der Gegenwart und Zukunft im East End: „The Children of East London“ behauptete, mehr als 16 % aller Kinder im East End im Alter von achtzehn Monaten bis fünf Jahren würden Krankheiten oder körperliche Beeinträchtigungen entwi-ckeln. Die Maßnahmen der Regierung seien nur auf eine Behandlung der Symptome ausge-richtet, nicht aber auf eine Behebung der Ursachen. „Government Neglects Future Citizens“ unterstellte eine Gleichgültigkeit der Regierung gegenüber den Problemen der Bewohner des Londoner Ostens.805 Die BU setzte im East London Pioneer auf einen boulevardesken Stil, auf statistische Angaben, deren Herkunft ungenannt blieb, sowie auf unbelegte Unterstellungen und rückte bei der Thematisierung der eigenen politischen Ziele karitative Aspekte in den Vordergrund.

Die Versuche der BU, in Shoreditch und den angrenzenden Stadtteilen Kinder durch Frei-zeitaktivitäten an sich zu binden, erzeugten Gegenwehr seitens lokaler Initiativen. Das Lon- don County Council untersagte nach Protesten die Nutzung der Unterrichtsräume, Hallen und Freiflächen der Schulen durch die BU.806 Linehan erläutert in seiner Untersuchung zur BUF bzw. BU im Ostteil Londons, dass die Zweigstelle in Shoreditch in besonders hohem Maße durch Gewalttaten und radikalen Antisemitismus aufgefallen sei:807

Während also die von der Bewegung mobilisierten und vielfach in ihr organisierten Rechts-extremen durch Gewalt insbesondere gegenüber den jüdischen Bewohnern und Geschäftsleu-ten auffielen, versuchte die BU zugleich durch ihre lokale Jugendpolitik, sich ein zusätzliches konträres Image zu verpassen. Eine Gruppe von Kindern, die in pfadfinderähnlichen Unifor-men mit ihrer Gruppenleiterin gewaltfreien Aktivitäten nachging und sich patriotische Werte auf die Fahne schrieb, schien ein geeignetes Mittel. Die Adaption der Ferienlager: Orte der Vergemeinschaftung

Die Sommerferienlager waren für die BUF von großer Bedeutung. Sie schufen ein nachhalti-ges Gemeinschaftsgefühl unter den Anhängern, die teilgenommen hatten, und erzeugten das Bild einer Bewegung, die sich nicht nur auf politischen Protest und Straßenkampf konzent-rierte, sondern auch Freizeitaktivitäten und Wohlfahrtseinrichtungen zu bieten schien. Vor allem in inszenatorischer Hinsicht ist die Rolle der Ferienlager nicht zu unterschätzen. Ihr propagandistischer Stellenwert zeigte sich noch Jahrzehnte später. Noch in den 1980er und 1990er Jahren erschienen Bücher, die aus dem Kreis der unbelehrbaren Anhänger Mosleys stammten: Mosley’s Blackshirts: The Inside Story of the British Union of Fascists 19321940 und Blackshirts-on-Sea von J. A. Booker. Beide sollten einen Einblick in das Innenleben der BUF ermöglichen und Personen aus dem Mitgliederkreis zu Wort kommen lassen. In beiden Ver-öffentlichungen sind die Ferienlager zentrale Themen.

Exemplarisch verdeutlichen die Schriften, wie sehr die britischen Faschisten und diejenigen, die ihnen ideologisch nahestehen, bis heute bemüht sind, die öffentliche Wahrnehmung der Partei zu lenken und zu beeinflussen. Die Gewalt, derer sich die BUF bediente, der radikale Antisemitismus, ihre Agitation in Milieus, in denen sie gezielt Zwietracht säte, all das findet keine Erwähnung in den sogenannten Insider-Berichten. Diese stellen vielmehr den Erlebnis-charakter der Aktivitäten in den Mittelpunkt, ebenso die Gemeinschaft, als die sich die Mit-glieder empfunden hätten, ihre Unzufriedenheit mit dem politischen System ihrer Zeit und die Hoffnungen, die sie mit einer Unterstützung der BUF verbunden hätten.

Der angebliche ‚Heile-Welt‘-Charakter der Ferienlager ist ein zentrales Motiv des Buches Blackshirts-on-Sea ; es vermittelt, das Camp sei paradigmatisch für die BUF-Gemeinschaft ge-wesen. Deutlich klingt auch das Selbstverständnis der britischen Faschisten als eine zu Un-recht verfolgte und internierte Gemeinschaft an. So beschreibt der Autor, dass die Feriencamps von ihren Teilnehmern als Vorwegnahme des faschistischen Staates empfunden worden seien, und zieht dann die Argumentationslinie zu den Internierungslagern, in denen die unter Ar-rest stehenden BUF-Mitglieder durch Selbstverwaltung tatsächlich einen faschistischen Staat im Kleinen geschaffen hätten. Er spielt hier mit der Darstellung der BUF als eine Schicksals-gemeinschaft, die es verstanden habe, ihre Grundsätze unter widrigen äußeren Bedingungen beizubehalten.809 Das Buch ist von einem verklärenden Stil geprägt. Prominent platziert sind Fotografien, die Kinder zeigen. Der Autor beschreibt den Alltag der Jungen im Ferienlager und suggeriert, dies sei eine Tradition der Bewegung gewesen. Seine Schilderungen gleichen jedoch sogar im Wortlaut den wenigen Artikeln der Parteizeitungen über den Aufenthalt des Shoreditch Youth Movements im Pagham Camp von 1936. Booker zieht in emphatischem Stil allgemeine Schlüsse über das Verhältnis der britischen Faschisten zur britischen Jugend:

Wie im italienischen Faschismus zeigt sich beim Vergleich der Propagandatexte zur Kinder-freizeit und illustrierenden Fotografien ein Unterschied: Betonen die Texte die militärisch in-spirierte Routine, das Geordnete und Disziplinierte, so vermitteln die Bilder eher den Ein-druck einer gelösten Atmosphäre, einer Urlaubergemeinschaft. Gerade letzteres machte wohl den Reiz der Aktivitäten für Anhänger aus, ersteres war aber für die Inszenierung und die mythische Aufladung von wesentlicherer Bedeutung. Nicht nur in der Außendarstellung, auch nach innen sollte die Vorstellung von Freizeit als einer höheren Sache verpflichtet auf-rechterhalten werden: Freizeit als Mission. Die Aktivitäten per se (das Spielen am Strand, das Schwimmen, das Picknicken, das Tauziehen oder die abendlichen Lagerfeuer) unterschieden sich dabei kaum von denen aller anderen zeitgenössischen Ferienlager, sie erhielten aber durch die übermäßige Verwendung der Parteizeichen, durch die 1936 noch in der Öffentlichkeit er-laubten Uniformen, durch das faschistische ‚Liedgut‘, das die BU kultivierte, durch die In-spektionsbesuche des Leaders den Anschein des Außergewöhnlichen und ihren politischen Charakter.

Die britischen Faschisten regten 1937 eine Spendensammlung an, die Übereinstimmungen zu den Kampagnen der Fasci all’Estero zeigt. Die Fundraisingkampagne der BU für das Som-mercamp in Selsey startete im April 1937 und bestand aus wöchentlichen Spendenaufrufen und Veröffentlichungen eingegangener Spenden.811 Diese glichen in Argumentation und Form denjenigen, die über Jahre hinweg in L’Italia Nostra erschienen waren. Beide faschistische Par-teien zielten hier auf eine Selbstdarstellung als Wohltätigkeitsorganisation, die sich der armen Kinder aus ihrem jeweiligen Einflussbereich annehme. Ging es in der Kampagne der Fasci in Großbritannien sowohl um Ferienlager für die kleineren Kinder an der englischen Küste, wie etwa in Felixstowe, als auch im weit größeren Rahmen um die Teilnahme der italienischstäm-migen Kinder Großbritanniens an den großen faschistischen Ferienlagern an der italienischen Küste und in den Bergen Italiens, so beschränkte sich die Aktivität der BU auf das Selsey Camp .

Vergleicht man die vorbereitende und die nachbereitende Berichterstattung der Fasci und der BU, so fällt auf, dass im Fall der Fasci beides sehr ausführlich ist, einen großen Raum in der Presse einnimmt, auch die Akteure selbst, nämlich die mitgereisten Kinder, noch Monate danach zu Wort kommen, während im Fall der BU die vorbereitende Thematisierung über-wiegt und die Berichte danach schnell abebben. Die Fasci all’Estero agierten in unmittelbarer Nähe zu den britischen Faschisten in diesen karitativen Belangen sehr öffentlich. Zwar ver-fügten sie als Parteizellen des PNF durch die enge Bindung an die örtlichen Konsulate und die Italienische Botschaft, durch die vorangeschrittene faschistische Infiltration der italienischen Gemeinden in Großbritannien und durch die Möglichkeit der Verwendung von Staatsmitteln zur Organisation der Jugend über andere Voraussetzungen. Sie agierten zugleich dennoch in demselben Land, denselben Städten und am Rande derselben Mehrheitsgesellschaft. Sie muss-ten also grundsätzlich mit denselben Konkurrenten um die Kinder rechnen, also den großen Jugendorganisationen, den kirchlichen Einrichtungen und christlichen Bewegungen, die sich der Jugend zuwandten, sozialistischen Jugendverbänden, den kommerziellen Anbietern der Populärkultur, den Sportvereinen und den Clubs für arbeitende Jungen und für Mädchen. Es ist festzuhalten: Während es den Fasci gelang, Kinder in Großbritannien, die zu einem wesentlichen Teil ja auch die britische Staatsbürgerschaft hatten, zu vergemeinschaften, für den Faschismus zu begeistern und sie zu indoktrinieren, erreichte die BU dies nicht über eine rudimentäre Organisation der Jugend hinaus. Dies dürfte bei aller behaupteten Freundschaft und einem tatsächlich von Konkurrenz und Eitelkeiten geprägten Verhältnis von der BU als Defizit empfunden worden sein. Faschistische Jugendfürsorge? Fascist Children’s Clubs und Fascist Fellowship

Da sich die BUF zu einem nicht unwesentlichen Teil aus dem Mitgliederkreis der als Vorgänger anzusehenden British Fascists rekrutiert hatte, wies die Bewegung in einem stärkeren Maße, als Mosley es öffentlich eingestanden hat, ideologische und programmatische Kontinuitäten zu diesen auf. Die British Fascists , 1923 von Rotha Lintorn-Orman als British Fascisti gegrün-det, ein Jahr später dann umbenannt, um ‚britischer‘ und nicht wie eine bloße Kopie des italie-nischen Faschismus zu wirken, bildeten die Ursprungsbewegung der sich in den späten 1920er und 1930er Jahren formierenden faschistischen und rechtsextremen Organisationen. Colin Cross beschreibt die frühen Abspaltungen als „pocket parties enjoying brief lives under pocket Mussolinis“812. In Cross’ Darstellung findet sich eine Charakterisierung von Rotha Lintorn-Orman, die deren Wahrnehmung in der männlichen Führungsriege der BUF entsprochen ha-ben dürfte und auch ein Grund für die Negation aller konzeptionellen Kontinuitäten gewesen zu sein scheint: „The leader and founder was a Field Marshal’s grand-daughter, Miss Rotha Lintorn-Orman, a forth-right spinster of thirty-seven with a taste for mannish clothes.“813 Sie sei bereits Mitte der zwanziger Jahre in den Hintergrund gedrängt worden. „In most parts of the country landed proprietors, minor industrialists, retired officers and a sprinkling of Angli-can clergy were taking over the leadership.“814 Nach Mosleys Anwerbungs- und Übernahme-ersuchen, denen viele prominente und weniger prominente Mitglieder der BF gefolgt waren, unter ersteren etwa Neil Francis Hawkins, E. G. Mandeville Roe und William Joyce, waren Kontinuitäten in den BUF-Publikationen geradezu ein Tabuthema. Auch im Kontext Jugend wird dies deutlich: Die BUF nahm nie Verweise auf die zu BF-Zeiten geführten Diskurse vor und ging ebenso wenig auf die in dieser Organisation eingerichteten Jugendclubs ein.

Die British Fascists hatten, im Unterschied zur BUF, frühzeitig ein Interesse an der ideo-logischen Erziehung von britischen Kindern im Sinne des Faschismus gezeigt und kommuni-ziert. Ihre Fascist Children’s Clubs seien als ein Gegenpol zu sozialistischen Sonntagsschulen für Kinder konzipiert, betonten die BF-Medien. Die BF trafen über ihre Anhängerschaft hin-aus einen Nerv in konservativen Kreisen, wenn sie vor einer drohenden sozialistischen oder gar kommunistischen Indoktrination der britischen Jugend warnten. Julie Gottlieb wertet die Fascist Children’s Clubs als ein vorrangiges Agitationsfeld der BF-Frauen, das Analogien zu kirchlichen Sonntagsschulen zeigte.815 Unter der Tarnkappe traditioneller, bürgerlicher Ini-tiativen vermischten sich rigide Moral- und Erziehungsvorstellungen mit einer faschistischen und antikommunitischen Agitation. Wie viele Clubs existierten und wie viele Kinder teil-nahmen, bleibt offen. Aus den Parteizeitungen der BF Fascist Bulletin und The British Lion lässt sich schließen, dass sie eher in Wohngebieten der Mittelschicht etabliert waren. Kinder sollten bei den British Fascists auch aktiv für propagandistische Zwecke eingespannt wer-den, etwa bei einer Rally der Bewegung im Hyde Park im Oktober 1926.816 Neben den Clubs verfügten die British Fascists über Cadet -Gruppen für männliche Mitglieder unter achtzehn Jahren.

Zusätzlich zu den Fascists Children’s Clubs veranstalteten die British Fascists Ausflüge für Kinder und Kinder-Weihnachtsfeiern. Dabei orientierte sich die Bewegung stillschweigend am italienischen Faschismus mit seinen Befana-Fascista -Feiern sowie – dies ist nicht nur aufgrund der räumlichen Nähe, sondern auch angesichts von Überschneidungen der Personenkreise na-heliegend – an den Albero-di-Natale -Feiern der Fasci all’Estero , die eine hohe Popularität ge-nossen und damit einen großen propagandistischen Effekt hatten. Die Weihnachtsfeiern der BF fanden wie die italienischen Vorbilder nach Weihnachten an einem Wochenende im Januar statt. Vorbereitend setzten die Organisatoren auf Geschenk- und Spendensammlungen. Sie rechneten mit 400 bis 500 teilnehmenden Kindern, sprachen dann später sogar von 600 Teil-nehmern.817 Dass bei den Feiern in der scheinbar unpolitischen Atmosphäre ganz unverhoh-len indoktriniert wurde, geht aus den Berichten in der Parteizeitung hervor. So brachte der Chorleiter der „Patriotic Song League“ die Kinder dazu, ein wenig weihnachtliches, vielmehr offen nationalistisches, imperialistisches und anti-kommunistisches Lied zu singen, mit dem unmissverständlichem Refrain:

Derselbe Ton wurde in einer Ansprache des ‚Weihnachtsmanns‘ angeschlagen, als der sich die Parteigründerin Rotha Lintorn-Orman verkleidet hatte. In ihrer Kostümierung hielt sie vor der Bescherung die Kinder dazu an, Christus und den britischen König zu ehren und ihnen zu dienen. Sie verband dies mit dem mahnenden Hinweis, die Kinder in Russland hätten bereits keinen König und kein Weihnachten mehr.819

Dass sowohl die Fascist Children’s Clubs als auch die Weihnachtsfeiern ein zentrales Anlie-gen der Gründerin der BF waren und so stark mit ihrer Person und mit den Frauen in der Be-wegung assoziiert wurden, dürfte ein wesentlicher Grund dafür sein, dass sie von der sich als Männerbund verstehenden BUF nicht übernommen wurden. Diese war keineswegs zurück-haltend in ihren Bemühungen, sich in der öffentlichen Wahrnehmung, vor allem aber unter ihren Mitgliedern, von der Vorgängerorganisation abzugrenzen. So sprach The Blackshirt im Mai 1933 nach öffentlichen Stellungnahmen der verbliebenen British Fascists über die BUF vom „dying kick“ der BF: „The few old women of both sexes who now conduct the remnants of that organisation may be left in the happy obscurity in which they have lived for so many years.“820

Erst 1935 wagte die Führung der BUF den Rückgriff und nahm sich der Organisation von Feiern und Wohltätigkeitsveranstaltungen für Kinder an, die keine Mitglieder waren. Den Auftakt scheint die „Children’s Party“ in Bow gebildet zu haben, die unmittelbar nach Grün-dung der dortigen Women’s Section stattfand. Obwohl sie nicht als Weihnachtsfeier ausgewie-sen war, wird aus der Darstellung eine Orientierung an den italienischen faschistischen Weih-nachtsfeiern und an jenen der BF deutlich. Brisant ist, dass die Feier in Bow in einer Kirche veranstaltet wurde, die der Vikar zur Verfügung stellte. The Blackshirt behauptete, 80 Kinder aus Bow, Bethnal Green und Limehouse hätten teilgenommen, ebenso Maud Mosley.821 Os-wald Mosley war dagegen nicht anwesend und er besuchte, wie sich aus den Parteizeitungs-berichten schließen lässt, auch weitere Kinderfeiern nicht.

Im Londoner Stadtteil Lambeth wurde 1935 die Lady Cynthia Mosley Day Nursery einge-richtet, in der Kinder unter vier Jahren betreut werden sollten, während ihre Mütter arbeiteten. Familie und Freunde der Verstorbenen hatten diese Einrichtung angeregt und mitfinanziert. Bei der Eröffnungsfeier waren die Schwestern der Verstorbenen, der Freundeskreis, Winston Churchill sowie Oswald und Maud Mosley anwesend. In seiner Rede lobte der Erzbischof von Canterbury das soziale Engagement Cynthia Mosleys.822 Die BUF-Zeitung nahm dieses Thema auf und machte sich durch vage Andeutungen einer Verbindung zur Tagesstätte die Populari-tät der einstigen Labour -Politikerin und jungen Mutter zunutze.823

Die BUF bzw. BU war zunehmend um eine sozialpolitische Profilierung bemüht. Die Initia-tive zu Wohltätigkeitsveranstaltungen ging dabei oft von lokalen Branches aus und hatte einen Nachbarschaftsbezug. In Manchester richtete die örtliche BU-Vertretung eine Weihnachtsfeier für, wie sie selbst angab, 900 Kinder aus.824 Im East End fand im selben Jahr ein großer Oster-Ausflug für Kinder statt.825 1936 erhielt die Veranstaltung von Kinderausflügen und Feiern für ärmere Kinder einen ersten offiziellen Rahmen in Gestalt der Fascist Fellowship , einer Initia-tive Thomas Ackroyds, eines Mitglieds der Bewegung aus Manchester.826 Zu ihrem Tätigkeits-feld gehörten Spendensammlungen für die Ausflüge und deren Durchführung, die Organisa-tion von Kinderfesten, eine Art Winterhilfe und Kleidersammlungen. Im Januar 1937 nahm sich das National Headquarters des Themas an und startete eine Fundraising-Kampagne. Sie dämmte damit zugleich die Eigeninitiative der Mitglieder ein und setzte auf Zentralisierung der Maßnahmen, um die Hierarchien zu wahren und die Organisation militärisch straff zu halten. Unter dem Deckmantel der Sozialfürsorge suchten die britischen Faschisten gezielt Anschluss an sozial unterprivilegierte Kinder, Jugendliche und deren Familien.

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4 Wandel durch organisierte Regeneration? Die Vereinnahmung der Freizeit

4.1 Freizeit als gesellschaftliche Errungenschaft und politisches Agitationsfeld

Italienische und britische Faschisten politisierten Freizeit und beanspruchten mit ihrem Ein-greifen in das Freizeitverhalten der breiten Masse, die Gesellschaft auf eine höhere Zivilisa-tionsstufe befördern zu können. Argumentativ knüpften sie dabei an zeitkritische Strömungen an, die eine Banalisierung der Freizeit oder die drohende Verrohung der Gesellschaft durch Trunksucht, Spielsucht und – eine besonders mit Frauenfreizeit assoziierte Vorstellung – durch lasterhaftes Verhalten behaupteten. Zum Feindbild erklärten sie die sozialistische Arbeiterfrei-zeit und die Gesamtheit kultureller Angebote und Lebensstile, die für eine kosmopolitische Gesellschaft standen. Der Kulturbegriff der faschistischen Bewegungen geißelte, was heute als Kultur der zwanziger Jahre gilt: eine urbane Kultur, die sowohl klassenübergreifende Trends hervorbrachte als auch Individualisierungen begünstigte und die besonders mit Berlin, Paris und London als boomenden modernen Metropolen assoziiert wird. Paradoxerweise adaptier-ten die Faschisten zugleich aber deren Charakteristika.

Die Gesellschaften, in denen die faschistischen Bewegungen agitierten, wiesen unterschied-liche Freizeitkulturen auf. Während in Großbritannien die Politisierung, Demokratisierung, Institutionalisierung und Kommerzialisierung der Freizeit bereits weit vorangeschritten war, traf dies in Italien lediglich auf wenige Städte zu. Neben den starken regionalen wirtschaft-lichen, sozialen und infrastrukturellen Unterschieden im italienischen Raum wirkte sich der Einfluss der Kirche und traditioneller, konservativer bürgerlicher Milieus hemmend auf die Verbreitung als modern verstandener Freizeitaktivitäten aus. Auf der anderen Seite trugen die sich als avantgardistisch verstehenden Bewegungen in Kunst und Literatur die Moderne nun beschleunigt als radikalen Bruch mit der etablierten Kultur in den Fokus der Öffentlichkeit. In Großbritannien hatten sich viele Assoziationsformen und Trends seit dem 19. Jahrhundert gefestigt; zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeichnete sich der Boom einer Populärkultur als kon-

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sumorientierte Kultur der Massen ab. Es entstand eine sich vom elitären Kulturbegriff lösende, Gattungen vermischende Kultur, die zwar immer noch die Klassenunterschiede widerspiegelte und in vielerlei Hinsicht Produkt der Klassengesellschaft war, die aber gleichzeitig klassen-übergreifend attraktiv wurde, da sie Urbanität, Freiheit und Jugend verkörperte.

Die italienische und die britische faschistische Bewegung beschrieben sich gerade im Kon-text ihrer Visionen einer faschistischen Freizeit selbst als modern, als innovativ und mit der Kultur und den Gesellschaftsvorstellungen liberaler Systeme brechend. Doch entsprach diese Darstellung der Realität?

Im Detail ergeben sich für dieses vierte Kapitel folgende Fragen: Warum war Freizeit ein für faschistische Akteure interessantes und relevantes Agitationsfeld? Welchen Stellenwert hatte für sie die jeweilige Vorgeschichte der Bedeutungszunahme und Politisierung von Freizeit? Welche Ziele verfolgten sie in diesem Bereich? Welche Erkenntnisse können aus der Unter-suchung ihres Freizeitverständnisses über die größeren gesellschaftspolitischen Zielsetzungen gewonnen werden?

Freizeit diente den faschistischen Bewegungen als Projektionsfläche und Erprobungsfeld für ihre Vorstellungen und Konzepte einer Transformation der Gesellschaft und für ihre inszena-torische Praxis. Ihre ‚Freizeitpolitik‘ sollte die Aushöhlung demokratischer Rechte und sozial- und kulturpolitischer Errungenschaften camouflieren. Die diesbezügliche Agitation zeigt, wie sehr der Modernitätsanspruch der Bewegungen im Inszenatorischen verharrte, während die Gesellschaftspolitik inhaltlich von reaktionären und anti-emanzipatorischen Anschauungen dominiert wurde. In ihren Visionen einer Massenfreizeit spiegeln sich darüber hinaus die Disparitäten faschistischer Gesellschaftspolitik. Die Analyse wird deutliche Unterschiede in Intensität und Art der Einflussnahme auf die jeweilige Freizeitkultur offenlegen, die auf der Asymmetrie von erlangter und angestrebter Macht basieren, auf dem Angebot außerhalb der Bewegungen, aber ebenso auf deren divergierenden Zielsetzungen und Interessen. Die Freizeit der Massen – zur Vorgeschichte

Wie kaum ein anderer Bereich des Alltags erfuhr das Thema Freizeit im 19. und 20. Jahr-hundert eine Aufwertung und eine Aufladung mit politischer Bedeutung, die es ins Zentrum internationaler politischer, pädagogischer und medizinischer Debatten versetzte. Industriali-sierung, Urbanisierung, die graduelle Auflösung traditioneller gesellschaftlicher Strukturen, das bürgerliche Assoziationswesen und die bürgerliche Kulturförderung und die sozial- und bildungspolitischen Errungenschaften durch die Arbeiterbewegung hatten dazu geführt, dass sich Freizeit, wenn sie auch erbittert umkämpft blieb, zu einem Recht der Massen entwickel-te. Debatten darüber, ob Freizeit – insbesondere jene der unteren sozialen Schichten – dem

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Individuum als Freiraum zu überlassen sei oder ob sie der Kontrolle durch Staat und Gesell-schaft bedürfe, polarisierten über Jahrzehnte. Doch warum wies angesichts der noch immer stark begrenzen Zeit, die Angehörige des Bürgertums und der Arbeiterklasse zur Verfügung hatten, um sie frei zu gestalten, die Freizeit eine solche Brisanz auf? Einerseits entluden sich an der Thematik spürbar politische Spannungen, andererseits nahm sie eine Eigendynamik an, die Gesellschaften veränderte. Sie stand mitten im Spannungsfeld größerer Konfliktthemen der Zeit: Traditionswahrung versus Liberalisierung und Modernisierung, institutionalisierte Klassengesellschaft versus Demokratisierung, Patriarchat versus Gleichberechtigung, autori-täre Erziehung versus Emanzipation der Jugend, Nationalismus versus internationale Koope-ration und Verständigung.

In Debatten über die Freizeit der Massen prallten divergierende Kulturverständnisse aufein-ander: Konnte nur die Hochkultur, im Englischen alludierend auf ihre sozialen Implikationen als highbrow culture bezeichnet, als wertvoll, förderungs- und vermittlungswürdig erachtet werden oder auch die middlebrow oder lowbrow culture ,827 also eine Kultur der mittleren und unteren Schichten, die sich seit der Jahrhundertwende der Kommerzialisierung öffnete? Das sich verändernde Freizeitverhalten der Bevölkerung hatte Effekte auf soziale Barrieren. Einer-seits festigten sich durch klassenspezifische Freizeitkulturen soziale Unterschiede, anderer-seits verloren diese aber an Trennschärfe. Sport, Unterhaltung, Reisen, Bildung, Konsum und Mode – in all diesen Bereichen sollten sich Innovationen klassenübergreifender Beliebtheit erfreuen. Die Entwicklung war ein internationales Phänomen. Auf die zeitgenössischen poli-tischen Debatten wirkte es sich wie ein Katalysator aus: Hoffnungsvolle Zukunftsvisionen wie auch fatalistische Haltungen wurden mit Beobachtungen aus dem Freizeitbereich befeuert und unterfüttert.

Die Entwicklung war in dem hier untersuchten Zeitraum noch lange nicht abgeschlossen. 1935 brachte die New Education Fellowship anlässlich einer Konferenz in Edinburgh, die Ex-perten aus dem britischen Bildungssystem zusammenführen sollte, einen Bericht mit dem Titel The Coming of Leisure heraus. Dessen Autoren betrachteten die Entwicklung, dass ein immer größerer Teil der Bevölkerung über mehr Freizeit verfügte als je zuvor, als gesamtge-sellschaftliche Herausforderung:

Der Bericht wirkt beinahe anachronistisch, waren doch schon im 19. Jahrhundert kontinu-ierlich entsprechende Einschätzungen veröffentlicht worden. Ob in sozialdemokratischen, so-zialistischen, paternalistischen, bürgerlich karitativen oder staatlichen sozialpolitischen An-sätzen – die Grundüberzeugung, es bedürfe einer Lenkung der Freizeit der Massen, um ihr einen größtmöglichen Nutzen für den Einzelnen und für die Gesellschaft zu verleihen oder Schaden abzuwenden, hatte eine erstaunliche Kontinuität bewiesen. Die politischen und so-zialen Umbrüche des frühen 20. Jahrhunderts rückten das Thema erneut in den Fokus. Ver-bunden war die Thematik mit der übergeordneten Diskussion um die Staatsbürgerschaft und deren Implikationen: Der Begriff des citizenship war schon historisch vieldeutig. Nicht allein das Verhältnis des Individuums zum Staat als Autorität wurde hier verhandelt, sondern auch seine Repräsentation im politischen und ökonomischen System, sein Zugang zu Kultur und Bildung, sein Verhältnis zu Mitbürgern und seine Gesellschaftsfähigkeit. Die Arbeiterbewe-gung sah in der politischen Anerkennung der Staatsbürgerschaft den Schlüssel zur politischen Teilhabe und zur gesellschaftlichen Akzeptanz ihrer Klientel. Liberale und konservative bür-gerliche Stimmen rückten einen Erziehungsauftrag zur Staatsbürgerschaft in den Mittelpunkt. In autoritären Positionen in den Debatten äußerte sich oft ein Unbehagen: „This view of citi-zenship was still based on the paradox that the ordinary working-class person had the right to participate in public life, but that he or she did not have the skill or ability to do so.“829

Die Diskurse um die Staatsbürgerschaft als Recht und Pflicht öffneten sich dabei einem um sich greifenden Alarmismus: Die Freizeit der Massen drohe, sofern sie nicht staatlich reguliert werde, zu einem höchst explosiven Problemfeld auszuufern. Alkoholismus, Apathie, häusliche Gewalt, Anarchie und Ungehorsam gegenüber staatlichen Autoritäten schienen einem unge-sunden, individualistischen oder konsumorientierten Freizeitverhalten zu entspringen.830

Freizeit wird in den leisure studies oft als ein Phänomen der Moderne, als Erscheinung des 19. Jahrhunderts betrachtet. Die geschichtswissenschaftliche Forschung zur Frühen Neuzeit argumentiert dagegen überzeugend für eine Analyse des Komplexes Freizeit, die nicht erst mit der Industrialisierung einsetzt, sondern dem Prinzip der longue durée folgt. Sie kritisiert, dass die Freizeitforschung vorschnell einen künstlichen Schnitt zwischen vormodernen und modernen Gesellschaften gezogen und damit den Blick für die Wurzeln vieler als modern an-genommener Freizeitaktivitäten verloren habe.831 Die Annahme, Freizeit als Realisierung eines geselligen Miteinanders, einer persönlichen Entfaltung oder eines Bedürfnisses nach Vergnü-gen sei ein Produkt der Moderne, entspringt einer ahistorischen Argumentation. Zudem ist es kaum möglich, widerspruchsfrei einen Startpunkt der modernen Freizeit festzulegen. Aus der Synthese verschiedener Forschungsansätze ergibt sich vielmehr ein weites Feld, eine Span-ne von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg. Die Entwicklung glich eher einem langen, wellenartigen Prozess.832

Dennoch hat der weitgehende Konsens Bestand, dass die bürgerliche Freizeit- und Vereins-kultur des 19. Jahrhunderts, die Industrialisierung und die Urbanisierung sowie die Arbeiter-bewegung entscheidende Katalysatoren für eine Veränderung von Mentalitäten und Lebens-bedingungen waren, die den Bedeutungszuwachs von Freizeit begünstigten.833 Freizeit blieb allerdings bis ins frühe 20. Jahrhundert ein begrenztes Gut, da sozialpolitische Errungenschaf-ten wie der Achtstundentag, der freie Samstagnachmittag oder weitere freie Tage im Jahr zu-nächst nur für eine Minderheit erreichbar waren.834 Was sich wandelte, waren Erwartungshal-tungen, Ansprüche und Wertschätzungen, die Arbeiter und ihre Familien mit dem Feierabend verbanden.835

In Großbritannien hatten seit den 1830er Jahren gesetzliche Arbeitszeitbeschränkungen sowie seit den 1870er Jahren landesweit Anwendung findende Feiertagsregelungen und die gewerkschaftlich erstrittenen freien Samstagnachmittage bewirkt, dass Freizeitaktivitäten planbar wurden und größere Verbreitung fanden.836 Italien war trotz der verlangsamten In-dustrialisierung im 19. Jahrhundert ebenso von Pauperismus und Urbanisierung geprägt wie die schon weitergehend industrialisierten Länder. Traditionell war die Zahl derjenigen Frauen und Männer hoch gewesen, die neben ihrer landwirtschaftlichen Arbeit durch Heimarbeit, insbesondere in der Textilwirtschaft, und durch handwerkliche Tätigkeiten ihr Auskommen sicherten. In der Hoffnung, mit solchen Arbeiten in Städten überleben zu können und ihre wirtschaftliche Situation zu verbessern, drängten viele etwa nach Turin, Mailand oder Neapel. Die Landflucht als Reaktion auf eine erhebliche Verschlechterung der Lebensbedingungen und Einkommensverhältnisse in vielen ländlichen Regionen führte zu einem raschen Anwachsen der Städte und in der Folge zu sozialen Problemen. Katastrophale Lebensumstände, Krimina-lität und Verarmung breiter Bevölkerungsgruppen katalysierten sozialpolitische Diskurse und den politischen Protest in Städten wie Rom, Mailand und Genua sowie, in geringerem Maße, in Florenz und Turin, in denen sich Arbeitermilieus festigten.837

In Italien setzten also viele der die Gesellschaften und politischen Systeme transformieren-den Prozesse, die zur Kausalkette von Industrialisierung, Verstädterung und Demokratisie-rung zählen, zeitlich verzögert ein. Die Eigendynamik, mit der sich Arbeiterfreizeit in Groß-britannien zu einem großen politischen Thema entwickelt hatte, fand in Italien noch keine Entsprechung. In den stärker industrialisierten Regionen kamen in Unternehmen aber schon zur Jahrhundertwende paternalistische Konzepte zum Tragen, die sich an dem Fortschritt in den Industrienationen orientierten, während zugleich sozialistische Gruppierungen städtische und ländliche Arbeiter zu Protesten für bessere Arbeitsbedingungen mobilisierten.

In Großbritannien blickte in den 1930er Jahren die Studie The New Survey of London Life & Labour auf die Entwicklung der Lebensverhältnisse einschließlich des Freizeitverhaltens in der Hauptstadt seit den 1880ern zurück. Sie diagnostizierte, dass sich inmitten begüns-tigender Faktoren wie Arbeitszeitverkürzungen, Lohnerhöhungen und infrastrukturellen Verbesserungen und hemmender Faktoren wie längere Arbeitswege durch Suburbanisierung oder Schichtarbeit eine spezifische Kultur der Arbeiterfreizeit entwickelt hatte, die sich stetig von kirchlichen und politischen Inhalten entfernte und sich Adaptionen aus der bürgerli-chen Vereinskultur ebenso öffnete wie einer Individualisierung und Kommerzialisierung.838Paradebeispiele im Sport waren der Fußball und das Boxen: Diese Sportarten wurden in der Schicht der Arbeiter binnen kurzer Zeit international beliebt und hatten starke identitätsstif-tende Effekte. Die Popularisierung des Sports seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert bewegte sich dabei in zwei Richtungen: Individualsportarten boomten ebenso wie Massenveranstal-tungen.

Die Kultur der Arbeiterfreizeit, die durch ihre Verzahnung mit der Arbeiterbewegung im-mer klassenbewusst und politisch war, setzte sich auch gegen bürgerliche Reglementierungs-versuche und patronisierende Vorstellungen zur Wehr, an denen es nicht mangelte. Wie Gerhard A. Ritter und Klaus Tenfelde betonen, trug das seit den 1850er Jahren wachsende Arbeitervereinswesen in deutschen Regionen dem Anspruch einer Veredelungsstrategie der Arbeiterbewegung Rechnung.839 Die mit einem Bildungsauftrag, einer sozialen Aufwertung und einer gesellschaftlichen Integration verbundene Geselligkeit der Arbeiter, die in kirch-lichen oder in sozialdemokratischen und sozialistischen Kontexten zelebriert wurde, stieß auf Misstrauen und Ablehnung seitens patriarchalischer Unternehmer, aber auch seitens radikale-rer Agitatoren unter den Arbeitern.

Für den britischen Fall beleuchtet Brad Beavan die aus einem ähnlichen Misstrauen gebore-nen bürgerlichen Initiativen zu einer ‚vernünftigen Erholung‘ der Arbeiterklasse, der rational recreation : Der Zeitraum von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg sei als erste Hochphase der Arbeiterfreizeit in Großbritannien geprägt gewesen von einer Vielzahl politischer und sozialreformerischer Maßnahmen zur Kontrolle und Lenkung des Freizeitver-haltens der Massen, aus denen eine ganze Bandbreite an Clubs, Vereinen und Freizeitangebo-ten hervorgegangen sei.840

Neben sozialreformerisch motivierte oder politisch gewollte Maßnahmen, die einer Radi-kalisierung der Arbeiter durch sozialistische Gruppierungen entgegenwirken sollten, traten Forderungen nach einer Erhöhung der Fitness der männlichen Bevölkerung, die in erster Linie auf die Verbesserung der Wehrtüchtigkeit zielten. Ein militaristischer und nationalistischer Hintergrund war schon vielen frühen Ertüchtigungs- und Fitnessbewegungen gemein gewe-sen, die traditionell eher im bürgerlichen bis großbürgerlichen Milieu, insbesondere in Stu-dentenkreisen, ihre Anfänge hatten.

In Italien stieg die Anzahl solch elitärer turnerischer Bewegungen im Risorgimento an und festigte sich im jungen Nationalstaat. Vorstellungen einer nationalen Wiederauferstehung, des risorgere , also einer Rückkehr zu historischer Größe, verbanden sich hier mit einer Glorifizie-rung des Militarismus und mit romantisierender Mobilisierungsrhetorik. Nach 1870 sprossen hier viele Sport-, Gymnastik- und Wehrsportvereinigungen aus dem Boden.841

Zur Jahrhundertwende richtete sich international der Fokus entsprechender medizinischer und politischer Debatten verstärkt auf die unteren Schichten als Masse der Bevölkerung. Er-hebungen zur Wehrtüchtigkeit spiegelten den schlechten Gesundheitszustand vieler Arbeiter und der männlichen Jugend aus den ärmeren Milieus – eine Erkenntnis, welche die mitein-ander konkurrierenden imperialistischen Staaten alarmierte. Viele sozialfürsorgerische Maß-nahmen, Einrichtungen zur Arbeiterwohlfahrt und Restrukturierungspläne für Wohnbezirke mit katastrophalen humanitären Zuständen wurzelten weniger in einer um das Wohl des Ein-zelnen bemühten Sozialpolitik als in einer Gesellschaftspolitik, die das Gemeinwohl mit der Position des Staates im internationalen Mächteverhältnis gleichsetzte. In Großbritannien ver-schärfte der Burenkrieg zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Thematik, während in Italien die Niederlage der italienischen Streitkräfte bei dem Versuch, 1896 Äthiopien zu erobern, als eine nationale Schmach interpretiert wurde, die sich in Rachefantasien, einer Radikalisierung des Imperialismus und Rassismus Bahn brach.842 In Großbritannien wurde 1904 auf nationaler Ebene ein Komitee eingerichtet, das die ‚ physical deterioration ‘ der Nation untersuchen und bekämpfen sollte, während extreme Positionen zunehmend Raum gewannen:

Aus den Debatten um die ‚ national efficiency ‘, also um die Wehrtüchtigkeit und Arbeits-fähigkeit der Masse der Bevölkerung, entstand eine breitere Auseinandersetzung mit dem Thema Fitness. Diese beförderte letztlich körperliche Ertüchtigung in der Freizeit zum Ideal und verhalf dem aktiven Sport zu neuer Popularität und einer größeren Anerkennung in der öffentlichen Wahrnehmung. In diesem Kontext geriet allerdings auch jedes als individualis-tisch wahrgenommene Freizeitverhalten, das nicht der Steigerung der eigenen Gesundheit und Kraft oder der geistigen Erbauung diente, in überzogene Kritik. In Deutschland, Groß-britannien und Italien standen Kneipe, Pub und Osteria schon im neunzehnten Jahrhundert synonym für eine Form der geselligen Arbeiterkultur, die den Argwohn der Obrigkeit weckte. Neben der Besorgnis über das Konsumverhalten arbeitender Familienväter war die Agitation gegen Kneipen auch von der Angst vor ihrer Funktion und Bedeutung als politische Räume des Arbeitermilieus geprägt. Wurden sie von konservativer, autoritärer Seite seither als Hort der Radikalisierung und Verschwörung verschrien, so nahmen Kneipen im Kontext um sich greifender Degenerationstheorien nun sogar einen zentralen Platz in sozialdarwinistischen und die Eugenik befürwortenden Traktaten ein. Der Erste Weltkrieg verstärkte diese Entwick-lungen. Freizeit geriet wieder in ein neues Spannungsverhältnis:

Per Notverordnung eingeführte Beschneidungen der bürgerlichen Rechte wie der britische Defence of the Realm Act , kurz DORA, der in die Nachkriegszeit hinein verlängert wurde, waren nicht umsonst der breiten Öffentlichkeit verhasst, schränkten sie doch die Freiheit des Einzelnen erheblich ein (vgl. Kap. 3.4). DORA wurde nicht allein zu einem Synonym für den Generationenkonflikt, sondern darüber hinaus für das Gefühl der ungerechtfertigten Bevor-mundung des Individuums durch den Staat. Vor allem die Ausgangsverbote und Konsumreg-lementierungen wurden als Übergriff des Staates gewertet, der seine Bürger erst in den Krieg geschickt hatte und ihnen nun das Recht auf Selbstbestimmung in der Freizeit verweigerte. Neben den katastrophalen Folgen des Krieges für Wirtschaft und Gesellschaft rief in Groß-britannien wie in Italien die hohe Zahl an traumatisierten und demoralisierten Soldaten neue Ängste um ein gesellschaftsschädigendes Verhalten hervor, während zugleich Entfremdungs-gefühle und Misstrauen wuchsen. Freizeit und soziale Klassen: Distinktionen, Parallelen und Überschneidungen

Die Popularisierung von Sportarten, Unterhaltungsmöglichkeiten oder Ausflügen hatte sich seit dem späten 19. Jahrhundert mit einer erstaunlichen Eigendynamik vollzogen. Symptoma-tisch waren die klassen- und geschlechterübergreifende Verbreitung des Radfahrens als Hob-by, die erwähnte internationale Begeisterung für den Fußball und das Boxen oder der Boom des Kinos und der Tanzlokale. Häufig protegiert durch Angehörige der gesellschaftlichen Eli-te, setzten sich das Interesse an Freizeitbeschäftigungen und deren Wertschätzung von einer Klasse zur nächsten durch. Im deutschen Kaiserreich war die Übernahme von Trendsport-arten eng mit Wilhelm II. und der Kaiserfamilie verbunden. Wie Modetrends der Zeit, allen voran die seit dem späten 19. Jahrhundert international beliebte Matrosenuniform für Kinder, breiteten sich auch Sport-, Unterhaltungs- und Urlaubstrends hierarchisch in der Klassenpy-ramide nach unten aus. Dabei entwickelten sich den Einkommens- und Lebensumständen an-gepasste Adaptionen und Verstetigungen der Trends, die diese zu einem Teil der Alltagskultur werden ließen. In Großbritannien und, schwächer ausgeprägt und zeitlich verzögert, in Italien geschah dies in ähnlicher Weise. Trends, die sich in aristokratischen Kreisen etabliert hatten, griffen schnell auf das Bürgertum über, das sich in Fragen des Lebensstils an der leisure class , der sozialen Oberschicht, orientierte. Stil und Etikette wurden noch weithin von der Aristo-kratie definiert – Michael Patterson nennt dies den für die viktorianische Zeit noch typischen „respect for conformity“845 –, aber die Bourgeoisie befand sich bereits kulturell auf dem Vor-marsch.

Die bürgerlichen Schichten, deren Anteil an der Bevölkerung im 19. Jahrhundert rasant an-stieg, zeigten sich im Bereich der Freizeit gegenüber Innovationen und passenden Konsum-gütern sehr aufgeschlossen. Dies beförderte die Entstehung neuer Märkte, so z. B. im Sport: Konkurrenz verlieh der Entwicklung zusätzlichen Auftrieb, denn milieu-exklusive Clubs und Vereine wetteiferten um die ‚richtige‘ Ausführung von Sportarten, den ‚richtigen‘ Geschmack oder Stil. Davon zeugt noch heute der wissenschaftliche Altbestand großer Landes- und Staatsbibliotheken, denn hunderte von sport- und freizeitbezogenen Titeln aus dem späten 19. Jahrhundert erheben weniger einen Unterhaltungs-, denn einen Lehranspruch; sie verste-hen sich als Anleitung zur vornehmen, sozial angemessenen und korrekten Ausübung von Spiel und Sport. Viele Zeitungsartikel zu beliebten Freizeitbeschäftigungen aus dem frühen 20. Jahrhundert thematisieren eine weitere Form der Konkurrenz: eine nationalistisch moti-vierte. Trends aus anderen Ländern sind ein erstaunlich präsentes Thema in großen Zeitungen und Zeitschriften jener Zeit. Gemein ist vielen solcher Artikel, dass sie politische Rückschlüsse aus den eher alltäglichen Beobachtungen zogen. Freizeit in all ihren Formen diente in dieser Sichtweise als Gradmesser für Zivilisation und kulturelle Hegemonie. Zuschreibungen von Nationalcharakter oder gezielte Spitzen sind in den Quellen keine Seltenheit. So informierte etwa die New York Times ihre Leser im April 1895 in einem Bericht über den ‚Tennis Boom‘ in Deutschland, der Berliner Ruderklub habe beschlossen, von der bis dato üblichen Praxis Ab-stand zu nehmen, englische Trainer für lawn tennis zu beschäftigen. Diese seien zu teuer und zu aufgeblasen.847 Der Manchester Guardian äußerte 1907 in einem Porträt der internationalen Sportausstellung in Berlin, es sei erstaunlich, was in Deutschland so alles als Sport bezeichnet werden dürfe. Die prominente Platzierung einiger Länder unter den Ausstellern erregte be-sonders das Missfallen des englischen Autors:

Die Vielfalt urbaner bildungsorientierter Freizeitmöglichkeiten ist eng mit dem Bedeutungs-zuwachs des Bürgertums im 19. Jahrhundert verbunden, denn als eine Form des Lokalpatrio-tismus förderten Bürger entscheidend die Kultur ihrer Stadt. Der bürgerliche Kulturgenuss war öffentlicher als jener in aristokratischen Kreisen und der breiteren Öffentlichkeit zugäng-liche Orte wie Museen, Theater, Opernhäuser, Bibliotheken, Botanische und Zoologische Gär-ten oder Parks entsprangen oft bürgerlichen Initiativen. Ihr Kulturverständnis hatte zugleich einen starken erzieherischen Impetus, der den eigenen Geschmack zum Ideal einer kulturel-len Bildung der unteren Schichten erhob. Dass auch hier Klassenbarrieren sichtbar blieben, steuerten Zugangsvoraussetzungen wie Eintrittspreise, aber auch die Etikette und eine bis-weilen Ehrfurcht und Sozialangst erzeugende Architektur und Ausstattung. Friedrich Lenger wertet die Entwicklung urbaner Narrative, die auch den Städtetourismus florieren ließen, als ein gesamteuropäisches Phänomen, das in der Intensität von Stadt zu Stadt variierte. Nicht so sehr die nationalen Unterschiede hätten dies beeinflusst, sondern die Sozialstruktur sei der maßgeblichere Faktor gewesen. Besonders in Hauptstädten und Residenzstädten sei die Konkurrenz zwischen bürgerlich urbaner Repräsentation und aristokratischer oder national-staatlicher groß gewesen.849 Dennoch lasse sich die durch die wohlhabenden Bürger der Städte getragene Kulturförderung und die damit verbundene Ausgestaltung städtischer Bildungs-, Unterhaltungs-, und Freizeitmöglichkeiten als eine europäische Entwicklung bewerten, die eng mit bürgerlichen Wertvorstellungen verknüpft war.850

Das Bürgertum in Gestalt der Unternehmer gewann in den Ländern mit einer frühen und starken Industrialisierung wirtschaftlich und politisch rasch an Bedeutung und stellte als die in der Kultur Maßstäbe setzende Schicht die Aristokratie zunehmend in den Schatten. In Italien bildeten, anders als in Großbritannien, nicht Unternehmer die-se neue den Ton angebende Schicht, sondern die Angehörigen traditioneller bürgerlicher Berufskreise, wie Kaufleute, Bankiers, Juristen, aber auch die seit der Einigung mit ihren Reformen wachsende Gruppe der Staatsbeamten. Lucy Riall beschreibt die italienische Entwicklung des gesellschaftlichen Wandels während des Risorgimento als von vielen Fak-toren getragen: Alte Eliten hätten an Vermögen, Land und damit an Einfluss eingebüßt und neue, bürgerliche Eliten seien emporgekommen; eine Entwicklung, die von Region zu Region sehr unterschiedlich und insgesamt widersprüchlich verlaufen sei. Während in Städten des Nordens eine stärkere Angleichung der Lebensgewohnheiten von Bour-geoisie und Nobilität erfolgt sei, habe sich etwa in Sizilien ein erbitterter Kampf der alten und neuen Eliten um Vorrechte und politischen wie kulturellen Einfluss ausgetragen.851In den norditalienischen Städten wurden derweil in den oberen und mittleren sozialen Schichten öffentliche Freizeitvergnügen wie Café-, Theater- und Museumsbesuche, die Mitgliedschaft in Clubs und Vereinen immer populärer. Geselligkeit war im Risorgimento und im jungen Nationalstaat ein politischer Faktor. Das betraf insbesondere das Vereins- und Assoziationswesen. Wie Steven C. Soper aufzeigt, nahmen Diskurse über die Nation, die Staatsbürgerschaft und die Zivilgesellschaft Fragen nach dem Nutzen geselliger Ver-gemeinschaftung auf:

In Großbritannien setzte im späten 19. Jahrhundert ein anderer Trend ein, der mit dem Wachs-tum der Mittelschichten und den wirtschaftlichen und infrastrukturellen Entwicklungen zu-sammenhing und der wiederum nachhaltige Auswirkungen auf Lebensstile und das Freizeit-verhalten der Briten hatte: der Boom der Vororte. An der Hauptstadt zeigte sich dies besonders deutlich, denn hier stiegen die Einwohnerzahlen in den Ortschaften des äußeren Ringes der Stadt von den 1880er bis zu den 1930er Jahren rasant an.853 Das Leben im Vorort bot zahlreiche neue Möglichkeiten der Freizeitgestaltung und es rückte sowohl das heimische Umfeld ein-schließlich des Gartens als auch eine andere Art Clubleben in den Fokus; zugleich fanden hier neue Exklusionsmuster Raum.854

Dass immer mehr Freizeitaktivitäten gesellschaftliche Anerkennung fanden, begünstigte auch weiterreichende liberalisierende Effekte. Anschaulich lässt sich dies an der Weiterent-wicklung von Mode und Etikette nachvollziehen: So könnte der Unterschied zwischen vikto-rianischer Badebekleidung und jener der 1920er Jahre kaum auffälliger sein. Eine beinahe von Kopf bis Fuß verhüllende Kleidung mit unzweckmäßig viel Stoff bestimmte das Bild an den Stränden der Seebäder der 1890er Jahre. Kutschenartige Umkleidekabinen, die vom Strand ins Wasser gezogen wurden, sollten die wenigen Badenden vor Blicken schützen. In den 1920er Jahren dagegen waren funktionale, deutlich kürzere, körpernahe und leichtere Modelle der Badebekleidung bereits weithin in modischer wie in moralischer Hinsicht akzeptiert.855 Diese Entwicklung korrelierte mit jener der Seebäder, in denen aufwendige piers konstruiert wur-den, um als Orte des touristischen Vergnügens zunächst ein distinguiertes, bald schon ein breiteres Publikum anzusprechen. Die Demokratisierung des Badeausflugs ließ sodann das Schwimmen zu einem sozial akzeptierten Sport werden. Insbesondere unter jungen Frauen und Mädchen wurde es zu einer der beliebtesten Sportarten.856 Das Fahrradfahren erzeugte in konservativen Kreisen im späten 19. Jahrhundert noch eine pseudowissenschaftliche Hysterie; negative Effekte auf den Anstand, die Gesundheit und die Gebärfähigkeit radelnder junger Damen und Mädchen wurden befürchtet und die Warnungen durchaus drastisch propagiert. Im frühen 20. Jahrhundert waren die Räder dann schon Symbol für die Berufstätigkeit junger Frauen aus bürgerlichen Kreisen.857 Auch hier zeichnete sich eine rasche Mentalitätsverände-rung ab, die durch vermeintlich nebensächliche, alltägliche Freizeitbeschäftigungen befördert worden war. Die Freizeit der Frauen in der öffentlichen Wahrnehmung

Mit dem wachsenden Angebot an Sportarten, Unterhaltungs- und Konsummöglichkeiten ver-änderte sich die gesellschaftliche Sicht auf die Freizeit der Frauen, insbesondere in großbür-gerlichen und bürgerlichen Kreisen. Die Bewertung, welcher Zeitvertreib als schicklich galt, verschob sich allmählich zugunsten öffentlicherer Freizeitaktivitäten. Traditionell galt in bes-seren Kreisen die in der häuslichen Umgebung verbrachte Zeit zur Kultivierung der schönen Künste, der Handarbeiten oder der literarischen Bildung, leichter sportlicher Betätigungen und der Kontaktpflege innerhalb der eigenen sozialen Schicht als angemessen. Die Frauenfrei-zeit, zunächst der oberen und mittleren Schichten, dann auch der unteren, kleinbürgerlichen oder urbanen proletarischen Schichten, erfuhr international zwischen 1890 und 1930 eine ra-dikale Transformation.

Neben dem Sport war die Konsumkultur des frühen 20. Jahrhunderts eng mit dieser Libe-ralisierung verbunden. Die neuen großen Kaufhäuser hatten einen maßgeblichen Einfluss. Der Boom dieser Konsumtempel in europäischen Großstädten wie Paris, London, Mai-land oder Berlin schuf eine Vielzahl neuer Arbeitsplätze mit verhältnismäßig ordentlichem Lohn und guten Arbeitsbedingungen, gerade für junge Menschen, und beschleunigte so das Wachstum der Angestelltenschicht. Die mit dieser Entwicklung einhergehende Veränderung der Einkaufskultur spiegelte und inspirierte die Modernisierung der Metropolen, die klassen-übergreifenden Bedürfnissen nach Vergnügen, Unterhaltung und Konsum immer größeren Raum gaben. Bon Marché , LaFayette , Selfridges , Harrods , Rinascente , Tietz , Wertheim oder Jandorf  – die Kaufhäuser europäischer Metropolen standen für eine sich demokratisierende urbane Kultur, für den Beginn des Massenkonsums und der Verbreitung von Mode- und Lifestyletrends sowie für eine neue, öffentlichere Form der Frauenfreizeit.858 In der Folge er-freuten sich weitere Orte des städtischen Vergnügens wie Tanzlokale, Bars, Vergnügungs-parks, Varietés oder Kinos großer Beliebtheit und wachsender gesellschaftlicher Akzeptanz, während sie in den Augen nicht weniger Zeitgenossen mit dem Ruch des Skandalösen be-haftet blieben. So stilprägend die Vergnügungskultur der Metropolen war und so sehr sie „eine relative Autonomie gegenüber der Politik“859 gewann und „sich von der Funktion der Repräsentation einer herrschenden Ordnung“860 emanzipierte, so kontrovers, angefeindet und bedroht blieb sie. Die Metropole wurde zur gefeierten oder verhassten Protagonistin lite-rarischer und künstlerischer Werke; in sowohl zeitgenössisch als auch heute wieder beliebten Romanen wie Irmgard Keuns Das kunstseidene Mädchen von 1932 ist die Metropole beides zugleich: ein Ort der Freiheit und Entfaltung (insbesondere für junge Frauen), aber auch der sozialen Kälte und Feindseligkeit.

Das Bild der ‚neuen Frau‘ der 1920er Jahre ist auch ein Mythos, da es letztlich nur auf einen kleinen Teil der weiblichen Bevölkerung zutraf, während der mit ihm assoziierte Lebensstil für viele Frauen gerade in ländlichen oder provinziellen Kontexten unrealistisch war. Es zog dennoch breite Bahnen und inspirierte Literatur, Kunst, Film, Mode oder Musik ebenso, wie es von diesen inspiriert wurde.861 Die Darstellung von Sportlichkeit wurde zu einem integralen Bestandteil des Images der ‚neuen Frau‘, denn diese stand für Jugend, Freiheit und Spaß und wurde damit auch zu einer Werbeikone des modernen Lebensstils.862

Gerade wegen der emanzipatorischen, antipaternalistischen Konnotationen erklärten fa-schistische Bewegungen die ‚neue Frau‘ zu einem Feindbild, das sie mit pseudo-moralisie-renden Kampagnen überzogen. Natasha V. Chang skizziert das Zerrbild, das die italienische faschistische Propaganda zeichnete und an dem sich offener Hass entlud – die sogenannte ‚Krisen-Frau‘, die donna-crisi :

Italienischen wie britischen Faschisten gelang es, mit einer traditionalistischen, misogynen Propaganda Anerkennung in gesellschaftlichen Schichten zu gewinnen, in denen ein restrik-tives Rollenverständnis mit stereotypen Geschlechterbildern Zustimmung fand. Paradox an ihrer Positionierung war, dass sie zeitgleich einzelne Konnotationen des liberalisierten Frau-enbildes übernahmen und als Charakteristikum der ‚neuen faschistischen Frau‘ priesen. Die britischen Faschisten sollten hier deutlichere Anlehnungen an Trends der zwanziger Jahre vor-nehmen und einen leicht androgynen Stil ihrer weiblichen Blackshirts kultivieren, die gewis-sermaßen eine reaktionäre Mentalität in moderner Verkleidung darstellten.

Italien war hinsichtlich der Lockerung traditioneller Rollenvorstellungen zu Beginn des 20.  Jahrhunderts  – bedingt durch den Katholizismus, die Vorherrschaft paternalistischer Strukturen, chauvinistische Vorstellungen von Ehre und Moral und die schwächere Frauen-bewegung – rückständiger als Großbritannien. Frauen und Männer verbrachten ihre Freizeit weitgehend getrennt voneinander. Frauen aus den unteren sozialen Schichten, im städtischen wie im ländlichen Raum, hatten wenig Freizeit, waren dafür aber in weibliche Netzwerke der Nachbarschaft integriert. Jungen Frauen in Kleinstädten und auf dem Land standen kaum Freizeitangebote zur Verfügung; rigide Moralvorstellungen in den Familien erlaubten indivi-duelle Aktivitäten zumeist nicht.864 Freizeit hatte in den meisten italienischen Regionen noch den engen kirchlichen, feiertagsbezogenen Rahmen, den sie in anderen europäischen Ländern bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts abgelegt hatte. Insbesondere in den sozialen Ober-schichten bewegte sie sich oft noch im traditionellen Rahmen einer künstlerischen Betätigung, der Handarbeiten, der Konversation mit gleichgestellten Damen und der privaten Bankette.865Die infrastrukturelle, wirtschaftliche und gesellschaftliche Rückständigkeit verlangsamte zwar den Prozess des Aufbrechens alter Strukturen, verhinderte aber nicht, dass sich freiheit-liche und modernisierende Tendenzen im Freizeitverhalten mehrten. Gerade in den moderne-ren städtischen Gesellschaften etablierten sich neue Freiräume für bürgerliche Frauen – dies sowohl im Sinne einer Kultur- und Mentalitätsänderung als auch in Gestalt neuer öffentlicher Räume. Der Sport jedoch galt zu Beginn des 20. Jahrhunderts in diesen Kreisen noch weithin als unschicklich.

Bei allen beschriebenen Liberalisierungs- und Modernisierungseffekten war auch die bri-tische Gesellschaft hinsichtlich der Anerkennung und Beurteilung von Frauenarbeit und Frauenfreizeit gespalten. Während Emanzipationsbewegungen militant für die politische Gleichstellung kämpften und deutlich größere Erfolge als ihre Pendants in Italien verzeichnen konnten, blieben erhebliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern bestehen, zusätzlich zu jenen zwischen den Schichten, zwischen Stadt und Land sowie zwischen Alt und Jung.

Von einer emanzipatorischen Stimmung als Konsens war auch die britische Gesellschaft, insbesondere in ländlichen und provinziellen Gegenden, noch weit entfernt. Der Anteil von Frauen an der werktätigen Bevölkerung blieb zwischen 1911 und 1931 relativ konstant bei 29 %, die Entwicklung dahinter war allerdings turbulent, wechselten die Beschäftigungsbe-reiche doch stark.866 Einen spürbaren backlash in Bezug auf die Frauenarbeit datiert Martin Pugh auf 1918: Nachdem die Arbeitsleistung vieler Frauen im Ersten Weltkrieg politisch und gesellschaftlich weithin als wichtiger Beitrag angesehen worden sei, habe sogleich das Zurück-drängen der Frauen aus den traditionellen Männerberufen eingesetzt, ein Prozess, der nur durch das Entstehen neuer Berufsfelder für junge Frauen im Dienstleistungssektor und in der Verwaltung abgefedert worden sei.867 Lifestyle-Magazine für Frauen hätten vor allem Ehe und Haushaltsführung sowie Schönheitspflege gepriesen und Frauenarbeit eher als ein notwendi-ges Übel vor der Heirat thematisiert, während Fitness-Bewegungen wie die Women’s League of Health and Beauty ein anti-emanzipatorisches Frauenbild verbreitet und in ihrem rasch wach-senden Mitgliederkreis kultiviert hätten.868 Das Resultat war eine Idealisierung des bürger-lich- bis kleinbürgerlich-häuslichen Lebens in weiten Kreisen der Gesellschaft, die ein starkes nostalgisches und stereotypisierendes Moment hatte – eine Mentalität, die britische Faschisten pflegen sollten.

Für arbeitende Frauen aus den unteren Schichten ist ohnehin eine exklusive Verortung in der privaten Sphäre weder im britischen noch im italienischen Fall richtig. Sie ist vielmehr ein Mythos, der schon historisch vor dem Hintergrund rigider Moralvorstellungen, patriarchaler Strukturen und ungleicher Machtverhältnisse kontrafaktisch behauptet wurde, der sich aus der fehlenden politischen Anerkennung der Frauen ergab und den die faschistischen Bewe-gungen in erheblichem Maße rückblickend konstruieren sollten. In Italien fügte sich diese Verortung nach Kriegsende in das reaktionäre Vorgehen der Faschisten, aber auch einer brei-ten Front konservativer Akteure gegen neue Emanzipationsbestrebungen ein.869

Nicht nur ihre Arbeit, die für viele Familien selbstverständlich war, um das Überleben zu sichern, machte Frauen zu Akteuren in der Öffentlichkeit, sondern ebenso ihre notwendige Ver-netzung mit anderen Frauen aus der Nachbarschaft, ob in den urbanen, dicht besiedelten Arbei-tervierteln und Slums oder in Dörfern. Wie Leonore Davidoff für den britischen Fall aufzeigt, waren diskursive Überhöhungen der Mutterschaft oder der Häuslichkeit als Gegenbild zur Frauenarbeit und daraus abgeleitete stereotype Familienbilder bereits ein Produkt des 19. Jahr-hunderts und Ausdruck viktorianischer bürgerlicher Sichtweisen auf die unteren Schichten und deren Lebensumstände.870 Befeuert einerseits durch die Besorgnis um die Konsequenzen schlechter Lebensbedingungen, andererseits durch Thesen aus Eugenik und Sozialdarwinis-mus, verschärften sich bürgerliche Vorstellungen davon, wie die Massen zu erziehen und welche Werte ihnen zu vermitteln seien – Vorstellungen, die zum Teil wenig mit der Realität der Ad-ressaten gemein hatten. Davidoff nennt als Beispiel für eine bürgerliche Fehlinterpretation das harte Vorgehen staatlicher oder kommunaler Stellen gegen das sogenannte baby-farming , eine improvisierte Form der Kinderbetreuung durch Mädchen oder Frauen aus der Nachbarschaft, die als inoffizielle Tagesmütter einsprangen. Während Behörden und Wohltätigkeitsorganisa-tionen es als Zeichen der groben Vernachlässigung der Fürsorge interpretiert und sogar betrof-fene Kinder aus ihren Familien geholt und in Waisenhäusern untergebracht hätten, sei es tat-sächlich als Zeichen funktionierender Nachbarschaften eine effiziente Selbsthilfe proletarischer Milieus gewesen, ohne die Frauenarbeit nicht möglich gewesen wäre. Zudem spiegele sich in der harten Reaktion eine bürgerliche Doppelmoral, denn die Mehrheit der so betreuten Klein-kinder seien Kinder von Hausangestellten gewesen, „the group most vulnerable to seduction, to broken courtships, to bearing illegitimate children and entry into prostitution.“871

Die faschistischen Bewegungen sollten private Formen der gegenseitigen Hilfe und der Für-sorge diskreditieren, ein für viele unrealistisches Familienbild propagieren und nur organi-sierten und kontrollierten Gemeinschaften und sozialfürsorgerischen Angeboten Legitimität zusprechen. Sie nutzten die Thematisierung sozialer Nöte propagandistisch und unterstellten ihren Visionen von Sozialfürsorge eine höhere Effizienz und moralische Autorität. Freizeit als faschistisches Agitationsfeld

Die Bedeutung des historischen Hintergrunds für die freizeitbezogene Agitation der faschisti-schen Bewegungen ist nicht zu unterschätzen. Sie nahmen explizit und implizit Bezug auf die nationale und die internationale Entwicklung der Massenfreizeit, adaptierten, vereinnahmten und suchten die radikale Abgrenzung. Ihre Repräsentanten begründeten ihre gesellschafts-politischen Anschauungen und die von ihnen behauptete Notwendigkeit einer nationalen Re-generation häufig mit Beobachtungen und Geißelungen des Freizeitverhaltens der Bevölke-rung. Aus ihrer Sicht zeigte sich nirgendwo sonst der drohende Niedergang der Gesellschaft so deutlich wie im Alltagsverhalten der Masse und die Freizeit erschien als probater Raum zu deren Erziehung und zur Vermittlung übergeordneter faschistischer Zielsetzungen. Den mit der Freizeit verbundenen Erwartungshaltungen ihrer Zeitgenossen konnten und wollten sich die Bewegungen allerdings nicht in dem Maße entziehen, wie es ihre Propaganda vorgab. Sie bedienten sie zum Teil gezielt und generierten dadurch Zustimmung.

Trotz des rigiden Vordringens in die Privatsphäre und Lebensführung ihrer Adressaten war die faschistische Vereinnahmung von Freizeitangeboten ein effizientes Mittel der Vergemein-schaftung und der Schaffung von Akzeptanz. Zuspruch fanden ihre Visionen von faschisti-scher, teleologischer Freizeit, da diese an ein in allen gesellschaftlichen Schichten verbreitetes Verlangen nach Sinn- und Identitätsstiftung anknüpften. Die Bewegungen machten sich die enttäuschte Erwartungshaltung derer zunutze, die sich von einem Freizeitzuwachs Erfüllung und Aufwertung erhofft hatten. Das faschistische Versprechen lautete, der Einzelne könne in der organisierten, ritualisierten und ideologisierten Freizeit Erholung, Ertüchtigung und Bil-dung finden und dadurch eine kollektive Selbstbestimmung erfahren; er könne nützlicher Teil eines neuen Ganzen mit transzendentaler Bedeutung werden. Was tatsächlich ein Euphemis-mus für Fremdbestimmung war, präsentierte sich den Empfänglichen als Richtschnur in einer vermeintlich unübersichtlichen, verfallenden Alltagswelt.

Die faschistische Kommunikation zur Freizeit lässt sich in Anlehnung an den Konstruktivis-mus als eine manipulative Konstruktion der Wirklichkeit beschreiben. Die konstruktivistische Maßgabe, Sprache definiere die Deutung von Objekten, von deren Ordnung und von mensch-lichen Beziehungen schon bevor das Subjekt sich mit diesen Entitäten auseinandersetze,872 erfolgt in der faschistischen Agitation und Propaganda zielgerichtet und unter Diskreditierung jeder anderslautenden Sicht auf die Wirklichkeit. Neben der Sprache nutzten die faschistischen Be-wegungen in ihrer diesbezüglichen Agitation Symbole, Ritualisierungen und performative Akte. Mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen, Mitteln, Chancen und Resultaten zielten in allen drei Kontexten faschistische Akteure darauf, Orte und Traditionen der Geselligkeit zu verein-nahmen, über Freizeitangebote Einfluss auf die Wertvorstellungen, gesellschaftlichen Beziehun-gen und das Alltagsverhalten des Einzelnen auszuüben und Deutungshoheit zu beanspruchen.

Der Unterschied zwischen bereits erlangter Macht und Regierungsgewalt im italienischen Fall und nur angestrebter Macht im britischen Fall hatte starke Auswirkungen auf die freizeit-bezogene Agitation. Während sich in Italien die faschistische Bewegung zur Partei und zum Regime konsolidierte, mit der Opera Nazionale Dopolavoro (OND) 1925 eine quasi-staatliche Organisation zur politischen Steuerung der Massenfreizeit schuf und sich der Konkurrenz entledigen konnte, war der Spielraum der British Union of Fascists als Bewegung und Par-tei begrenzter. Da sie auf die Propagierung von gesellschaftspolitischen Zielsetzungen bauen musste, die sie nur an ihrer Mitgliederbasis erproben konnte, standen hier die argumentative Bewerbung und Inszenierung einer faschistischen Freizeit im Mittelpunkt. Für die Fasci all’Es- tero des PNF war der Handlungsspielraum wieder ein anderer. Sie profitierten von vorgefun-denen Strukturen, von der Finanzierung und Ausstattung durch Zentralstellen in Italien und von den Sanktionsmöglichkeiten des Regimes gegenüber den im Ausland lebenden Italienern. Zugleich konkurrierten sie aber mit einer Mehrheitsgesellschaft, deren breit aufgestellte Frei-zeitkultur den Einwanderern theoretisch ebenso offenstand wie den britischen Staatsbürgern. Tatsächlich spielten jedoch soziokulturelle und strukturelle Hemmnisse der Integration der faschistischen Partei in die Hände. Der Vergleich wird aufzeigen, wie ähnlich trotz der Asym-metrie und aller Unterschiede das grundlegende Verständnis und die Konzepte einer spezi-fisch faschistischen Freizeit waren, und zugleich verdeutlichen, inwiefern der nationalistische Impetus auch hier die Konkurrenz zwischen den Faschismen beförderte.

4.2 Die Monopolisierung der Freizeit im italienischen Faschismus: die Opera Nazionale Dopolavoro

1938 formulierte Tullio Cianetti, der langjährige faschistische Gewerkschaftssekretär und Vorsitzende des Industriearbeiterverbandes diese pathetische Anforderung an die Soziabilität. Seine Auslegung des Begriffs umfasste beides, Vergesellschaftung und Geselligkeit. Soziabili-tät bilde den Gegenpol zum Individualismus und erziehe zur Pflichterfüllung. Der Faschismus realisiere mit ihr ein zivilisatorisches Projekt, das weder die Französische Revolution noch die Revolutionäre um Giuseppe Mazzini hätten einlösen können:

Es ist bemerkenswert, dass im gleichen Jahr die neugegründete, der Deutschen Arbeitsfront (DAF) unterstellte ‚Stadt des KdF-Wagens‘ (das spätere Wolfsburg), Tullio Cianetti eine Stadt-halle widmete, einen auf 5000 Besucher ausgelegten Ort faschistisch instrumentalisierter Ge-selligkeit.875 Cianettis Ausführungen zur socialità waren vor dem Hintergrund einer bereits fortgeschrittenen Organisation der Soziabilität entstanden, denn seit mehr als einem Jahr-zehnt verfügte der Faschismus über ein Programm mit dem klingenden Namen Dopolavoro und damit über eine Massenorganisation der Arbeiterfreizeit. Retrospektiv behauptete er ei-nen Anspruch, über die gezielte Einflussnahme auf die Geselligkeit eine höhere Stufe der Zivi-lisation zu erreichen. Frühzeitig hatte die faschistische Bewegung die Möglichkeiten erkannt, durch Eingriffe in die Alltagskultur der Bevölkerung die eigenen Einflussbereiche auszubauen, dem Faschismus ein sozialpolitisches Agitationsfeld zu sichern und sich konkurrierender Ver-sammlungsorte, Bildungsangebote und Freizeit- und Kultureinrichtungen für Arbeiter und Angestellte zu entledigen oder diese gleichzuschalten.

Die Geschichte des Dopolavoro begann mit squadristischen Gewaltattacken gegen bestehen-de Einrichtungen der Arbeiterfreizeit und mündete in einer faschistischen Massenorganisa-tion, deren Zielsetzung darin lag, die Freizeit der Massen zu systematisieren und zu mono-polisieren, die Bevölkerung zu einem politisch gewünschten Lebenswandel zu erziehen und zu mobilisieren. Am 1. Mai 1925 gab das faschistische Regime die Gründung eines ‚Nationalen Freizeitwerks‘ bekannt, das sich der Organisation und Förderung der Arbeiterfreizeit in al-len ihren Facetten widmen sollte. Die Einsetzung der Opera Nazionale Dopolavoro (OND) fiel – durchaus berechnend gewählt – auf den sozialistischen Tag der Arbeit. Bereits ausgehöhlt durch die Aufwertung des 21. April als Natale di Roma (Tag der Geburt Roms) zu einem ar-beitsfreien Tag des italienischen Volkes, der auf eigentümliche und ahistorische Weise die Glo-rifizierung des Römischen Imperiums als Grundstein des ‚neuen Italiens‘ mit dem „Fest der Arbeit und der wirtschaftlichen Produktion“876 kombinierte, wurde der 1. Mai jetzt noch von seiner sozialistischen Tradition entkoppelt. Vorausgegangen war der Gründung der OND ein jahrelanger Prozess, in dem die Arbeiterfreizeit durch die faschistische Bewegung diskursiv vereinnahmt und gewaltsame Übergriffe ihrer Squadre auf sozialistische und gewerkschafts-nahe Freizeiteinrichtungen verübt worden waren. Schließlich waren zahlreiche etablierte Ver-eine, Verbände und Lokale übernommen worden. Während die faschistische Partei ihre Macht festigte, politische Gegner entmachtete und ein Regime bildete, zog sie einen gesellschaftspoli-tischen Handlungsraum an sich, den sie selbst als Gradmesser für den Entwicklungsstand und die Zukunftsfähigkeit eines Landes und für dessen politische Durchdringung erachtete. Eine anschauliche Version dieser faschistischen Perspektive liefert Giovanni Bertinettis Libro del Dopolavoro von 1928:

Für die faschistische Bewegung stellten insbesondere sozialistische Einrichtungen, die Arbeiter in Städten und im ländlichen Raum in ihrer Freizeit aufsuchten, ein Hindernis der Machtge-nerierung in Arbeitermilieus dar. Die Proteste, Streiks und Arbeitskämpfe sowohl der Indus-triearbeiter als auch der Landarbeiter im biennio rosso führten zunächst zu einem Erstarken der italienischen Arbeiterbewegung. Die Faschisten griffen diese nicht nur verbal scharf an, sondern begegneten ihr bereits im April 1919 mit unverhohlener Gewalt (vgl. Kap. 2.1). Die Attacken der Squadre gegen sozialistische Versammlungsorte ließen sich in großbürgerlichen und bürgerlichen Kreisen vermeintlich damit rechtfertigen, dass sie die Entstehung von Streik-bewegungen und sozialistischen Protestaktionen einzudämmen suchten. Die Angehörigen der Fasci inszenierten sich seit 1919 als Wahrer bürgerlicher Interessen gegen rebellierende Arbei-ter und gegen den Bolschewismus. Squadristen kooperierten mit agrarischen Arbeitgebern; Unterstützung erfuhren sie darüber hinaus aus der Mittelschicht und aus antisozialistischen Kreisen des Arbeitermilieus.878 Ihre Gewaltaktionen betrachteten sie als Heldentaten zur Ret-tung der Nation vor inneren Feinden:

Die systematischen Übergriffe auf Angehörige der Arbeiterbewegung und deren Versamm-lungsorte wurden in der Folgezeit zwar auf internationaler Bühne als erheblicher Widerspruch zur Selbstbeschreibung der faschistischen Bewegung, sie sei um Fürsorge und Interessenver-tretung der Arbeiter besorgt, angeprangert, aber ihr Konzept des Dopolavoro erschien vielen zeitgenössischen Stimmen als potenziell tragfähiger Ansatz. Wie Daniela Liebscher aufzeigt, nutzte das faschistische Italien die Internationale Arbeitsorganisation (IAO) des Völkerbun-des als Bühne, suchte sich hier als Vorreiter zu präsentieren und einen länderübergreifenden Austausch anzuregen und ihn zu lenken. Besonders zwischen der Opera Nazionale Dopolavo- ro und der nationalsozialistischen Organisation ‚Kraft durch Freude‘ entstand später ein so-wohl von Kooperation als auch von Konkurrenz geprägtes Verhältnis.880 Die Kommunikation zum Dopolavoro entwickelte sich zu einer faschistischen „Imagekampagne“881 und sie stand im Kontext einer größeren „sozialpolitischen Imagepolitik des faschistischen Italien“882. Ein-richtungen zur Regelung von Arbeitsverhältnissen und zur Sozialfürsorge auf internationaler Ebene wurden nicht durch das faschistische Italien initiiert, dieses verstand es aber, interna-tionale wie auch nationale Errungenschaften in seine Freizeitpolitik zu integrieren, auf Struk-turen aufzusatteln, sie zu dominieren und deren Traditionslinien zur Arbeiterbewegung und zur betrieblichen Sozialpolitik zu leugnen. Zu fragen ist also: Mit welchen propagandistischen Narrativen und Bildern gelang es der faschistischen Bewegung trotz ihres unverkennbar anti-demokratischen Charakters, international zumindest bedingt erfolgreich, zu behaupten, um Erholung und Bildung der Arbeiter und Angestellten bemüht zu sein? Welche Rolle spielten der Dopolavoro und die OND? Wie veränderten sie Freizeitkulturen in Italien? Was verstan-den Faschisten unter Sozialpolitik, Arbeiterfreizeit und Arbeiterbildung? Welche gesellschaft-lichen Gruppen erreichten sie? Wie trugen sie politische Ziele und Ideologien in die Freizeit der Bevölkerung und was boten sie dieser unter dem Prädikat ‚faschistische Freizeit‘? Vom Neologismus zum Programm

Idee, Initiative und Konzeption des Dopolavoro stammten eigentlich aus der Privatwirtschaft, waren sie doch von Mario Giani, einem früheren Manager der italienischen Dependance des US-amerikanischen Elektrokonzerns Westinghouse , ausgearbeitet und veröffentlicht worden. Giani nahm klassische paternalistische Ansätze und Entlehnungen aus den Arbeiterwohl-fahrtsprogrammen amerikanischer Großunternehmen auf und brachte den Neologismus des „ Dopolavoro “ ins Spiel.883 Seine Ansätze, die Teil einer breiten internationalen Debatte über die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen waren, erlangten, wie Victoria de Grazia herausstellt, in Italien deshalb rasch so großen Einfluss, weil sie in die Phase der Zerschlagung der sozialistischen Gewerkschaften durch die faschistische Bewegung trafen und dieser als po-litisch opportune Kompensation für das entstehende Vakuum gewerkschaftlicher Organisa-tion erschienen. Die starken paternalistischen und korporatistischen Anleihen sollten sicher-stellen, dass der antisozialistische Geist Einzug in Arbeitervereine nehme und die faschistische Partei Akzeptanz und Rückhalt in der Arbeiterschaft finde, zugleich aber die Arbeitgeber nicht verprelle.884 Giani soll bereits 1920 ein erstes Rundschreiben in hoher Auflage an Industrielle gesandt und ein eigenes Institut in Rom gegründet haben, das eine Zeitschrift mit dem Titel Il Dopolavoro herausgab.885 Seit dem Frühjahr 1923 intensivierten sich die Verbindungen zwi-schen Gianis Institut und der faschistischen Gewerkschaftsinitative, der Confederazione dei Sindacati Fascisti . Syndikalistische Inhalte erhielten größeren Raum und die Idee der Dopola- voro -Clubs wurde so modifiziert, dass diese innerhalb der Unternehmen oder als kommunale Einrichtung gegründet werden konnten, finanziert durch Spenden und Mitgliedsbeiträge. In-nerhalb der Confederazione dei Sindacati Fascisti wurde ein Dopolavoro -Zentralbüro einge-richtet. Unter der Aufsicht der faschistischen Gewerkschaftsinitiative etablierten sich nun die ersten Clubs, die bestehende örtliche Vereine inkorporierten.886

Außerhalb der Landesgrenzen wurde die Dopolavoro -Idee in den Zeitungen der Fasci all’Es- tero frühzeitig beworben. So berichtete schon im Sommer 1923 Gagliardetto , die Zeitung der Fasci in Deutschland, über die angeblich erfolgreiche Umsetzung des Konzeptes in der Pro-vinz Piacenza. Der Bericht wandte sich, so lässt sich der Argumentation entnehmen, an eine bürgerliche Leserschaft. In paternalistischem Gestus betonte der Autor den erzieherischen Nutzen des Dopolavoro , der die Arbeiter zu einem zivilisierten Lebensstil befähige.887 Nur zwei Monate später thematisierte Gagliardetto bereits die Exportfähigkeit des Dopolavoro in die italienischen Gemeinden im Ausland und diskutierte, unter welchen Modifikationen das Pro-gramm für die Italiener in Deutschland Nutzen bringen könne und ob es die hier bestehenden Sportvereine für italienische Arbeiter übernehmen könne.888

Das mit der Etablierung der Dopolavoro -Clubs verbundene Ziel war, Arbeitervereine in dem Sinne zu entpolitisieren, dass sie künftig keine klassenspezifische Politik der Arbeiter zur Durchsetzung ihrer Interessen gegen jene der Arbeitgeber und gegen das politische System mehr betrieben. Einer Ersatzpolitisierung sollte Raum geschaffen werden, um eine politische Erziehung der breiten Masse nach faschistischen Vorstellungen zu ermöglichen. Spätere par-teinahe Publikationen zur OND erklärten häufig, die faschistische Partei habe den unpoli-tischen Bereich der Freizeit politisiert, indem sie staatsbürgerliche Erziehung, Disziplin und Wehrtüchtigkeit, Liebe zum Vaterland und Patriotismus zu einem Bestandteil der Freizeit der Masse gemacht habe. Allerdings war dieser Bereich zuvor nie unpolitisch und viele Schlag-worte, die zum Dopolavoro postuliert wurden, waren bereits in älteren paternalistischen Kon-zepten und in Diskursen zu citizenship und den arbeitenden Klassen vorhanden (vgl. Kap. 4.1). Das Dopolavoro -System war der Versuch, eine faschistische Variante des sozialistischen Arbeitervereinswesens durchzusetzen. Die faschistische Partei wollte als einzig legitime Inter-essenvertretung der Arbeiter und Angestellten in ökonomischen, politischen und moralischen Fragen wahrgenommen werden. Die Dopolavoro -Zirkel sollten all das bieten, was klassisch in den Bereich des Vereinslebens und der Volksbildung gehörte: vom Sport über Unterhaltungs-möglichkeiten, von kulturellen Veranstaltungen zu breiten Bildungsangeboten, praktischen Unterweisungen und Fortbildungskursen für bestimmte Berufsgruppen.

In einer Lokalstudie zum frühen urbanen Faschismus untersucht Donald Howard Bell die Etablierung faschistischer Organisationen im Mailänder Arbeitervorort Sesto San Giovanni zwischen 1918 und 1922. Hier habe sich vor dem Ersten Weltkrieg rasch eine Arbeitersubkul-tur entwickelt mit sozialistischen und katholischen Arbeitertreffs, Vereinen und Hilfseinrich-tungen. Faschistische Akteure eigneten sich wesentliche Charakteristika sozialistischer und katholischer Arbeiterkulturen an und suchten Anschluss an deren lokale Organisationen.889Bell beschreibt ihre Strategien als „Mimeticism“, „Collaboration“ und „Confrontation“.890 In einigen Fällen, wie in jenem des Sportvereins Pro-Sesto , hielten solche Kooperationen sogar noch an, als die squadristische Gewalt schon ganze Regionen Italiens erfasste und die Faschis-ten offen das demokratische System angriffen. Bell nimmt an, dass hier die gemeinsame lokale Identität politische Antagonismen noch zu überbrücken schien:

Im Mai 1922 griffen dann allerdings Faschisten bei einer Kundgebung die örtlichen Sozialisten scharf an. Einer der Wortführer war Asvero Gravelli, der später ein lautstarker Befürworter einer Internationalisierung des Faschismus werden sollte (vgl. Kap. 5). Das auf Unterwande-rung und Anbiederung setzende Vorgehen der Faschisten war nicht nur in Italien vielerorts ähnlich, es zeigte sich auch im Einflussbereich der Fasci all’Estero (vgl. Kap. 2.2 und 4.3). Die Durchdringung von etablierten Institutionen und milieuspezifischen Kulturen war oft eine Kombination von Umwerbung und Repression. Symptomatisch ist eine Rede Mussolinis aus dem Dezember 1922. Im Rahmen einer Betriebsbesichtigung der Lombardischen Stahlwerke Acciaierie Lombarde behauptete der in Folge des ‚Marsches auf Rom‘ zum Regierungschef auf-gestiegene Faschistenführer eine biografisch bedingte emotionale Nähe zu den versammelten Arbeitern:

Mussolini rekurrierte also in bildreicher Sprache auf seine Herkunft, um Nähe und Empa-thie zu demonstrieren, und kehrte opportunistisch den faschistischen Jugendmythos um: Er präsentierte sich den angesprochenen Arbeitern hier nicht als Anführer der aufbegehrenden Jugend, sondern fast schon nostalgisch als väterlicher Freund, der seinen Anspruch, die Arbei-ter repräsentieren zu wollen, durch eine Familientradition und Jugenderfahrungen legitimiert sieht. Diese Ansprache stellt letztlich ein paradoxes Gemenge aus sozialer Nähe und Distanz dar. Den anti-emanzipatorischen Kern faschistischer Gesellschaftspolitik erhob Mussolini in anderen Reden vor Arbeitern zu einem Wesensmerkmal faschistischer Philanthropie und er-klärte sich zu dem Freund, den die Arbeiter wirklich bräuchten. Freundschaft impliziert in dieser Logik eine Berechtigung zur Dominanz, die sich aus einem größeren Wissensstand und einer höheren Erkenntnis speist:

Als im Mai 1925 die Gründung der Opera Nazionale Dopolavoro zelebriert wurde, bestand bereits ein Netz aus lokalen Clubs des Dopolavoro . Die OND sollte als Dachorganisation die Arbeit dieser einzelnen Einrichtungen zentralisieren und überwachen sowie verbindliche in-haltliche und strukturelle Vorgaben machen. Die ersten Dopolavoro -Zirkel entstanden nicht in den Industriestädten, sondern im ländlichen Raum der Poebene. Laut Victoria de Grazia bildete sich das dichteste Netz in der eher ländlich geprägten Provinz Novara; es umfasste zur Mitte des Jahres 1924 100 Zirkel mit 13 000 Mitgliedern.894 Mit der Gründung der Dachorga-nisation nahm das Tempo des Ausbaus der neuen Massenorganisation noch einmal zu. 1929 zählte die OND dann bereits 1,6 Millionen Mitglieder.895 Die Organisation geriet aber, wie die anderen faschistischen Massenorganisationen auch, in Machtkämpfe und Kompetenzgerangel zwischen Ministerien und Partei. Zusätzlich prägten Intrigen zwischen den faschistischen Ge-werkschaften und der Partei die ersten Jahre des Organisationsausbaus. 1925 war die OND als eine halbautonome Organisation unter die Aufsicht des Wirtschaftsministeriums gestellt wor-den und als ihr Präsident Emmanuel Philbert, Herzog von Aosta und Cousin des italienischen Königs, ernannt worden.896 Die OND erschien damit einerseits als weitgehend eigenständig in der Tradition philanthropischer Vereine mit einem adligen Schirmherrn, andererseits als staatlich überwachte Wohlfahrtsorganisation, was ihrer Reputation nutzte. Mario Giani er-hielt einen nur untergeordneten Posten und wurde 1927 aus der Organisation gedrängt. Im selben Jahr wurde die OND der direkten Kontrolle des PNF unterstellt und dem Amt des Par-teisekretärs jenes des OND-Präsidenten beigeordnet. Augusto Turati, Parteisekretär seit 1926, beschleunigte den Ausbau der Organisation. Die Einführung der Zeitschrift Gente Nostra er-leichterte die Kommunikation mit tatsächlichen und potenziellen Mitgliedern und verstärkte die Vermarktung des Dopolavoro -Gedankens. Der einstige Neologismus fand Eingang in die Alltagskultur. 1937 wurde dann der rechtliche Status erneut modifiziert und die Organisation formal unter staatliche Verwaltung gestellt.

Die OND steigerte die Reichweite faschistischer Gesellschaftspolitik erheblich. Sie transpor-tierte diese Politik mit ihren antidemokratischen, bevölkerungspolitischen, militaristischen, imperialistischen und rassistischen Implikationen in die Bevölkerung und machte sie gesell-schaftsfähig und schließlich mehrheitsfähig. Es erstaunt daher nicht, dass der Parteisekretär und Präsident der OND, Achille Starace, diese 1938 als „Stützpfeiler der neuen Gesellschafts-ordnung“897 pries. Opera Nazionale Dopolavoro  – die Institutionalisierung von Volksnähe?

Faschistische Veröffentlichungen zur OND behaupten stets mit viel Pathos einen universel-len gesellschaftlichen Nutzen des Dopolavoro . Exemplarisch deutet Achille Staraces 1933 er-schienene Schrift L’Opera Nazionale Dopolavoro die faschistische Freizeit als einen Beweis der Authentizität faschistischer Volksverbundenheit. Das Motto des andare verso il popolo wird seitenlang in Aufzählungen und Ellipsen beschrieben:

Bereits in diesem Auszug klingen zentrale Motive faschistischer Ideologie und Rhetorik an, die zu Charakteristika der Freizeitpolitik erhoben wurden: die behauptete Notwendigkeit einer autoritären Anleitung zum richtigen Lebensstil und zu körperlicher und moralischer Fitness, die Verklärung von Patriotismus und Nationalismus, Nationalstolz und Italianità , die Wahr-nehmung des Staatsbürgers als Soldat und die Euphemisierung der Gemeinschaft im Krieg. Starace erläutert ferner die Entwicklung der OND als Reifungsprozess einer großen Idee, die nun ihre Vervollkommnung erfahren habe. Der zivilisatorische Einfluss des Dopolavoro er-strecke sich vom Zentrum bis in die entfernteste Peripherie.899 Bertinettis Libro del Dopolavo- ro geht noch weiter und wertet das Freizeitprogramm sogar als antizipierten Volkswillen. Es sei ein Mittel, das der faschistische Staat denjenigen zur Verfügung stelle, die erkannt hätten, welch große Bedeutung die Verbesserung der eigenen körperlichen und moralischen Verfas-sung habe. Es versetze den Arbeitenden in die Lage, seine Arbeit und damit das Leben zu lie-ben. Aus der Regeneration des Einzelnen folge die Regeneration der Gemeinschaft. Ein Volk, das arbeite, werde Herr über das eigene Schicksal.900

Den pathetischen Ausführungen zum Dopolavoro stand in der Realität ein wahres Bürokra-tiemonster in Gestalt der OND gegenüber. Diese war streng hierarchisch strukturiert und zu-nächst in sechs große Kompetenzbereiche gegliedert: Organisation, Verwaltung, Sport, Aus-flugswesen, künstlerische Bildung und Wohlfahrt. Darüber hinaus sah die Hierarchie bis zur lokalen Ebene eine enge Bindung an die lokale Parteizelle und Kontrollgremien auf Landes-, Provinz- und Gemeindeebene vor. Das Fundament bildeten die in sich ebenfalls hierarchi-sierten lokalen oder betriebseigenen Dopolavoro -Zirkel und andere der OND angeschlossene Assoziationen.901 Ein 1938 erschienener deutschsprachiger Propagandaband italienischer Pro-venienz betonte mit Stolz die strukturelle Komplexität der OND:

Das von Mussolini als „Friedenswerk, welches eine erhabene Sendung erfüllt: Brüderlichkeit, Liebe und Bildung“903 bezeichnete ‚Nationale Freizeitwerk‘ war also vor allem ein „unentbehr-licher politischer Apparat“904.

Eine Sonderstellung kam den betriebseigenen Clubs, den Dopolavoro aziendali , zu. Sie waren nach paternalistischem Vorbild konzipierte Einrichtungen für die Arbeiterschaft einer Firma oder Behörde. Unternehmen richteten in Absprache mit der OND Clubs ein, die häufig auf dem Fabrikgelände oder am Betriebsstandort angesiedelt wurden. Sie besaßen damit Freizeitanlagen, die ihre Arbeiter und Angestellten sowie deren Familien nutzten und die zusätzlich zur Kontrolle durch die OND dem Einfluss der Unternehmer unterstanden. Ihre Ausstattung war vielfach bes-ser als die der kommunalen Dopolavoro- Clubs. Für Unternehmen ergaben sich so Möglichkei-ten, unter ihren Arbeitern und Angestellten ein spezifisches Gemeinschaftsgefühl zu kultivieren und sie langfristig an den Betrieb zu binden.905 In der öffentlichen Wahrnehmung unterstützten sie das Konzept des Dopolavoro und damit die Sozialpolitik des Regimes. Neben großen Indus-triebetrieben, Banken, Versicherungen und Verlagen kooperierten Familienunternehmen und Traditionsbetriebe frühzeitig mit der OND und nutzten dies über Jahre zu Werbezwecken. So erklärte sich zum Beispiel der Spirituosenhersteller Cinzano 1938 zu einem Vorreiter:

Fiat verfügte seit den frühen 1930er Jahren sogar über eine eigene Dopolavoro -Zeitschrift, die sie in einer Auflage von 60 000 Exemplaren an Betriebsangehörige ausgab. Dies war nur eine von vielen Kooperationsmaßnahmen des Unternehmens mit der OND.907 Dass die Unter-stützung für das Regime, die in den betriebseigenen Dopolavoro kultiviert wurde, weit über den Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik hinausging, wird in vielen Selbstdarstellungen dieser Einrichtungen deutlich, die neben entsprechenden Maßgaben auch bevölkerungspoliti-sche, militärische und expansionistische Zielsetzungen vermittelten. Die OND popularisierte wie andere Massenorganisationen unter ihren Mitgliedern faschistische Vorstellungen von einer vermeintlich besseren Zukunft, propagierte Kolonialismus, Imperialismus und Nationa-lismus als Vorrecht der Italiener und nahm hier die Motive der Erneuerung, der Wiedergeburt der Nation und der Rückkehr zu historischer Größe auf. Der Beitrag, den die OND zu einer Mobilisierung der italienischen Gesellschaft leistete, sollte nicht unterschätzt werden. Ihr ideo-logischer Radius ging weit über den sozialpolitischen Bereich hinaus, auch wenn sie ihr Ziel verfehlte, alle arbeitenden Italiener zu erfassen und zu indoktrinieren.

Doch was machte eine Mitgliedschaft im Dopolavoro vielversprechend? Die Attraktivität ergab sich aus der großen Bandbreite der angebotenen Freizeit- und Bildungsmöglichkeiten. Insbesondere an Orten, an denen keine oder kaum alternative Freizeitmöglichkeiten für die Arbeiter und Angestellten beider Geschlechter, vor allem für die jungen Arbeitskräfte, be-standen, entwickelten die Einrichtungen der OND einen hohen Sogfaktor. 1939 umfasste die Organisation 23 000  Dopolavoro -Zirkel.908 Die Mitgliedschaft ermöglichte es, jenseits famili-ärer Kontrolle Zeit mit Gleichaltrigen zu verbringen, Massenerlebnissen und Großveranstal-tungen wie Ausflügen der Arbeiterschaft eines Unternehmens oder Sportfesten beizuwohnen und von den Angeboten der OND wirtschaftlich zu profitieren, die nicht nur die Ausstattung der Clubs und deren Sport- und Kulturgruppen finanzierte, sondern zudem Rabattierungen für Mitglieder in Theatern, Geschäften und Verkehrsbetrieben durchsetzte. Damit generierte die faschistische Partei Zufriedenheit unter ihren Anhängern und versuchte die Wahrneh-mung, sie sei um das Wohlergehen des Volkes bemüht, auch in diejenigen Kreise und Milieus der arbeitenden Bevölkerung hineinzutragen, die ihr skeptisch oder ablehnend gegenüber-standen.

Dopolavoro war zudem eine Konsumentengemeinschaft, denn die Mitgliedschaft beinhal-tete Rabatte und andere Einkaufsvorteile, exklusive Angebote und Sonderkonditionen in vie-len Bereichen. Faktisch war dies eine Art faschistisches Treuepunkte-System: Belohnt wurden ökonomische Treue und politische Zustimmung. Ein Zitat aus einer OND-Veröffentlichung verdeutlicht die Ausmaße:

Mit der Massenorganisation schuf sich die Partei ein Medium der Indoktrination und der sozialen Kontrolle. Über die Angebote der OND, deren Inhalte faschistische Ideologen zentral bestimmten, ließen sich faschistische, nationalistische und imperialistische Weltanschauun-gen verbreiten, die gesellschaftliche Interaktion beeinflussen, das Konsumverhalten der Mit-glieder steuern und eine gelenkte und zensierte Volkskultur durchsetzen, da nur diejenigen Inhalte in das Kulturprogramm der OND aufgenommen wurden, die konform und opportun erschienen. Gleichzeitig bedeutete die Schaffung von Gemeinschaftserlebnissen mit Arbeits-kollegen oder Nachbarn im Feierabend und am Wochenende die Ausdehnung der Spitzelei in den Freizeitbereich. Die Partei war durch ihre Kontrollinstanzen vor Ort in das Clubleben ein-bezogen. Der politische Aspekt der Arbeiterfreizeit wurde so in regimekonforme Bahnen ge-lenkt, um jegliche Art ‚subversiver‘ Versammlung der Arbeiter und Angestellten zu vermeiden und stattdessen eine staatsbürgerliche Erziehung nach faschistischer Doktrin sicherzustellen. In der Sprache des Regimes klang der autoritäre und bevormundende Ansatz der OND dabei wie eine notwendige und zukunftsfähige Maßnahme, um einen moralischen Niedergang der Bevölkerung abzuwenden:

In der Praxis variierte das Angebot der Dopolavoro -Clubs stark und richtete sich vor allem im Bildungsbereich nach den lokalen oder firmeninternen Notwendigkeiten. Im ländlichen Raum war es restringierter und setzte stärker auf die Erziehung zur Selbstversorgung der Mitglieder. Daneben fanden regionale Traditionen, kunsthandwerkliche oder volkstüm-liche Themen Berücksichtigung. Unternehmen setzten in ihren Dopolavoro -Sektionen auf ein berufsspezifisches Weiterbildungsangebot oder organisierten karitative Veranstaltungen, die den Familien ihrer Arbeiter oder der direkten sozialen Umgebung zu Gute kamen. Das Angebot war insgesamt weniger starr, als es die Propagandaschriften auf den ersten Blick vermitteln. Diese Flexibilität dürfte erheblich zur Attraktivität und zur Akzeptanz in der Bevölkerung beigetragen haben. Die Ausrichtung an der Politik des Regimes war dennoch klar erkennbar und inszenatorisch war sie überaus präsent, sowohl in den Anlagen der OND, die mit der faschistischen Symbolik dekoriert und markiert waren, als auch bei den cho-reografierten Massenveranstaltungen, die Mitglieder über Gemeinden oder Betriebe hinaus in Kontakt brachten und Kollektiverlebnisse schufen. Die Reichweite der OND übertraf den Mitgliederkreis, da Familienangehörige ebenfalls von den Angeboten profitierten. Durch die Vermarktung von Sportarten, Kulturevents und Exkursionen hatte die OND zudem einen stilbildenden Effekt auf weite Teile der Bevölkerung. Die für die späten dreißiger Jahre auf etwa vier Millionen geschätzten Mitgliederzahlen zeigen also nur einen Teilausschnitt des realen Einflussbereichs.911 Ruralistische Freizeit – das Vordringen in ländliche Milieus

Die Landbevölkerung begegnete dem Dopolavoro -Gedanken trotz der Anfänge des Pro-gramms in einigen norditalienischen agrarischen Gebieten insgesamt weniger enthusiastisch als die städtische Angestelltenschicht und die Industriearbeiter.912 Für viele Kleinbauern und Landarbeiter war ein Angebot nach städtischen Maßstäben unattraktiv oder eine Teilhabe gar nicht realisierbar angesichts der mit der Landarbeit verbundenen körperlichen Anstrengung, der langen Arbeitszeiten, die das Wochenende einschlossen, das sich andernorts zum zeit-lichen Schwerpunkt vieler Dopolavoro -Aktivitäten entwickelte, und der die ganze Familie ein-beziehenden Bewirtschaftung von kleinen Höfen.

Die Etablierung faschistischer Freizeiteinrichtungen auf dem Land war allerdings von gro-ßer Bedeutung für das Regime, da ihr Kompensationsfunktionen zukamen: Erstens sollten sie einen Ausgleich schaffen für die schlechte infrastrukturelle Anbindung, Versorgung und kar-ge Ausstattung ländlicher Gemeinden; zweitens sollten sie der im Vergleich geringen Alphabe-tisierung und schlechten Ausbildungssituation auf dem Land entgegenwirken und drittens die Abwanderung in die Städte aufhalten, welche die Agrarwirtschaft und damit die intendierte autarke Versorgung mit Grundnahrungsmitteln behinderte. Die Landwirtschaft bildete im frühen 20. Jahrhundert den größten Wirtschaftssektor Italiens. Die Zahl der Beschäftigten in diesem Sektor blieb kontinuierlich hoch. Sie war 1936 noch ebenso groß wie 1901 und dem Zensus von 1931 zufolge war in 41,5 % der italienischen Familien das Familienoberhaupt in der Landwirtschaft tätig.913

Die Thematisierung spezifisch ländlicher sozialpolitischer Erfordernisse oder Maßnahmen ist in den Veröffentlichungen der OND erstaunlich widersprüchlich: Einer emphatischen Be-tonung ihrer Relevanz stehen auffällig vage Ausführungen gegenüber. Dieser Befund fügt sich in ein Muster ein, waren doch agrarpolitische Themen Alexander Nützenadel zufolge in den frühen programmatischen Schriften der faschistischen Bewegung generell unterrepräsentiert. Diese „programmatische Abstinenz“914 habe sich aus der Ausgangssituation ergeben, dass der Faschismus zunächst ein städtisches Phänomen gewesen sei und sich seit 1920 angesichts des unerwarteten Erfolges in ländlichen Räumen der Problematik habe stellen müssen, wie die konträren Interessen eines linken Flügels und der die Bewegung unterstützenden Grundbe-sitzer in einer agrarpolitischen Linie zu vereinen seien. Eine Festlegung sei auch aus strategi-schen Gesichtspunkten nicht erfolgt.915 Während sich innerhalb der Bewegung divergierende Haltungen zu agrarpolitischen Themen parallel entwickelten, bildete sich der ‚Ruralismus‘ als ideologische Klammer heraus, die diese Strömungen zusammenhielt, sie inszenatorisch über-deckte und in dieser Funktion dehnbar war. Der Ruralismus wurde zur „nationale[n] Integra-tionsideologie“916.

Welche Bedeutung hatte diese Schwerpunktsetzung für die Landbevölkerung? Was bot die OND ihr? Welche spezifische rurale freizeitbezogene Linie lässt sich erkennen? Welche Rolle spielten Kleinbauern und Landarbeiter, ihre Interessen und ihr Lebensstil innerhalb der ideo-logischen Überhöhung und Mystifizierung des ländlichen Lebens? Die ländliche Freizeit als Chance zur Geselligkeit und Interaktion, zur Regeneration oder zur Kompensation belasten-der Arbeitsroutine – all diese Aspekte traten in der Kommunikation der OND deutlich hinter einen paternalistischen und erzieherischen Impetus zurück. Eindrücklich spiegelt sich diese Priorität im Propagandaband Dopolavoro: Freizeitgestaltung in Italien :

Betont wird ferner die internationale Dimension eines solchen ‚Zivilisationsprogramms‘, habe es doch schon mehrfach die Aufmerksamkeit fremder Regierungen erregt; die OND sei auf-grund ihrer Expertise eingeladen worden, an internationalen Kongressen teilzunehmen, die sich mit der Verbesserung ländlicher Lebensumstände befassten.918 Die Vorgaben des länd-lichen Dopolavoro korrespondierten zumindest in der Theorie mit den gesellschafts- und be-völkerungspolitischen Maßnahmen zur Besiedelung ländlicher Räume und gegen die faktisch voranschreitende Urbanisierung. Bäuerliche Freizeit war in der Konzeption der OND um den ländlichen Raum als Erfahrungswelt konzentriert. Sie bot keine Ablenkung vom oft monoto-nen Alltag oder einen Ausgleich zu diesem, sondern stellte die Freizeit in den Dienst der Auf-wertung und Weiterentwicklung des Landlebens. So organisierte die OND etwa Wettbewerbe zur Verschönerung ländlicher Wohnhäuser, förderte die Anlage von kleinen Nutzgärten, bot in den Sektionen Unterrichtungen über Kleintier- oder Seidenraupenzucht und Schulungen zu Themen an, die sie als für Bauern nützlich erachtete. Erklärtes Ziel war es, eine spezifisch ländliche Identität über Gemeinschaftserlebnisse und Bildungsprogramme zu vermitteln. Die OND wollte die Mitglieder ländlicher Dopolavoro -Gruppen „zur Liebe der Scholle anregen und anspornen“919. Ein Kulturinteresse oder Entspannungsbedürfnis der Landbewohner jen-seits der Agrarwelt negierte die OND und bewies so eine eingeschränkte und abwertende Sicht auf sie als Bevölkerungsgruppe. Anstatt eine Ablenkung von der Arbeitsroutine zu bieten, ver-längerte dieses Freizeitkonzept den Arbeitstag in den Feierabend. Im italienischen und auch im britischen Faschismus erfolgte die Beschreibung ländlicher Lebenswelten häufig aus einer feudalen oder aus einer städtischen bzw. kleinstädtischen Perspektive, die das Landleben und ländliche Arbeit glorifizierte und dabei realitätsfern anmutete.

Viele dieser Maßnahmen wurden von Repräsentanten der OND in einem technokratische-ren Ton als Vulgarisierung von Fachwissen ( volgarizzazione ) beschrieben, also als vereinfa-chende Popularisierung. Konzeptionell manifestierten sich hier eine sozial-hierarchisierende Komponente und ein autoritärer Blick auf die Landbevölkerung. Der zielgerichteten Weiterbil-dung wurde ein höherer gesellschaftlicher Nutzen attestiert, etwa eine Steigerung des Ernteer-trags oder der Schutz der Wälder. Als ein diesem Ziel gerecht werdendes Projekt vieler Dopola- voro -Zirkel auf dem Land galt die Kaninchenzucht, von der nicht nur die Familien unmittelbar profitieren sollten, sondern darüber hinaus das Hutmachergewerbe sowie die Kürschnerei und die Spinnerei.920 In inszenatorischer Hinsicht setzte die OND dabei ebenso wie in urbaneren Kontexten auf die Darstellung von Masse und Formationen. Auch die ländlichen Dopolavoro -Gruppen wurden in Gemeinschaftserlebnisse einbezogen, die einen hohen Inszenierungsgrad verlangten und gemeinschaftsstiftend sein oder erscheinen sollten. So fanden sogar für die Kaninchenzucht nationale Kongresse statt, die eine lange Anreise der Teilnehmenden erfor-derten und als faschistische Exkursionen angepriesen wurden. Anderen agrarischen Projekten wurde angesichts ihres Symbolcharakters offiziell ein eigener Tag gewidmet, wie die Giornata del Gelso . Der Tag des Maulbeerbaums, an dem 1932 3000 Mitglieder ländlicher Dopolavoro -Gruppen teilnahmen, die 50 000 Maulbeerbäume pflanzten, sollte, wie Starace hervorhebt, mit Ritualen und Propagandademonstrationen einhergehen.921 Diese in ökologischer und ökono-mischer, noch mehr aber in propagandistischer Hinsicht wichtigen Einsätze ländlicher Grup-pen fanden nicht nur Eingang in Publikationen der faschistischen Partei für das nationale und internationale Publikum, sondern wurden auch in offiziellen Ehrungen gefeiert. Mitglieder ländlicher Dopolavoro -Sektionen, die an der Giornata della Seta , dem Tag der Seide, teilge-nommen hatten, erhielten etwa in einem offiziellen Festakt in Mailand eine Ehrung durch den Parteisekretär. Über das konkrete Ereignis hinaus bleiben diese Einsätze präsent und fügten sich in eine symbolische Politik ein.

Die OND vermittelte über die Dopolavoro -Sektionen, die Freizeitangebote und ihre Publika-tionen ein Verständnis von Freizeit, das mit der Vorstellung, den ‚neuen Menschen‘ oder den ‚neuen Italiener‘ zu formen, korrelierte. So nahm sie die propagandistisch in alle gesellschafts-politischen Bereiche eindringende Zielsetzung des Regimes auf, den cittadino soldato heran-zuziehen. Die Popularität des Programms entstand allerdings nicht allein durch Zwang und Alternativlosigkeit, sondern ebenso aus der Bereitschaft großer Teile der Bevölkerung, an den Massenorganisationen teilzunehmen, sich in das System einzugliedern und von den Angebo-ten und der Politik des Regimes persönlich zu profitieren. Victoria de Grazia bezeichnet die Aktivitäten des Regimes in diesen Bereichen treffend als „organization of consent“922, die es zum Ziel hatten, eine „culture of consent“923 zu realisieren. Die Erlangung von Zustimmung war im italienischen Fall entscheidend, um soziale Unruhen zu vermeiden, eine Empfänglich-keit der Bevölkerung für die Politik des faschistischen Regimes zu erzeugen und zu erhalten, um immer wieder neue Anhänger zu rekrutieren, aber auch um die Reputation des Landes auf internationaler Ebene in positive Bahnen zu lenken.

Für die Ausrichtung des Dopolavoro bedeutete dies: Das Angebot musste so breit gefächert sein, dass es in der Lage war, eine heterogene Massenanhängerschaft zufriedenzustellen und politische Mehrheiten zu schaffen. Dazu musste es einerseits traditionell genug sein, um nicht als ‚unitalienisch‘ empfunden zu werden. Andererseits musste es auf der Höhe der Zeit sein, um Italien in der Wahrnehmung der Italiener nicht rückständig erscheinen zu lassen. Dem übersteigerten Nationalismus und Chauvinismus, der die Freizeitdiskurse prägte, sollte eine Art fühlbare Realentsprechung folgen. Mitglieder mussten sich als Avantgarde, Trendsetter und Profiteure einer außergewöhnlichen ‚Freizeitpolitik‘ sehen können.924 Der organisierten Freizeit wurde eine nicht zu unterschätzende systemstabilisierende Wirkung zugesprochen. In welchem Maß die OND einen solchen Anspruch tatsächlich umsetzen konnte, ist eine andere Frage. Der enorme wirtschaftliche, personelle und inszenatorische Aufwand, der die Einrich-tung von Dopolavoro -Clubs und die unzähligen Massenveranstaltungen begleitete, zeigt, wie nachdrücklich das Regime diese Zielsetzung verfolgte.

Mitgliedern bot die Zugehörigkeit zunächst einmal viele unmittelbare Vorteile: Zugang zu Sportanlagen, Schwimmbädern und Leihbüchereien, die Mitgliedschaft in Sportmannschaf-ten, Musik- und Theatergruppen, vergünstigter Eintritt zu Konzerten, Opernaufführungen und Theaterabenden und ein stetig wachsendes staatlich gefördertes Ausflugswesen, das es vielen ermöglichte, kostengünstig Urlaub zu machen; hinzu kamen Sozialversicherungsleis-tungen, Weiterbildungsangebote und Betreuungsmöglichkeiten für die Kinder. Mit professio-nellen Wandertheatern, die unter dem Namen Carro di Tespi durch Italien reisten, schuf die OND eine eigene Unterhaltungssparte und ein Aushängeschild ihrer Kulturpolitik. Die Auf-führungen des Carro di Tespi wurden in kurzer Zeit sehr populär und erreichten ein großes Publikum in entlegeneren Gebieten. In einem Jahr legten die Gruppen laut Starace 7763 Ki-lometer zurück, machten in 173  Gemeinden Station, traten zu 348  Aufführungen auf und unterhielten dabei ein Publikum von 884 335 Italienern.925 Zu den populärsten Sportarten in den Dopolavoro -Sektionen entwickelten sich Gymnastik, Fahrradfahren, Fechten, Volleyball, Wandern, Skifahren und Schwimmen und das traditionelle und nun durch die OND als ‚ur-italienisch‘ gepriesene und geförderte Boccia -Spiel. Nicht individuell und spontan sollten die Mitglieder diesen Sportarten nachgehen, sondern stets in der Masse bzw. in der Formation der Masse. Sport war in der visuellen Selbstdarstellung des italienischen Faschismus ein geordne-tes, durchchoreografiertes Spektakel, das die OND inszenatorisch bei jeder Gelegenheit nutzte, um die vermeintliche Disziplin, Fitness und Einmütigkeit der italienischen Bevölkerung zu preisen.926

Die Nutzung dieses Angebots setzte eine zumindest stillschweigende Akzeptanz der faschis-tischen Politik voraus. Die Teilnehmenden wurden damit zu Akteuren der Propagandama-schinerie. Unpolitisch war die Freizeit, wie die OND sie organisierte, in keiner Weise. Sie for-derte offen zur Akklamation auf und fügte sich ein in den durch Partei und Staat verordneten quasi-religiösen Kult um Mussolini und die ‚Faschistische Revolution‘. Wie sehr sich der Füh-rerkult in der Dopolavoro -Kultur niederschlug, zeigt sich sogar im Kleinen. Ein eindrückli-ches Beispiel sind Fotografien männlicher Arbeiter und Angestellter beim Massen-Skilauf, die ein prominentes Motiv imitierten, das Motiv, das geradezu paradigmatisch für die bildliche Selbstinszenierung von Despoten erscheint: den mit nacktem Oberkörper skilaufenden Duce . Der Diktator wurde zum primus inter pares des Dopolavoro stilisiert, wodurch den Freizeit-beschäftigungen eine besondere Qualität und höhere Weihen attestiert schienen:

Die eigentliche Kernzielgruppe der OND, die wachsende Gruppe der Industriearbeiter, schloss sich den Dopolavoro -Clubs zögerlicher an als die der Angestellten. Etwa 40 % der Industrie-arbeiter wurden Mitglieder der OND, dagegen fast alle Angestellten der öffentlichen und privaten Betriebe.928 Die formal zu den Dopolavoro aziendali, also den Unternehmens- Do- polavoro , gerechneten Sektionen der staatlichen Betriebe und Behörden wuchsen rasant und warben über den Kreis der Beschäftigten hinaus Mitglieder an. Sie entwickelten sich zu Vor-zeigeprojekten der OND und offerierten ihren Mitgliedern ein außergewöhnlich breites An-gebot an Freizeitunternehmungen. Da sie über eigene Theater, Gasthäuser, Ferienlager, Erho-lungsheime für Familien, Restaurants und Cafés verfügten, schufen sie eine Art Mikrokosmos mit zahlreichen Vergünstigungen für die regimetreuen Beschäftigten.929 Inhalte der Weiter-bildungskurse, Büchereien und Kulturveranstaltungen wurden auch hier gleichgeschaltet von der OND bestimmt. Die bessere Ausstattung gegenüber Kleinunternehmen und regulären lokalen Dopolavoro -Sektionen erzeugte in der Welt des Dopolavoro Konkurrenz und setzte so Anreize zur Anpassung an die Freizeitpolitik des Regimes. Diesem zuzuarbeiten, schien sich zu lohnen. Als 1938 in Rom der von OND und KdF gemeinsam initiierte Großkongress zur Arbeiterfreizeit ‚ Gioia e Lavoro‘ bzw. ‚Freude und Arbeit‘ stattfand, erhöhte die OND noch einmal ihre Propagandatätigkeit und spannte dazu italienische Behörden und Unternehmen aller Wirtschaftszweige ein.930

Freizeit war in der Argumentation der OND ein durch die ‚Faschistische Revolution‘ gestif-tetes Gut und der Lohn der Arbeiter, den sie sich durch ihren Einsatz für die nationale Wirt-schaft sicherten. Victoria de Grazia betont den mediatisierenden Charakter der Institution, der die Negativeffekte der Klassengesellschaft, die soziale Ungleichheit, das Lohngefälle und die starken wirtschaftlichen Schwankungen, ausgleichen sollte. Die Institution sollte zudem regio-nale Kultur- und Bildungsunterschiede nivellieren und das Konsumverhalten und das regional sehr unterschiedliche Kulturverständnis auf einen Nenner bringen.931 Zu fragen bleibt, ob die OND tatsächlich soziale Unterschiede einebnen konnte oder wollte – oder ob sie diese nicht vor allem camouflieren sollte. Sie vermittelte zwar den unterschiedlichen Schichten eine mög-lichst einheitliche Vorstellung von ‚italienischer‘, ‚nutzenbringender‘ Freizeit, brachte sie aber nicht zusammen, sondern trennte in ihrem Angebot weiterhin nach Klassenzugehörigkeit. Arbeiter und Angestellte blieben vorrangig jeweils unter sich. Die OND handelte Klassenkon-flikte und Klassengegensätze nicht aus und änderte nichts an der grundlegenden Besitz- und Kapitalverteilung. Der Ansatz, den sie verfolgte, war eher eine begrenzte Befriedigung ein-zelner Konsumbedürfnisse und vorgebliche Aussöhnung der Angehörigen unterschiedlicher sozialer Schichten.

Im urbanen und kleinstädtischen Raum war das Angebot generell größer, vielfältiger und moderner als auf dem Land. Das musste es auch sein, um gegen kommerzielle Angebote, die sich die OND nicht einverleiben konnte, und individuell verbrachte Freizeit bestehen zu kön-nen. Die Organisation dehnte ihren Einflussbereich in den gesamten Breitensport und in vie-le Bereiche des Kulturlebens und der Volksbildung aus. Daneben agierte sie als Veranstalter von Zeltlagern, Kreuzfahrten und Exkursionen, die nicht nur Erholungsurlaube für Arbeiter und Angestellte waren, sondern zunehmend auch zu den vermeintlichen Vorzeigeprojekten und Orten der Selbstinszenierung des faschistischen Regimes führten, etwa in Mussolinis Ge-burtsort Predappio oder zur Mostra della Rivoluzione Fascista in Rom. Sie übernahm Theater und Kinos, Konzertsäle und Sportanlagen und machte über die an den Eingängen prangenden Buchstaben OND (häufig in Kombination mit anderen faschistischen Symbolen) ihren An-spruch deutlich. Hans Woller spricht vom „Riesenreich“ der OND, zu dem 1200 Theater, fast 800 Kinos, 2130 Orchester, rund 6500 Bibliotheken und 11 000 Sportgruppen gehörten.932 Er führt an, dass die OND die Millionen, die in den Genuss der Privilegien kamen, auch deshalb auf subtile Weise für das Regime eingenommen haben könnte, weil die Privilegien als ganz unpolitisch ausgegeben wurden.933 Diese Annahme gerät allerdings ins Wanken, wenn man die große Menge fotografischer Dokumentationen der Aktivitäten betrachtet. Die Sichtbar-keit faschistischer Symbole und Propaganda war bei den Veranstaltungen nicht zu ignorieren. OND und Partei ließen keine Gelegenheit bei Großveranstaltungen, kleineren Exkursionen, Sportfesten, Wettbewerben oder Ausstellungen ungenutzt, sich und den Duce als die Urheber der ‚faschistischen Freizeit‘ zu inszenieren. Dies spiegelte sich auch in der OND-Zeitschrift Gente nostra , ihren Jahrbüchern oder den vorbereitenden Publikationen für Massenevents. Teilnehmer wurden peinlichst genau auf das Protokoll eingeschworen, um nicht den Eindruck des ‚Unorganisierten‘ zu erwecken.934 Preise und Wettbewerbe erhielten den Namen angeb-licher faschistischer Helden; Uniformen und Abzeichen trugen die unverkennbare Symbolik und Parteivertreter wie Angehörige der faschistischen Miliz waren nicht nur in die öffentli-chen Aktionen der Dopolavoro -Sektionen eingebunden, sondern auch in die Organisation der lokalen Sektionen. Es war für die Mitglieder also erkennbar, wie eng die Verbindung von der Massenorganisation OND zur Partei und zum Regime tatsächlich war. Vom Spektakel zur Ritualisierung

Teil der Inszenierung bei Massenveranstaltungen der OND war es, diese als spontan erschei-nen zu lassen, als die Norm im faschistischen Italien, in dem militärische Formation, Fitness, Disziplin und Anmut natürlich seien. Tatsächlich waren sie das Resultat monatelanger Vor-bereitungen und Proben, unter Androhung von Sanktionen für die einzelnen Clubs und zu-gleich unter Versprechung von Auszeichnungen für besonderes Engagement. Der Concorso Ginnico Atletico Nazionale ist ein eindrucksvolles Beispiel für diese inszenatorische Praxis im Sport- und Freizeitbereich: Der jährliche nationale Gymnastik- und Leichtathletikwettbewerb aller für geeignet befundenen Dopolavoro -Gruppen des Landes, der Auslandsgemeinden und der Kolonien wurde durch eine eigene Handreichung vorbereitet, die allen teilnehmenden Gruppen zugeschickt wurde, die aber nicht weitergegeben werden durfte. Sie zeigt nicht nur den hohen Organisationsaufwand, sondern auch die enge Einbeziehung von Parteigrößen und bedeutsamen Wirtschafts- und Finanzunternehmen, die Preise stifteten und Gelder bereit-stellten. Neben genauen Anweisungen zu den sportlichen Regeln übermittelte die Handrei-chung Vorgaben zu den Uniformen und Schnittvorlagen für die OND-Abzeichen, die zu tra-gen waren. Im Jahr 1935 beteiligten sich laut abschließendem Bericht 700 Mannschaften und insgesamt 10 000 Männer am Wettbewerb. Von diesen 700 Mannschaften hätten nur 27 keine Auszeichnung erhalten, da sie Minimalanforderungen nicht erfüllt hätten. Nicht der zu gerin-ge Wille oder die schlechte Verfassung seien ursächlich für ihr Scheitern gewesen, sondern die Tatsache, dass sich die Mehrzahl ihrer Mitglieder zum ersten Mal dieser Probe vor dem Duce gestellt habe.935 Mussolini erscheint in solchen Inszenierungen als höchste Autorität, die über die paramilitärischen Formationsübungen und die Prämierung wacht. Es verwundert nicht, dass die ‚Demonstration der Ergebenheit gegenüber dem Duce ‘ als ein eigener Programm-punkt des Abschlusstages fotografisch festgehalten wurde.936

Inszenierungen wie diese waren für die Teilnehmer und viele Zuschauer als solche erkenn-bar. Allerdings waren sie trotz der durchschimmernden politischen Intentionen wirksam. Denn die Ritualisierung machte die Events nicht zuletzt deswegen außergewöhnlich und be-deutsam, weil ihnen von staatlicher Seite eine nationale Tragweite attestiert wurde, die durch die Beteiligung von Regime- und Parteivertretern bestätigt schien. Insofern war nicht in ers-ter Linie der Glaube der Teilnehmenden an die Authentizität der Inszenierungen entschei-dend, sondern die Bereitschaft, sich mobilisieren zu lassen – gleichgültig, ob diese Bereitschaft nun in einem quasi-religiösen faschistischen Erweckungserlebnis wurzelte oder in politischer Überzeugung oder Opportunismus.

Die funktionale Unterscheidung zwischen Spitzensport und Breitensport war in den Mas-senveranstaltungen des Dopolavoro nicht eindeutig. Paradoxerweise behauptete die OND, der Dopolavoro -Sport sei nicht für den Wettkampf und die Auslese einer sportlichen Elite be-stimmt, sondern er ziele auf die Hebung der körperlichen Leistungsfähigkeit der Masse und die Schaffung eines Gemeinschaftsgefühls. Diese euphemistische Selbstbeschreibung schlug sich auch in der Forschungsliteratur nieder.937 Tatsächlich schürte auch die OND einen sozia-len Druck, der auf Schwächen keine Rücksicht nahm. Durch Anreize und Sanktionen, durch Hierarchien und das gesamtgesellschaftliche Klima gegenseitigen Belauerns beförderte sie in der Freizeit eine Konkurrenzhaltung mit politischen Implikationen. Die von der OND geprie-sene Kultivierung von ‚Teamgeist‘ ist daher im Sinne eines militaristischen Korpsgeistes zu verstehen. Damit sei nicht gesagt, dass der Dopolavoro keine Geselligkeit hervorbrachte; vieler-orts ermöglichte er sie sogar. Sie war jedoch politisch durchsetzt und keine Privatangelegenheit mehr. Der römische Verkehrsbetrieb, die Azienda Tranvie ed Autobus del Governatorato di Roma (ATAG), rühmte sich 1938, bei einer Gesamtzahl von 6276 Beschäftigten 6500  Dopo- lavoro -Mitglieder zu haben, zu denen auch Familienmitglieder von Angestellten zählten. Die ATAG gab an, ihr Dopolavoro -System umfasse 24 Abteilungen in neun Häusern und Lokalen in Rom. Die Sportgruppen hätten 800 Mitglieder, die zwischen 1928 und 1937 an 1283 Sport-veranstaltungen beteiligt gewesen seien. 2000 Dopolavoristen hätten am ‚großen Wintertref-fen‘ teilgenommen und 700 dabei das Skiläufer-Diplom erlangt. Die allgemeinen Bildungskur-se hätten 2000 Personen besucht, die Fortbildungskurse für das Fahrpersonal sogar 2165. Die Sonnenkuren für Kinder, die das Dopolavoro der ATAG organisierte, zählten 2971 Kinder, und bei den jährlichen Feiern der Befana Fascista erhielten jedes Jahr 5300 Kinder ein Geschenk.938Diese exemplarischen Zahlen sprechen für sich: Sie illustrieren, was Massenorganisation der Freizeit bedeutete, wie groß die Bereitschaft zu Anpassung und Akklamation und wie gering die Wahrscheinlichkeit war, dass sich innerhalb dieser Strukturen offener Widerstand aus-drückte. Sie zeigen die Auswirkungen der Monopolisierung nicht nur des Themas Freizeit, sondern auch des Angebotes. Die Schicht der Angestellten und der Beamten profitierte ins-gesamt wirtschaftlich stärker von der faschistischen Politik als die der Arbeiter und war dem Regime dementsprechend wohlgesonnener. Victoria de Grazia zufolge genoss diese Schicht als „Fascism’s „new“ middle class“939 Privilegien, für die im Gegenzug ein erhöhtes Engagement in der Faschisierung der Gesellschaft erwartet worden sei. Bei der Herausbildung einer faschisti-schen Konsum- und Populärkultur, der eher kleinbürgerlichen cultura dopolavoristica , sei ihr eine wesentliche Rolle zugekommen.940

Für faschistische Bewegungen anderer Länder stellte die OND ein Vorzeigeprojekt des ita-lienischen Faschismus dar. Die British Union of Fascists pries die italienische Freizeitpolitik als vorbildhaft und forderte Mitglieder und Sympathisanten auf, nach Italien zu reisen und an den öffentlichen Veranstaltungen, den Sportevents oder den Ausstellungen teilzunehmen, um dem faschistischen Lebensgefühl nachzuspüren. Im Oktober 1934 berichtete in der BUF-Zeitung The Blackshirt ein Gastautor, Enrico Nervi, über „Dopolavoro’s Success in Italy“ und beton-te kontrafaktisch, die Dopolavoro -Bewegung sei von unten entstanden, als eine Bewegung der Arbeiter zur Hebung ihres Lebensstils.941 Für die BUF war das zehnjährige Bestehen der OND Anlass, bereits zu Jahresbeginn 1935 die Feierlichkeit in Italien zu bewerben. Sie behauptete sogar, die OND sei paradigmatisch für die Überlegenheit faschistischer gegenüber demokrati-scher Sozialpolitik.942 Auch L’Italia Nostra , die Zeitung der Fasci all’Estero in Großbritannien, warb unter ihren Lesern für Reisen zu den Spektakeln. Anlässlich eines von der Morris Dance Association initiierten Volkstanzkongresses in London riefen The Blackshirt und L’Italia Nostra simultan ihre Leser dazu auf, vor Ort die angereisten italienischen Gruppen, die sich im Dopo- lavoro gegründet hätten, zu unterstützen; eine entsprechende Veranlassung zu diesen Berichten dürfte aus der Italienischen Botschaft in London erfolgt sein, denn mit dieser agierten sowohl die BUF als auch die Fasci auf britischem Boden in einem engen Austausch (vgl. Kap. 5).943 Die Nostalgie der OND: Italienbilder und Folklore

Als Massenorganisation stand die OND für die Umsetzung gesellschaftspolitischer Zielvorga-ben: die Nationalisierung der Massen, deren Einbindung in die faschistische Gesellschaft, die Schaffung einer einheitlichen faschistischen Volkskultur, die Erziehung italienischer Männer und Frauen nach ideologischen Idealbildern sowie ihre Mobilisierung für innen-, außen-, und wirtschaftspolitische Ziele des Regimes. Sie gab die Inhalte und Leitlinien vor, die in jedem einzelnen Zirkel vermittelt werden sollten. Welche Gesellschaftsvorstellungen und welches Italienbild kommunizierte die OND dabei? Wie verhielt sie sich zu den unterschiedlichen Re-gionen und deren Traditionen?

Die OND inkorporierte opportunistisch divergierende Interpretationen, was Italien charak-terisiere, welche Traditionen es prägten und was uritalienische Kultur sei. Besonders ambiva-lent war das Verhältnis zu den mit dem Nationenbegriff konkurrierenden Regionen als identi-tätsstiftende Bezugsgrößen und als Heimat. In ihren Publikationen, insbesondere in jenen der späten 1930er Jahre, fällt eine sowohl diskursive als auch inszenatorische Verklärung des Re-gionalismus auf, der neben den Nationalismus und militanten Imperialismus tritt. Fotografien zeigen Festumzüge nach traditionellem Vorbild, Kostüm- und Trachtenwettbewerbe oder Ern-tefeste mit regionaler Folklore. So ist das Weinlesefest Festa dell’uva ein übermäßig präsentes Bildmotiv. Es erscheint häufig unkommentiert als Symbol der Verankerung von Wirtschafts-betrieben und Behörden in der italienischen Kultur, also als eine Art Nachweis des italienischen Ursprungs dieser Unternehmen, und konstruiert eine Verbindungslinie zwischen diesen und der faschistischen und damit vermeintlich historisch vorherbestimmten Gesellschaft. Repor-tagen über die Aktivitäten der Dopolavoro -Zirkel heben besondere traditionelle Kunsthand-werkskurse hervor und immer wieder werden Ausstellungen auf nationaler Ebene erwähnt, in denen die regionalen Besonderheiten einem gesamt-italienischen Publikum präsentiert werden sollten. Stefano Cavazza sieht die Jahre zwischen 1927 und 1932 als den Zeitraum, in dem sich die OND der Folklore geöffnet und diese ideologiekompatibel umgedeutet habe. In der Folge-zeit habe sie dann einen dezidierten Antiregionalismus gepflegt und die faschisierte Folklore als Ersatz für die ihr eigentlich widerstrebenden regionalen Bräuche und Dialekte zelebriert.944

In vielen Veröffentlichungen der OND präsentiert sich dies weniger als offener Antiregionalis-mus denn als Verklausulierung des Regionalismus zu einem Teilaspekt faschistischer Italianità . Das im Faschismus geflügelte Wort des ‚ andare verso il popolo‘ bedeutete in der OND, die Na-tionalisierung der Massen durch die Einverleibung regionaler Traditionen voranzutreiben. Sie erhob sich zur Schirmherrin regionaler Festlichkeiten und beanspruchte so für sich, für die fa-schistische Partei und das Regime die Autorität über den Regionalismus. Die Summe der Regio-nalismen bildete in dieser Logik den faschistischen Nationalismus, aus dem der Imperialismus als Konsequenz von Zivilisierungsmissionen und territorialen Ansprüchen abgeleitet wurde. Die OND erklärte die „Wiederbelebung überlieferter Volksbräuche“945 zu ihrem Anliegen und richte-te auf Provinzebene eigene Abteilungen ein, die bestimmten, welche regionalen Traditionen auf welche Weise zu würdigen seien. Damit zensierte sie regionale Traditionen nach opportunisti-schen Motiven und nahm so Einfluss auf die Darstellung und Rezeption von Regionalgeschichte. Volksfeste kirchlichen und weltlichen Ursprungs hatten dabei einen wesentlichen Stellenwert. Die Pflege regionaler Traditionen stellte einen Legitimationsfaktor dar, sollte sie das faschisti-sche Regime doch als historisch regional verwurzelt erscheinen lassen. Dies wirkte sich auf das Angebot vieler Dopolavoro -Zirkel aus. Sie organisierten Gemeinschaftsausflüge zu Kunsthand-werksmessen, Ausstellungen, Festen und zu folkloristischen Paraden in der eigenen, aber auch in anderen Regionen und verstanden sich dabei als eine Art ‚Kulturbotschafter-Clubs‘.

Die Jahrbücher der OND der späten dreißiger Jahre stellen häufig solche Aktivitäten lokaler Einrichtungen vor, betonen die Besonderheiten und erklären sie zugleich pars pro toto zu typisch italienischen, faschistischen Veranstaltungen, die den Geist der OND vermittelten. Die Repor-tagen folgen dabei sogar oft demselben sprachlichen und stilistischen Muster. Sie enden mit der Einordnung des Beschriebenen in das ‚Projekt‘ der Transformation Italiens durch den Faschis-mus, rekurrieren also stets auf einen größeren nationalen und imperialen Zusammenhang, der im Klein-Klein des Regionalen oder Lokalen wahrnehmbar sei. Paradigmatisch beschreibt ein Artikel im Jahrbuch der OND von 1938 ein Fabrikkonzert in Rom. Dieses klassische Konzert wurde im Rahmen des sogenannten Sabato teatrale in einer Fabrikhalle des Poligrafico dello Stato , der staatlichen Druckanstalt, für die im Dopolavoro organisierte Belegschaft veranstal-tet. Der Autor hebt den faschistischen Charakter der Veranstaltung hervor und schließt mit einer Lobpreisung des Faschismus und des ‚faschistischen Imperiums‘. Dass trotz der hervor-ragenden Arbeitsleistung und der zahlreichen Aktivitäten des Dopolavoro dessen Mitglieder noch Zeit für die Mitwirkung im Orchester hätten, sei ein typisches Wunder der Italiener und des Faschismus, dessen Mystik durch das Beispiel seiner Wegbereiter und Märtyrer erstrahle und das durch seine Schüler fortgesetzt werde, die das Imperium aufbauen würden.946 In der oft von Emphase und einem mystifizierenden Ton bestimmten Kommunikation der OND mit ihren Mitgliedern und der breiteren Öffentlichkeit erscheinen lokale Veranstaltungen sport-licher, kultureller oder pädagogischer Art als eine Manifestation und Teil eines ideologischen Projektes zur Wandlung der italienischen Gesellschaft. Entsprechend pathetisch fasste Corrado Puccetti, der Generaldirektor der OND, 1938 die Vision für das kommende Jahr: Es bringe „eine entscheidende Etappe in der Geschichte der Wiedergeburt des Italienischen Volkes.“947 Virile Schöngeister: Männlichkeit im Dopolavoro

Die OND pflegte eine paradoxe Taktik des Übertünchens und der gleichzeitigen Vereinnah-mung von Pluralität und Diversität in einer pseudo-homogenen Dopolavoro -Kultur. Diese Kultur beinhaltete auch klischeehafte Konstruktionen davon, wie der italienische Mann sein müsste bzw. was italienische Männlichkeit sei. Wie sah der angeblich typische Dopolavorist aus? Welche Attribuierungen von Männlichkeit galten als faschistisch? Wie wirkten sich die Diskurse auf das Angebot des Dopolavoro aus?

Realitätsferne Überzeichnungen prägten im italienischen Faschismus propagandistische Bilder des Arbeiters oder Angestellten und dies übertrug sich in den Bereich der Freizeit. Die politische Inanspruchnahme des Einzelnen implizierte, dass das Verhalten im Feierabend, im Privat- und Familienleben, der seelische und körperliche Zustand ja gerade nicht privat, sondern öffentlich seien. Faschistische Männlichkeitsdiskurse waren eng verknüpft mit Ge-waltverherrlichung, Kriegsrhetorik und Chauvinismus. Virilität war eine zentrale Kategorie: Der faschistische Mann sollte jung, körperlich fit, militärisch diszipliniert, wagemutig und potent sein. Verleumdungen politischer Gegner und aus dieser männerbündelnden Gemein-schaft Ausgeschlossener leiteten sich vielfach aus dem Umkehrschluss dieser Formel ab und kreisten um eine schon wahnhaft anmutende Behauptung der drohenden Effemination der Gesellschaft.

Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert hatten sich in Italien wie in anderen westlichen Ge-sellschaften Diskussionen um eine prognostizierte oder schon diagnostizierte ‚Degeneration‘ der Gesellschaft beschleunigt, die mit einer ‚Krise der Männlichkeit‘ korreliere, mit dem zu-nehmenden politischen und wirtschaftlichen Einfluss der Frauen und mit einer Auflösung vermeintlich gesellschaftsstabilisierender Rollenbilder und Vorrechte. Diskurse um den Be-deutungsverlust patriarchaler Autorität hatten sich mit anti-modernistischen Positionen, einem nostalgischen Denken, antiintellektuellen Haltungen sowie mit sozialdarwinistischen Forderungen und Thesen aus der an Einfluss gewinnenden Eugenik vermengt. Eine explosive Mischung aus Entfremdung und enttäuschten Erwartungen bestimmte die Sicht vieler Italie-ner auf das politische und wirtschaftliche System, den Nationalstaat und die moderne Gesell-schaft. Der Erste Weltkrieg hatte sich als Katalysator der Krisenwahrnehmungen ausgewirkt, während zugleich die Kriegspropaganda einen übersteigerten Patriotismus und militanten Aktionismus in die Gesellschaft getragen hatte. Zum Zeitpunkt der Formierung der faschis-tischen Bewegung erschienen Militarismus und Imperialismus in den Augen vieler als poten-zielle Heilmittel gegen die ‚Krise der Männlichkeit‘. Die Wahrnehmung, Männlichkeit sei ein bedrohtes Gut, geriet zum Leitmotiv politischer und literarischer Auseinandersetzungen.

Für die faschistische Bewegung war der Kult der Virilität und Gewalt ein zentraler As-pekt ihrer Selbstbeschreibung. Rückblickend rekurrierte sie in den folgenden zwanzig Jah-ren immer wieder auf die Nachkriegsstimmung. Das, was Robert Wohl als „charge that civilian Italy had betrayed fighting Italy“948 benennt, also eine italienische Variante der Dolchstoßlegende, mündete in der Euphemisierung des Korpsgeistes und der Ablehnung alles Zivilen, Bürgerlichen und Pazifistischen, das als Verweichlichung und damit als Ver-weiblichung interpretiert wurde. Eigentlich stellte die Organisation der Arbeiter- und An-gestelltenfreizeit keine Dominanz des Militärischen dar. Sie war ihrem Wesen nach nicht der Raum einer Thematisierung bellizistischer Bedrohungs- oder Kriegsszenarien, die bei dem Anspruch, den ‚neuen Italiener‘ zu formen, eine wichtige Rolle spielten. Dennoch trug die OND eben diese Motive in die Dopolavoro -Kultur hinein. Im Freizeitbegriff des italienischen Faschismus spiegelte sich dessen Deutung der Virilität als neuer National-charakter.

Die OND richtete in erster Linie ihre Propaganda, in zweiter Linie auch das tatsächliche An-gebot für männliche Angestellte und Arbeiter im sportlichen Bereich sowie in den Exkursions-angeboten deutlich militärisch inspiriert aus. In vielen Segmenten erschien die Arbeiterfreizeit wie ein Übungsfeld für den militärischen Ernstfall: Alpinismus, Wandermärsche, Leichtathle-tik, Zeltlager, Tauch- und Schwimmkurse, Tauziehen, Schießübungen mit Gewehren, Pfeilen und Bögen. Achille Staraces L’Opera Nazionale Dopolavoro liefert ein anschauliches Beispiel: Es erläutert die Popularisierung des Skisports durch die OND. Dieser sei traditionell in Ita-lien ein wenig populärer Sport gewesen, eigentlich ein Sport der Privilegierten. Die faschis-tische Partei aber habe erkannt, dass er von nationaler Bedeutung sei, da das Land aufgrund seiner geografischen Gegebenheiten dringend Soldaten benötige, die Ski laufen könnten. In nur wenigen Jahren sei es der OND gelungen, 24 000 Ski-Urkunden auszuhändigen. Die Ski-läufer habe sie nicht individuell trainieren lassen, sondern als Masse in Formation. Sie habe damit auch das Vorurteil widerlegt, dass es beim Skilauf nur um das Vergnügen gehe. Dass die Teilnehmer ihn als Freizeitaktivität genössen, sei ein positiver Nebeneffekt.949 Die Diskrepanz zwischen der wahrscheinlichen Motivation des Einzelnen, nämlich an Gemeinschaftserleb-nissen teilzuhaben und sich zu vergnügen, und der propagandistischen Umdeutung dieser Aktivitäten könnte kaum größer sein: Während Freizeit als eine Form des Hedonismus als das größtmögliche Übel interpretiert wird, scheint sie als paramilitärische Ausbildung jede Legitimation zu genießen.

Die Uniformierung der Teilnehmer bei öffentlichen Präsentationen und die paramilitärisch anmutenden Formationen ergänzten inszenatorisch den Kult, der den Virilitätsanspruch des Regimes an den italienischen Mann am stärksten prägte: den Kult der Militanz und Gewalt, der diskursiv einen Rückbezug zum Weltkrieg aufwies. Diese Kontinuitätslinie verlieh seiner Ausdehnung auf Alltagsbereiche und der Inanspruchnahme des Einzelnen durch den Staat eine scheinbare Legitimation: „The war acted above all as a grand founding myth of the new fascist man.“950 Das omnipräsente Schlagwort der Virilität fungierte, wie Barbara Spackman erläutert, als Oberbegriff für viele der widersprüchlichen Kulte des italienischen Faschismus, denn es umfasste „the cults of youth, of duty, of sacrifice and heroic virtues, of strength and stamina, of obedience and authority, and of physical strength and sexual potency“951. Im Zen-trum dieses Kults habe inszenatorisch der Duce selbst gestanden, der alles, was nicht viril er-schien, einschließlich seiner Eigenschaften, seines Alters oder seines Aussehens aus seiner öf-fentlichen Darstellung habe zensieren lassen.952 Diese Zensurpolitik war allerdings alles andere als unauffällig, wie Beobachter aus dem Ausland, die ihr nicht unterlagen, kommentierten. Mit latentem Spott bemerkte eine Associated-Press -Meldung in der New York Herald Tribune 1938die auffallende Stille zu Mussolinis Geburtstag:

Die Stigmatisierung des Alters wirkte sich auch auf das Bild des idealen Dopolavoristen aus: Die Bildpropaganda der OND ließ keinen Raum für ältere Männer, noch weniger für beleib-tere, für kriegsversehrte und von Krankheiten gezeichnete Arbeiter, Angestellte oder Bauern. Veröffentlichte Fotografien, die ältere Männer abbilden, zeigen diese fast ausschließlich beim Boccia -Spielen, das so zu der einzig angemessenen sportlichen oder geselligen Tätigkeit für all jene, die den Giovinezza -Anspruch nicht erfüllen können, stilisiert wird. Ebenso wenig diffe-renziert war die Propaganda im Hinblick auf alleinstehende Männer und Familienväter. Letzt-genannte waren in der Bildsprache der OND kaum identifizierbar – eine Tatsache, die sich aus dem Anspruch des Regimes erklärt, der ‚neue Italiener‘ sei zuallererst Teil der faschistischen Gemeinschaft und erst dann seiner Familie.

Wird einerseits die Familie als private Einheit negiert, so wird der Familiensinn andererseits zum Kern der faschistischen Nation erklärt. Das paradoxe Familienverständnis war bereits im Futurismus prominent. Wie Paul Ginsborg verdeutlicht, sah Filippo Tommaso Marinetti in der Familie die Ursache für die Verweiblichung des modernen Mannes, in einer die Geschlech-ter trennenden Gemeinschaft hingegen die Wiederherstellung von Virilität; Fortpflanzung bil-dete in dieser Logik die wohl einzig legitime Ausnahme.954 Gegenüber dem Begriff der Männ-lichkeit hat der von den Faschisten bevorzugte der Virilität eine sexualisierende Konnotation. Ginsborg erläutert, dass der Virilitätsbegriff der italienischen Faschisten zwei Auslegungen hatte: Die erste habe sich an Marinettis Sicht orientiert und Männer als triebgesteuert und er-obernd beschrieben; die zweite habe sich mit der Bevölkerungspolitik des Regimes entwickelt: Virilität stand nun im Kontext der Familie und bezeichnete es dort als die Hauptaufgabe des ‚neuen Mannes‘, Nachkommen innerhalb der Ehe zu zeugen. Die Doppelmoral habe diese Rol-lenbilder kompatibel erscheinen lassen, da die Ehe nicht als Hinderungsgrund für ein außer-eheliches Ausleben wahrgenommen worden sei.955

Entgegen dieses exaltierten Kultes und restringierten Familienbildes richteten sich das Kul-turprogramm des Dopolavoro und dessen Exkursionen oft an die Familie und bedienten Be-dürfnisse der Kernfamilien nach gemeinsamen Aktivitäten, was die Popularität zu erklären vermag. Das Angebot war hier moderner und flexibler, als die Ideologen eingestanden und als der inszenatorische Überbau vermittelte – die politischen Implikationen einer Teilnahme waren dennoch manifest. Die propagandistisch beschworene Umerziehung der Gesellschaft stand in einem engen Zusammenhang mit der Außenwirkung und Außenwahrnehmung Ita-liens und der Italiener. In den Quellen offenbart sich mitunter eine Mischung aus Chauvi-nismus und Minderwertigkeitskomplexen. Wie Silvana Patriarca in ihrer Untersuchung zu negativen Stereotypen in der (Selbst-)Wahrnehmung Italiens anführt, soll sich Mussolini im engsten Umfeld oft negativ über die Italiener geäußert haben:

Eine entsprechende Sicht auf das Stereotyp des dolce far niente ist im faschistischen Freizeit-begriff angelegt: Freizeit als Vergnügung oder Erholung erschien verweiblicht und, schlimmer noch, verweiblichend, während sie als patriotischer Dienst begriffen viril sein und die Virili-tät fördern konnte. Die Vision des faschistischen ‚neuen Menschen‘ als „heroic, athletic, and dynamic member of Fascism’s mystical ‘community of believers’, ready to sacrifice all for the nation“957, griff in den Bereich der Freizeit über.

Seit der Mitte der 1930er Jahre, vor dem Hintergrund der wegen des italienischen Überfalls auf Abessinien drohenden Sanktionen, fokussierten sich Freizeitaktivitäten zusätzlich auf die Erziehung zur Selbstversorgung und Unterstützung der italienischen Autarkie. Die militaristi-sche Rhetorik wurde noch offener rassistisch und imperialistisch. Die Verzahnung von expan-sionistischer Politik und Mobilisierung durch die Freizeiteinrichtungen wird am Beispiel des Dopolavoro der Fiat deutlich, des größten betriebseigenen Dopolavoro in Italien. Nach Inkraft-treten der Sanktionen richtete Fiat 1936 eine eigene Luftschutzkohorte aus dem Kreis ihrer Arbeiter ein, die in die Miliz eingegliedert wurde und, wie das Unternehmen kommunizierte, einen symbolträchtigen Namen erhielt:

Die Übergänge von Arbeit, Arbeiterfreizeit im Feierabend, Militärdienst und Miliz- und Partei-zugehörigkeit waren hier so fließend, dass die expansionistischen Zielsetzungen des Regimes den Tagesablauf dieser Arbeiter beeinflussten, dass also das Politische den Alltag dominierte. Dies lässt sich auch für viele andere betriebseigene Dopolavoro feststellen, nicht nur für die, die zur kriegswichtigen Industrie gehörten. Fiat besaß weitere Einrichtungen, die den totalitären Anspruch des Regimes auf die Arbeitswelt spiegelten. So verfügte das Unternehmen nach eige-nem Bekunden über eine Schule der Luftwaffe für junge Angestellte und Söhne von Angestell-ten, die nach einem im Ostafrika-Feldzug Italiens gefallenen Mitarbeiter benannt worden sei, den posthum auch das Regime geehrt habe, sowie über eine Matrosen-Schule für Jungen zwi-schen vierzehn und siebzehn Jahren. Es plane zudem die Gründung einer ‚Legion der jungen Autoführer‘ für Arbeiter, Angestellte und deren Söhne, ein militärisches Automobilkorps.959

Es zeigt sich, dass die starke Präsenz des Militärischen im Arbeiter- und Angestelltensport also nicht ins Leere lief und die Militärübungen nicht bloßes inszenatorisches Beiwerk waren, das zu Paraden und Massenveranstaltungen abgerufen wurde. Die Militarisierung des Sports öffnete einer Militarisierung des Alltags und des Privaten Einfallstore und erleichterte es, Ver-einnahmung als Normalität erscheinen zu lassen. Wie Aram Mattioli erläutert, führten der brutale Angriffs- und Eroberungskrieg und die Ausrufung des Imperiums mit einem Africa Orientale Italiana keineswegs dazu, dass der Rückhalt des Regimes in der italienischen Gesell-schaft abnahm – im Gegenteil:

Das Dopolavoro -Programm sollte, wie Achille Starace argumentierte, den cittadino-produt- tore formen, den Bürgerproduzenten oder produzierenden Bürger, der durch seine täglichen Mühen das Vaterland stark und mächtig werden lasse.961 Und doch findet sich ein Gegenpol in der Welt des Dopolavoro , der auf den ersten Blick nicht zum Dogma der Erneuerung durch Virilität und Militanz zu passen scheint: Der perfekte Dopolavorist sollte auch ein Schön-geist sein – ein Theater-, Konzert- und Ausstellungsbesucher, aktiver Laiendarsteller, Musi-ker, Dichter und Schriftsteller, kurzum: ein Kunstkenner und Künstler. In auffallend blumiger Sprache priesen Veröffentlichungen der OND die Teilhabe an der Massenkultur des Faschis-mus. Besonders viel Raum widmeten sie dabei den filodrammatiche , dem Laienschauspiel. Der Feierabend sollte zur aktiven Mitgestaltung der nationalen Kultur genutzt werden. Die euphe-mistische Darstellung der OND lautete, sie übernehme im Sinne ihres Fürsorgeauftrages die Kontrolle über Laiendarbietungen, um deren Qualität sicherzustellen und um das Eindringen negativer fremder Einflüsse zu verhindern.962 Im Dopolavoro bildete der Genuss bürgerlicher oder kleinbürgerlicher Kultur oder der schönen Künste also keinen Widerspruch zur Kulti-vierung von Männlichkeit, sondern galt eher als komplementär, solange das faschistische Be-kenntnis und der nationalistische Pathos nicht fehlten. Das Inszenatorische kam hier nicht zu kurz. Der sonst als so viril porträtierte Dopolavorist trat als Laiendarsteller nicht selten in voller, operettenhafter Kostümierung auf. Als Kulturkritiker wiederum verstand er sich als Feingeist und Kenner der italienischen Hochkultur. Insbesondere die Freilichtspektakel pfleg-ten einen aufgesetzten Historismus. Landesweit boten die Dopolavoro provinciali melodrama-tische Aufführungen, in denen bisweilen selbstreferenziell der Dopolavoro zur Leidenschaft des Volkes erklärt wurde. Mitglieder brachten kitschige bis schwülstige literarische Ergüsse hervor und traten damit in Wettbewerben gegeneinander an.963

Hier spielten volkstümlicher Geschmack und Traditionen eine entscheidende Rolle. Wie Franca Janowski in Bezug auf das 19. Jahrhundert erläutert, hatten anstelle des in anderen europäischen Ländern so stilprägenden Romans oder des klassischen Dramas das Melodrama und die Oper einen wesentlicheren Einfluss auf die italienische Kultur. Ihre Komponisten er-langten Kultstatus. Die Oper verdankte ihren Erfolg dem „sozialkritischen Potential, das in ihr steckte und sie zum Sprachrohr nationaler Gefühle werden ließ.“964

Der Kultur des Dopolavoro nahm diese Impulse auf; ihr war das Melodramatische sichtbar eigen. Sie war insgesamt weder nüchtern noch futuristisch-modernistisch, sondern als faschis-tischer Versuch einer italienischen Volkskultur oft volkstümlich (oder pseudo-volkstümlich) bis kitschig. Auf D’Annunzios Wohnsitz im Palazzo Vittoriale Bezug nehmend, bietet Heinz Thoma eine ebenso pointierte wie treffende Charakterisierung der Kultur des Faschismus:

Die Dopolavoro -Kultur erscheint ähnlich gestrickt: eine Kombination aus Martialischem und Gefühlsbetont-Schwülstigem, aus Imperialistischem und Heimat-Kitsch, aus Gewalt und Sen-timentalität. Dieses Spannungsfeld eigentlich unvereinbarer Mentalitäten wird die Popularität des Dopolavoro begünstigt haben. Dass sich D’Annunzio, Mussolini und andere faschistische Persönlichkeiten (der italienischen wie auch anderer faschistischer Bewegungen) als virtuos wahrnahmen, als Anführer und Künstler zugleich, und sich entsprechend inszenierten, dass dies geradezu Charakteristikum des faschistischen Führerkultes war, ist bekannt. Der Gestus, ein zu Höherem berufener Künstler, ein Genie zu sein, inspirierte darüber hinaus auch die Ge-folgschaft in hohem Maße und bisweilen in skurriler Form. So findet sich ein eigentümlicher literarischer Anspruch sogar in Berichten faschistischer Institutionen, etwa der Polizia Politica oder der CAUR über die britischen Faschisten. Die italienischen Verfasser geizten in ihren Analysen nicht mit Stilmitteln oder poetischen Wendungen (vgl. Kap. 5). Die Divergenz von Frauenbild und Frauenarbeit im Dopolavoro

Noch paradoxer als das Männerbild des Dopolavoro war dessen Frauenbild. Das Ideal der italienischen Frau in der faschistischen Propaganda sah diese als häuslich, mütterlich und kinderreich, zugleich als Stütze des politischen Systems, die in ihrem privaten Umfeld als Multiplikatorin für bevölkerungspolitische und imperialistische Zielsetzungen wirken sollte. Mutterschaft wurde als eine heilige Mission im Dienste der Nation und der Rasse beschrieben; als Beitrag zur Revolution und nationalen Wiederauferstehung.

Diesem reaktionären Frauenbild standen aber wirtschaftliche und soziale Realitäten ge-genüber, die es der faschistischen Partei, dem Regime und seinen Massenorganisationen er-schwerten, der weiblichen Bevölkerung ein entsprechendes Verhalten zu oktroyieren: allen voran die Frauenarbeit, die seit der Jahrhundertwende boomte, dann die auf ein weibliches Publikum zugeschnittene, durch internationale Trends beeinflusste Konsumkultur und die politischen Emanzipationsbestrebungen. Vor diesem Hintergrund war es kein Zufall, dass die junge emanzipierte Frau, die sich der politischen Rollenvorgabe widersetzte und einen kosmo-politischen, modernen Lebensstil pflegte, zu einem bevorzugten Feindbild der faschistischen Propaganda wurde (vgl. auch Kap. 4.1).

Eine wesentliche weibliche Zielgruppe der OND bildeten aber gerade die dem Idealbild der häuslichen, kinderreichen Mutter nicht entsprechenden arbeitenden Frauen, wie Industrie-arbeiterinnen, Landarbeiterinnen oder weibliche Angestellte. Aufgabe der OND war es, unter diesen mit einer politisch gewollten Arbeiter- und Angestelltenfreizeit und mit auf sie zuge-schnittenen Sozialfürsorgemaßnahmen Anklang zu finden und ihre Arbeitskraft gewinnbrin-gend zu erhalten. Wie also sah das Verhältnis des faschistischen Regimes zur Frauenarbeit aus? Wie wirkten sich faschistische Diskurse über Weiblichkeit auf OND und Dopolavoro aus? Was bot die Mitgliedschaft den arbeitenden Italienerinnen?

Frauenarbeit war, wie erläutert, zu Beginn des 20. Jahrhunderts längst eine Realität, nicht allein im urbanen, industrialisierten Raum, mit dem sie häufig assoziiert wird, sondern stärker noch im Handwerk und in der Landwirtschaft. Bereits durch die Tradition des Textilgewer-bes und die mit ihm verbundene Heimarbeit war sie ein wichtiger Wirtschaftsfaktor gewesen. Die Industrialisierung dieser kriselnden Bereiche hatte dazu geführt, dass mehr Männer in nun mechanisierte Produktionsbereiche drangen. In der metallverarbeitenden Industrie, der Stahl- und der Chemieindustrie kam es derweil zu einem Anstieg des Frauenanteils; 1901 lag er schließlich bei 27 %. In der Industriearbeit (isoliert betrachtet) betrug er 47 %, im Textilge-

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werbe sogar 79 %.966 Perry Willson nennt für dasselbe Jahr einen Anteil der Frauen an der ge-samten werktätigen Bevölkerung von 31,6 %, erläutert aber, dass der Zensus diejenigen Frauen, die unregelmäßig arbeiteten und so zum Einkommen der Familie beitrugen, vermutlich nicht berücksichtigte, dass die Angabe daher womöglich zu niedrig angesetzt sei.967

Der Erste Weltkrieg führte zu einer verstärkten Politisierung und Indienstnahme vieler Frauen, vor allem in bürgerlichen Kreisen. Eine an Frauen gerichtete nationalistische Pro-paganda forderte sie zur moralischen oder aktiven Unterstützung Italiens auf. Ihre Arbeit und Freiwilligentätigkeiten waren nicht nur zur Stabilisierung der ‚Heimatfront‘ wich-tig, auch innerhalb der Familien kam vielen nun mehr Verantwortung zu. Die öffentliche Wahrnehmung wandelte sich dahin gehend, dass das Frauenbild um die Attribuierung pat-riotischer Funktionen ergänzt wurde. Dies schlug sich allerdings nicht in einer Gewährung gleichberechtigter politischer Teilhabe nieder.968 Der starke Einfluss katholisch-patriarcha-ler und konservativer Anschauungen trug dazu bei, dass in der Gesellschaft Forderungen nach einer Rückkehr zum status quo des Geschlechterverständnisses und der Rollenbilder überwogen.

Die faschistische Bewegung verhielt sich anfänglich widersprüchlich zur Frauenbewegung. So enthielt das Programm 1919 Forderungen nach einem Wahlrecht für Frauen. Die Bewe-gung rekrutierte zunächst Anhängerinnen aus divergierenden politischen Milieus, die sich eine stärkere Repräsentation und eine aktive politische Rolle versprachen. Dem Mailander Fascio gehörten zunächst nur neun Frauen an, die zuvor der Frauenbewegung nahegestan-den hatten. Aus dem Kreis der Bewunderer D’Annunzios und der Besatzer Fiumes stießen einige großbürgerliche und aristokratische Frauen hinzu; andere hatten im Ersten Weltkrieg durch Freiwilligenarbeit Anschluss an die irredentisti gefunden.969 Auch die mythische Über-höhung der Gewalt zog nicht wenige an. Für all jene Anhängerinnen, die sich eine größere Teilhabe versprochen hatten, folgte die Ernüchterung schon früh; die faschistische Bewegung manifestierte ihr reaktionäres, patriarchales Geschlechterverständnis und proklamierte die Geschlechtertrennung innerhalb der Bewegung, die in der Einführung der Fasci femminili und einer Absage an die Forderung nach einer aktiveren Rolle der Frauen in der Parteiarbeit mündete. Die reaktionäre Haltung gegenüber Emanzipationsbestrebungen wirkte sich unmit-telbar und langfristig auf die Haltung der faschistischen Partei und des Regimes zur Frauen-arbeit aus. Perry Willson erläutert, dass das Regime vorrangig Frauen der Mittelschicht aus der Anstellung und vom Arbeitsmarkt verdrängte und damit in dieser sozialen Schicht erfolgreich männliche Unterstützer gewann. In der begleitenden Rhetorik stützten pseudowissenschaft-liche Thesen die Behauptung einer Inferiorität der Frau:

Das Regime erließ eine Reihe diskriminierender Gesetze, die darauf abzielten, Frauen aus be-stimmten Berufen herauszudrängen oder ihre Tätigkeitsfelder und Karrierechancen zu limi-tieren. Insgesamt betraf dies eher Bereiche und Posten, die eine höhere Qualifizierung ver-langten.971 Faktisch blieb die Quote der Frauenarbeit in vielen Wirtschaftsbereichen hoch und eine Notwendigkeit. Die paradoxe Positionierung der Faschisten wirkte sich nachdrücklich auf die geschlechterspezifische Freizeitpolitik der OND aus, die neben konkreten berufszen-trierten Fortbildungen die Erziehung zu mütterlichem Verhalten, Kinderpflege, Hygiene und Haushaltsführung zu zentralen Inhalten vieler Fortbildungskurse für weibliche Arbeiter und Angestellte in den Dopolavoro -Zirkeln machte. Nicht nur in kommunalen Dopolavoro -Clubs richtete sich das Angebot an junge Arbeiterinnen, Landarbeiterinnen und Angestellte nach der Bevölkerungspolitik des Regimes aus, sondern auch in jenen der Betriebe, die eigentlich ein Interesse daran hatten, die weibliche Belegschaft dauerhaft an sich zu binden und fortzubilden. Dass das Regime die Rolle der Frau aus reproduktionsbiologischer Sicht definierte, beeinfluss-te den Umgang der betriebseigenen Dopolavoro -Einrichtungen mit dem weiblichen Personal. Mutterschafts- und Eheschließungspreise sowie Angebote zur Kinderbetreuung wurden zu einem festen Bestandteil der Dopolavoro aziendali .

Politisch gewollte Schulungskurse standen im Widerspruch zu Sportkursen, Sportevents und Exkursionen, an denen kinderreiche Mütter kaum hätten teilnehmen können. In der Bildsprache ihrer Propaganda setzte die OND deutlich auf den gegenläufigen Trend, zeigte bevorzugt junge, schlanke, dynamisch und athletisch wirkende Frauen. Wie die Jugendorgani-sationen übernahmen Dopolavoro -Zirkel Repräsentationsaufgaben in der Selbstinszenierung des ‚neuen Italien‘. Ein eindrückliches Beispiel für die Paradoxie lieferte die Glaswarenfabrik S.  A. Cristalleria Murano, Milano , die sich auf die Produktion von Glas zu Industriezwecken spezialisiert hatte. Während sie Bilder ihrer jungen, schlanken Arbeiterinnen zur Veröffentli-chung auswählte, die diese im Speerwurf und im Bogenschießen, also beinahe amazonenhaft, zeigten, pries der Begleittext als Freizeitangebot für die weibliche Belegschaft nur die hauswirt-schaftlichen Kurse:

Fiat richtete Mitte der dreißiger Jahre im Rahmen ihres Dopolavoro- Programms betriebsin-tern Gruppen für 2500 Frauen und 1000 Mädchen, also unternehmenseigene Zellen der Fasci femminili und Giovani Fasciste , ein und plante eigene faschistische Gruppen für Heimarbei-terinnen. An den Massenspektakeln des Regimes nahmen diese Gruppen dann als Repräsen-tanten des Unternehmens Fiat teil.973 Die Übergänge von Arbeit, Freizeit und Parteiarbeit bzw. Jugendorganisationen verschwammen so, was den totalitären Anspruch des Regimes auf die Bevölkerung untermauerte. Der Gegensatz zwischen der visuellen Repräsentation der Dopo-lavoristinnen und dem proklamierten Ideal der neuen italienischen Frau war gewollt; er er-zeugte einen Spannungsbogen, einen tolerierten Bruch des rigiden Mutterschafts- und Häus-lichkeitsdiskurses zugunsten individueller Freizeit- und Konsumbedürfnisse. Zugleich ließ er eine sexualisierte Sicht auf arbeitende Frauen offen.

Das stillschweigend tolerierte Vordringen einer modernen Konsumkultur in die Freizeit-kultur im faschistischen Italien ließ eigentümliche Verblendungen des Unpolitischen mit dem Politischen entstehen: Vita femminile , eine Modezeitschrift, die ein großbürgerliches, trend- und stilbewusstes Publikum ansprach, vermittelte ihren Leserinnen eigentlich einen Lebensstil, der weit entfernt war von den dominierenden politischen Beschreibungen ‚der Italienerin‘. Die Ausgaben von 1929 bieten Reiseberichte zu internationalen Metropolen mit Unterhaltungs- und Vergnügungstipps sowie Modestrecken, die kostspielige Trends für jun-ge, schlanke, finanzkräftige Frauen als Kundinnen preisen; trotz der aufziehenden interna-tionalen Wirtschaftskrise zeigen die Spätherbst- und Winterhefte Pelzmoden und Schmuck. Nahtlos angeschlossen folgen jedoch Berichte über Gedenkveranstaltungen für die Gefalle-nen des Ersten Weltkriegs, die diese zu faschistischen Märtyrern erklären, Fotoreportagen über Alpinisten und das Militär sowie Porträts faschistischer Parteigrößen.974 Das Politische dringt hier in den Bereich des vermeintlich Unpolitischen ein, trivialisiert sich scheinbar zu einem Aspekt des Lifestyles. Die sich entgegen aller propagandistischen Vorgaben doch an internationalen Entwicklungen orientierende Konsumkultur begünstigte eine Liberalisierung des Freizeitverhaltens junger Frauen in den Städten. Dass finanziell recht gut situierte An-gestellte und Arbeiterinnen ausgingen, ihre Unabhängigkeit von familiärer Aufsicht feierten, flirteten und kommerzielle Unterhaltungsangebote nutzten, war ein nicht zu vernachlässigen-der Wirtschaftsfaktor.975 Weite Teile der weiblichen Bevölkerung waren allerdings kaum oder gar nicht in das Dopolavoro -Programm einbezogen, da sie nicht werktätig waren, die lokalen Clubs nicht frequentierten oder fern entsprechender Einrichtungen lebten. 1933/34 wurden die Massaie Rurali als eine den Fasci femminili beigeordnete Organisation gegründet, die Frauen erfassen sollte, die sich nicht in Reichweite der OND oder der Jugendorganisationen befanden. Diese neue Organisation erfüllte, wie Perry Willson erläutert, einen inszenatorischen Nut-zen, verkörperten ihre oft porträtierten Mitglieder doch die vermeintlich nicht durch moderne Laster verdorbene, sittsame Landbevölkerung.976 Postulierte Achille Starace schon 1933 kon-trafaktisch zu den Rekrutierungszahlen, die OND sei in die entlegensten Winkel des Landes vorgedrungen, so macht das Beispiel der Massaie Rurali deutlich, dass nicht eine Massenorga-nisation diesen Anspruch realisieren konnte, sondern es trotz des Zusammenspiels von Unter-drückung und Begünstigung eines ganzen Netzes an Organisationen bedurfte.

4.3 Unter dem Banner der Sinnstiftung und sozialen Aufwertung: die Politisierung der Freizeit durch die Fasci all’Estero

Der Fascio di Londra , die wichtigste Parteizelle des PNF in Großbritannien, bewarb 1937 ein Dopolavoro Sportivo del Littorio als ein neues Angebot für alle sportlich interessierten Italiener vor Ort. Geplant waren Tennis-, Boccia -, Fußball-, Box-, Athletik-, Fahrrad- und Basketball-gruppen – regen Zulauf erfuhren vor allem jene der ersten drei Kategorien.977 Doch warum er-folgte die Initiative erst zu diesem Zeitpunkt? Immerhin galt das Dopolavoro- Programm doch international als sozialpolitisches Vorzeigeprojekt des faschistischen Italien. Hatte es in den zurückliegenden Jahren keine Dopolavoro -Zirkel in den italienischen Gemeinden in britischen Städten gegeben? Sollten erst mehr als fünfzehn Jahre nach Gründung der lokalen Parteizellen Initiativen zur Faschisierung der Freizeit und damit eines wichtigen Teils der Alltagskultur er-griffen worden sein? Im Hinblick auf die hochtrabenden Ziele der OND ist dies unwahrschein-lich, mehr noch angesichts der versuchten Indoktrination und Mobilisierung der Jugend im Ausland, die die Fasci all’Estero in Großbritannien frühzeitig begonnen hatten.

Die Fasci all’Estero in Deutschland hatten, wie erwähnt, die Dopolavoro -Idee schon vor der OND-Gründung in ihren Veröffentlichungen bekannt gemacht und eine Adaption diskutiert (vgl. Kap. 4.2). Diese erschien den Befürwortern als eine vielversprechende Möglichkeit, ita-lienische Migranten in ihrem Alltag zu erreichen, sie in vorgeblich unpolitischen Vereinen zu organisieren, ihrer sozialen Isolation, aber auch ihrer Integration in die deutsche Gesellschaft entgegenzuwirken.978 Die italienischen Emigrationsbehörden empfahlen sogar ausdrücklich den Export der Dopolavoro -Konzepte in die Gemeinden im Ausland und strebten Master-pläne an, um die Adaptionen möglichst rasch populär werden zu lassen. Einem Bericht des Commissariato dell’Emigrazione zufolge hatte Mussolini 1925 die Botschaften, Konsulate und Emigrationsbüros angewiesen, in ihren Einflussbereichen Dopolavoro -Zirkel zu etablieren, da diese das geeignete Mittel seien, um die physische, moralische und intellektuelle Verfasstheit der emigrierten Arbeiter zu stärken und um zu verhindern, dass die Auswanderergemein-schaften von ‚politisch Subversiven‘ übernommen würden.979 Die Aufsicht über dopolavoris-tische Initiativen sollte der lokale Fascio übernehmen, der benötigtes Material von den Emi-grationsbehörden erhalten sollte. In Großbritannien erfolgte jedoch offenbar keine zeitnahe Umsetzung dieser Direktiven. Weshalb trieb die faschistische Partei die Übertragung der Do- polavoro -Strukturen in die Auswanderergemeinden nicht stärker voran? Auf welchen Wegen nahmen lokale Vertreter der Partei und die Zentralstellen für die Fasci allEstero stattdessen Einfluss auf das Freizeitverhalten und die kulturellen Interessen der emigrierten Italiener? Gab es eine im Vergleich zur exterritorialen Jugendpolitik noch unterschwelliger operierende Mobilisierung der Erwachsenen, die geeignet war, im Gastland nicht als politischer Übergriff der faschistischen Partei und des Regimes, sondern als karitative Maßnahme zu erscheinen? Welchen Stellenwert hatte die Indoktrination über sozial- und kulturpolitische Bereiche in den Parteizellen im Ausland?

Leitende Thesen dieses Unterkapitels sind, dass in den italienischen Gemeinden in Groß-britannien keine systematische Adaption des Dopolavoro vorgenommen wurde, weil sich die-se aus strukturellen, politischen und diplomatischen Gründen nicht durchsetzen ließ, dass die Fasci all’Estero und deren Direktionen in Italien aber subversiver und nicht minder nach-drücklich eine Politisierung und Ideologisierung des Freizeitverhaltens der Emigrierten zu erreichen suchten. Die Agitation spiegelte dabei das widersprüchliche Verhältnis des faschisti-schen Regimes zu den Ausgewanderten; sie nahm historische Ressentiments auf und verstärk-te sie. Die faschistische Einflussnahme auf Orte und Traditionen der Geselligkeit war weniger sozialpolitisch als kulturpolitisch ausgerichtet und zeigte sich vorrangig als Medium des Ult-ranationalismus. Die politisch gesteuerte Freizeit hatte hier andere Inhalte und Zielsetzungen. Des Weiteren lassen sich spezifische, von der inneritalienischen Entwicklung abweichende Formen der Ritualisierung und Inszenierung von ‚faschistischer Freizeit‘ identifizieren.

Grundsätzlich gilt, dass zu Beginn der 1920er Jahre die faschistischen Initiativen sofort in Konkurrenzverhältnissen standen: erstens zu all jenen den Einwanderern offenstehenden Frei-zeit-, Kultur-, Bildungs- und Unterstützungsangeboten der britischen Gesellschaft, seien es staatliche, kommunale oder kommerzielle Offerten, solche karitativer Verbände, gewerkschaft-licher oder politischer Organisationen, sowie zweitens zu all jenen der Fürsorgeeinrichtungen, Interessenvertretungen, Clubs und Treffpunkte der italienischen Gemeinden, die bereits hohes Ansehen genossen. Hinsichtlich der Möglichkeiten und Grenzen einer Faschisierung über den vermeintlich apolitischen Bereich der Freizeit spielten die Beschäftigungsverhältnisse vieler Italiener in Großbritannien eine wichtige Rolle, da sie eine Eins-zu-eins-Übertragung der Dopolavoro -Idee hätten scheitern lassen. Ein Großteil der italienischen Einwanderer war in der Hotellerie, der Gastronomie oder im Lebensmittelhandel beschäftigt, viele waren dabei in Familienbetrieben tätig. Andere verdienten ihren Lebensunterhalt als Straßenhändler oder Straßenmusikanten. Wieder andere waren Handwerker, Handwerksgehilfen, Hafenarbeiter oder sie arbeiteten im Straßenbau. Somit war die überwiegende Mehrheit von unregelmäßigen Arbeitszeiten oder sogar von unregelmäßiger Beschäftigung betroffen. Eine planbare Freizeit, wie sie sich in Industriebetrieben zu etablieren begann, hatten sie nicht. Starren Vorgaben folgende Dopolavoro -Gruppen hätten auch in Großstädten mit geografischer Konzentration der Einwanderergemeinden kaum Zulauf erreicht. Ein an paternalistischen Industriebetrie-ben orientiertes Modell oder, wie Victoria de Grazia in Bezug auf die OND formuliert, eine ‚Taylorisierung der Arbeiterfreizeit‘980 ließ sich hier also schon strukturell nicht etablieren. Der wirtschaftspolitische Handlungsspielraum der faschistischen Partei war sehr begrenzt, da sie keinen Anschluss an britische Gewerkschaften oder Arbeitgeber vornehmen konnte, sondern nur italienische Betriebe – Firmenniederlassungen oder lokale Unternehmen – auf eine inof-fizielle Politik der faschistischen Arbeiterfreizeit einschwören konnte. Eine Massenbasis ver-sprach dies angesichts der Sozial- und Beschäftigungsstruktur aber nicht.

In der Konsequenz präsentierten Propagandisten die OND aus der Ferne als eine der wich-tigsten sozialpolitischen Errungenschaften des ‚neuen Italien‘, des Faschismus und der in-dustriellen Moderne. Die Darstellung der ‚neuen Arbeiterfreizeit‘ in Italien fügte sich in das nationalistisch übersteigerte Narrativ von der Heimat Italien als Sehnsuchtsort ein. In der eklektischen und einseitigen Berichterstattung zu wirtschaftspolitischen Themen und der wirtschaftlichen Situation in Italien fungierte die OND als ein starkes Argument für die an-geblich arbeiterfreundliche und zukunftsweisende Politik des Regimes und als Beleg, dass sich die wirtschaftliche und die soziale Lage in Italien stabilisierten, dass eine wirtschaftlich motivierte Migration bald nicht mehr notwendig und die Remigration für jeden Einzelnen von Vorteil sei. Die faschistische Sicht auf die Emigranten und deren Lebensstil

Die Ansprache der faschistischen Partei und des Regimes an die Italiener im Ausland erweist sich als bipolar: Sie war entweder weniger kritisch als jene Gesellschaftsbeschreibungen, die sich auf das Mutterland Italien bezogen, und stärker von Versprechungen und Zuwendungen geprägt, oder sie nahm die exakte Gegenposition ein und urteilte harsch und abfällig. Bei-de Varianten stützten sich auf Überzeichnungen, die in ihrer Eindimensionalität realitätsfern wirken. Auswanderer wurden nicht als Individuen mit eigener Entscheidungshoheit betrach-tet, sondern kollektiv entweder als heldenhafte Opfer der wirtschaftlichen Situation oder als der nationalen Reputation schadende Abtrünnige. Beide Positionen wurzelten in einer Menta-lität, die bereits zum Ende des 19. Jahrhunderts politische Diskurse über die italienische Emi-gration und Stellungnahmen der italienischen Diplomatie prägte. Die elitäre bis bürgerliche Wahrnehmung der ärmeren ausgewanderten Landsleute und ihrer Arbeits- und Lebensbedin-gungen war oft negativ und empathiefrei. Armutsmigranten beschädigten in dieser Deutung das historisch so positive Italienbild in den Zielländern.

Die Repräsentanten der Fasci all’Estero in Großbritannien verharrten lange in dem Narrativ, die Migration sei eine Schmach für Italien und Großbritannien sei eine den Migranten feind-lich gesinnte Umgebung. Eine Mitschuld trügen die Emigranten, die sich selbst und Italien schlecht präsentierten. In einer Rhetorik, die eine latente Nähe zum Erziehungs- und Mis-sionierungsgedanken des Kolonialismus zeigt, argumentierten selbsternannte Anführer der faschistischen Bewegung Italiens im britischen Raum, die breite Masse der Emigranten müsse umerzogen werden. Die sozial diskriminierende Konnotation war, dass insbesondere ärmeren Emigranten für ihre Lebensentscheidungen und ihren Lebenswandel kein Respekt gezollt wer-den könne. Um unter diesen Vorzeichen die Mehrheit der ansässigen Italiener politisieren und mobilisieren zu können, wären die kollektive Wahrnehmung einer fehlgeschlagenen Integra-tion in die britische Gesellschaft und eine breite Akzeptanz der Remigration als langfristiges Ziel entscheidend gewesen. Um geschlossen alle Italiener vor Ort für sich zu gewinnen, fehlte den Fasci jedoch lange der Rückhalt in den italienischen Milieus, die sich gegen die Politisie-

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rungsversuche resilienter oder desinteressierter zeigten, als die Vertreter der Partei erwartet hatten. Zugleich erschwerte die Selbstwahrnehmung der Parteivertreter vor Ort als eine Elite, die auch moralisch über den ‚einfachen‘ Migranten stehe, ostentative Anwerbungen durch Ge-meinschaftserlebnisse und Zuwendungen.

Unter den italienischen Einwanderern waren es schon im 19. Jahrhundert vor allem die Stra-ßenmusiker und fliegenden Händler gewesen, die in diplomatischen Kreisen Ablehnung her-vorriefen. Die Beurteilung ihrer Lebensweise zeigte nicht selten sozialdarwinistische Motive und Einflüsse aus Degenerationstheorien. Den Betroffenen unterstellte man, sie scheuten eine feste, handwerkliche Arbeit und seien auf ihren Müßiggang bedacht. Die Abhandlung eines Sekretärs der Italienischen Botschaft in London, die 1893 veröffentlicht wurde, bewertete die italienische Emigration gar als minderwertig gegenüber der britischen und der deutschen: In zwei Jahrhunderten sei es den Italienern in Großbritannien nicht gelungen, in renommierte-ren Berufen Fuß zu fassen. Viele Auswanderer seien bezüglich der Gesellschaft, in die sie im-migrierten, ignorant, und sie hätten keine Motivation, sich wirtschaftlich zu verbessern. Als ein positives Signal wertete der Autor die abnehmende Zahl der Drehorgelspieler, denn diese seien die Schlimmsten und Unnützesten. Straßenmusikern und Straßenhändlern warf er vor, sie verwahrlosten und seien lasterhaft; wenn sie ihren Alkoholkonsum nicht finanzieren könn-ten, der in Großbritannien ohnehin in den unteren Schichten erschreckend allgegenwärtig sei, würden sie kriminell. Die Kriminalanthropologie finde in ihnen ein breites Feld für ihre Forschungen.981 Eine Lösung des Problems könne nicht durch philanthropische und karitative Maßnahmen gefunden werden, es bedürfe einer Umerziehung gerade der Jugend dieser ‚Vaga-bunden‘ zu einer würdevolleren Tätigkeit und einem moralischeren Verhalten.982 Der Bericht, der sich zur Untermauerung abfälliger Einschätzungen auf diskreditierende britische Urteile aus der Presse, Sozialstudien und literarischen Werken beruft, zeigt eine große Distanz zwi-schen der diplomatischen Elite und der breiten Masse der Auswanderer vor Ort. Dass diese emigriert waren, um ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten zu können, nun zwischen zwei Nationen und damit zwischen zwei Gesellschaften pendelten und so Angehörige in Italien finanziell unterstützen konnten, erkannte der Autor nicht als Leistung an. Eine Traditionslinie hatten solche Haltungen auch innerhalb der sich zur Jahrhundertwende konsolidierenden ita-lienischen Gemeinde. Da diese inzwischen weniger von Abwanderungen geprägt war, stellte sich für die Folgegenerationen zunehmend die Frage, welches der beiden Länder ihre Heimat sei, während sich zugleich konträre politische und ökonomische Milieus festigten. Das Thema, ob die italienische und die britische Gesellschaft zu den Auswanderern auf- oder auf sie herab-sahen, wurde für nationalistische Kreise immer brisanter und es stand in Wechselwirkungen mit den vielen individuellen positiven und negativen Erfahrungen in den Mehrheitsgesell-schaften, der britischen wie der italienischen.

Andere Stimmen aus der Botschaft in London und den Konsulaten machten die fehlende Durchlässigkeit des britischen Arbeitsmarktes für die Misere vieler Einwanderer mitverant-wortlich, bemängelten aber ebenso deutlich, dass diese mit unrealistischen Vorstellungen emigriert seien und sich nicht bemühten, sich fortzubilden und wirtschaftlich zu integrieren. Ihr Weg führe sie stattdessen in Clubs, Kneipen und Bars. Ein 1903 herausgegebener Bericht schlug vor, im Londoner West End ein italienisches Erholungszentrum einzurichten, in dem die nun vor allem als Kellner Arbeit suchenden jungen italienischen Männer ihre Zeit sinnvoll und unter Landsleuten verbringen könnten. Auch sollten ihnen hier Bildungsangebote eröffnet werden, um eine politische Beeinflussung durch die wachsenden anarchistischen Gruppierun-gen zu unterbinden.983 Positiv bewertete der Verfasser die Entwicklungen in der Gastronomie, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum wichtigsten Arbeitgeber für die italienischen Einwan-derer avancierte und in der nun viele Familienbetriebe wirtschaftliche Erfolge verzeichneten. Er sah hierin eine Chance, die öffentliche Meinung der britischen Gesellschaft zugunsten der Einwanderer und der italienischen Kultur zu verändern.984 Als ein weiteres Signal für Opti-mismus erschien dem Verfasser die zunehmende Tendenz unter italienischen Männern, die britische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Diese seien von ökonomischen Motiven geleitet oder hätten britische Frauen geheiratet und Familien gegründet und lebten nun nicht mehr in den Einwanderervierteln.985 Die faschistische Partei sollte diese Entwicklung gut zwanzig Jahre später vollkommen anders bewerten und diejenigen, die sich um die britische Staatsbür-gerschaft bemüht hatten, eines Verlustes von Nationalstolz bezichtigen. Der enge Begriff der italienischen Gemeinde, den die Fasci später verwendeten, spiegelte nur einen Teil der Realität, da er diejenigen ausschloss, die bereits besser integriert und vom Radar der italienischen Be-hörden und der Partei verschwunden waren.

Charles Booth hatte in den 1890er Jahren in seiner groß angelegten Studie zu den Lebensver-hältnissen der Londoner Bevölkerung die Divergenzen zwischen den Italienern in Soho und denen in Clerkenwell betont, dabei nicht allein die unterschiedliche Sozialstruktur, sondern auch die Bindung an die katholische Kirche, das generelle Verhältnis zum Glauben und zu Traditionen benannt. Die Italiener Clerkenwells, zumeist aus einem bäuerlichen Hintergrund stammend, seien deutlich frommer; allerdings lebten hier auch Anhänger Mazzinis und eini-ge Agnostiker, die mehrheitlich freundschaftliche Verbindungen zur Gemeinde pflegten und von denen viele mit englischen Frauen verheiratet seien.986 Es gebe zudem kleinere Kreise von Atheisten und Anarchisten, die für die Kirche nur Hass empfänden, einige von ihnen seien überzeugte Republikaner, andere gewaltbereite „desperados“987. Booth zufolge galten die Ita-liener der Londoner Polizei zwar als hitzköpfig, aber insgesamt gesetzestreu. Er bewertete die Sozialarbeit in Clerkenwells italienischem Viertel als gut aufgestellt und als über die Gemein-de St. Peter hinaus aktiv. Neben einer lobenden Erwähnung der Erholungsreisen für Kinder hob er einen Aspekt der Sozialarbeit hervor, der in den italienischen Schilderungen auffällig unterrepräsentiert ist: die Angebote, die sich an in Fabriken arbeitenden Mädchen und Frauen richteten. Für sie sei hier 1888 ein Factory Girls’ Country Holiday Fund eingerichtet worden, der sich großer Nachfrage erfreue.988 In den Veröffentlichungen der Fasci all’Estero in Groß-britannien stellen junge Frauen, die einer Arbeit außerhalb des heimischen Kontextes oder des Familienbetriebes nachgehen, eine Leerstelle dar; die Thematisierung der Frauenarbeit, die in Italien stets von Paradoxien geprägt war, unterbleibt.

Die faschistische Emigrationspolitik bildete insgesamt keinen Bruch mit traditionellen Res-sentiments; im Gegenteil, diese fanden neuen Nährboden. Die Negativbeurteilung der Aus-wanderung reichte sogar bis in die Bewertung des Freizeitverhaltens der Migranten hinein. Eigentümlich ist, dass die italienischen Einwanderer in dieser Logik einerseits nicht in der britischen Gesellschaft auffallen sollten, andererseits nicht britisch erscheinen durften. Der Vorwurf der mangelnden Integration, der ein Ausgangspunkt für die Wahrnehmung einer Schmach gewesen war, wandelte sich faktisch in eine Aufforderung zur Nicht-Integration. Was die Ausgewanderten aus der Sicht der Fasci in keinem Fall werden sollten, waren italienisch-stämmige Briten, geschweige denn Briten, die ihre italienischen Wurzeln ignorierten. In der Argumentation Benito Mussolinis stellte die unkontrollierte Auswanderung von arbeitsfähi-gen und gebildeten jungen Italienern ein zentrales Problem Italiens dar: Es sei zu erkennen, dass die Migration ein Übel sei, da sie das italienische Volk seiner aktiven Elemente beraube, die dann ‚die roten Blutkörperchen von blutarmen fremden Ländern‘ bildeten. Sie könne aber ein geringeres Übel werden, wenn sie organisiert werde.989 Auch die Weisung Mussolinis, das Wort ‚Emigrant‘ aus dem Sprachgebrauch zu tilgen und stattdessen von ‚Italienern im Aus-land‘ zu sprechen,990 war Ausdruck des totalitären Herrschaftsanspruchs über das aus die-ser Sicht wirtschaftlich wie militärisch nutzbare ‚humane Kapital Italiens‘. Diskursiv wurden Negativassoziationen der Auswanderung historisch im liberalen Italien verortet und das fa-schistische Italien als Gegenpol dargestellt, als der Staat, der die Ausgewanderten wertschätze und umsorge. Ziel des Regimes sei, einen „nuovo orgoglio degli Italiani“991 zu erzeugen, einen neuen Stolz der Italiener.

Ein solcher Anspruch spiegelte sich in der Kulturpolitik der Fasci in Großbritannien. Sie war, insbesondere wenn sie sich an ein gemischtes Publikum von Italienern und Briten richte-te, elitär und nahm das Italienbild der Grand Tour des 19. Jahrhunderts auf, zelebrierte die ita-lienische Hochkultur und erhob Italianità zum Qualitätsmerkmal. Sie war selbstreferenziell, kreiste um das faschistische Italien, das so den Ausgewanderten erfahrbar gemacht werden sollte. In der Folge zeichnete sie ein stark verzerrtes Bild. Die Fasci agierten dabei im Einklang mit den diplomatischen Vertretern, den Kulturinstituten und einem großbürgerlichen bis aris-tokratischen Netzwerk britischer italophiler und dem Faschismus zugeneigter Gesellschaften.

Harmonisch gestaltete sich die Einflussnahme der faschistischen Akteure auf Kultur-vereine vor Ort zunächst nicht. Wie erläutert, versuchten Organisationen wie die Mazzi-ni-Garibaldi-Gesellschaft lange, sich einer faschistischen Einflussnahme zu erwehren, und Camillo Pellizzi, Gründungsmitglied des Fascio di Londra , kritisierte die lokalen Kultur-institute als rückständig und ineffizient. Insbesondere die Società Dante Alighieri genügte in seinen Augen faschistischen Ansprüchen an die Vermittlung von Nationalismus und Ita- lianità nicht (vgl. Kap. 2.2). Pellizzis Vorgehen fügte sich dabei in jenes der faschistischen Partei in Italien ein. Diese nahm – Beate Scholz zufolge – die ohnehin aggressiv nationalis-tische Dante -Gesellschaft frühzeitig in den Blick, forcierte interne Richtungsstreitigkeiten über ihren politischen Charakter und integrierte sie bereits in den frühen zwanziger Jahren in das Regime – ein Prozess, von dem die Repräsentanten der Gesellschaft auch persönlich profitierten.992

Ähnlich verfuhr man mit kleineren Initiativen: Piero Parini erläuterte 1935 rückblickend, der faschistische Staat habe erstmalig eine systematische Sozialfürsorge in den Auslandsge-meinden etabliert. Positiv äußerte er sich über die Vielzahl der örtlichen wohltätigen Initia-tiven, wohl um diejenigen nicht zu verprellen, die durch Spenden weiterhin die Finanzierung vieler Einrichtungen trugen. Sie deckten damit einen wesentlichen Teil der Fürsorge ab, die in Italien unter anderem von Massenorganisationen wie der OND geleistet wurde. Parini erklär-te, dass trotz des Engagements der privaten und kooperativen Einrichtungen die Mehrheit der Italiener im Ausland stets die Abwesenheit und Gleichgültigkeit des Staates gespürt habe. Die Fasci all’Estero aber hätten, Mussolinis Beispiel folgend, die Pflicht zur nationalen Solidarität erkannt und eine Fürsorgepolitik etabliert, für die es bis dahin kein Vorbild in ganz Europa gegeben habe. Auch habe der Faschismus das Netz der Hilfsorganisationen nationalisiert, die bisher das alte Italien mit regionalen Identitäten widergespiegelt hätten. Dieser Campanilismo sei nun beendet. Widersprüchlich argumentierte er, alle bisherigen Einrichtungen seien rein privat und unpolitisch gewesen, und behauptete zugleich, es sei ein Verdienst des Faschismus, ihre parteipolitische Ausrichtung beendet zu haben:

Die regional verwurzelten Organisationen der italienischen Gemeinden in Großbritannien hatten konträr zu Parinis Anordnung allerdings Bestand. Sie wurden nicht umbenannt oder zu einer Aufgabe des regionalen Bezugspunktes gedrängt, sondern durch die Fasci vereinnahmt, so etwa die Famija Piemontesa und die Associazione fra Fubinesi , die ihren Sitz im Haus des Club Cooperativo hatten, in das der Fascio seine Zentrale verlegte. Was sich in der öffentlichen Darstellung änderte, war das Narrativ: Beide Vereinigungen wurden nun propagandistisch zu Repräsentanten wirklicher Italianità verklärt, die ihre regionalen Wurzeln feierten, sich aber Italien als Ganzem verschrieben hätten.994 Die in Italien in den dreißiger Jahren zunehmende Tolerierung und Inszenierung regionaler volkstümlicher Traditionen, die in der Summe die Wurzeln des faschistischen Italien ergäben, prägte auch in den Auslandsgemeinden die Propa-ganda. Bei den Vereinigungen handelte es sich durchaus um einflussreiche Foren. Die Guida Generale degli Italiani a Londra hob 1933 hervor, die Associazione fra Fubinesi habe mit ihrer Schwesterorganisation in New York zusammen rund 3000 Mitglieder; der Herkunftsort Fubi-ne zähle nur etwas mehr als 1000 Einwohner. Die Organisation sende erhebliche Spendensum-men in die Heimat.995 Solche Zahlen machen deutlich, weshalb die den Regionalismus eigent-lich ablehnenden Fasci und die diplomatischen Vertretungen hier konträr zu ihrem Anspruch handelten und sich stattdessen um eine Zusammenarbeit bemühten, von der im Gegenzug die jeweiligen Organisationen profitierten. Der italienischen Gemeinde ging es insgesamt wirt-schaftlich so gut, dass sie eigene karitative Einrichtungen auch in Krisenzeiten tragen konnte. Ob sich die Institutionen der italienischen Gemeinden aktiv anbiederten oder die politische Einflussnahme, die finanzielle Vorteile versprach, tolerierten, das Resultat war dasselbe: Der Partei gelang es, sie gleichzuschalten und Einfluss auf ihre Inhalte, ihre Ausrichtung und auf Mitglieder zu nehmen. Eine Verweigerung der Zusammenarbeit bedeutete mit zunehmendem Machtausbau des Regimes auch exterritorial politische Verfolgung und die Marginalisierung der Einrichtung im lokalen Netzwerk der Gemeinden. An die Stelle der Skeptiker und Op-positionellen traten die Eilfertigen und Günstlinge. Dies schuf vor Ort den Nährboden einer faschistischen Kulturpolitik und der Inszenierung einer faschistischen Freizeit. Repräsentation und Lebensart – Charity und Gastronomie unter faschistischem Einfluss

In den 1920er Jahren konzentrierten sich die Fasci in Großbritannien darauf, beliebte Institu-tionen sukzessive zu unterwandern. Sozial- und Kulturpolitik wurden zusätzlich zu den Maß-nahmen, die die zentralen Stellen in Italien beschlossen, in einem kleinen Rahmen vor Ort durch die Parteizellen gestaltet, die dabei nicht originell handelten, sondern sich Mehrheiten und Posten in den lokalen Initiativen sicherten. Die Fasci setzten auf Repräsentation, auf eine Aufwertung des Gemeindelebens und der Außendarstellung der italienischen Gemeinden. Auch in den Angeboten für Erwachsene legten sie den Fokus auf Geselligkeit und Festlichkeit. Sie unterstützten Benefizveranstaltungen und Spendensammlungen, die zuvor privat oder durch andere Institutionen getragen worden waren und die sie in Zusammenarbeit mit der Botschaft und den Konsulaten auch inhaltlich immer stärker beeinflussten. Gemein war die-sen Veranstaltungen, dass sie einen absehbaren wirtschaftlichen Aufstieg der italienischen Ge-meinden suggerierten, eine Kooperation von Diplomatie, Partei, wirtschaftlich erfolgreichen Emigranten und dem ‚einfachen Mann‘ vermittelten und einem höheren Zweck verpflichtet schienen. Die propagandistisch geforderte Verflechtung von Staat, Partei, Wirtschaft und Volk legte nahe, einer guten Sache dienlich zu sein.

Dino Grandi berichtet in seinen Memoiren, wie entsetzt er angesichts der Ausstattung der neuen Botschaft 1932 gewesen sei. Ein mittelmäßiger Architekt habe über die Inneneinrich-tung des kurz zuvor gemieteten, viktorianisch-prunkvollen Gebäudes am Grosvenor Square entschieden. Dieser habe sonst wohl die Ausstattung von Schiffsdecks der Zweiten Klasse vor-genommen. Schmachvoll sei es gewesen, dass Italien, das überall in der Welt als das Land der Schönheit und des guten Geschmacks gegolten habe, eine so vulgäre Demonstration seiner selbst zugelassen habe. Er habe daraufhin die Zustimmung Mussolinis eingeholt, die Kultur-verwaltung und Museen aufzufordern, historische Möbel und große italienische Kunstwerke zur Verfügung zu stellen, um den Italienern in Großbritannien eine würdigere Botschaft ein-zurichten und ausgewählten Besuchern Italien als Kulturnation zu präsentieren.996 Profitiert habe die Botschaft vom Konkurs des Turiner Industriellen Riccardo Gualino. Die Banca d’Ita- lia als dessen Kreditgeberin habe ihr einige bedeutende Kunstwerke aus dessen Sammlung überlassen. Tatsächlich war die Botschaft hier also Nutznießer der Requirierung eines Privat-vermögens. Aus Grandis Beschreibung lässt sich der Wert erahnen:

So berechtigt Grandis Anliegen erscheint, einen repräsentativen und mit den Botschaften an-derer Länder vergleichbaren Amtssitz vorweisen zu können, um vom britischen Establishment und von internationalen Gästen ernst genommen zu werden, so deutlich wird das Motiv der persönlichen Bereicherung. Grandi zeigt sich in seiner Stellungnahme als der sich noch immer im Recht wähnende Profiteur, der als Emporkömmling nun plötzlich von Kulturgütern und Reichtum umgeben ist und dadurch auch seine Person aufgewertet sieht.

Daneben offenbart sich in dieser Episode wiederum paradigmatisch die große Entfernung zwischen den Lebenssituationen der Mehrheit der ortsansässigen Italiener und der Anspruchs-haltung des diplomatischen Korps. Während in den italienischen Vierteln in Clerkenwell, Soho und Southwark bescheidene, ärmliche bis elende Verhältnisse die Regel waren, zelebrier-ten die Botschafter den Lebensstil der englischen Oberschicht und umgaben sich bevorzugt mit dieser. Aus dieser abgehobenen Position heraus inszenierten sie sich in der Gemeinde, so paradox dies erscheint, erfolgreich als Angehörige der Nobilität und erfüllten damit bei vielen Emigranten eine Erwartungshaltung, die sich in das Narrativ des politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Wiederaufstiegs Italiens einfügte.

Generell begleitete ein eigentümliches Verhältnis zum Luxus die faschistische Agitation in der italienischen Gemeinde Londons in den zwanziger und dreißiger Jahren; Luxus, der Re-präsentation und Stolz und damit letztlich Italianità symbolisieren sollte. Benefizveranstal-tungen, Weihnachtsfeiern, Kinderfeste, Konzerte, Schauspiele und Rezitationen und auch die Festtage des faschistischen Kalenders wie die Feier zum Jubiläum des ‚Marsches auf Rom‘ wur-den in Nobelhotels wie dem Savoy und Spitzenrestaurants wie dem Criterion oder in großen Ballsälen, Konzerthallen, Theatern und Herrenhäusern veranstaltet. Die Gemeindezeitung berichtete ausführlich über diese Events, unterstrich dabei stets die festliche Atmosphäre und den wohltätigen Zweck. Die italienische Gemeinde sollte selbstbewusst auftreten als eine auf-strebende Gesellschaft, die die bevorzugten Plätze der britischen High Society einnehmen und sich Luxus leisten könne, zugleich aber an die Armen denke. Eintrittskarten zu solchen Ver-anstaltungen waren subventioniert und damit weniger wohlhabenden italienischen Familien zugänglich. Im April 1928 veranstaltete die Società Italiana di Beneficenza ihren jährlichen großen Ball im Hotel Savoy , an dem, wie L’Eco d’Italia betonte, 900 Personen teilgenommen hätten, unter ihnen die ‚erlesensten‘ Vertreter der Londoner Society und die ‚nobelsten‘ Ange-hörigen der italienischen Gemeinde. Es habe eine perfekte Harmonie zwischen Italienern und Engländern geherrscht.998 Das Programm eröffnete der Aufmarsch einer Squadra von uni-formierten Faschisten und Balilla. Anwesend war der Botschafter Chiaramonte Bordonaro.999Im Jahr darauf fand der Ball wieder im Savoy statt, als eine gemeinsame Wohltätigkeitsveran-staltung italienischer und britischer Charity -Organisationen; auch hier waren der italienische Botschafter und der Fascio in die Planungen einbezogen. L’Italia Nostra schrieb, der Ball solle Zeichen der engen italienischen und britischen Freundschaft sein.1000

Wie fragil diese Freundschaft war und wie schnell sich die Beziehungen verschlechterten, zeigt ein vier Jahre später erschienener Aufruf der Società Italiana di Beneficenza . Diese war in Finanzierungsprobleme geraten und appellierte nun an die Italiener in Großbritannien, aus-schließlich an italienische Wohltätigkeitsorganisationen zu spenden, nicht an britische. Die Briten hätten sich in der wirtschaftlichen Krise an ihre Flagge geklammert und allen anderen Nationalitäten Unterstützung verweigert, nun sei es an den Italienern, dasselbe zu tun.1001 Der Aufruf war nicht als Bitte um Wohltätigkeit formuliert, sondern als scharfe Anweisung, die mit einem Freund-Feind-Schema operierte:

Feiern und Kulturveranstaltungen dienten nicht nur der Gewährleistung von Sozialfürsor-ge vor Ort, sie waren Teil des Bildungs- und Freizeitangebotes, das die Fasci in Kooperation mit den Gemeindeinstitutionen organisierten, und sie boten der Selbstinszenierung von Partei und Staat Raum. Die Kulturvermittlung zeigte sich als besonders effizient. Das Angebot an Kulturveranstaltungen war durchweg größer als jenes im sportlichen Bereich oder in der be-rufsorientierten Weiterbildung. Kultur diente als Verbindung zwischen Italien und den Emig-ranten und zwischen den einzelnen Colonie im Vereinigten Königreich. Als ein neues Identifi-kationsmuster trat neben die italienische und die (tolerierte) regionale Identität die der Italiani in Gran Bretagna . Derselbe blumige, nostalgische Ton, in dem die Presse der Fasci Italien als Heimat thematisierte, prägte die Verklärung des Zusammenhaltes der italienischen Gemein-den in Großbritannien. Die italienische Infrastruktur in London war auch für die Italiener in anderen Städten von großer Bedeutung, insbesondere das Hospital, das ein wichtiger Bezugs-punkt war und von anderen Gemeinden unterstützt wurde. Anlässlich einer Serata Italiana im Palais de Danse in Birmingham rief L’Eco d’Italia Italiener aus London dazu auf, als Squadra an dem Fest teilzunehmen, um in einem Akt der Solidarität den Kameraden in den Midlands den Gruß der Londoner Gemeinde zu übermitteln.1003

Die Fasci appellierten an ein Zusammengehörigkeitsgefühl als Schicksalsgemeinschaft de-rer, die gezwungen seien, in Großbritannien zu leben. Die Behauptung, zwangsweise dort le-ben zu müssen, ist ein wiederkehrendes Motiv in den Publikationen. In den dreißiger Jahren kippte es immer häufiger in offenen Nationalismus und eine Art Kultur-Darwinismus um, demzufolge die italienische Kultur die britische qualitativ überrage und die britische sie den-noch zu verdrängen drohe. Sogar in Berichte über gemeinsame Veranstaltungen mit britischen Charity -Organisationen schlich sich dieses Motiv ein. Anlässlich einer Reihe von Theaterauf-führungen im Club Cooperativo veröffentlichte L’Eco d’Italia einen Leserbrief, dessen Verfasser forderte, so wie in Italien müssten auch vor Ort Società Filodrammatiche gegründet werden, die Stücke patriotischen Inhalts aufführten. Es sei in den Auslandsgemeinden viel dringlicher, eine Kultur zu fördern, die die Italianità aufleben lasse, denn:

Hier klingt ein beinahe kolonialistischer Ton an, denn die Botschaft dieser beiläufigen Bemer-kung lautet, man lebe unter Kulturfremden, unter bildungsfernen Barbaren – ein Ton, der sich in der umgekehrten Bezugnahme, also jener englischer Kommentatoren auf die italienische Gemeinde, ebenso finden lässt. Das Beispiel verdeutlicht die Relevanz, die den eher kleinen Kulturveranstaltungen attestiert wird, wenn es um eine Art Volkserziehung zum Patriotismus geht. L’animo , den Geist oder das Herz meinend, ist ein sehr präsenter Begriff in den Quellen, wenn diese Art der unterschwelligen Volkserziehung thematisiert wird. Eine Einflussnahme sollte über Emotionen erfolgen.

Dass die Gemeindeinstitutionen und die Fasci Großveranstaltungen in renommierten Res-taurants und Hotels abhielten, stellte einen Bezug zu den Beschäftigungsverhältnissen vieler Italiener in Großbritannien dar. Sie arbeiteten in genau diesen Häusern als Kellner, Küchen-hilfen, Köche, Restaurantleiter oder als Hotelpersonal, hielten sich also sonst in einer anderen Rolle und mit einem anderen Status an denselben Orten auf. Andere hatten eigene, bescheide-nere Gastronomiebetriebe und Pensionen. Sie waren es, die hier als Dienstleister die Gesellig-keit anderer unterstützten, ohne an ihr teilhaben zu können. Im Alltag wurden sie als Rolle, nicht aber als Person wahrgenommen. Etwas euphemistisch skizziert Olive Besagni typische Karrieren so:

Das Modell des upstairs-downstairs britischer Herrenhäuser prägte trotz des sozialen Auf-stiegs der Beschäftigten in den Hotels den Umgang. Gäste und Personal bewegten sich bei aller Vertraulichkeit dennoch in sichtbar getrennten Welten. Die Veranstaltungen hatten da-her wichtige Repräsentations- und Kompensationsfunktionen. Sie öffneten die luxuriösen, den britischen und internationalen Gästen vorbehaltenen Bereiche denjenigen, die hier in ihrem Alltag als Personal eingesetzt waren, aber selten wirkliche Anerkennung für ihre Arbeit er-fuhren. Damit hoben die Veranstalter scheinbar Milieugrenzen und soziale Hierarchien auf. Sie beanspruchten für die italienischen Einwanderer zumindest temporär einen Platz in der besseren Gesellschaft; eine Maßnahme, die Selbstwert- und Zusammengehörigkeitsgefühle stärkte. Auf der anderen Seite nahm durch die Präsenz der faschistischen Parteifunktionäre und der Botschaftsangehörigen auch der Druck auf die italienischen Angestellten der Häu-ser zu. Bereits in den dreißiger Jahren sollen sich italienische Angestellte der großen Hotels gegenseitig der Mitgliedschaft in der faschistischen Partei bezichtigt haben. Animositäten und Opportunismus seien oft die Beweggründe gewesen, wenn die Gerüchte an MI5-Agenten herangetragen wurden, die ihrerseits in den Hotels verkehrten oder operativ tätig waren.1006Die zunehmend raumgreifenden Aktivitäten der faschistischen Partei erzeugten Spannungen unter italienischen Beschäftigten, die existenzielle Auswirkungen haben konnten. Mit der Ak-tivierung der Weisung zur Festnahme der als potenzielle Gefährder und Verschwörer einge-schätzten Italiener im Mai 1940, die unter dem Kürzel ‚ARRITFAS (arrest Italian fascists)‘ vor-bereitet worden war und mit Churchills Ausspruch ‚Collar the lot!‘ eine noch undifferenzierte Behandlung nach sich zog, leerten sich auch in den großen Hotels die Reihen der italienischen Beschäftigten.

Die faschistische Kulturpolitik operierte in den Auslandsgemeinden stark mit Identitätsbe-griffen und Zugehörigkeitsfragen. Dabei spielte ihr situativ die Ausgrenzung der Einwanderer durch die Mehrheitsgesellschaft in die Hände. Der emotional aufgeladene Italianità -Mythos war dann besonders wirkmächtig, wenn alternative Identitätsvorstellungen in Frage gestellt oder von außen negiert wurden. Das Spannungsfeld, in dem sich die italienischen Einwande-rer befanden, ob durch ihre tatsächliche Loyalität gegenüber dem Regime oder durch die die bloße Annahme einer solchen durch die britische Gesellschaft oder Einwanderer anderer Her-kunftsländer, zeigte sich seit 1935 im Zuge der Abessinienkrise offen.

In die Proteste gegen die Politik des italienischen Regimes mischten sich wirtschaftlich motivierte und xenophobe Agitationen gegen die italienischen Einwanderer. Der Manchester Guardian berichtete im Oktober 1935 über entsprechende Proteste und Übergriffe:

Neben die pauschale Gleichsetzung italienischer Herkunft mit faschistischer Weltanschauung traten hier also noch andere Motivlagen zur Ausgrenzung. Die Entwicklung nährte das Nar-rativ der Faschisten, die italienischen Einwanderer könnten in der britischen Gesellschaft nie wirklich ankommen, da diese sie verachte.

Es sei hier angemerkt, dass die BUF in entscheidendem Maße auf eine Instrumentalisie-rung und Eskalation vergleichbarer Proteste gegen Einwanderer setzte und sich zum Sprach-rohr der vermeintlich benachteiligten Briten erklärte. Auch in dieser Haltung liegt eine Ursa-che für die Schwierigkeiten ihrer Kooperation mit der italienischen faschistischen Bewegung vor Ort. Hier prallten nicht nur theoretisch Ultranationalismen aufeinander, sondern auch konkrete wirtschaftliche Interessen ihrer Anhänger, gegenseitige Ressentiments und Xeno-phobie.

Die Fasci spannten italienische Restaurants, Cafés und Bars in ihre Propagandaaktionen und ihren Veranstaltungskalender ein, während zugleich, wie die Akten der Polizia Politica zeigen, oppositionelle Betreiber solcher Lokale verfolgt und eingeschüchtert wurden. Gerüchte über angebliche anarchistische Umtriebe in Konkurrenzbetrieben genügten, um die Polizia Politica zu veranlassen, Spitzel einzuschleusen. Um die Fasci entstand so eine Atmosphäre aus Bekenntniszwang, Begünstigungen, Korruption, Rufschädigungen und gegenseitigen Ver-dächtigungen. Das Ausgehen, die Restaurantbesuche und die unter Männern der Gemeinde beliebten Kartenspieltreffen – all diese Freizeitbeschäftigungen wurden hochpolitisch. Wie er-läutert, profitierten andere italienische Unternehmer und Gastronomen von der Kooperation mit der Partei sowohl wirtschaftlich als auch durch eine Aufwertung ihrer Reputation. Wer-bung in parteinahen Medien und der streng formulierte Aufruf der Direzione Generale degli Italiani all’Estero , den Italienern im Ausland obliege die Pflicht, italienische Produkte bei ihren Landsmännern zu kaufen, verstärkten ihren Zulauf an Kunden. In italienischen Cafés und Geschäften wurden so im geselligen Beisammensein oder während des Einkaufs aktiv Mit-glieder für die faschistische Bewegung rekrutiert und die Propaganda fand hier eine indirekte Verbreitung in vorgeblich unpolitischer Atmosphäre.

Neben dieser eher unorganisierten Durchdringung des öffentlichen und privaten Raumes nahm der Fascio di Londra auch eine systematischere vor. Der Club Cooperativo besaß seit 1924 eine eigene Sezione Culinaria , in der Beschäftigte aus der Gastronomie und dem Le-bensmittelhandel organisiert waren. 1933 bekundete diese Sektion, 900 Arbeitsuchenden eine Beschäftigung vermittelt zu haben. Die Sezione Culinaria nahm an Wettbewerben und Mes-sen teil, veranstaltete Schulungen und Konferenzen und bot Mitgliedern und deren Familien Freizeitaktivitäten wie Familienausflüge, Bälle und Essen, Lotterieabende und Sommerzelt-lager.1008 Die Fasci in britischen Städten richteten derweil Veranstaltungen in den Betrieben linientreuer Gemeindemitglieder aus. Ihre Zeitung veröffentlichte sogar Empfehlungen für die Restaurants besonders parteitreuer Unternehmer, die sie als Kameraden bezeichnete.1009 Das Prinzip, Festmahle und einfachere Mittagessen als gemeinsame Freizeitaktivität zu veranstal-ten, um so faschistische Netzwerke zu knüpfen und zu fördern, übertrug der Fascio di Londra in viele Bereiche. So organisierte er seit 1933 eigene Mittagsrunden an seinem Stammsitz im Haus des Club Cooperativo . Erklärtes Ziel war es, den Italienern in London zu einem geringen Obolus die Möglichkeit zu bieten, jeweils eine ‚Autorität der Kolonie‘ kennenzulernen.1010 Die Parteizelle fungierte hier als Kontaktvermittler und festigte so ihren eigenen Rückhalt. Die Società Mazzini Garibaldi hatte bereits ein Jahr zuvor begonnen, regelmäßig Festessen auszu-richten.

Es stellt sich die Frage, wen Partei und lokale Organisationen damit ansprachen, wen sie erreichten und wen nicht. Wenngleich die Zeitung des Fascio oft bemüht war, den klassenüber-greifenden Charakter der Zusammenkünfte zu betonen, so ist doch an Diktion und Themen-auswahl erkennbar, dass die Leserschaft eher ein aufstiegsorientiertes bürgerliches bis klein-bürgerliches Publikum war. Die Zeitung sprach zwar über die Armen der Gemeinde, richtete aber nicht das Wort an sie. Die Mehrzahl der Berichte und Diskurse in den Medien des Fascio di Londra ging an der Realität in den ärmeren Vierteln vorbei. Die noch recht hohe Quote an Analphabeten und Armen gehörte also nicht zur Gemeinschaft, die Botschaft und Fascio konstruierten. Die Teilnahme an einem Lunch war für Angehörige kinderreicher Familien aus prekären Verhältnissen, die auf mehr als ein Einkommen angewiesen waren, nicht realisierbar.

Die wenige Freizeit spielte sich für die Bewohner der ärmeren Straßenzüge nicht in Clubs und Vereinen ab, sondern in der Nachbarschaft, auf den Straßen und Plätzen, im Haus oder in Pubs. Traditionelle Beschäftigungen wie das Bocce -Spiel waren auch hier beliebt. Arbeitsalltag, Feierabend und Freizeitgestaltung hingen eng zusammen, wie dieses Beispiel verdeutlicht:

Der Feierabend galt als eine private, familiäre bis nachbarschaftliche Angelegenheit. Die Zusammenkünfte waren nicht ausschließlich Treffen unter Italienern, denn viele Familien pflegten enge Kontakte zu britischen oder irischen Familien aus derselben Straße. Die soziale Herkunft und ähnliche Alltagserfahrungen waren verbindender als die Nationalität und die zelebrierte Geselligkeit entsprach nicht großstädtischen, sondern dörflichen Mustern. Alltag und Freizeit zwischen Transnationalität und Vereinnahmung

Der Begriff Colonia ist eine subjektive Zuschreibung, die ganze Personengruppen oder Milieus ausschließen kann. Die Rhetorik der Fasci suggerierte, die Colonie der Italiener im Ausland seien klar umgrenzte, durch Patriotismus, eine gemeinsame Mentalität und wirtschaftliche Kooperation geeinte Gemeinschaften. Exilanten, Andersdenkende, politische Gegner oder diejenigen, die sich der Vergemeinschaftung entzogen und stattdessen die Integration in die Gesellschaft des Landes suchten, in dem sie lebten, verurteilte die faschistische Partei pauschal als fuorusciti, als Abtrünnige. Sie schürte damit die Dichotomie des Für-oder-gegen-Italien-Seins. Fuorusciti waren in dieser Weltanschauung keine echten Italiener mehr; der vielseitig aufladbare Begriff der Italianità traf auf sie scheinbar gar nicht zu. Das Kulturprogramm der Fasci , der faschistischen Kulturinstitute im Ausland, der Società Dante Alighieri und der über die Direzione Generale degli Italiani all’Estero gelenkten Schulen hatte, wenn es sich die För-derung der Italianità auf die Fahnen schrieb, immer eine starke exkludierende Dimension.

Das gesellschaftliche Leben gerade in dem Arbeitermilieu zuzurechnenden Nachbarschaf-ten wurde allerdings durch einen transnationalen Lebensstil der Bewohner geprägt, der eine eigene Dynamik hatte und oft im Widerspruch stand zum Topos der erzwungenen Heimat-ferne. Viele Migrantenfamilien bewegten sich in zwei Ländern und Gesellschaften und waren mittlerweile auch in beiden verwurzelt, so dass sich ihnen eher die Frage stellte, wo ihr fami-liärer Lebensmittelpunkt lag oder künftig liegen sollte bzw. an welchem Ort sie hierfür bessere Bedingungen vorfänden.1012 In den Veröffentlichungen der Fasci hatte die bewusste Entschei-dung für ein Leben in zwei Gesellschaften kein Gewicht. Die Fasci argumentierten stark ver-kürzend, die Migration sei nur politisch umkehrbar und sie sei ein Relikt der Vergangenheit. Dies deckte sich mit der Ausrichtung der Migrationspolitik, zielte sie doch auf eine emotionale Vereinnahmung der Ausgewanderten und auf deren Remigration.

Während die faschistischen Veröffentlichungen zu den Italiani all’Estero deren Multiplika-torfunktion in der Gesellschaft des Gastgeberlandes offen herausstellen, ist eine zweite wichti-ge Ebene allenfalls unterschwellig angelegt: Die Emigranten sollten auch im Hinblick auf ihre Vernetzung in den Herkunftsorten und auf ihre potenzielle Remigration den Faschismus als positiv empfinden und keine kritischen Sichtweisen aus dem Gastgeberland ins Inland tragen. Auch aus diesem Grund umwarb sie das Regime, während es die im Exil lebenden politi-schen Gegner auch exterritorial zu diskreditieren und isolieren suchte und sie verfolgte. Eine Negativdarstellung des faschistischen Italien durch die Ausgewanderten oder durch die im Ausland Arbeitenden sollte in jedem Fall vermieden werden. Engmaschig überwachten die italienischen Behörden etwa die Staatsbediensteten in den Auslandsgemeinden. Die Direzione Generale degli Italiani all’Estero berief 1933 Lehrerinnen und Lehrer aus den Schulen im Aus-land nach Italien ab, die sich allzu sehr in die Gastgeberländer integriert hätten. Die Polizia Politica vermerkte in einem Dossier über die Direzione Generale degli Italiani all’Estero , dass betroffene Lehrkräfte mit allen Mitteln versuchten, wieder ins Ausland versetzt zu werden. Sie hätten bekundet, dass in jedem anderen Land, egal wie klein und rückständig es sei, die Arbeitsbedingungen besser seien als in Italien. Die politische Polizei sah in der Direzione Ge- nerale degli Italiani all’Estero den eigentlichen Verursacher solcher Negativeinschätzungen. Sie betrachtete sie generell als schlecht geführt und als durch Piero Parinis Willkür und Kor-ruption gekennzeichnet. Berichte argumentierten, Parini ginge seiner Arbeit nicht gewissen-haft nach, er erteile Aufträge stets an Mailänder Firmen, ganz gleich, wie ineffizient dies sei. Er zahle große Rechnungen von Lieferanten nicht und drohe, wenn diese sich beschwerten, mit einem Ende der Geschäftsbeziehung, zudem bereichere er sich selbst aus der Kasse seiner Behörde. Parini beschädige dadurch erheblich die öffentliche Wahrnehmung des Regimes.1013

Die Polizia Politica zweifelte an der Substanz positiver Bewertungen der Faschisierungsfort-schritte durch die lokalen Instanzen. Ein Dossier vom Juni 1934 kritisierte insbesondere die fehlende Durchdringung des Arbeitermilieus in der Londoner Gemeinde. Eine starke Ableh-nung des Faschismus oder eine vollkommene Gleichgültigkeit präge dort die Stimmungslage. In der Mittelschicht, vor allem unter Ladenbesitzern und Händlern, aber auch unter Intellek-tuellen und Journalisten seien immer noch viele Antifaschisten. Der Bericht sparte nicht mit Kritik an Carlo Camagna, den der Verfasser für unfähig hielt, eine effizientere Faschisierung voranzutreiben. Die Londoner Gemeinde habe 35 Gesellschaften, die eine höhere Mitglied-schaft vorweisen könnten als der Fascio , und die Lokale, die der Fascio nutze, seien nicht aus-reichend besucht.1014

Wie ein weiterer Bericht aus dem Mai 1934 forderte dieses Dossier eine stärkere Überwa-chung italienischer Restaurant-, Café- und Kioskbesitzer, die antifaschistische Treffen in ihren Räumlichkeiten zuließen oder antifaschistische Publikationen verkauften. Einige seien zu-gleich im Fascio als Mitglieder eingeschrieben.1015 Andere Dossiers kamen zu abweichenden Einschätzungen. Ein Verfasser vermerkte, diejenigen Italiener, die etwas taugten, die arbeite-ten, die größere finanzielle Rücklagen hätten und die in Kontakt mit englischen Persönlich-keiten und Unternehmern stünden, seien mehrheitlich Faschisten. Das Prestige des Duce sei in England derart groß, dass die Engländer die antifaschistischen Aktionen als schlechten Stil und Mangel an Seriosität ansähen.1016 Wie ist dieser Widerspruch in den Wahrnehmungen zu beurteilen? Ähnlich wie in Dossiers italienischer Informanten über die Botschaft in London oder über die BUF findet sich hier keine klare Linie. Persönliche Einschätzungen, alte, noch offene Rechnungen, der Wunsch nach Anbiederung oder das Bedürfnis nachzuweisen, be-sonders fleißig überwacht zu haben – all das scheint hier Raum gefunden und die diffuse Zu-sammenstellung unterschiedlicher Sichtweisen bedingt zu haben.

Der Verfasser eines im Juni 1936 angefertigten Berichts der Metropolitan Police , der es als höchst problematisch erachtete, dass sich so viele Italiener von der restlichen Bevölkerung zu isolieren suchten, um unter sich zu bleiben, gab an, er höre immer wieder von Bespitzelungen durch Gemeindemitglieder. Es herrsche eine weit verbreitete Angst, durch politische Äuße-rungen Repressalien gegenüber der Familie in Italien auszulösen.1017 Das Leben in den Little Italies hatte auch in dieser Hinsicht eine transnationale Dimension, konnten sich doch Hand-lungen gegen das Regime, die in ihnen erfolgten und die den Behörden zugetragen wurden, in Italien direkt auf die Verwandtschaft der Betroffenen auswirken.

Dass die Colonia noch in anderer Hinsicht gespalten war als entlang politischer Einstellun-gen, offenbaren zeitgenössische Lokalzeitungsberichte über die italienischen Gemeinden. Hier agierten über Jahrzehnte mafiöse Organisationen, die sich durch Schutzgelderpressungen Macht verschafften. Diese Form der organisierten Kriminalität war im Alltagsleben vieler spürbar, da sie insbesondere die mehr oder minder legalen Bars, Lokale und Geschäfte betraf. Die Namen einiger Familien und Clubs galten in den 1930er Jahren beinahe als Synonyme für Clan- und Bandenkriminalität, waren sie doch immer wieder Thema der Lokal- und Boulevardpresse ge-wesen. So wurde der Anglo-Italian Club in der Laystall Street als Schauplatz gewaltsamer Ausei-nandersetzungen der Öffentlichkeit bekannt.1018 Als ein berüchtigter Clan trat die Familie Sabini hervor. Ihr Name taucht in Zeitungsberichten und in Erinnerungen italienischer und britischer Einwohner Londons auf; ihr Oberhaupt soll gar Vorlage für literarische Figuren gewesen sein:

Tatsächlich bedrängten die Faschisierung und die mafiöse Kriminalität das Leben in Little Italy zeitgleich. Während die faschistischen Akteure mit der Behauptung auftraten, in den Gemeinden ‚aufräumen‘ zu wollen, ließen sie die mafiösen Strukturen offenbar unangetastet und deren Profiteure gewähren. Die Faschisten sprachen derweil immer häufiger von den Ita-lienern im Ausland als einer colletività und konstruierten diskursiv eine Parallelwelt, in der nur Faschisten ‚gute Italiener‘ bzw. generell ‚echte Italiener‘ sein konnten. Die verlorene Heimat neu entdecken

Das Kulturprogramm, das die Direzione Generale degli Italiani all’Estero und mit der Aus-landspropaganda betraute Stellen in Italien, wie die Sezione Propaganda des Ufficio Stampa del Capo del Governo (die Propagandasektion des Pressebüros des Regierungschefs) und später der Ministero della Cultura Popolare , kurz MinCulPop genannt (das Ministerium für Volks-kultur) bereitstellten, verstärkte die Vergemeinschaftung. In den 1930er Jahren sandten diese Stellen Dokumentar- und Spielfilme an die Fasci all’Estero und an Konsulate, die diese in ört-lichen Kinos und Theatern vorführten.1020 Besonders Kinder und Jugendliche wurden eingela-den, Propagandafilme über die ‚Faschistische Revolution‘, die Jugendorganisationen, den Duce oder die italienischen Kolonialbestrebungen mit Gleichaltrigen in geselliger Atmosphäre an-zusehen. Zu Beginn der dreißiger Jahre waren noch vereinzelt britische Zuschauer zugelassen, dies schlug aber mit der Abessinienkrise um. Noch 1933 hatte der Fascio di Birmingham einen Filmabend in einem stadtbekannten Theater ausgerichtet, zu dem Vertreter der Lokalpresse erschienen waren. Der Segretario des Fascio bewertete dies als einen Propagandaerfolg.1021 Nur drei Jahre später wurden entsprechende Anfragen mit der Bitte um äußerste Diskretion ent-schieden abgelehnt. Die Filmvorführungen seien ausschließlich als Privatveranstaltung der italienischen Gemeinde organisiert und daher grundsätzlich keinem breiteren Publikum zu-gänglich.1022

Seit den späten zwanziger Jahren richteten die Fasci in Großbritannien Leihbüchereien ein und erhielten dafür aus Italien große Mengen an Büchern und Broschüren. Die Zentralstellen in Rom gaben unter dem Titel Fasci Italiani all’Estero ganze Publikationsreihen heraus, die das ‚neue Italien‘ porträtieren sollten. Der Fascio di Londra eröffnete 1928 mit einem Festakt im Club Cooperativo die Bibliothek. Diese enthielt die einschlägigen Propagandapublikationen, aber auch italienische Klassiker und als lesenswert und erbaulich eingestufte neuere Literatur. Die Gemeinde solle durch die faschistische Zensur vor Schund und anarchistischen Schriften geschützt werden und sich im Club Cooperativo weiterbilden, argumentierten die Vertreter des Fascio . Die Maßgabe, Bibliotheken einzurichten, hatte Piero Parini erteilt. Der Fascio di Londra sah sich (gleichauf mit der Casa Italiana in Buenos Aires) als Vorreiter der Umsetzung, fördere er doch die allgemeine kulturelle Bildung der Italiani all’Estero . Rund 3000 Bände bil-deten den Anfangsbestand in London.1023 Dieses Sortiment bot einen konkurrenzlosen Zu-gang zu italienischen Büchern. Als Bildungsangebot war es zudem für all jene relevant, die aus Schwellenangst die Nutzung britischer Einrichtungen scheuten. Problematisch war die räum-lich manifestierte und durch die gezielte Auswahl der Medien sichergestellte Verzahnung von Bildung und Propaganda. Der Zugang zu diesem Bildungsangebot erforderte zumindest eine Toleranz gegenüber den Initiatoren und deren Auswahl- bzw. Zensurpolitik.

Italien als glorreiche Heimat – das war ein Topos vieler Kulturveranstaltungen und eben diese Heimat sollte auch besichtigt und erlebt werden. Entsprechende Angebote richteten sich vorrangig an diejenigen, die nicht saisonal pendelten, sondern in Großbritannien sesshaft ge-worden waren. Eine Vielzahl organisierter oder subventionierter Italienreisen für Erwachse-ne erfüllte eine ähnliche Funktion wie die Kinderferienlager: Zunächst sollten die Reisenden durch die unmittelbare Erfahrung des faschistischen Italien beeindruckt werden, dann die italienischen Gemeinden, die Geschichten dieser Erlebnisreisen hörten, lasen und tradierten. Die Zielsetzungen und Erwartungshaltungen der Organisatoren reflektierten ein politisches Sendungsbewusstsein. Mitreisende dürften oft naheliegendere Motive gehabt haben: Für viele waren organisierte Ausflüge oder Urlaube einfach ein attraktives Angebot und eine günstige Gelegenheit, Zeit mit Bekannten zu verbringen, nach Italien zu reisen, besondere Events und Sehenswürdigkeiten zu besuchen und eine Gemeinschaft zu erleben. Die Fasci all’Estero war-ben intensiv für Reisen zu faschistischen Ausstellungen wie der Mostra della Rivoluzione Fa- scista , zu kleineren Handwerksmessen, Musik- und Sportveranstaltungen oder Wettbewerben. Reduzierte Fahrkartenpreise, spezielle Reiseverbindungen oder geplante und geführte Touren, die als Gemeinschaftserlebnisse der Colonie im britischen Raum angepriesen wurden, sollten Anreize schaffen.

Die hohe Symbolfunktion, die den Italienreisen eigen war, wird am Beispiel eines „Gran-de Pellegrinaggio delle Colonie di Gran Bretagna alla Città Eterna“1024 deutlich, einer großen Pilgerfahrt der Gemeinden Großbritanniens in die Ewige Stadt. 1934 organisierte der Fascio di Londra diese Reise nach Rom für mindestens 200 Mitreisende. Als krönendes Erlebnis war eine Audienz beim Duce vorgesehen. Den Vorankündigungen und Reiseberichten mangelte es nicht an Pathos. Wie L’Italia Nostra nicht müde wurde zu betonen, sollte dies keine simple Ur-laubsreise, sondern eine wirkliche Pilgerfahrt der Faschisten aus den italienischen Gemeinden in Großbritannien darstellen. Ihre Mission sei es, dem Duce zu huldigen. Zielpunkt der Pilger-reise war der Palazzo Venezia – gewissermaßen als Wallfahrtsort der frommen Anhänger des Faschismus. Bei der Audienz, so kündigte L’Italia Nostra an, werde dem Duce ein Album mit den Unterschriften aller Italiener in Großbritannien überreicht.1025 Kern der Mission der Aus-gewählten sei es, die Italianità ihrer Gemeinden zu beweisen.

In L’Italia Nostras Ankündigungen dominierten aus religiösen Kontexten entlehnte Wendungen. Insgesamt war die Thematisierung stark emotionalisiert. Eine beinahe sinnfreie Aneinanderrei-hung von Schlagworten, eine schwülstige Rhetorik und Redundanz prägten die mediale Vermark-tung dieser faschistischen Pilgerreise. Auch das Motiv, in einer Diaspora zu leben, fand Raum:

Die Reise stellte ein Resultat und eine Inszenierung dessen dar, was Emilio Gentile als „Sacra-lization of Politics in Fascist Italy“1027 definiert: die Konstruktion einer politischen Religion, also die pseudoreligiöse Umdeutung der Politik von profan zu sakral. Spaß, Erlebnishunger oder das touristische oder kulturelle Interesse daran, Rom zu besuchen, fanden in den Ankün-digungen keine Berücksichtigung (wenngleich doch mindestens ein Tag zur freien Verfügung eingeplant war). Als intrinsische Motivation gestattete L’Italia Nostra nur die folgende: Die Reise diene der Befriedigung eines spirituellen Bedürfnisses.1028

Mit dem Reiseziel Rom annektierten die faschistischen Akteure nicht nur das Vokabular und die Semantik des christlichen Pilgerwesens, sondern darüber hinaus noch einen der wich-tigsten Orte der katholischen Kirche, ohne den Papst oder den Petersdom auch nur zu erwäh-nen. Die Città Eterna fungierte hier als Wallfahrtsort der Romanità . Die Pilger sollten selbst erleben, wie römische Vergangenheit und faschistische Gegenwart und Zukunft sich angeb-lich zusammenfügten, wie prädestiniert der Faschismus sei. Nicht weniger bedeutend war das Moment der Solidarität unter den Italienern im Ausland, denn eine Gruppe verarmter älterer Emigranten wurde eingeladen. Für sie galt nur die Voraussetzung, seit mindestens zehn Jahren nicht in Italien gewesen zu sein.1029

Ein hoher inszenatorischer Aufwand begleitete die Reise; den Nutzen schätzten die Organisa-toren aber als deutlich größer sein. Die zuvor namentlich angemeldeten 200 Mitreisenden waren eine durch den Fascio zusammengestellte Gruppe. Dies versicherten die Organisatoren gegenüber allen beteiligten staatlichen Stellen mit Nachdruck. Ausschließlich Personen, die dem Komitee des Fascio bekannt, loyal und faschistisch seien, würden zugelassen.1030 Die penible Auswahl und die gegenseitige Kontrolle der Teilnehmer sollten auch gewährleisten, dass positive Eindrücke nach der Rückkehr tradiert würden; die Medienberichte sollten die enge emotionale Verbindung zwi-schen den Emigranten und der Patria sowie zwischen den Emigranten und ‚ihrem Duce ‘ spiegeln. Der Fascio und die diplomatischen Vertretungen wiederum wollten demonstrieren, wie nah sie den Italienern in ihrem Einflussbereich standen und wie weit vorangeschritten die Faschisierung hier war. Die Reise fungierte somit auch ganz profan als ein Rechenschaftsbericht des Fascio di Londra und der Segreteria Generale . Dem übersteigerten pathetischen Ton, in dem L’Italia Nostra Reise und Audienz verklärte, steht in den Akten des faschistischen Regimes ein nüchterner, büro-kratischer Ton gegenüber. Hier erscheint die Pilgerreise als ein langatmiger Verwaltungsakt.

Interessanterweise fanden klassenspezifische Unterschiede in den Reisegewohnheiten Berück-sichtigung, denn die Veranstalter offerierten drei Preiskategorien. Während die An- und Abreise für alle gleich sein sollte, standen verschiedene Übernachtungsmöglichkeiten zur Auswahl. Die teuerste Kategorie umfasste einen Hotelaufenthalt mit voller Verpflegung. Die zweite Kategorie kam dem Motto der Pilgerreise schon näher, da sie eine Unterbringung in Konventen in Rom anbot. Die günstigste Variante sah eine Übernachtung bei Verwandten oder Bekannten der Teil-nehmer vor. In Rom sollte allen ein festlicher Empfang auf dem Campidoglio , dem Kapitolsplatz, durch den Bürgermeister und eine Auswahl von Vertretern römischer privater und öffentlicher Institutionen geboten werden. Auch der Besuch der Mostra della Rivoluzione Fascista war vorge-sehen, bei dem die Londoner Camicie Nere als Squadra die Ehre hätten, eine Wache zu halten.1031

In den Akten der Segreteria Particolare del Duce findet sich eine Namensliste der 200 Teil-nehmer – eigenartigerweise in den Akten zu Oswald Mosley. Der Bestand zu ‚Osvaldo Mosley‘, wie er hier genannt wird, erscheint allerdings insgesamt als eine unsystematische Zusammen-stellung von Informationen über die BUF, die BF und die Fasci all’Estero in Großbritannien.1032Es wäre grundsätzlich zwar denkbar, dass hier eine Kooperation zwischen italienischen Fa-schisten in Großbritannien und britischen Faschisten in einer gemeinsamen Reise und Audi-enz demonstriert werden sollte, doch die Akten legen dies nicht nahe. Das Verhältnis der BUF und der Fasci all’Estero war an der Basis nicht so eng, dass Gemeinschaftserlebnisse dieser Tragweite und Symbolwirkung viel Zuspruch gefunden hätten. Zudem hätte es das erklärte Ziel der ‚Delegation‘ der italienischen Gemeinden in Großbritannien ad absurdum geführt, ihre Italianità (also gerade ihre Distanz zur britischen Gesellschaft sowie ihren italienischen Nationalstolz) und ihre Devotion gegenüber Mussolini als alleinigem Anführer unter Beweis zu stellen. Die in den Akten enthaltene Namensliste führt nahezu ausschließlich italienische Familiennamen auf. Der Verfasser merkte an, alle Mitreisenden stammten aus dem Kreis der Repräsentanten der Fasci sowie der Organisationen und Institutionen der Italiener Londons und anderer italienischer Zentren in Großbritannien.1033

Carlo Camagna, der Segretario des Fascio , hatte in seiner zweiten Funktion als Londoner Korrespondent von Il Popolo d’Italia im August 1934 vorab einen Brief an die Redaktion in Rom geschickt, mit der Bitte, dass die Zeitung über Reise und Audienz berichten möge. Dieser Brief offenbart ein völliges Planungschaos: Camagna fürchtete eine Woche vor dem geplanten Termin, die Audienz könne ausfallen, da keine Rücksprache mit dem Büro des Capo del Go- verno mehr erfolgt sei und zur selben Zeit Militärmanöver stattfinden sollten, anlässlich derer Mussolini verhindert sein könne. Camagna sprach hier von 300 Mitreisenden.1034

Die BUF, die zu diesem Zeitpunkt noch mit den Folgen der Olympia Rally konfrontiert war, weitere Großkundgebungen plante und gerade ihr Sommercamp in Sussex abhielt, warb im Juli 1934 für eine eigene Tour nach Italien, die im Oktober desselben Jahres stattfinden soll-te.1035 Sie kopierte hier wohl die Initiative des Fascio . Ob diese BUF-Tour tatsächlich realisiert wurde, ist unklar. The Blackshirt berichtete im Nachklang nicht über eine solche Reise und in den Akten der Sicherheitsbehörden findet sich kein Hinweis dazu. Die Adaption des Dopolavoro

Der Fascio di Londra begann, wie eingangs erwähnt, um 1936/37, sein Kultur- und Freizeit-angebot in Organisationsstrukturen zu überführen, die sich an der OND orientierten und den Begriff des Dopolavoro verwendeten. Damit war er kein Einzelfall. Die Etablierung des Dopolavoro all’Estero und der Case d’Italia als Versammlungszentren der Italiener im Aus-land war insgesamt ein Prozess der zweiten Hälfte der 1930er Jahre. 1938 verzeichnete das Re-gime 280  Case d’Italia und 332 Sektionen des Dopolavoro jenseits der Landesgrenzen mit über 100 000 eingeschriebenen Teilnehmern.1036 Im Unterschied zum Dopolavoro in Italien sollte die Systematisierung im Ausland nicht nach starren Regeln erfolgen, sondern sich flexibel an lokalen Gegebenheiten orientieren. Kulturabende, Ausstellungen, Kurse, Film-vorführungen, die Einrichtung von Bibliotheken und Lesesälen, Unterstützungsleistungen, Aufklärungsvor-träge über Hygiene, die Gefahren des Alkoholismus und Krankheiten – all das, was zuvor in verschiedenen Initiativen umgesetzt worden war, sollte nun im Rahmen des Dopolavoro all’Es- tero gebündelt und neu organisiert werden.1037

Wie erläutert, waren im britischen Fall Angebote, die den Konzepten des Dopolavoro äh-nelten, schon seit den 1920er Jahren übernommen oder geschaffen worden. Der Segretario der Glasgower Parteizelle rühmte sich 1929, im Vorjahr den Ausbau dieser Institution mit allen Mitteln vorangetrieben zu haben. In seinem Bericht offenbart sich allerdings ein latentes Un-behagen an der Motivation vieler Teilnehmer. Je unpolitischer und zwangloser die Veranstal-tungen waren, umso größerer Beliebtheit scheinen sie sich erfreut zu haben. Der politische Charakter und der erzieherische Impetus anderer Angebote kamen wohl eher einem Hinder-nis bei der Mobilisierung gleich. So argumentierte der Segretario , da vor allem die Tanzver-anstaltungen äußerst populär gewesen seien, habe er strukturelle Änderungen vorgenommen, um dem Angebot einen familiäreren und ernsthafteren Charakter einzuhauchen. Auch habe er Mitgliedsausweise eingeführt, um kontrollieren zu können, wer teilnehme. Dies solle die Moral wahren.1038 Hier zeigt sich eine Grundproblematik, die auch bei den britischen Faschis-ten zu internen Konflikten, Spannungen, Kurskorrekturen und Mitgliederschwankungen füh-ren sollte: Die verantwortlichen Vertreter der Parteien scheuten die Öffnung in den wirklichen Freizeitbereich und zur britischen Konsumkultur, da sie eine Aufweichung des Politischen durch dessen Übertragung in politikfernere Lebensbereiche fürchteten. Ihr Schreckenssze-nario scheint ein Verlust des angeblich außergewöhnlichen ‚faschistischen Spirits‘ durch ein Abgleiten in Trivialität gewesen zu sein (vgl. Kap. 4.4).

Die Repräsentanten der Fasci waren also mit der Erkenntnis konfrontiert, dass, je legerer und moderner eine Veranstaltung daherkam, sie umso populärer unter den jungen Italie-nern war, umso weniger aber den politischen Anspruch vermitteln konnte. Einer konservati-ven, reaktionären Haltung Ausdruck gebend, bewerteten Vertreter der Fasci Tanzveranstal-tungen als eine ernste Gefahr für die Moral und die Sitten. Auffällig ist, dass das politisch gewollte Prinzip der Geschlechtertrennung in der Freizeit nicht durchgesetzt wurde. Eine stärkere Betonung als beim Dopolavoro in Italien fand in den Auswanderergemeinden der Familialismus. Viele Freizeit-, Bildungs- und Kulturveranstaltungen der Gemeinden im Ausland priesen die Familie als einen Hort der Italianità und waren als Familienveranstal-tungen konzipiert.

Spezifisch italienische Sportgruppen, Studienzirkel oder Theater- und Musikgruppen exis-tierten, wie erwähnt, in den italienischen Gemeinden in Großbritannien spätestens seit den 1880er Jahren, ebenso wie Clubs, die einen eher zweifelhaften Ruf genossen. Als Gegenmaß-nahmen zu Letzteren gründeten Privatpersonen oder Vereinigungen, die einen respektableren Lebensstil proklamierten, eine ganze Reihe von Freizeiteinrichtungen und Interessenvertre-tungen, einige als Variante der britischen Working Men’s Clubs . Die Londoner Società Italiana di Mutuo Soccorso , eine kooperative Vereinigung für Köche und Kellner, richtete bereits in den 1890er Jahren eine Gruppe für das Mandolinen-Spiel, den Circolo Mandolinista, den Radfah-rertreff Veloce Club und eine Gruppe für die an Kulinarik Interessierten ein. Theatergruppen wurden ins Leben gerufen, ebenso Chöre und kleinere Gesangsvereine. Auch ein Cricket-Club und eine Blechbläser-Band wurden gegründet.1039 Ebenso formierte sich in diesem Kontext die erste Freimaurer-Gesellschaft in der italienischen Gemeinde, motiviert durch die Forderungen von Hoteliers und Restaurantbesitzern, man müsse sich stärker mit der Geschäftswelt außer-halb vernetzen und zu diesem Zweck geselliger werden.1040 Viele Vereine bestanden unter dem Einfluss des Fascio di Londra weiter, der damit an ihren etablierten guten Ruf anknüpfte. In anderen Fällen unterstützte er die räumliche und programmatische Zusammenlegung einst-mals konkurrierender Clubs. Der Unione-Roma Club kam dadurch 1933 auf eine Mitglieder-zahl von 300. Er organisierte Wohltätigkeitsveranstaltungen, Feste, Ausflüge, Rundfahrten und Sportwettkämpfe.1041 Über die Zeitung der italienischen Gemeinde warben die Fasci für die Auftritte und Treffen der lokalen Gruppen und betonten dabei oft deren Wert für den Erhalt der Italianità . Aus der Kooperation von faschistischer Partei und Freizeit- und Kultur-Vereinigungen konnten beide Seiten Profit schlagen. Die Partei gewann Anschluss an Kreise oder Milieus, die ihr in politischer Hinsicht gleichgültig oder skeptisch gegenüberstanden, die Vereinigungen erhielten im Gegenzug Unterstützung, Werbung und die Scheinlegitimation, von der faschistischen Partei als des ‚neuen Italiens‘ würdig klassifiziert worden zu sein.

Letztlich handelte es sich um eine Infiltration unpolitischer Vereinigungen durch eine Par-tei, die eigentlich in diesem Territorium keine Befugnisse für eine Kulturpolitik hatte, ge-schweige denn für eine exterritoriale Innenpolitik, die sie nun betrieb. Sie gewann Einsicht in Vermögensstrukturen, in Netzwerke und – über die Einschleusung von Parteimitgliedern in die Interessenvertretungen und korporativen Einrichtungen einzelner Wirtschaftsbereiche – auch Einblick in Firmeninterna. Sie bestimmte Inhalte mit, übte eifrig Zensur und Kontrolle aus, verdrängte unliebsame Mitglieder aus den Komitees und schaltete gleich. Über die Ko-operation mit der Italienischen Botschaft und den Konsulaten hatte sie zusätzliche Druck-mittel, die den Handlungsspielraum des Regimes auf nicht-italienischem Gebiet deutlich ver-größerten. Ihre Kontrolle über einzelne Berufsgruppen erleichterten Vereinigungen wie die Società Italiana di Pettinatura (die Italienische Gesellschaft der Frisur) oder die Associazione dei Gelatieri (die Vereinigung der Eisverkäufer). Erstere wurde 1927 gegründet und ihr Sitz im Club Cooperativo eingerichtet. Sie sollte als Interessenvertretung der italienischen Damen-friseure in Großbritannien fungieren, die Ausbildung vor Ort standardisieren, Wettbewerbe und Ausstellungen ausrichten oder eine Teilnahme ihrer Mitglieder ermöglichen und un-erwünschte Anbieter vom lokalen Markt fernhalten. Die Associazione dei Gelatieri war 1918 gegründet worden. Angeführt wurde sie von Achille Pompa. Neben verpflichtenden Standar-disierungen setzte sie Interessen ihrer Mitglieder gegenüber britischen Behörden durch. Mit ihren 4200 Mitgliedern verfügte sie durchaus über politisches Gewicht.1042 Durch die Nähe zur Partei waren diese zunftähnlichen Vereinigungen zugleich ein potenzielles Einfallstor politi-scher Gesinnungskontrolle.

Das dopolavoristische Sportangebot gewährleistete der Fascio di Londra durch seine Kontak-te zur Banca Commerciale Italiana , die ihm den Sportplatz in Edgware zur Verfügung gestellt hatte. Hier fanden zusätzlich zu den Kursen der Kinder und Jugendlichen Leichtathletikkur-se und Speerwurf-, Fußball- und Volleyballtraining statt sowie die repräsentativen Großver-anstaltungen wie die Leva Fascista und kleinere Sportwettkämpfe der Dopolavoro -Gruppen. Dabei verwischten die Grenzen zwischen den Jugend- und den Freizeitorganisationen der Er-wachsenen. Die OGIE-Mannschaft der älteren männlichen Jugend trat hier in Fußballturnie-ren gegen inoffizielle italienische Betriebssportgruppen an. Im März 1934 berichtete L’Italia Nostra über das Fußballmatch der OGIE und der Mannschaft Ritz Hotel II . Dabei schürte sie die Konkurrenz zwischen den jungen Erwachsenen und den Jugendlichen: Der sportliche Erfolg der Jugend sei auf das konsequente Training in der faschistischen Jugendorganisation zurückzuführen. Die Jungen hätten vor den Augen der vielen italienischen und britischen Zu-schauer einen Beweis ihrer Disziplin geliefert.1043

In den Sportberichten L’Italia Nostras ist ein eigentümliches Verhältnis zum britischen Sport und zum Thema fair play zu finden. Einerseits war der Sport einer der wenigen Bereiche, in dem Kommentatoren der britischen Gesellschaft eine Vorbildfunktion attestierten, während sie sonst oft deren kulturelle Minderwertigkeit behaupteten; andererseits unterstellten Auto-ren, der britische Sportsgeist sei ein Mythos, den die Briten zu Unrecht pflegten. Anlässlich ei-nes italienisch-britischen Boxturniers im Blackfriars Ring, bei dem viele Botschaftsangehörige und Vertreter der Gemeindeinstitutionen anwesend waren, echauffierte sich der Kommentator L’Italia Nostras , der Ausgang der Kämpfe (zwei italienische Siege, zwei unentschiedene Aus-gänge und vier Siege der britischen Boxer) sei durch die britischen Ringrichter manipuliert worden oder er sei Resultat der unfairen britischen Wertungsrichtlinien, die nicht dem inter-nationalen Standard entsprächen.1044 Sogar solch profane Veranstaltungen wurden mit einem höheren Zweck in Verbindung gebracht – diskursiv, aber auch praktisch, denn die Einnahmen erhielt der Fascio di Londra , der sie als Spenden für das Hospital und die Kinderferienlager verwaltete.1045

1932 formierte sich ein größerer Sportverband, der Club Sportivo Italiano oder Italian Spor- ting Club . In seiner Eröffnungsrede erklärte das Komitee des Clubs, dieser werde ein ‚Zentrum der Körperkultur für die Italiener Londons und ihre englischen Freunde‘.1046 Wie der Name vermittelte, war er zunächst binational konzipiert, als ein an Italiener und Briten gerichtetes Angebot. Treffen und Vorführungen wie Tänze, Florett-Kämpfe, Fechtturniere und Boxkämp-fe hielt der Italian Sporting Club allerdings im Club Cooperativo ab, einem Ort, der schon recht exklusiv italienisch war.1047 Es fällt auf, dass L’Italia Nostra oft seinen englischen Namen nutz-te – eine zumindest skurrile Anekdote angesichts der zeitgleichen omnipräsenten Betonung der Italianità .

Im Mai 1933 kündigte die Zeitung eine Sportgroßveranstaltung als italienisch-britische Ko-operation an. Die Manifestazione di Atletica sollte im White City Stadium stattfinden. Die Patenschaft für diesen Athletik-Wettbewerb hatte Botschafter Grandi übernommen, der, wie die Zeitung berichtete, dafür Sorge trage, dass angemessene Preise verliehen werden könnten. Er werde besondere Pokale und Medaillen überreichen, welche die Namen des italienischen Königs, des Duce und des Botschafters sowie des Marchese Marconi (der als Unternehmer lo-kal großes Ansehen genossen hatte) trügen. Dadurch werde neben dem hohen künstlerischen Anspruch der Veranstaltung auch der hohe moralische Wert sichtbar.1048 Der Sportwettbewerb erhielt damit wie seine Vorbilder in Italien eine nationale Bedeutung und faschistische Wei-hen. In Italien nahmen derweil immer mehr Sportgruppen des Dopolavoro all’Estero an den großen Sportwettkämpfen und Manifestazioni , also den durchinszenierten Massenevents, teil. So listeten Berichte über die Sieger des Concorso Ginnico Atletico 1935 Preise für Teilnehmer aus Frankreich, den Vereinigten Staaten, der Schweiz, Ägypten, der Türkei und Ungarn auf.1049

Piero Parini bezeichnete die neuen Sektionen des Dopolavoro all’Estero als Förderer von Theater, Musik und Sport. Jugendliche und Erwachsene fänden in diesen eine ehrbare und patriotische Zerstreuung und erlebten eine typisch faschistische Art des Zusammenhaltes.1050

Für den britischen Fall zeigte sich in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre ein deutlicher Stimmungsumschwung, als die Tendenz der Abschottung zunehmend den Bereich des Ama-teursports erreichte. Während zuvor die Öffnung der Veranstaltungen für ein britisches Pub-likum oder für britische Teilnehmer proklamiert worden war, wurde die Zielgruppe nun be-grenzter, der Zugang exklusiver und der gepriesene Zusammenhalt zu einer Geschlossenheit gegen eine feindliche Atmosphäre uminterpretiert. Dopolavoro zwischen Abschottung und Repräsentation

Die polarisierenden Erfahrungen, die viele Italiener in Großbritannien nach dem italienischen Überfall auf Abessinien und während der Sanktionen 1935/36 machten, wirkten in der Ge-meinde nach. Die Fasci schlugen Kapital aus den Ausgrenzungen und Anfeindungen durch britische Mitbürger und andere Einwanderer und verorteten die Schuldigen in der britischen Politik. Der verstärkte Positionierungsdruck beschleunigte Spaltungen innerhalb der italieni-schen community und verlieh der Frage nach Sympathien Brisanz.

Die Fasci erklärten die moralische und materielle Unterstützung Italiens zur Pflicht der Italiani all’Estero und stilisierten sie zu einer Charakterfrage und einem Gradmesser der Italianità . Mit hohem inszenatorischen Aufwand beteiligten sich die Parteizellen und die beigeordneten Institutionen an der Giornata della Fede , der Ehering- bzw. Gold- und Edel-metallsammlung zugunsten des italienischen Regimes. Dies stellte eine deutliche Provokation gegenüber der britischen Politik und Öffentlichkeit dar. Die Sammlung entwickelte sich in der Folge zu einem beliebten Thema der Fasci , symbolisierte sie doch die Geschlossenheit der Ita-liener gegenüber den als Angriff bewerteten Sanktionen. Im Januar 1936 präsentierte L’Italia Nostra ganzseitig eine Namensliste der Spender und der Summen.1051 Lucio Sponza führt an, dass sich die Sammlung in London nicht allein in propagandistischer, sondern auch in finanzi-eller Hinsicht gelohnt habe: „Italians in London alone contributed with ‘£7,313 [in banknotes]; £670 in golden coins and 31 kilograms of various golden items.“1052

Das Projekt zu einer Casa del Littorio in Soho profitierte erheblich von dieser Ausgangslage. Die Propaganda, mit der die sichtbare Repräsentation und die Visualisierung des Machtan-spruchs des ‚neuen Imperiums‘ zu einer Frage der Würde erhoben wurde, fiel auf fruchtbaren Boden. Als luxuriös und zugleich martialisch wirkender Versammlungsort sollte sie, nach den Vorstellungen Grandis, den Italienern in London einen Raum bieten, für den sie von den Bri-ten respektiert oder von ihnen beneidet würden. Die Casa del Littorio bedingte die Auflösung des Club Cooperativo . Das Haus in der Charing Cross Road 4–6 sollte eine Verschmelzung von Parteisitz, Verwaltungsgebäude und Freizeitzentrum werden. Der zentrale Saal, durch ein Ves-tibül zugänglich, sollte achtzehn Meter hoch und mit einem Glasdach versehen sein. Das Frei-zeitzentrum sollte in mehreren Galerien für alle Aktivitäten, Zusammenkünfte und Treffen Platz bieten: auf der untersten Ebene eine Küche, eine Bar, ein Billardsalon, zwei Spielsäle, ein grill-room und ein Café; in der Hauptebene dann der große Versammlungsraum für Bankette, Bälle, Konferenzen, Konzerte und alle Dopolavoro -Veranstaltungen sowie im Obergeschoss Lesesäle, Spielzimmer, eine Bühne für Orchesterauftritte und ein Filmraum für die kinema-tografischen Vorführungen. Auch ein großes Restaurant im Erdgeschoss war vorgesehen. In der Büroetage residierte nicht nur der Fascio , sondern ebenso die bereits gleichgeschalteten Institutionen, Gesellschaften und Vereine.1053

Der Bau des Hauses, dessen Eröffnungsdatum im Mai 1937 durchaus symbolträchtig war, da es pünktlich zum ersten Jubiläum der ‚Gründung des italienischen Imperiums‘ fertiggestellt sein sollte, wurde über Beiträge und Spenden aus der Gemeinde mitfinanziert. Propagandis-tisch hatte L’Italia Nostra gefordert, die Italiener in Großbritannien müssten das Haus zu einer würdigen Zentrale machen, die die anderen Case del Littorio im Ausland übertreffe.1054 Der Anspruch, der neuen imperialen Identität Italiens Rechnung zu tragen, wurde plakativ mani-festiert, denn der große Saal wurde zur Sala dell’Impero , zum Saal des Imperiums, ernannt. In der Rückschau verklärte die Guida Generale degli Italiani in Gran Bretagna die Eröffnung der Casa del Littorio zu einer Wiederauferstehung der italienischen Gemeinde, zu einem Meilen-stein des Aufstiegs, den die colletività auf fremdem Boden, der terra britannica , erreicht habe. Diese kollektive Aufwertung müsse sich nun durch die Weiterentwicklung der korporatisti-schen Strukturen fortsetzen. Die Casa del Littorio habe es ermöglicht, endlich dem Dopola- voro eine Heimat zu geben. Der Dopolavoro -Gedanke sei im Circolo del Littorio verwirklicht worden. Er sei sogar nach britischem Recht als ein Verein eingetragen.1055 Einige Sektionen des Circolo del Littorio traten nun in Wettkämpfen und Turnieren gegen andere Dopolavoro -Sektionen in Großbritannien oder in Italien oder gegen britische Vereine an; der Fascio hatte auf Initiative Camagnas zugleich die Kosten für den Sportplatz in Edgware, den bis zu diesem Zeitpunkt die Banca Commerciale Italiana finanziert hatte, übernommen.

Die endgültige faschistische Vereinnahmung des Club Cooperativo rief in der Gemeinde auch Kritik hervor. Der Botschafter bezog dazu Stellung. Claudia Baldoli zufolge argumentier-te Grandi, der Club sei ein Produkt des Ottocento gewesen und man habe in jenem vergangenen Jahrhundert verharrt. Nun müsse der Geist des Imperiums alle Italiener erfassen und sie an die Heimat binden. Es reiche nicht mehr aus, eine Revolution und ein Regime zu akzeptieren, nun sei es an der Zeit, den Mut und das Verantwortungsgefühl zu haben, das eigene Schicksal mit dieser Revolution zu verknüpfen.1056 In der Folgezeit wurden weitere Dopolavoro innerhalb der etablierten Organisationen gegründet, so etwa der Dopolavoro Mazzini Garibaldi . Im Sommer 1937 verzeichnete der Circolo del Littorio 940 Mitglieder, der Dopolavoro Mazzini Garibaldi 210 und die Sportsektionen in Edgware 236.1057

In anderen britischen Städten erfolgte die Einrichtung nach demselben Muster. Der Fascio von Glasgow, der selbsternannte Vorreiter in der Adaption, legte in einer Casa d’Italia 1935 lokale italienische Organisationen zusammen, darunter eine seit 1891 existierende Società di Mutuo Soccorso und eine 1928 gegründete Vereinigung italienischer Einzelhändler sowie die italienischen Sprachschulen und die Società Dante Alighieri , die Vereinigung der ex combat- tenti und die Scoto-Italian Society .1058 Er sicherte sich so eine engmaschige Kontrolle. Während Terri Colpi die Casa als „an enormously beautiful building in the prestigious location of Park Circus“1059 beschreibt und sie allzu unkritisch als ‚social club‘ mit einem ‚patriotic aspect‘1060einordnet, wertet Gavin Bowd sie als ein sichtbar faschistisches und den Imperialismus glorifi-zierendes Versammlungszentrum.1061 Geselligkeit und Propaganda waren in den Case d‘Italia nun untrennbar verknüpft.

Auch für die Entwicklungen in Cardiff lässt sich ein nicht nur zeitlicher Zusammenhang zwischen dem Erwerb eines Hauses, das in eine Casa d’Italia umgebaut wurde, und dem Abes-sinienkrieg erkennen. Der lokale Fascio gab freimütig zu, die Erfahrung aus Sanktionen und Ausgrenzung sowie der ‚Sieg des faschistischen Italien‘ und die ‚Gründung des Imperiums‘ hätten als Katalysator gewirkt:

In Southampton löste die Casa d’Italia 1935 den auf private Initiative eines Unternehmers ein-gerichteten Versammlungsort ab, führte alle lokalen Organisationen zusammen und war zu-gleich Sitz des Konsulats.1063 Damit war die Vermischung von Parteisitz, Fürsorgeeinrichtungen, Dopolavoro und diplomatischen Vertretungen vollzogen. Dass die Etablierung dieser Häuser, die systematisch erfolgte und Teil der seit Mitte der 1930er Jahre forcierten Militarisierung der italie-nischen Gesellschaft und Visualisierung des imperialistischen Herrschaftsanspruchs war, häufig als Eigeninitiative der italienischen Gemeinden präsentiert wurde, sollte wohl dem Selbstwert-gefühl ortsansässiger Italiener schmeicheln, die durch ihre Spenden Kauf und Umbau mitfinan-zierten. Die Faschisierung erschien als ‚von unten‘ gewollt und getragen. In weniger dicht besie-delten Gebieten mit einer kleineren italienischen community und dementsprechend begrenzten Möglichkeiten einer faschistischen Vergemeinschaftung, wie etwa in walisischen Küstenregio-nen, organisierte das italienische Konsulat Ausflüge und Freizeitaktivitäten:

Der Londoner Fascio hatte mit der pompösen Casa del Littorio nun eine symbolische Ma-nifestation seines totalitären Anspruchs. Dies konnte aber nicht verhindern, dass er in eine finanzielle Schieflage geriet und 1938 den Betrieb des Restaurants nur noch durch Spenden der Alpini und der korporativen Associazione Caffettieri aufrechterhalten konnte.1065 Die Fasci verzeichneten nach dem Zustrom während der Abessinienkrise in den späten dreißiger Jahren wieder Rückgänge in den Mitgliederzahlen. Ähnlich wie die BUF versuchten sie einem Ein-flussverlust entgegenzuwirken, indem sie sich Milieus zuwandten, in denen sie zuvor weniger Rückhalt genossen hatten. Sie verstärkten ihre sozialpolitische Agitation und nahmen nun die Arbeiter stärker in den Fokus. Die Inszenierung einer kollektiven Identität und ihre Folgen

In einem öffentlichen Raum, in dem sie faktisch nur begrenzte Handlungsbefugnisse hatten, formten die Fasci all’Estero , ihre Vertreter und Mitglieder, die Organe in Italien, die Kultur-, Bildungs- und Fürsorgeeinrichtungen und die diplomatischen Vertretungen eine faschisti-sche Kulturpolitik, die eine Überbetonung des Performativen und der Repräsentation auf-wies. Die Monopolisierung und Ritualisierung des Freizeitangebotes trug entscheidend dazu bei, dass faschistische Deutungen einer kollektiven Identität und der vermeintlich aus ihr folgenden Loyalitätsverpflichtungen des Einzelnen Akzeptanz und Unterstützung fanden. Performanz war nicht bloßes Beiwerk einer Art Lokalpolitik, sondern ein dominierender In-halt. Die faschistischen Akteure nutzten zur Einnahme des imaginiert separaten öffentlichen Raumes der Italiener im Ausland eine Politik, die mit emotional aufgeladenen Begriffswelten operierte: Herkunft, Abstammung, Rasse, Nation, Heimat und Tradition schienen ebenso Implikationen der Italianità zu sein wie Stolz, Würde und Überlegenheit oder Disziplin, Ein-mütigkeit und Opferbereitschaft. Begriffskonstruktionen wie la colletività, la colonia italia- na oder la comunità italiana all’estero schienen Zusammengehörigkeit, Zusammenhalt und Konsens sprachlich abzubilden. Die Symbolsprache und die Symbolismen ragten aus den Diskursen in konkrete Bildungs-, Kultur- und Freizeitangebote und damit in Vergemein-schaftungsprozesse hinein. Hier kam eine symbolische Politik zum Tragen, eine „strategi-sche Kommunikationsverzerrung zu Herrschaftszwecken“1066. Die italienischen Faschisten lenkten die Kommunikation innerhalb der Gemeinden im Ausland durch die Einnahme der zentralen Medien und Foren und agierten mit der Zielsetzung, Deutungshoheit zu erlangen und so den Faschismus und die Diktatur in Italien in der Wahrnehmung der Emigrierten zu normalisieren und zu bewerben. Performanz, Symbole, Rituale und inszenatorische Mittel spielten dabei eine wichtige Rolle. Durch sie verschwamm eine politische Kultur mit einer vorgeblich unpolitischen:

Faschistische Ideologie erhielt in der übergriffigen Kulturpolitik der Akteure um die Fasci all’Estero eine Scheinlegitimation als die konsensbasierte Weltanschauung der Italiener. Tho-mas Meyer bewertet solche Realitätsverzerrungen als das Wesen der Ideologie, da sich in ihr Teilinteressen als allgemeine Erkenntnisinteressen tarnten und sie die Interessen, die sie lei-teten, der Diskussion entziehe.1068 Neben der Ideologie sei der Schein – „eine Suggestion von Wirklichkeit“1069 – als zweite spezifische Verzerrung wirkmächtig: „Ideologien können große Mehrheiten täuschen, auch wenn sie widerlegt sind. Der Schein kann sie blenden, auch wenn er längst durchschaut ist.“1070 Die Kultur- und Freizeitpolitik der Fasci all’Estero operierte oft mit dem Schein. Sie war weniger explizit ideologiebezogen oder auf die Vermittlung konkreter faschistischer Politik ausgerichtet als auf die Konstruktion und Lenkung einer diffusen Er-fahrungswelt des Faschismus und der Nation. Sie erzeugte Bilder, Eindrücke und Emotionen, deren Deutung sie vorgab, während sie anderslautenden Deutungen mit Repression begegnete oder deren Urheber zu diffamieren suchte. Die mediale Inszenierung dieser Erfahrungswelt verharrte in einer sprachlichen und bildlichen Unschärfe, die der nostalgischen Verklärung der Heimat durch die Emigrierten entgegenkam. Diese Erfahrungswelt mobilisierte, ohne die Ziele und die Konsequenzen zu explizieren. Die Mobilisierung und Politisierung verstärkte sich, wenn in alternativen Erfahrungsräumen, also in anderen gesellschaftlichen Kontexten, die Zugehörigkeit und Integration der Betroffenen in Frage gestellt wurden und Ausgrenzung aufgrund des Einwanderungshintergrundes nicht mehr nur latent, sondern manifest wurde. Den Identitätsnarrativen der faschistischen Akteure und ihrer Vereinnahmung der italieni-schen Auswanderer spielte dies in die Hände.

Wie sehr innerhalb der italienischen Gemeinden die Vermischung von Politisierung, Mo-bilisierung und Freizeiteinrichtungen vorangeschritten war, bemerkten britische Medien im Herbst 1935, als Italien Abessinien angriff. Eine offiziell als Solidaritätsbekundung für Italien benannte Veranstaltung im Club Cooperativo , zu der Botschafter Grandi mit seiner Ehefrau erschien, erregte überregional Aufmerksamkeit. Die Times referierte eine inoffizielle Stellung-nahme aus der Botschaft, es handle sich um eine weltweite Aktion der italienischen Gemein-den, die sich zeitgleich zu einer Rede Mussolinis in Rom einfänden, um in Anwesenheit der höchsten diplomatischen Vertreter Solidarität zu demonstrieren. Es seien zudem alle im Aus-land lebenden Italiener aufgerufen worden, eine Gehorsamsbekundung per Telegramm an die faschistischen Behörden in Rom zu senden.1071 Der Manchester Guardian brichtete, das nächst-gelegene Telegrafenamt hätte eine Notfallmannschaft einberufen müssen, um dem Ansturm Herr zu werden.1072 Diese als Mobilisierungsmaßnahme und durchaus als Provokation der je-weiligen host countries intendierte Inszenierung könnte fast als symbolische Politik ‚von unten‘ gesehen werden, doch der Marschbefehl zu diesem Akt erfolgte von oben. Der Besitzanspruch des Regimes gegenüber seinen Staatsbürgern und deren Nachkommen im Ausland, den es durch die konsularischen Dienste ohnehin verstärkt deutlich machen konnte, manifestierte sich hier in der noch symbolischen Ankündigung von Einberufungen.

Der Winston Churchill zugeschriebene Ausspruch ‚Collar the lot!‘ macht die Konsequenzen einer auch von außen als solche wahrgenommenen kollektiven Identität besonders deutlich. Die Einkreisung einer als ‚Pack‘ oder ‚Haufen‘ titulierten gesellschaftlichen Gruppe als Vor-stufe zur Verhaftung offenbart nicht nur die Abkehr von rechtsstaatlichen Grundsätzen durch eine entindividualisierende Vorverurteilung, sondern auch eine sozial diskriminierende Sicht-weise auf die Betroffenen, einen despektierlichen Blick auf eine Gemeinschaft, die als Gefahr gedeutet wird. Der Untergang der Arandora Star , des Schiffes, das zur Deportation von 1500 als Gefährder eingestuften sogenannten enemy aliens nach Kanada eingesetzt worden war, und die darauf folgende frappierend gleichgültige Behandlung der traumatisierten Überleben-den und der Angehörigen Vermisster und Verstorbener legte noch deutlicher die Empathie-losigkeit britischer Behörden und weiter Kreise der Mehrheitsgesellschaft offen. Das Freund-Feind-Schema, das die Wahrnehmung einer kollektiven feindlichen Identität reflektierte, dominierte nun die Sicht auf Personen, die jahrelang oder schon seit Generationen Teil der Gesellschaft gewesen waren. In zeitgenössischen Zeitungsartikeln über Ausschreitungen in Soho gegen italienische Bewohner und Geschäftsinhaber, über die Internierung und über die Arandora Star finden sich zahlreiche Belege des Stimmungswandels und der undifferenzierten Stigmatisierung, aber auch eines Diskurses über Rechtmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit der Festnahmen und Verschiffungen. In den Akten des britischen Inlandsgeheimdienstes über die als extremistisch eingestuften Italiener sind die chaotischen Zustände der Verhaftungen, eine tiefe Skepsis gegenüber Unschuldsbeteuerungen von Betroffenen und eine sich verselbststän-digende bürokratische Gleichgültigkeit im Hinblick auf die nach dem Unglück als vermisst Geltenden dokumentiert.1073

Dass der Staat in der Kriegssituation den Schutz seiner Bevölkerung vor im Land befindli-chen potenziellen Extremisten und Kollaborateuren mit feindlichen Regimen als vorrangig erachtete und dabei so weit ging, seine eigenen demokratischen Werte zu verneinen, hatte angesichts einer nicht immer faktenbasierten Identifizierung vermeintlicher Feinde dramati-sche Folgen. 1940 kam es zu gewalttätigen Ausschreitungen in Soho, die, wie Judith Walko-witz resümiert, entgegen zeitgenössischer Medienberichte tatsächlich einen längeren Vorlauf hatten:

Der Untergang der Arandora Star und die Internierungen sind für Wendy Ugolini eine Ursa-che dafür, dass in Teilen der italienischen Gemeinden verklärende Sichtweisen auf die Faschi-sierung begünstigt wurden. Die Wirkmächtigkeit des durch die Katastrophe zementierten Opfernarrativs habe eine realistischere Sicht auf die Handlungsoptionen der Italiener in Groß-britannien in der Zwischenkriegszeit und auf Spaltungen der Gemeinden entlang ideologi-scher Linien behindert.1075

In jedem Fall hatte der italienische Faschismus durch vereinnahmende Rituale, unpolitisch scheinende Zusammenkünfte, sportliche und kulturelle Gemeinschaftsaktivitäten, Reisen und Bildungsangebote den lokalen italienischen oder italienisch-britischen Alltag so weit durchdrungen, dass dieser nicht mehr privat, sondern öffentlich und politisch war, dass vie-le italienische Einwanderer den Faschismus mit Italianità identifizierten und dass ihm viele aufgrund seiner materiellen und immateriellen Zuwendungen mit Zustimmung oder Naivität begegneten. Zugleich bewirkte die Durchdringung des nur scheinbar Unpolitischen, dass die Frage nach Loyalitäten das Gemeinschaftsleben dominierte und der Druck zur Positionierung und zur Identitätsfestlegung sogar für diejenigen stieg, die sich ihm eigentlich gar nicht aus-gesetzt gesehen hatten.

4.4 Die British Union of Fascists und die faschistische Freizeit: zwischen Öffnung und Exklusivität

Mit diesen Worten kommentierte Oswald Mosley im Mai 1935 eine Maßnahme, die bereits in vollem Gange war, nämlich die Schließung oder Umwidmung von Clubräumen, die von Zweig-stellen der BUF landesweit genutzt worden waren. Finanzielle Schwierigkeiten und mangelnde Wahlerfolge hatten bedingt, dass die BUF-Führung die Reißleine zog. Tatsächlich kam hier eine tieferliegende Haltung an die Oberfläche, die mit der Selbstbeschreibung als modern movement unvereinbar war: Die Führung dieser Bewegung haderte merklich mit der Geselligkeit, die Mit-glieder kultivierten, mit deren spontanen Treffen, mit den gemeinsamen Freizeitaktivitäten, folglich also mit der Verselbstständigung der Bewegung und deren Aufbau von unten.

Das Zitat ist ebenso anschaulich wie entlarvend. Denn: Was ist eine natürliche Tendenz einer künstlich geschaffenen Identität? Inwiefern unterscheiden sich Blackshirts von anderen Zeitgenossen in dem Bedürfnis nach Vergesellschaftung? Steht hier eher das allzu ungezwun-gene, profane Zusammenkommen im Fokus der Kritik?

Das „to hive“1077 als Ableitung von the hive , der Bienenkorb, lässt die Assoziation entste-hen, die Schwarzhemden schwärmten wie Bienen ein und aus. Als negativ bewertete Mosley, wohl repräsentativ für weitere Stimmen aus dem Hauptquartier, dass Mitglieder sich nach Lust und Laune vor Ort einfänden, die Branches im übertragenen Sinne vor trivialen Aktivi-täten brummten. Die Botschaft, das Zusammenkommen sei dann gut, wenn es reguliert werde und einen unmittelbaren Zweck erfülle, ist symptomatisch. Was Mosley hier forderte, waren einerseits klare Organisationstrukturen und Disziplin, andererseits eine Beschränkung auf öf-fentlichkeitswirksame performative Akte, auf Rituale und auf das Training, das die physische Stärke als Symbol der Schlagkraft der Bewegung erhöhen sollte. Doch wenn sich die Bewegung nur zum sporadischen Aufmarsch einfände, inwiefern wäre sie dann tatsächlich noch eine soziale Bewegung? Die Drohung, die bei den Aufmärschen mitschwang, war schließlich jene, hier formiere sich eine radikale Parallelgesellschaft.

Das gesellschaftliche Leben, das sich inmitten der Anhänger des britischen Faschismus ent-wickelte, passte nicht zur ideologischen Sicht auf die Freizeit. Zudem schien es den Kontroll-anspruch der Zentrale zu gefährden. Banaler war die Problematik, dass das Vergnügen der Mitglieder sich nicht unmittelbar in Wahlerfolgen und einem Geldzustrom auswirkte. Nach kurzer Zeit rückte die Parteiführung wieder von der Beschneidung der Freizeitaktivitäten ab, verstärkte aber das Inszenatorische. Das paradoxe Muster setzte sich fort, denn auch nach die-ser Episode baute die Bewegung das Freizeitangebot aus und haderte zugleich damit.

Die BUF geriet, wie ihr italienisches Pendant, an ein immanentes Problem des vorgeblich unpolitischen Politischen: Je attraktiver sie Mitgliedern als eine Art Verein erschien, desto stärker stellte sie ihren Anspruch in Frage, als Partei politische Macht anzustreben. Je stärker sie auf Disziplin und Ernsthaftigkeit pochte und sich auf konkrete politische Themen fokus-sierte, desto weniger schien sie geeignet, über den Kern ihrer rechtsradikalen Anhänger hinaus Sympathisanten an sich zu binden.

Gemeinschaftsaktivitäten waren für den Zusammenhalt der Bewegung überaus wichtig. Sie halfen, ideologische Widersprüche und Bruchlinien zwischen unterschiedlichen Flügeln zu übertünchen, und sie gaben dem Anspruch, als modern movement die politische, geistige und kulturelle Heimat ihrer Mitglieder sein zu wollen, einen Rahmen. Ebenso überdeckten sie Misserfolge der Machtgenerierung: Erschien der britische Faschismus seinen Anhängern als ganzheitlicher Lebensstil, so fanden sie sich womöglich eher mit seinem geringen politischen Einfluss ab.

Dem Problem der Profanität kam die BUF bei, indem sie propagandistisch ihre Aktivitäten überhöhte: Diese dienten gerade nicht der Erfüllung individueller Bedürfnisse, sie seien viel-mehr Training für den Ernstfall und Einsatz für ein höheres politisches Ziel. Die Bewegung behauptete mit Vehemenz die Singularität des Angebotes, während sie unumwunden etablier-te und neue populäre Freizeitbeschäftigungen kopierte und sie mit einem ideologischen An-strich versah. Sie erklärte offenkundig internationale Trends zu genuin britischen Traditionen und zu einem Teil ihres nationalistischen Projektes, Großbritannien wieder zu historischer

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Größe zu verhelfen. Die ideologische und inszenatorische Untermalung der Aktivitäten war so ausgeprägt, dass sie zu einem Inhalt mutierte. Faschistische Freizeit war in der BUF nicht selten Faschismus als Freizeitbeschäftigung. Das Performative stellte eine Attraktion dar und wurde zum geteilten Interesse vieler. Freizeit als Erprobungsfeld eines new social sense

Wie wirkte sich die Vision einer Revolution auf das Innenleben der Bewegung aus? Was er-wartete die BUF von ihren Anhängern und welchen Lebensstil pries sie ihnen als dezidiert faschistisch? Wie sollte das Freizeitverhalten der Briten in einem korporativen Staat aussehen? Welche übergeordneten gesellschaftspolitischen Anschauungen lassen sich in den Stellung-nahmen zur Freizeit und in den Umsetzungen identifizieren?

Ebenso wie im italienischen Fall hatte beim britischen Nachzügler die Vision von einer Frei-zeit der Massen eine nationalistische, sozialdarwinistische und imperialistische Komponente: Freizeit müsse einem höheren Wohl dienen, nicht nur den Einzelnen voranbringen, sondern die Nation oder die Rasse. Sie müsse die Stärkung oder die Regeneration des britischen Vol-kes zum Ziel haben. Die Relevanz des Sports ergab sich auch für die britischen Faschisten aus seiner Funktion als paramilitärische Übung für die Zukunft der Gesellschaft. Auch sie setzten auf die Schlagworte Disziplin, Militanz, Esprit de Corps , Fitness, Askese, Athletentum und Teamgeist und ordneten die sportliche Betätigung in den Kontext von Nationalismus und Imperialismus ein.

Die Ausgangssituation unterschied sich dagegen deutlich: Da die BUF bei der Durchsetzung ihrer Vorstellungen von einer organisierten und reglementierten Freizeit nicht über politische Macht und Einfluss auf staatliche Kultur- und Sozialpolitik verfügte, musste sie als Subkultur auf einem hart umkämpften Markt mit staatlichen, kommunalen, karitativen und kommer-ziellen Anbietern Fuß fassen, um Anhänger zu gewinnen und Zustimmung zu erlangen. Was sie an Freizeitaktivitäten anbot, musste nah genug am Puls der Zeit sein, aber zugleich einen markanten Kontrast zur etablierten Freizeit- und Populärkultur darstellen.1078

Konzeptionell nahm auch im britischen Faschismus die politische Lenkung der Freizeit eine kompensatorische Funktion für die erzielte Aushöhlung staatlicher und nicht-staatlicher So-zialpolitik ein. Die BUF befürwortete offen die Entmachtung von Gewerkschaften und poli-tischen Parteien zugunsten ihres korporatistischen Modells und erklärte Sozialreformen zu einem natürlichen Resultat der Einführung eines korporativen Staates. Ihre diesbezüglichen Ausführungen blieben allerdings ungenau und schemenhaft. Programmatisch verankerten ihre Strategen dies so: Korporationen, Protektionismus, Autarkiepolitik (mit dem Britischen Empire als Wirtschaftsraum), Beschäftigungs- und Infrastrukturprogramme wie slum clea- rances und nicht zuletzt die Entmachtung des sogenannten internationalen Finanzkapitals und die Enteignung jener Vermögender, die nicht zum Dienst an der Gesellschaft bereit seien, würden Sozialpolitik in ihrer bisherigen Gestalt obsolet machen.1079 Die BUF negierte die kul-turelle Bedeutung der Arbeiterbewegung sowie spezifisch bürgerlicher, nicht-staatlicher So-zialpolitik und Kulturförderung und erklärte die Schaffung einer britisch-faschistischen Ge-sellschafts- und Kulturpolitik zu einem nationalen Interesse. Ein sozialpolitisches Programm legte sie nicht vor, sondern nur vage Visionen.

Oswald Mosley bewertete in The Greater Britain die Chancen einer Etablierung des korpo-rativen Staates und einer protektionistischen Wirtschaftspolitik als höher als im italienischen Fall, da Großbritannien durch das Empire über einen wesentlich stärkeren Wirtschaftsraum verfüge. Die Argumentation war bisweilen von einer wenig schmeichelhaften Sicht auf Italien geprägt, dessen Rückständigkeit Mosley gleich mehrfach betonte. Zwar habe der italienische Faschismus wichtige wirtschaftspolitische Erfolge zu verzeichnen, der Korporatismus sei je-doch nicht vorangebracht worden. Das BUF-Programm sei dagegen tragfähig und komple-xer.1080

Das Dopolavoro -Programm diente der BUF als ein Beispiel des Machbaren. 1934 erschien in The Blackshirt ein Porträt des Dopolavoro von Enrico Nervi, das aus der italienischen Sicht das Programm pries. 1935 warb ein sogenannter Italian Correspondent für die anstehenden Feierlichkeiten in Italien zum zehnten Jahrestag der OND-Gründung. 1936 stellte dann Ian Hope Dundas, der zu dieser Zeit als BU-Delegierter in Italien agierte, den Dopolavoro und die OND vor. Er scheute eine Gegenüberstellung mit der britischen Freizeitkultur, betonte stattdessen den Kooperationsgedanken und den höheren Zweck, der durch das italienische Programm erreicht werde.1081 Henry J. Gibbs, der sich als Kulturkritiker verstand und als ex-tremistischer Feuilletonist der BUF zahlreiche Rezensionen veröffentlichte, nutzte in düsteren Gesellschaftsbeschreibungen Dopolavoro und KdF zur Kontrastierung; sie symbolisierten für ihn eine gesellschaftliche Harmonie in faschistischen Diktaturen – eine Harmonie, um die Großbritannien durch das demokratische System betrogen werde.1082 Die Bezugnahmen ver-schiedener BUF-Autoren auf die italienischen und deutschen Programme waren oft eklektisch und schon hinsichtlich der Bezeichnungen der Organisationen von sachlichen Fehlern durch-zogen;1083 nicht auf Akkuratesse, sondern auf den mobilisierenden Effekt angeblich beneidens-werter Vorbilder kam es ihnen an.

Von der Durchsetzung eines nationalen Massenfreizeitprogramms war die BUF allerdings weit entfernt. In der Bewegung selbst stand Freizeit für eine Mission im Dienste des britischen Faschismus. Tatsächlich waren viele Angebote für die Mitglieder camouflierte Parteiarbeit, die die BUF regelrecht als Erlebnis präsentierte. Der Einsatz für die Bewegung wurde als aktive Teilnahme an einer faschistischen Revolution verklärt. Von ihrem Kampf in dieser Revolution versprachen sich wohl viele Mitglieder eine Aufwertung ihrer Person. Der Kontakt, den die BUF von Beginn an zum italienischen Regime pflegte, hatte neben finanziellen Vorteilen, pro-pagandistischen Effekten und machtpolitischen Erwägungen intern einen weiteren Nutzen: Das italienische Beispiel diente den Mitgliedern als Beleg der Machbarkeit eines faschistischen Umsturzes – aus ihrer extremistischen Sicht als ein Licht am Ende des Tunnels.

Schon in The Greater Britain nahm Mosley vielfach Bezug auf Staatsbürgerschaft, Sport und Freizeit. Seine moderne Bewegung werde als „an organised and disciplined movement, gras-ping and permeating every aspect of national life“1084 nicht vor dem Privatleben der Bürger Halt machen. Es sei vielmehr Aufgabe des Einzelnen, sich dem Staat nützlich und dienstbar zu zeigen, und die Pflicht des Staates, den Einzelnen in diesem Anliegen zu fördern und ihn in die Verantwortung zu nehmen. Ähnlich wie im italienischen Fall bildete eine streng autoritäre, antiliberale Vorstellung von citizenship den Ausgangspunkt der Überlegungen, wie der Staat Einfluss auf das Freizeitverhalten seiner Bürger zu nehmen habe, wie er sie erziehen solle und in welche Bereiche er eingreifen dürfe, wenngleich dies zunächst weniger offensiv thematisiert wurde:

Der Auszug ist exemplarisch für ein argumentatives Muster: Klingt zunächst noch die Gewährung persönlicher Freiheiten als Selbstverständlichkeit an, wird sie gleich darauf eingeschränkt. So ergibt sich doch die Frage, wer entscheiden darf, welche Mitbürger faul und dekadent seien und ihre Freizeit gebrauchten, um ihren öffentlichen Nutzen zu schmälern.

In einer für die BUF-Publikationen paradigmatischen Weise wird auf einen vermeintlichen common sense rekurriert und eine Aussage über die Gesellschaft getroffen, die auf den ersten Blick noch als von der breiten Masse geteilte Position erscheint, dann aber durch Einschrän-kungen oder Zusätze schlagartig an Schärfe und Spaltungspotenzial zunimmt. Die Zuschrei-bung, jemand sei faul und dekadent, würde, so das Kalkül, wohl jeder nur in Bezug auf andere Personen, nie aber selbstkritisch treffen. Angesprochen wird hier ein Bedürfnis nach Gänge-lung oder Bestrafung anderer. Die Aussage ist daher nicht nur anmaßend, sondern sie spiegelt auch den reaktionär autoritären Charakter des Gesellschaftsverständnisses Mosleys. In der weiteren Argumentation wird dies noch zugespitzt:

Mosley negiert hier Rechte der Legislative und spricht sich für eine über den Gesetzen stehende Erziehung all jener aus, die in ihrem Lebenswandel von der Norm abweichen. Der Einfluss der Eugenik auf sein Modell der faschistischen Gesellschaft ist offenkundig, nennt er doch ‚Trin-ker, Schwächlinge und Degenerierte‘ als Beispiele für diejenigen, die auf der Grundlage eines ‚ new social sense ‘, also eines neuen Verständnisses von Gesellschaft, für ihr gemeinschafts-schädigendes Versagen bestraft werden müssten. Zur Untermauerung der Behauptung, solche Eingriffe in das Leben der Mitbürger seien nicht nur legitim, sondern auch für die Weiterent-wicklung der Gesellschaft zielführend, bedienten sich Mosley und andere Autoren der BUF einer obskuren Mischung aus historischen ‚Vorbildern‘. Diese hätten gezeigt, wie ein idealer Lebenswandel gestaltet werden könne:

Durch historische Anspielungen wie diese rekurrierten die BUF-Autoren auf einen angebli-chen Idealtyp englischer Geselligkeit, der zumeist in der Elisabethanischen Zeit als Merrie England verortet wurde. Ihre Argumentation schloss dabei an eine Traditionslinie des eklekti-schen Geschichtsverständnisses aus dem späten 19. Jahrhundert an. Die Elisabethanische Ära symbolisiert in diesen Kontexten und Lesarten nicht nur eine kulturelle Hochphase, sondern steht für den Beginn des Aufstiegs Großbritanniens zur Seemacht und zum Imperium. Auf-fällig ist die Gleichsetzung der englischen Geschichte mit der britischen; die BUF stand ins-gesamt eher für den englischen Nationalismus als für einen britischen.

Eingewebt sind jene Schlagworte, die auch im italienischen Faschismus nicht in einer Gesell-schaftsbeschreibung hätten fehlen dürfen: Abenteuer, Eroberung und Virilität. Ferner schim-mert in Mosleys Wortwahl eine misogyne Mentalität durch: Die Doppeldeutigkeit des Begriffs „hag-ridden“, der metaphorisch vergrämt, verhärmt oder freudlos bedeutet, in der wörtlichen Übersetzung aber „unter Weiberherrschaft stehend“, mit „hag“ als Hexe oder dem hässlichen alten Weib,1088 fügt sich in die Wehklage der BUF über die Effemination der Gesellschaft und eine Bedrohung der Männlichkeit ein. Sogar in sprachlichen Details werden hier folglich Kli-schees bedient und Bilder bemüht, die ideologisch wirken. In ihrer Verklärung der Elisabe-thanischen Zeit kommt die BUF, so absurd dies erscheint, ohne jede Bezugnahme auf Königin Elisabeth I. aus. Es handle sich um eine Zeit der großen Männer, der Entdecker und Eroberer. Mehrdeutig ist auch die Erwähnung einer puritanischen Repression. Letztlich geht es hier we-niger um den historischen Puritanismus als um die sprichwörtliche Verwendung: das Puri-tanische als rigide Moralvorstellung, die den Gegenpol zur Virilität bildet. Die Einstreuung historischer Motive erfolgte, das zeigt der Vergleich mit weiteren, ähnlichen Passagen, alles andere als widerspruchsfrei. Die ideologische Botschaft, Opportunismus und die dichterische Freiheit des Eklektizismus waren federführend.

Die Freizeitgestaltung der Massen bildete noch zu Beginn der 1930er Jahre ein wichtiges und umstrittenes Feld der Sozialpolitik (vgl. Kap. 4.1). Die politische Positionierung zu die-sem Komplex war daher unerlässlich, wenn eine Partei oder Bewegung sozialpolitische Re-levanz beanspruchen wollte. Die BUF stand programmatisch für weitreichende Transforma-tionen der Gesellschaftsordnung und der innergesellschaftlichen Beziehungen. Ihre Haltung zur Freizeit der Bevölkerung war ein Indikator für die Zielrichtung ihrer Gesellschaftspolitik. Dass die Repräsentanten der BUF erkannten, wie sehr hier Stellungnahmen, Konzepte und Re-alisierungen vonnöten waren, um das Profil der Bewegung zu schärfen, zeigt sich an der Ent-wicklung des Themas in ihren Veröffentlichungen. Vage Zukunftsvisionen über das Leben im faschistischen Staat reichten nicht aus, um Anhänger zu halten; es bedurfte vielmehr expliziter Einlassungen mit Gegenwartsbezug und konkreten Angeboten. Wollte die BUF dem eigenen Anspruch als moderne, alle Lebensbereiche erfassende Bewegung gerecht werden, musste sie sich zur boomenden Freizeitkultur und zum Stellenwert des Vergnügens verhalten:

Die beliebtesten Hobbys ihrer Adressaten waren allerdings wenig ideologiekonform, so dass Mosley hier in jovialem Ton Zugeständnisse einräumte. Als ideologische Klammer dienten dann die erwartbaren Schlagworte:

Die BUF hätte angesichts ihrer erst noch wachsenden Anhängerschaft keine Freizeitorgani-sation mit politischen Kompetenzen wie die OND einsetzen können. Sie trug keine politische Verantwortung, da sie weder an der Regierung beteiligt noch im Parlament vertreten war. In der Konsequenz schränkte dies ihren Einfluss auf die Bevölkerung und die Chancen einer Umsetzung ihrer gesellschaftspolitischen Forderungen erheblich ein. Die BUF musste in den Milieus, die sie zu ideologisieren hoffte, erst Rückhalt und Zustimmung gewinnen. Die briti-schen Faschisten konnten – anders als ihre italienischen Vorbilder – nicht auf ungehinderte Repression setzen. Um ein eigenes, politisiertes Freizeitverständnis zu entwickeln und zu ver-breiten, zielte die BUF darauf, als politische Subkultur mit klaren Abgrenzungen zur Mehr-heitsgesellschaft wahrgenommen zu werden, als eine Avantgarde: „In our own movement, in fact, we seek to create in advance a microcosm of a national manhood reborn.“1091

Ihr Anspruch, einen Mikrokosmos faschistischer Gesellschaft und Kultur zu formen, nähr-te allerdings das eingangs beschriebene Dilemma: Auf der einen Seite schottete sie sich nach außen ab, um in der Bewegung die verbindende Wahrnehmung einer faschistischen Elite oder eines Renegatentums zu erhalten, auf der anderen Seite musste sie die Öffnung anstreben, um möglichst vielen Mitgliedern und Wählern attraktiv zu erscheinen und um politischen wie gesellschaftlichen Einfluss zu gewinnen. Michael A. Spurr, der sich mit dem Selbstverständnis der BUF als Gemeinschaft befasst hat, sieht in deren pseudo-religiösen Ritualen, dem Kult um Mosley, den Treffen in Branches oder Privathäusern und den parteieigenen Konsumartikeln Faktoren, die eine BUF-Subkultur begünstigt hätten.1092 Spurr kommt zu dem Schluss, dass es ihr trotz des Scheiterns ihrer politischen Machtbestrebungen gelungen sei, eine eigene Rand-kultur zu etablieren und so ihren Visionen von einer neuen Gesellschaft Raum zu geben. Die geteilte Identität als britische Faschisten habe in ihrer Wahrnehmung andere Identitätsvor-stellungen überlagert.1093 Sein Fazit, dass es dabei nicht entscheidend sei, wie klein dieser „van-guard of its revolutionary reconceptualisation of society“1094 war, ist allerdings zu diskutieren. Gegen diese These spricht, dass es auch für die überzeugten Anhänger, die über Jahrzehnte ihrem Selbstbild als Vorreiter eines britischen Faschismus verhaftet blieben, faktisch nicht zu einer revolutionären Neukonzipierung der Gesellschaft kam. Sie lebten schließlich nicht iso-liert mit anderen Regeln und Grundbedingungen, sondern waren mit allen Konsequenzen in die Mehrheitsgesellschaft und das politische, wirtschaftliche und soziale System eingebunden. Sie agierten lange aus der Sicherheit des demokratischen Systems heraus, das ihre radikalen Meinungsäußerungen ertrug. Eine Zäsur stellte die Internierung während des Zweiten Welt-kriegs dar. Diese sahen einige von ihnen als Beweis, dass das politische System korrumpiert sei. Die eigentliche Paradoxie liegt darin, dass sie für sich selbst vom Staat die Wahrung rechts-staatlicher Prinzipien forderten, die das von ihnen so lautstark propagierte faschistische Sys-tem nicht gekannt hätte und die sie anderen vehement hatten vorenthalten wollen. Was Par-teien wie die BUF so gefährlich macht, ist nicht allein ihre Fähigkeit, ideologisierte Mitglieder kulturell zu isolieren und als ‚Sinn-Enklave‘ eine eigene Wirklichkeit zu konstruieren,1095 die sich als radikaler Gegenentwurf zu jener der Mehrheitsgesellschaft positioniert. Vielmehr sind es in höherem Maße ihre Bestrebungen, diesen Kreis zu öffnen und sich durch scheinbar un-politisches Agieren sukzessive Zugang zu unterschiedlichen Milieus zu verschaffen. Die Fascist Union of British Workers : eine Keimzelle korporatistischer Arbeiterwohlfahrt?

Die BUF setzte frühzeitig auf die Gründung gewerkschaftsähnlicher und sozialfürsorgerischer Einrichtungen für Mitglieder. Teil ihrer vermeintlichen Sozialfürsorge waren Freizeitaktivi-täten. Die Gestaltung der freien Zeit sollte als in ein wirtschaftspolitisches Programm ein-gebettet erscheinen, das nicht nur die Interessen der arbeitenden Bevölkerung vertreten sollte, sondern sich in paternalistischer Weise der geistigen und kulturellen Hebung der Arbeiter und Angestellten, ihrer körperlichen Fitness und Gesundheit verschrieb. In ihrem Bemühen, sich als Konkurrenz zur Labour Party und als Gegner der kommunistischen Partei (CPGB) zu positionieren und Arbeiter und Angestellte zu rekrutieren, richtete die BUF 1933 eine Fascist Union of British Workers (FUBW) ein, als korporatistische, Gewerkschaftsfunktionen über-nehmende Vereinigung, die der Aufsicht der Parteiführung unterstand. Die FUBW ist als Ver-such der BUF zu sehen, ihr Korporatismuskonzept zu erproben und wirtschaftspolitisch Ein-fluss zu gewinnen – ein Versuch, der fehlschlug.

In ihren Grundzügen zeigte diese Initiative, wie Salvatore Garau konstatiert, Parallelen zu den italienischen faschistischen Syndikaten:

Konzeptionell wies die FUBW zugleich Ähnlichkeiten mit den deutschen Nationalsozia-listischen Betriebszellen-Organisationen (NSBO) auf, die 1927 gegründet worden waren und im Januar 1933 bereits rund 260 000 Arbeiter und Angestellte als Mitglieder hatten.1097Wie die NSBO scheint die FUBW mit dem Ziel konzipiert worden zu sein, in Betrieben in Konkurrenz zu den Gewerkschaften zu agieren und Interessenvertretungen mit direkter Anbindung an die faschistische Partei einzuschleusen. Mitglieder der FUBW hätten in Be-trieben unter der Belegschaft als Multiplikatoren für Gewerkschaft und Partei tätig werden können. Die erste Ausgabe von The Blackshirt stellte im Februar 1933 die FUBW vor: Sie sei dem Schutz beschäftigter und beschäftigungsloser Arbeiter verpflichtet und werde gegen jegliche Lohnkürzungen und Bedrohungen des Lebensstandards ins Feld ziehen. Ferner werde sie den means test und andere demütigende Maßnahmen bekämpfen.1098 Die Mel-dung behauptete, die FUBW habe bereits einen Sieg zu verzeichnen und erfreue sich eines starken Rückhalts und Mitgliederzulaufs in Battersea, das doch als „one of the staunchest strongholds of the Moscow men“1099 gelte. Es erstaunt nicht, dass die FUBW-Statuten expli-zit auf den means test eingingen, also die von vielen Zeitgenossen als erniedrigend und un-gerecht empfundenen Befragungen, Berechnungen und Überprüfungen, an die eine Aus-zahlung von Unterstützungsleistungen geknüpft war. Die Thematik polarisierte und hatte ein hohes Mobilisierungspotenzial. Eine Kernzielgruppe der BUF waren ältere Jugendliche, junge Männer und junge Frauen, die sich aufgrund wirtschaftlicher Probleme nicht durch das politische System repräsentiert sahen und die für die Krisenrhetorik empfänglich wa-ren. Der means test symbolisierte in den Augen vieler von Arbeitslosigkeit Betroffenen die Geringschätzung, die ihnen der Staat entgegenbringe. Die düsteren Zukunftsaussichten fi-nanzieller Abhängigkeit von einer als unzureichend empfundenen Unterstützungsleistung schürten Unsicherheit und Krisenwahrnehmungen. Die FUBW wurde zunächst von „Mr. J. P. D. Paton, a former leader of the local National Union of Unemployed Workers, and Mr. Michael Goulding“1100 geführt. Angeblich hatte sie bereits die Beschwerde eines Armee-Re-servisten durchgesetzt, der trotz seiner Leistungen für die Nation um seine Unterstützung betrogen worden sei.1101 Die BUF rekurrierte in solchen Stellungnahmen auf ihr Selbstver-ständnis, der Interessenvertreter der Kriegsgeneration, insbesondere der Veteranen, wer-den zu wollen.

Die FUBW unterschied zunächst nicht zwischen Berufsgruppen. Dieses Prinzip wurde je-doch schon wenige Monate nach ihrer Gründung verworfen und eine Untergliederung nach Berufszweigen und Tätigkeitsgebieten vorgenommen. Die Quellen legen nahe, dass ihr in ers-ter Linie erwerbslose Männer und Frauen angehörten, denn die Thematisierung in den BUF-Zeitungen erfolgte vorrangig in Gestalt von Aufrufen an Arbeitgeber, sich bei der Suche nach Arbeitskräften an die FUBW zu wenden, die viele zuverlässige, britische Arbeitssuchende in ihren Reihen habe.1102 Mit der Fokussierung auf die Vermittlung von Arbeitsverhältnissen un-ter Sympathisanten war sie eher eine Vertretung Beschäftigungsloser bei der Jobsuche als eine Gewerkschaft oder eine Korporation.

Dies ist vor dem Hintergrund der Vielzahl, der Mitgliederstärke und der wirtschaftspoli-tischen Macht der regulären britischen Gewerkschaften und politischen Vereinigungen und Parteien der Arbeiter zu betrachten. Die BUF griff diese scharf an, unterstellte ihnen Kor-ruption oder Inkompetenz, erklärte dabei insbesondere den Trade Union Congress (TUC) zum Feind. Die FUBW hatte keine realistische Chance, als Konkurrenz gewertet zu werden; vor allem hatte sie, da sie kein Verhandlungspartner in Arbeitskämpfen war, keine Möglich-keit, wirtschaftspolitische Interessen ihrer arbeitenden Angehörigen durchzusetzen. Häufig sattelte sie daher auf Arbeitskämpfe auf und erklärte sich zu einem unabhängigen Sprach-rohr der betroffenen Arbeitnehmer.1103 Konzentrierte sie sich auf die Vermittlung von Stellen in ihren eigenen Kreisen, so konnte sie den Anschein erwecken, Einfluss auf den britischen Arbeitsmarkt zu nehmen. Zugleich bedeutete die zielgerichtete Ansprache junger arbeits-loser Männer aus der Arbeiterklasse oder der unteren Mittelschicht, eine gesellschaftliche Gruppe zu umwerben, die sich in Teilen sozial stigmatisiert fühlte, die in zeitgenössischen Jugendorganisationen und Arbeiterclubs unterrepräsentiert war und die durch ihre finan-zielle Situation weniger Zugang zu kommerziellen Angeboten hatte als die gleichaltrigen Werktätigen.

Hohe Arbeitslosenzahlen galten der BUF als Beleg für die von ihr beschriebene fortdau-ernde Krise und die behauptete Unfähigkeit des politischen Systems, einen wirtschaftlichen Aufschwung sicherzustellen. Mit ihrer inhaltlichen Fixierung auf die Komplexe Arbeiterver-tretung, Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit versuchte sie Themenfelder von Aktualität, Bri-sanz und mit Mobilisierungspotenzial zu monopolisieren. Mosley schien vielen Zeitgenossen durch die Vorgeschichte seiner finanzpolitischen Tätigkeit in der Labour Party und das Mos- ley Memorandum Sachkompetenz zu besitzen. Mit ihrer fatalistischen Agitation traf sie einen Nerv der Zeit:

Unter beschäftigungslosen Arbeitern, die keiner Gewerkschaft angehörten, Anhängern des National Unemployed Workers’ Movement und einigen Facharbeitern verzeichnete die BUF zunächst Erfolge. Doch ihre größer angelegten Kampagnen in den Industrieregionen Lanca-shires und Yorkshires zündeten nicht in dem von ihr gewünschten Maß.1105 Die Struktur-probleme Lancashires blieben dennoch über mehrere Jahre ein zentrales Thema in Mosleys Veröffentlichungen zu den Vorteilen eines korporativen Staates und der Autarkiepolitik des Britischen Empire. In der Essenz lautete seine Vision von einer Wiederbelebung der Textilin-dustrie in der Region, Importe zu verbieten, die Dominions zur Abnahme britischer Produkte, zu Lohnniveau-Anpassungen und Rohstofflieferungen nach Großbritannien zu verpflichten. Britische Produzenten sollten die Verträge von Anbietern aus den Dominions übernehmen. Das Motto müsse „Britain First“1106 lauten.

Die BUF hatte wirtschaftspolitisch wenig Konkretes anzubieten, das nicht erst der Um-setzung ihres Langzeitziels, der Etablierung des korporativen Staates, bedurft hätte. Auf der Zeitachse lagen ihre Visionen weit entfernt. Wer von Arbeitslosigkeit oder Lohnkürzungen bedroht war, war auf schnelle, effiziente Unterstützung angewiesen, nicht auf utopische Visio-nen einer künftigen neuen Wirtschaftsordnung.1107 Die BUF verharrte auf vagen, großspurigen Ankündigungen und einer Angriffsrhetorik. In diesem Gestus umriss The Blackshirt auch die Konzeption der FUBW:

Implizit erklärte der Kreis um den ehemaligen Labour -Politiker Mosley folglich die Gewerk-schaften und die Labour Party als politische Heimat der working classes für obsolet und be-anspruchte diesen Status für die BUF mit ihrer FUBW. Der Arbeiterfreizeit sollte hierbei ein zentraler Stellenwert eingeräumt werden und ihre Förderung zu den fünf obersten Pflichten der FUBW gehören.1109 Als Dachorganisation richtete die BUF innerhalb der eigenen Organi-sationsstruktur das Industrial Relations Department ein und institutionalisierte so intern die Verzahnung von Partei und faschistischer Arbeitervertretung.

Mosleys verbale Angriffe auf die Labour Party und Gewerkschaften waren in hohem Maße Ausdruck einer persönlichen Abrechnung mit seiner früheren Partei, ehemaligen Parteikollegen und innerparteilichen Gegnern. Dies spiegelt sich in den programmatischen Schriften des BUF-Gründers. Die Frage, warum er Labour den Rücken gekehrt habe, be-handelte er hier oft ausführlich, während er seine Anfänge in der Conservative Party nicht thematisierte. Die erwähnten Einschätzungen des Vorwärts -Korrespondenten Egon Wert-heimer zu Mosley verdeutlichen, dass Mosleys Labour -Karriere unter Sozialdemokraten und Sozialisten aus anderen Ländern tiefes Befremden ausgelöst hatte. Sein Bekenntnis schien ihnen aufgrund des wirtschaftlichen und sozialen Hintergrundes, aber auch seines Auftretens unglaubwürdig und als Bestätigung, dass die Labour Party in diesem Punkt weit entfernt war von ihren kontinentalen Pendants. Wertheimers Geschichte der Labour Party , die 1929, also noch während Mosleys Parteimitgliedschaft, erschien, ging explizit auf diese Unterschiede ein:

Aus seinen Beobachtungen bei Parteiveranstaltungen, aus Treffen mit Labour -Politikern und Mitgliedern der Basis habe er, Wertheimer, immer deutlicher erkannt, wie groß die Unterschie-de zu den kontinentalen Parteien der Arbeiterbewegung seien. Die Labour Party sei deutlich britischer, als die SPD deutsch sei. Sie sei pragmatischer und habe einen stärkeren Willen zu regieren. Die britischen Massen seien loyaler gegenüber ihren gewählten Anführern und we-niger anfällig für den Extremismus. Wertheimer bezieht sich hier auf den Kommunismus.1111Er betont in seiner Analyse die enge organisatorische Verzahnung von Gewerkschaften und Labour Party . Die große Mehrheit der Gewerkschaften sei als Block in der Partei repräsentiert; sie machten 90 % der Gesamtmitgliedschaft aus, die restlichen 10 % entfielen auf sozialistische Gruppen wie die Fabian Society oder die Independent Labour Party . Wertheimer sieht einen großen Unterschied in Zugehörigkeitsgefühlen der Mitglieder: Während sich in den kontinen-talen sozialdemokratischen Parteien Arbeiter zuerst mit der Arbeiterbewegung und dann mit ihrer Gewerkschaft identifizierten, sei dies in Großbritannien exakt anders herum, und damit sei der Einfluss der Gewerkschaften deutlich größer.1112

Welche Bedeutung hatte eine solche Konstellation für die BUF? Zum einen lässt sich schluss-folgern, dass es der Bewegung nicht möglich gewesen wäre, die Gewerkschaften zu ihren Gunsten zu beeinflussen und gegen die Labour Party auszuspielen. Zum anderen bedeutete es, dass sie Arbeiter überzeugen musste, Gewerkschaften und Labour den Rücken zu kehren und sowohl politisch als auch in der wirtschaftlichen Interessenvertretung auf die faschistische Be-wegung zu setzen. Wertheimers Analyse, die Labour Party verstehe sich als besonders britisch und sehe sich nicht so sehr in Opposition zum britischen politischen System, legt nahe, dass in Großbritannien das Bekenntnis Mosleys zum Nationalismus nicht unbedingt als Widerspruch zum Bekenntnis zur Arbeiterbewegung gewertet werden musste. Ein latenter Nationalismus konnte demnach als noch konform mit einem sozialistischen Profil gelten. Die Behauptung einer patriotischen nationalistischen Haltung war im Umkehrschluss auch in der Kommuni-kation mit Arbeitermilieus kein Alleinstellungsmerkmal.

In ihren Versuchen, die Zerschlagung von Gewerkschaften in faschistischen Staaten zu ei-ner positiven Entwicklung zu verklären, argumentierten die Autoren der BUF häufig mit der Beendigung des Klassenkampfes, für den die Gewerkschaften instrumentalisiert würden. In einem korporativen Staat seien Gewerkschaften von der politischen Vereinnahmung, die ihren eigentlichen Zweck korrumpiert habe, befreit. Kein Gewerkschaftsmitglied müsse einen Ver-lust der Vorteile befürchten, die es genieße.1113

Ein Charakteristikum der BUF war, dass sie klassenbewusst war und klassenspezifische Mentalitäten nicht antastete. Sie konterkarierte damit ihren Anspruch, eine klassenlose Be-wegung zu sein. Die widersprüchliche Haltung wirkte sich auf ihre Stellungnahmen zu so-zialer Mobilität aus. Ein Kommentar in ihrer Parteizeitung beschuldigte gar Mitglieder, die klassenbewusstes Gebaren in der Bewegung kritisierten, an einem Minderwertigkeitskomplex zu leiden und die dynamische Art einiger BUF-Männer als Snobismus fehlzudeuten.1114 Der anonyme, gönnerhaft argumentierende Autor hatte klare Vorstellungen davon, was Kultur, wer kultiviert sei und wo wessen Platz in der Gesellschaft sei – Vorstellungen, die auf einen mindestens bürgerlichen Hintergrund schließen lassen:

Im Unterschied zur historischen Arbeiterbewegung sah der Autor den Sinn von Arbeiterbil-dung nicht in einer selbstbestimmten Herstellung sozialer Mobilität oder Chancengleichheit, sondern in einer auf die Freizeit begrenzten Teilhabe an bürgerlich definierter Hochkultur zur Hebung des nationalen Bildungsniveaus. Er legte den Fokus auf die Gemeinschaft, nicht auf das Individuum. Sich selbst sah der Autor offenbar in einer gehobenen Funktion im korpora-tiven Staat. Unfreiwillig bricht sich hier eine Sozialarroganz Bahn, die paradigmatisch für die BUF ist und die es ihr erschwerte, sich und andere von ihrer Vision der klassenlosen Gesell-schaft mit funktionaler Hierarchisierung zu überzeugen.

Dies prägte auch ihre sozial- und bildungspolitischen Statements, denn oft erklärten sie den sozialen Status doch wieder zu einer vererbbaren Angelegenheit.1116 Das Grundproblem des unterschiedlichen Zugangs zu Ressourcen und Bildung wurde in dieser Logik schlichtweg ausgeblendet. Tatsächlich differenzierte auch die FUBW nach traditionellen Kategorien und richtete Berufsgruppen wie die Professional Musicians’ Group , die Actors’ Group oder die Taxi- men’s Group ein, die in sich weitgehend sozial homogen waren.1117 Sie vereinten nicht Arbeiter und Angestellte eines Betriebs oder eines Sektors über soziale Unterschiede hinweg, sondern waren eher Vereinigungen Gleichgesinnter und finanziell Gleichgestellter.

Mit der FUBW wandte sich die faschistische Bewegung frühzeitig auch einer gesellschaft-lichen Gruppe zu, die im italienischen Fall zu einem Träger der Faschisierung geworden war und die in der OND stark repräsentiert und privilegiert war: den Angestellten staatlicher Einrichtungen. Die BUF appellierte nämlich an die Angehörigen des Civil Service , sich der FUBW anzuschließen. Dass sie für die Parteiführung interessant waren, ergab sich aus der Vorstellung, den Staat unterwandern zu können. So wurde die BUF nicht müde zu betonen, dass sich ein Arbeitsverhältnis im öffentlichen Dienst und die Mitgliedschaft in der BUF nicht ausschlössen.1118 Jedoch schürte dies offenbar intern Befürchtungen, als Bewegung wiederum vom Civil Service unterwandert werden zu können. Die Entscheidung, die Angestellten des öffentlichen Dienstes von den Arbeitern getrennt zu versammeln, traf die oberste Ebene der Partei, die verkündete:

Zur Jahresmitte 1934 wurde es in den Medien der BUF ruhiger um die FUBW. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Bewegung die Versuche, sich zu einer innovativen Variante der Ar-beiterbewegung zu erklären, aufgab. In ihrer Argumentation für den korporativen Staat nahm sie Bezug auf die italienische Carta del Lavoro und die OND. Hatte Mosley bereits zu Jahresbe-ginn 1932, also vor der BUF-Gründung, in der Daily Mail das italienische Dopolavoro -System als eine der größten Errungenschaften gepriesen, so fand diese Bewertung in den folgenden Jahren mehrfach Eingang in die Parteizeitungen.1120

1936 erklärte Charles F. Wegg-Prosser in Fascist Quarterly , der Faschismus sei seit jeher zu Unrecht als arbeiterfeindlich verleumdet worden; er sei tatsächlich aber eine Massenbewegung und gründe in der Initiative der Arbeiter:

Wegg-Prosser berief sich explizit auf eine italienische faschistische Definition des Arbeiters: All jene, die sich einer Arbeit widmeten, die zum materiellen, moralischen und spirituellen Wohl des Menschen beitrage, seien Arbeiter. Er erklärte, dies habe der „syndical Congress at Bologna in January, 1922, before the Fascist Revolution“1122 festgelegt und die Definition sei geeignet, von jedem faschistischen Land übernommen zu werden. Der Essay ist hinsicht-lich des opportunistischen Rekurrierens auf das italienische Beispiel, der Kombination al-ler Feindbilder und der radikalen Sprache typisch. Die Argumentation ist antikommunis-tisch und antisemitisch. Wegg-Prosser erläutert zunächst, der Marxismus sei überholt, und schließt dann die These an, der Bolschewismus sei demagogisch und durch jüdische Einfluss-nahme bestimmt:

Wegg-Prossers Text mündet in Theorien über eine jüdische Verschwörung von Politikern und Unternehmern, die versuche, das britische Volk in ökonomischer Hinsicht zu hintergehen.1124

Angesichts dieser Ausführungen irritieren Informationen zu seiner Person in Martin Pughs und Stephen Dorrils Untersuchungen. Diese geben an, er sei aus Protest gegen die antisemiti-sche Propaganda der BUF im East End aus der Bewegung ausgetreten.1125 Dorril erklärt, Wegg-Prossers Ansichten hätten sich gewandelt, als er den Antisemitismus in Aktion erlebt habe. Er habe Mosley in einem offenen Brief beschuldigt, jede Thematisierung realer sozialer Pro-bleme zugunsten einer Sündenbock-Mentalität aufgegeben zu haben und nur noch den Mob aufzuhetzen.1126 Wegg-Prosser erscheint allerdings in den oben zitierten Ausführungen selbst radikal antisemitisch. Er hatte erfolglos für die BUF im East End kandidiert und setzte sich womöglich aus opportunistischen Gründen ab. Die Erklärung, er habe einen Sinneswandel erlebt, als die antisemitischen Übergriffe nicht mehr nur verbal, sondern als Straßengewalt erfolgten, erscheint fragwürdig. Seine eigene antisemitische Agitation, die mit Sozialneid kor-relierte, machte der spätere Austritt nicht rückwirkend ungeschehen.

In dem zitierten Essay wendet sich Wegg-Prosser auch Fragen nach der Rolle des Arbeiters in einem faschistischen Staat zu und nimmt dabei Bezug auf die OND, die er als vorbildlich wertet. Er selbst habe 1935 viele Dopolavoro -Einrichtungen in Nord- und Süditalien besichtigt, u. a. in Neapel:

Die OND dient in der Argumentation als Vergleichsmaßstab für die Beschreibung der Arbei-terwohlfahrt, die in einem britischen korporativen Staat etabliert werden sollte. Es sei zu er-warten, dass der britische faschistische Staat den italienischen übertreffen werde:

Die Bezugnahme auf faschistische Vorbilder gerät hier in Kollision mit dem ideologieimma-nenten nationalistischen Überlegenheitsgefühl, wobei sich zugleich ein Widerspruch offenbart zwischen der Betonung der Stärke und des Reichtums des Britischen Empire und jener der Krise und Dekadenz.

Die BUF sehnte also ein mit der OND vergleichbares Freizeit- und Kulturprogramm für ihren korporativen Staat herbei. Doch welche Umsetzungen fand ihre Vision von faschistischer Frei-zeit in der Bewegung? Welches Kulturverständnis vermittelte sie hier? Was bot sie Mitgliedern und der breiteren Öffentlichkeit überhaupt an?

Während die Thematisierung der FUBW abnahm, boomte die Ausgestaltung der gemein-schaftsstiftenden Veranstaltungen in den Branches . Mit dem Umzug des Parteihauptquartiers in den Gebäudekomplex in der King’s Road in Chelsea verfügte die BUF nun über große, re-präsentative Räumlichkeiten, um Gemeinschaftsaktivitäten abzuhalten. Der amerikanische Journalist H. R. Knickerbocker, der das Black House kurz nach dessen Bezug besichtigte, er-klärte, es habe die Größe eines halben Häuserblocks und – durch seine Nachbarschaft zu ei-nem Zeughaus der Britischen Armee – ein „erborgtes militärisches Aussehen“1129. Die ehema-lige Mädchenschule verfüge über große Küchen und Vorratsräume, Speisesäle, labyrinthartige Gänge. Die BUF richtete sich eine Rundfunkstation und Druckpressen ein und hatte einen Fuhrpark im Hinterhof stationiert. Den Saal der Blackshirts beschrieb Knickerbocker als mit gekreuzten Fechtklingen und einem Totenschädel dekoriert und mit martialischen Schrift-zügen versehen.1130 In Knickerbockers Darstellung erscheint das Black House als ein kalter, kloster- oder kasernenartiger Ort. Wie ein einladendes Gemeinschaftszentrum scheint es folg-lich nicht gewirkt zu haben. Auffallend sind die Unterschiede zum Club Cooperativo , den die Fasci all’Estero nur wenige Kilometer entfernt übernommen hatten. Dieser war zwar ebenso mit faschistischen Symbolen verziert worden, vermittelte aber noch immer den Eindruck eines städtischen Freizeitzentrums. Die Casa del Littorio wirkte da schon einschüchternder, aber auch luxuriöser. Die britischen Faschisten hingegen richteten sich in Chelsea eine Trutzburg ein, die den Tabubruch der Militanz sichtbar im öffentlichen Raum abbildete.

Die erste Verlautbarung eines Freizeitprogramms lancierte die BUF im März 1933 in den eigenen Medien, als sie ankündigte, im damaligen Hauptquartier in der Great George Street Club- und Erholungsräume sowie eine Kantine zu eröffnen. Die Clubräume sollten – mit weni-gen terminlichen Ausnahmen – nur den männlichen Mitgliedern offenstehen. Frauen sollten nur zu Rednerschulungen und physical-training- Kursen Zugang erhalten oder als Gast eines männlichen Mitglieds an jedem dritten Mittwoch im Monat.1131 Das Prinzip der Geschlechter-trennung hielt die Bewegung allerdings nicht konsequent ein, wandte sich mit anderen An-geboten sogar an Familien, sollte doch das erste faschistische Feriencamp in Bognor Regis ein familiäres und familienfreundliches sein. Zur selben Zeit kündigte The Blackshirt erst-mals Touren nach Italien und Deutschland an, die über das „Camps and Tours Department, British Union of Fascists“1132 am Lower Grosvenor Place zu buchen seien. Die BUF hatte sich folglich eine eigene Exkursionsabteilung geschaffen. Wie groß und wie aktiv diese tatsächlich war, lässt sich nicht klären. Deutlich wird aber, dass die Organisation gemeinschaftsstiftender Freizeitaktivitäten frühzeitig als wichtig erachtet wurde. In den folgenden Jahren blieb deren Bandbreite recht konstant und zeigte Einflüsse des italienischen Beispiels. Ebenso deutlich ori-entierte sich die Bewegung an den beliebten Freizeitbeschäftigungen zeitgenössischer Jugend-organisationen, Working Men’s Clubs und den Trendsportarten der zwanziger und dreißiger Jahre. Sie war in dieser Hinsicht, so wird im Folgenden aufgezeigt, nicht radikal anders oder innovativ, sondern wandelte auf ausgetretenen Pfaden. Die Adaption war von einem Primat des Performativen bestimmt, der die Selbstwahrnehmung, avantgardistisch und moralisch er-haben zu sein, nährte.

Ihren Konzepten schrieben die Ideologen nicht nur eine höhere Berechtigung, sondern auch eine lange Haltbarkeit zu. Tatsächlich überdauerten sie intern sogar die BUF. Wie Janet Dacks Essay zum Union Movement , der rechtsradikalen Bewegung, die Mosley nach seiner Internierung gründen sollte, aufzeigt, wurden hier unter den neuen und den alten Anhängern Modernitäts-, Fitness- und Jugenddiskurse sowie gemeinschaftsbildende Aktivitäten nahezu identisch wieder aufgenommen. Trug all das im Union Movement nicht mehr das Label ‚fa-schistisch‘, so spiegelte sich doch noch in den 1970er Jahren der Anspruch, für einen ‚revolu-tionären‘ politischen Stil zu stehen.1133

Die Feriencamps der BUF entwickelten sich in den Parteipublikationen schnell zu einem prominenten Thema, das ihre ideologische Radikalisierung reflektiert (vgl. Kap. 3.4). Hinsicht-lich der parteieigenen Feriencamps ließ sich die Bewegung nicht nur von OND und KdF in-spirieren, sondern ebenso von den Zeltlagern der faschistischen Jugendorganisationen Italiens und Deutschlands. Ihrer Selbstwahrnehmung als Jugendbewegung Ausdruck verleihend, in-korporierten britische Faschisten das, was sie als Lebensgefühl faschistischer Jugend interpre-tierten, in ihre Vergesellschaftung Erwachsener. Wie erläutert, lud die Bewegung erst 1936/37 Kinder und Teenager zu den Sommercamps ein. Zuvor hingen dort Erwachsene der Reminis-zenz an die eigene Adoleszenz nach.

Die Idee zu Ferienlagern für Erwachsene an britischen Küstenorten war alles andere als originell – und genau deswegen anschlussfähig. Schon im ausgehenden 19. Jahrhundert hatten sich in vielen europäischen Ländern Seebäder von elitären zu klassenübergreifend beliebten Urlaubsorten entwickelt. Mit ihrer beinahe demonstrativen Postkartenidylle boten sie nicht nur Erholung, sie hatten auch einen Symbolcharakter. Waren sie als Reiseziele einerseits Pro-dukt der modernen Gesellschaft, der Industrialisierung und Urbanisierung, des Ausbaus der Infrastruktur, des Aufbrechens traditioneller Klassen- und Rollenbilder und der Liberalisie-rung des Freizeitverhaltens, so schufen sie zur selben Zeit einen Ausgleich zu deren Negativ-effekten. Der Kurzurlaub im seaside resort war eine englische Institution.1134

Der Topos der seaside holidays ist als politisch und politisierbar zu betrachten. Seit dem späten 19. Jahrhundert nahm der Urlaub an der See eine zentrale Rolle in Diskursen über die soziale Lage von Kindern und Erwachsenen in Ballungsräumen ein. Schon William Booth, der Gründer der Heilsarmee, forderte polemisch, es müsse auch ein Whitechapel-by-the-Sea ge-ben, also ein Anrecht der Ärmsten aus den urbanen Ballungsräumen auf eine gesunde Umge-bung und Erholung an den Orten, die ihnen sonst nicht zugänglich seien.1135 Dass die BUF hier gerade nicht um radikale Abgrenzung bemüht war, sondern auf etablierte, positiv konnotierte und in der Öffentlichkeit als ur-englisch wahrgenommene Urlaubskonzepte setzte, erhöhte die Attraktivität ihrer Angebote deutlich. Zugleich nutzte sie die Aufenthalte, um vor Ort fa-schistische Aufmärsche durchzuführen. Eigentümlich und verstörend muten diese wohl un-gehinderten, choreografierten paramilitärischen Paraden in den pittoresken Kleinstädten an. Die Faschisten zielten darauf, einen mit positiven Assoziationen der englischen Idylle und der Geselligkeit verbundenen öffentlichen Raum zu politisieren und ihn – durch die fotografische Dokumentation nachwirkend – zu beanspruchen. In ihrer Fokussierung auf Arbeiterfamilien und das East End sattelte die faschistische Bewegung dann populistisch auf das Thema des be-zahlten Urlaubs für alle und einer staatlich geförderten Familienfreizeit auf und intensivierte ihre Freizeitpolitik (vgl. Kap. 3.4).

Die Parteipresse lieferte Fotografien, die einerseits die Camp-interne Ungezwungenheit und andererseits die offiziellen Inspektionen durch den Leader zeigten. Die Abbildungen zeugen von einer skurrilen Kombination aus Militanz, Vergnügen und Spießigkeit. Die BUF agier-te als Veranstalter von Ferienlagern, einschließlich solcher nur für weibliche Mitglieder, und warb mit Freizeitmöglichkeiten in der Region, die sie sonst als nicht zielführend oder ‚un-britisch‘ verurteilte; so ermunterte sie nun zu Kinobesuchen, Shopping und Individualsport.

Die faschistische Ideologie und die Radikalisierung der BUF waren jedoch auch in dieser vorgeblich gelockerten Atmosphäre überaus präsent. So warb die sich nun British Union of Fascists and National Socialists nennende Bewegung 1937 radikal antisemitisch für ‚judenfreie‘ Camps.1136 Sie imitierte darin die deutsche nationalsozialistische Bäderpolitik, die die antise-mitische Propaganda in die Ferienorte trug und sie nutzte, um die Stigmatisierung und Ver-folgung der Juden auf perfide Weise zu einem Teil der Populärkultur nationalsozialistischer Auslegung zu machen.

Die BUF-Frauencamps wurden derweil als einzige Art des Urlaubens beschrieben, die der politischen Ernsthaftigkeit und Militanz der weiblichen Mitglieder gerecht werde, denn in den Ferienlagern seien sie nicht mit den sonst überall anzutreffenden ‚verdorbenen, lasterhaften jungen Dingern‘ konfrontiert. Hier seien die vitalen, tatkräftigen Frauen noch unter sich:

Die Camps dienten, wie Martin Durham betont, der Erzeugung und Verstärkung eines Ka-meradschaftsgefühls unter den Männern und den Frauen.1138 Dabei kam Feindbildern eine wesentliche Rolle zu. Sie dienten als Ersatz für fehlende Gemeinsamkeiten und überbrückten in begrenztem Umfang die Klassenunterschiede innerhalb der Bewegung.

Eine genuin britische faschistische Freizeitkultur schuf die BUF nicht, sie behauptete die-se aber medienwirksam. Das Angebot war von Beginn an performanzorientiert. Neben dem Campen und dem Sport setzte die Bewegung Schwerpunkte im kulturellen Bereich. Auffällig oft erschienen Hinweise zu eigenen Musik-Veranstaltungen. Die Bewegung knüpfte dabei an einen weiteren Trend der Zeit an, den Boom der brass bands , marching bands und dance mu- sic bands . Die Sozialstudien, die als The New Survey of London Life & Labour veröffentlicht wurden, thematisierten, wie populär das gesellige Musizieren binnen weniger Jahre geworden war und wie sehr Konzerte in den öffentlichen Parks zu Publikumsmagneten wurden. Die Sozialforscher beobachteten, dass sich hinsichtlich der musikalischen Vorlieben Unterschiede zwischen den sozialen Klassen abzeichneten:

Die BUF bewegte sich mit ihrem Kulturangebot sehr eng an diesem Mainstream. Sie nahm den Trend auf, orientierte sich am Geschmack der wachsenden Angestelltenschicht und an den Offerten von Arbeiterorganisationen. Gemeinschaftsgefühle förderte die Bewegung dement-sprechend durch das community singing , ihre Chöre und die Treffen und Konzerte ihrer musi- cal bands . Deren Repertoire allerdings war, wie im Folgenden erläutert wird, gewollt begrenzt. Sinn und Zweck der Freizeit: den Faschismus repräsentieren Im Unterschied zu den Fasci all’Estero kreiste das Kulturangebot der britischen Faschisten nicht so sehr um die Vermittlung des Nationalstolzes oder einer zum Italianità -Begriff ana-logen Britishness , es kreiste vielmehr um den Faschismus. Neben Rednerschulungen und Ver-anstaltungen zum Faschismus als Doktrin setzten das Hauptquartier und die Zweigstellen auf Freizeitaktivitäten aus dem musischen Bereich, die oft Aufführungen zum Ziel hatten. Das hatte einen praktischen Nutzen: Die BUF übte die musikalische Untermalung ihrer Aufmär-sche und Kundgebungen, für die eigene fascist songs komponiert und einstudiert wurden.

Ein Beispiel: Im April 1934 hielt die BUF eine ihrer großen Kundgebungen in der Londoner Albert Hall vor ungefähr 9500 Zuschauern ab. Polizeiberichten zufolge bildeten straff organi-sierte Märsche einzelner Kontingente der britischen Faschisten aus verschiedenen Stadtteilen den Auftakt. Rund 1000 Mitglieder der Bewegung seien so auf die Veranstaltungshalle zu-marschiert – eine deutliche Provokation und Beanspruchung des öffentlichen Raumes. Foto-grafien belegen, dass die Märsche der uniformierten Faschisten von Bands angeführt wurden. Zu Beginn der Kundgebung habe dann die Militärband des Hauptquartiers eine halbe Stunde lang faschistische Märsche und BUF-Lieder gespielt, gestützt vom Gesang anderer Mitglieder. In der Halle seien Textblätter zu den Liedern zum Kauf angeboten worden.1140

Musik hatte – Graham Macklin zufolge – anfänglich keinen so hohen Stellenwert, doch dies änderte sich 1934 und äußerte sich in der Berufung J. E. Grahams zum Direktor eines partei-eigenen Music Directorate , dessen Posten vergleichsweise hoch besoldet war.1141 Schon im Janu-ar 1934 rief The Blackshirt zu Einsendungen auf, um eine Standardisierung des BUF-Liedgutes vornehmen zu können. Zuvor hatte die Initiative von Mitgliedern zu einer Vielzahl von lokal gesungenen Eigenkompositionen geführt, die nicht immer der Vorstellung der Führungsriege entsprachen. Aus der Korrespondenz des Foreign Office mit der Britischen Botschaft in Rom geht hervor, dass sogar die BUF- Branch in Mailand eine eigene faschistische Hymne gedichtet hatte, die sie zur Melodie von Giovinezza sang. Der Verfasser des Vermerks kommentierte dies ironisch und betonte die Absurdität dieses Vorgangs – hatte die örtliche Branch zu diesem Zeitpunkt doch erst vier offizielle Mitglieder.1142 Die Führungsriege der BUF erklärte derweil, sie suche nun das Äquivalent zur Marseillaise .1143

Zum auffälligsten Komponisten der Bewegung wurde der Oxford-Absolvent E. D. Randall, der sich schon der New Party angeschlossen hatte. Macklin gibt an, Randall sei ein ehemaliger Kommunist gewesen. Dass er häufig den Begriff comrade in seine Dichtungen eingewebt habe, habe viele andere Mitglieder verärgert. Zu seiner Rechtfertigung habe er vorgebracht, auch die Nationalsozialisten hätten sich am Vokabular der Kommunisten bedient, um die Massen an-zusprechen.1144 Stephen Dorril sieht in Randall einen Repräsentanten der „cultish faction, who saw themselves as engaged in a spiritual revolution“1145.

Randalls Kulturbegriff weist Ähnlichkeiten zur nationalsozialistischen Argumentation um die sogenannte ‚Entartete Kunst‘ auf. Er erklärte die Kunst der Nachkriegszeit des Ersten Welt-kriegs pauschal zu einem „cult of ugliness and distortion in art, music and literature which is the product of neurotic post-war minds, sickened by long incarceration in dim cities.“1146Diese werde der Faschismus aus der nationalen Kultur entfernen. Kunst müsse Schönheit und Heldentum in der nationalen Geschichte feiern. Dieses Prinzip solle, so Randall, sogar die Freizeitgestaltung des ‚kleinen Mannes‘ beherrschen:

Hier lassen sich Parallelen zum Kulturbegriff der OND identifizieren: Kultur soll patriotisch, erbaulich und konformistisch sein, einen Kanon der Hochkultur und volkstümliche Inhalte kombinieren und einen Ausgleich schaffen zur Geschwindigkeit und Fragmentierung der mo-dernen Gesellschaft. Anstelle einer individuellen Entfaltung soll sie eine Rückbesinnung auf eine postulierte gemeinsame Identität gewährleisten. Das Kulturverständnis Randalls ist als reaktionär, eklektisch sowie sozial diskriminierend zu bewerten: Randall traut der Masse der Bevölkerung nur ein lokal bis regional verankertes Kulturinteresse zu. Der Oxford-Absolvent erhebt die vorgebliche eigene Abneigung gegenüber Avantgarde-Bewegungen zum Maßstab einer Kulturpolitik. Tatsächlich war das Niveau seiner Eigenkompositionen flach. Er dichtete nicht nur faschistische Hymnen anderer Länder um, sondern schuf eigenes mystisch-kitschi-ges bis militaristisches Liedgut für die BUF. Deren Chöre sangen eine englische Version von Giovinezza mit dem Titel Onwards Blackshirts!, später einen Marching Song zur Melodie des Horst-Wessel-Liedes, weitere Märsche sowie mythologisierende Hymnen auf Mosley und die Vision eines Greater Britain .1148 Um ihrem patriotischen Anspruch Ausdruck zu verleihen, wurde die britische Nationalhymne angeschlossen.

Ein widerspruchsfreier Kulturbegriff der BUF lässt sich nicht identifizieren; wie im italie-nischen Faschismus und deutschen Nationalsozialismus waren Kulturdiskurse im britischen Faschismus von ideologischen, völkischen, nationalistischen, imperialistischen und rassisti-schen Weltanschauungen geprägt, übermittelten eine radikale Kritik an realistischer, sozial-kritischer bis postmoderner Kunst und Literatur, orientierten sich am konventionellen bür-gerlichen Geschmack. Zugleich suchten sie Anschluss an den ästhetischen Modernismus, an zivilisationskritische Strömungen und radikale Darstellungsformen. Die BUF war auch in kultureller Hinsicht eine Sammlungsbewegung. Traditionalisten und Anhängern des Mer- rie-England -Kultes und der Provinzialität als Ideal standen Verehrer Ezra Pounds und Lewis Wyndhams gegenüber sowie Kulturkritiker, die sich auf Matthew Arnold und Thomas Carlyle beriefen.1149

Konzerte der Musicians’ Section der FUBW oder der Military Band und community singing -Events sollten die Zusammenkünfte und die Großveranstaltungen mit einer beeindruckenden Aura versehen. Der Gedanke, dass sich dieser Effekt perpetuieren ließ, fand schnell Umset-zung: Die BUF ließ Schallplatten produzieren mit Tonaufnahmen von Mosleys Reden, den Parteiveranstaltungen und dortigen musikalischen Darbietungen, die von Mitgliedern erwor-ben werden konnten und bei Treffen gespielt wurden.1150 Musikalische Events fanden gelegent-lich sogar in entlegeneren Branches in Anwesenheit Oswald Mosleys oder Maud Mosleys statt. Denn so banal viele Veranstaltungen der BUF inhaltlich waren, so sehr setzte die Bewegung auf eine Atmosphäre der Festlichkeit oder des Außergewöhnlichen.

Repräsentation wurde als entscheidender Faktor erachtet. Es ging nicht nur um den inne-ren Zusammenhalt, sondern auch um die Beeinflussung der britischen Bevölkerung als frei-williges oder unfreiwilliges Publikum der BUF-Selbstinszenierung und darüber hinaus um die Wahrnehmung der BUF seitens der faschistischen Bewegungen anderer Länder. Akten der Sicherheitsbehörden bieten Aufschluss über einige ‚Besuche‘ von Vertretern anderer euro-päischer Bewegungen. Im Oktober 1934 reisten Angehörige des französischen faschistischen Le Francisme und der niederländischen faschistischen Nationaal-Socialistische Beweging nach Großbritannien, um an der zweiten Parteigroßkundgebung der BUF in der Albert Hall teil-zunehmen, unter ihnen Anton Adriaan Mussert und Cornelis Van Geelkerken. Seit ihrer Ein-reise wurden die französischen und niederländischen Gäste der BUF, die eigenes Propaganda-material mitbrachten, von den Sicherheitsbehörden beobachtet.1151

Einige Veranstaltungen der BUF besuchten auch Angehörige philofaschistischer Vereini-gungen wie der Friends of Italy Society , einer italienisch-britischen Gesellschaft mit deut-licher Nähe zu den Parteivertretungen des PNF im britischen Raum. Zur feierlichen Er-öffnung der Kantine im Black House , die im Unterschied zum restlichen Komplex beiden Geschlechtern und externen Besuchern zugänglich sein sollte, erschien The Blackshirt zu-folge ein Dr. Fambucetti als Besucher.1152 Tatsächlich war dies wohl Tullio Sambucetti, Mit-glied der italienischen Handelskammer in London und Angehöriger des Fascio di Londra , der die Friends of Italy Society gegründet hatte (vgl. Kap. 5). Sambucetti agierte als eine Art inoffizieller Kulturattaché des Londoner Fascio und versuchte diesen mit Italien-begeister-ten Briten oder mit britischen Sympathisanten des Faschismus zu vernetzen . Claudia Baldoli führt an, Sambucetti habe selbst Ambitionen gehabt, Segretario des Fascio zu werden, er habe jedoch 1932 das Rennen gegen Carlo Camagna verloren, da er Piero Parini als zu alt, zu gesetzt und zu unmodern gegolten habe.1153 Sambucetti dürfte seinen Besuch im März 1934 im BUF-Hauptquartier als Chance gesehen haben, um unter den Anwesenden für seine Gesellschaft zu werben und um in Konkurrenz zu Camagna eigene Verbindungen zur BUF aufzunehmen.1154

Kontakte über Kulturveranstaltungen zu knüpfen, erschien auch den Branches der BUF in Italien als ein geeignetes Mittel, um für eine weitergehende Kooperation der faschistischen Be-wegungen Unterstützer zu finden. Ihre Eigeninitiative führte allerdings zu Irritationen bei den jeweiligen Parteiführungen. Die Zweigstelle der BUF in Rom richtete im Juni 1934 einen Kon-zertabend zu Ehren des britischen Königs aus, zu dem sie Vertreter des PNF einlud. 115 Teil-nehmer zählten die eingeschleusten Beobachter der Britischen Botschaft. Sie berichteten, den PNF-Vertretern sei großes Unbehagen anzumerken gewesen, da sie erst in der Veranstaltung erfahren hätten, dass diese weder von der Britischen Botschaft organisiert noch mit ihr ab-gestimmt gewesen sei.1155

Die BUF setzte ihrerseits darauf, Mitgliedern Italienisch-, Deutsch- und, für kurze Zeit, auch Spanischkurse anzubieten. Ziel dieser Fortbildungen sei es, für die Zukunft Verbindungsoffi-ziere auszubilden, die zu den faschistischen Regimes und zur autoritären Rechten in Spanien Kontakte pflegen sollten. Zeitweilig wurde die Aufsicht über die Sprachkurse einem Foreign Relations Department unterstellt, das von Dr. George Pfister, einem späteren Aktivisten der BUF in Italien, geleitet wurde.1156 Der Metropolitan Police fiel dieses BUF- Department wegen seiner Kontaktaufnahmen zur NSDAP auf.1157 Neben der transnationalen Funktion kam den Sprachkursen eine profaner erscheinende, tatsächlich aber ebenso wichtige Rolle zu: Die BUF konstruierte eine Art internationale faschistische Kulturerfahrung für ihre Angehörigen. Die-ser internationale Fokus ließ die Branches weniger provinziell wirken. Sprachübungen, die bis zur Jahresmitte 1934 in der Parteizeitung veröffentlicht wurden, waren thematisch restrin-giert. Die kurzen Texte berichteten über Fortschritte der Parteiarbeit oder Vorzeigeprojekte der italienischen und deutschen Pendants.

Wie der Fascio di Londra und andere Fasci in Großbritannien setzte die britische faschisti-sche Bewegung auf Veranstaltungen in feierlicher, gelöster Atmosphäre, die das Vergnügen in den Mittelpunkt stellten und über inszenatorische Mittel den politischen Hintergrund deut-lich machten: So organisierte sie regelmäßig dances , nicht nur in ihren Clubräumen, sondern ebenso in großen, populären Festsälen. Waren diese Bälle der britischen Faschisten nostal-gisch antiquierte Tanztees oder eine subkulturelle Variante der boomenden dance-halls ? Als hedonistisch sind sie sicherlich nicht zu bewerten, ebenso wenig aber als scharfe Abgrenzung zur urbanen Vergnügungskultur der dreißiger Jahre. In ihrer eigenen Berichterstattung über-betonte die BUF den traditionellen Charakter, die Sittsamkeit und das tadellose Benehmen aller Beteiligten. Ihre Werbeanzeigen zu den dances wirken eher spießig. Die Kernzielgruppe solcher Veranstaltungen war allerdings jene der Zwanzig- bis Dreißigjährigen, die sich ja nicht sektenhaft nur in der BUF bewegten, sondern sehr wohl an der Konsumkultur teilhatten und bisweilen ermuntert wurden, Gäste mitzubringen. Nach Inkrafttreten des Public Order Acts 1937 rief die Bewegung, die juristisch gegen das Verbot vorgehen wollte, ihre Mitglieder ein-dringlich dazu auf, nicht mehr in Uniform zu diesen Tanzabenden und ähnlichen Events zu erscheinen.1158 Sport- und Technikbegeisterung: Symbole dynamischen Lebensstils

In ihren Veröffentlichungen präsentierte die BUF ihre Aktivitäten als Antwort auf eine Sinn-suche in der Freizeit. Arbeitnehmern aus allen sozialen Klassen, Männern wie Frauen aus dem ländlichen, dem provinziell-kleinstädtischen und dem urbanen Raum könne der Faschismus einen Lebensstil bieten, der einer gemeinsamen Sache diene und sie selbst erfülle. Diese Kom-munikation betraf vor allem den Sport: Die Steigerung der Fitness sei eine Vorbereitung auf die täglichen Auseinandersetzungen mit politischen Feinden und auf die Zukunft im korpora-tiven Staat, der von gesunden, starken Staatsbürgern getragen werden sollte. Die BUF entwarf diskursiv einen Fitnesskult mit politischer Dimension, der die national-efficiency -Vorstellun-gen, sozialdarwinistische Ansätze und Banalitäten miteinander verknüpfte. Mit der Fokus-sierung auf den Körperkult war die BUF auf der Höhe der Zeit; sie nutzte die Popularität von Fitnessbewegungen, Kampfsportarten und Gymnastik für ihre Zwecke, traf aber auf viel Kon-kurrenz, denn in den späten 1930er Jahren waren Sport- und Fitnessbegeisterung kein Rand-thema, sondern schon Teil der Populärkultur und Gegenstand großer nationaler Kampagnen unter prominenter, zum Teil royaler Schirmherrschaft.

In ihren Untersuchungen zu Schönheits-, Gesundheits- und Fitnessbewegungen in Groß-britannien im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert erläutert Ina Zweiniger-Bargielowska, dass nach dem Ersten Weltkrieg eine zweite Welle der Körperkultur aufgekommen sei, ein „relaunch of physical culture“1159. Zur Mitte der 1930er Jahre sei der Fitnesskult durch viele Initiativen und Vereine, kommerzielle Anbieter und die großen Kampagnen gefördert worden. Die BUF stellte in diesem gesellschaftlichen Trend nur eine kleine, extreme Variante dar.1160Allerdings sollen Verbindungen einiger prominenter Verfechter der physical-culture -Bewe-gungen zur BUF und zu anderen faschistischen Organisationen bestanden haben:

Wenngleich sich keine dauerhaften Kooperationen der Körperkult-Fanatiker und der briti-schen Faschisten ergaben, so ist doch ein Effekt der Normalisierung faschistoider Körperlich-keitsdiskurse und daraus abgeleiteter Gesellschaftsvorstellungen feststellbar, der den briti-schen Faschisten entgegenkam. Ihre Ästhetisierung der Gewalt konnte als eine Steigerung der ohnehin verbreiteten Idealisierung körperlicher Stärke interpretiert werden.

Die BUF setzte wie der Vorläufer New Party auf die Popularität des Boxens oder des Fechtens und nahm international boomende Sportarten wie Jiu-Jitsu in ihr Repertoire auf. Militanz, Fitness und Virilität waren entscheidende Schlagworte bei der Auswahl ihrer Aktivitäten. Wie Julie Gottlieb aufzeigt, integrierte die BUF diese Sportarten sogar in die großen Parteikundge-bungen und verstärkte so deren Eventcharakter – nutzte sie doch etwa die Veranstaltungshalle Stunden vor der eigentlichen politischen Kundgebung als Arena simultaner Sportwettkämpfe und Vorführungen.1162

Der paramilitärische Anspruch, der diese Popularisierung von Sportarten in der Bewegung begleitete, wirkte sich auf die Organisation entsprechender Kurse und Veranstaltungen aus. Das Hauptquartier und die Zweigstellen riefen zumeist eigene Sektionen ins Leben, die mit der Steuerung der jeweiligen sportlichen Aktivität betraut wurden; ein hoher Verwaltungs-aufwand, der in erster Linie inszenatorische Gründe hatte: BUF-Mitglieder trainierten nicht einfach – sie trainierten zielgerichtet in Formation, diszipliniert und in einem vorgegebenen Rahmen. In Wettkämpfen auf regionaler oder nationaler Ebene traten Teams der einzelnen Branches gegeneinander an. Übergeordnete Sektionen wurden bisweilen sogar für Aktivitäten eingerichtet, die noch gar keine ausreichende Anzahl an Interessenten auf den Plan gerufen hatten und noch mit Appellen um Mitglieder warben.1163 Es erscheint paradox, dass Freizeit keinen Selbstzweck haben sollte, ihre Organisation hingegen zum Selbstzweck wurde.

Einige zeitgenössisch populäre Sportarten, die in Italien mittlerweile von vielen Dopo- lavoro -Zirkeln angeboten wurden und sich als Massenevents großen Andrangs erfreuten, die aber nicht sonderlich martialisch waren, fanden, obwohl sie des Öfteren angeregt wur-den, erst allmählich Einzug in die Agenda der BUF. Dies betraf z. B. das Fahrradfahren. Einen Radlerclub hatten die British Fascists schon 1926 gegründet; in der BUF nahm die Initiative erst 1937 Fahrt auf, als auch die Jugendsektionen eigene Cycling Clubs bildeten. Neben die erwartbaren propagandistischen Ausführungen zum Mehrwert der Clubs für die Parteiarbeit trat nun auch die Betonung des geselligen Charakters: „In future we are going to offer to our members not only work, but healthy comradeship through our Sports Organisation.“1164

Das Freizeitangebot der BUF trug einem modernistischen Anspruch Rechnung. Es diente bei der ansonsten reaktionären Sicht auf die Gesellschaft, die sie pflegte, als Surrogat für ein tatsächliches Fortschrittsdenken. So fanden Freizeitaktivitäten oder technische Entwicklun-gen großen Anklang, die als dezidiert modern galten. Der parteieigene Flying Club veranstal-tete Flugschauen, es gründeten sich Automobil-Sektionen und Motorrad-Clubs.1165 Die BUF kopierte in kleinerem Rahmen Anwerbestrategien der italienischen Faschisten und deutschen Nationalsozialisten im Bereich des spezifisch modernen Spitzensports, insbesondere der Flie-gerei und des Rennsports, und war bemüht, in diesen Szenen Kontakte zu knüpfen. Stephen Dorril zufolge gelang es ihr, prominente Vertreter aus beiden Bereichen für ihren Automobile- Club und ihren Flying Club zu gewinnen, dessen Flüge nach Deutschland vom MI5 als eine potenziell gefährliche Entwicklung betrachtet worden seien.1166 In der Thematisierung solcher Aktivitäten stellten die Akteure der BUF mal explizit, mal unterschwellig den Zusammenhang zu Propagandaarbeit und Vorbereitung ihrer Machterlangung her. Sie spielten mit der Asso-ziation, Mitglieder für den Zeitpunkt eines Einsatzes zu rüsten. So gründete die Bewegung Live-saving squads , die an Stränden patrouillierten.1167

Der um Mosley konstruierte Führerkult betonte dessen Leidenschaft für das Fliegen und seine Verwundung durch einen Flugunfall im Ersten Weltkrieg. Der Leader wurde als wage-mutiger Repräsentant der Kriegsgeneration verklärt. In A. K. Chestertons Mosley-Biografie findet sich folgende symptomatische Passage:

So paradox dies erscheint, so tritt doch in Diskursen der BUF wie hier in Chestertons Darstel-lung die Kritik am Krieg häufig neben eine Glorifizierung des im Krieg erlebten Abenteuers. Eine Heldengeschichte wird erzählt, in der die Hauptperson durch Virilität und Disziplin die ihr aufgezwungene Gefahr überlebt und gemeistert habe. Analog schienen Freizeitaktivitäten der BUF dem höheren Sinn zu entspringen, eine künftige Bedrohung abzuwenden, in einem künftigen Konflikt bestehen zu können oder für die Gesellschaft der Zukunft vorbereitet zu sein.

Sportmetaphern waren ein beliebtes Stilmittel der britischen Faschisten. Ihren Gegnern at-testierten sie unsportliches Verhalten, sich wiederum Teamgeist, Siegeswillen und Disziplin. Mosley wurde dabei zum sportlichen Vorbild verklärt. Seine Teilnahme an Fechtturnieren diente der BUF als Beweis seiner Jugendlichkeit und seines dynamischen Lebenswandels. Der ‚fechtende Leader ‘ wurde zu einer Ikone der britischen Faschisten. Sportlichkeit und sport-liche Erfolge erschienen als Gegenpol zur ebenso behaupteten Intellektualität. Chesterton konstruierte um Mosley Allusionen auf Volksnähe, die Anknüpfungspunkte schaffen soll-ten, erwähnte beispielsweise Mosleys mittelmäßige schulische Leistungen und betonte dessen Sportversessenheit. Er sei ein begabter Boxer gewesen, bevor er sich dem Fechten zugewandt habe. Seine Angst vor Pferden habe er bereits als Kind mutig überwunden. Diese Angst war Chesterton zufolge Resultat einer pränatalen Neurose, ausgelöst durch einen Unfall, den Mos-leys schwangere Mutter in einer Kutsche habe erleiden müssen.1169 Die Episode wirkt in ihrer Überbetonung der Fremdverschuldung des Makels ‚Furcht‘ beinahe satirisch.

Die Darstellung Mosleys als Sportler weicht allerdings in wesentlichen Punkten von jener Benito Mussolinis ab: Der Leader der britischen Faschisten ließ sich nie mit nacktem Ober-körper beim Skifahren, bei der Getreideernte oder in Uniform hoch zu Ross ablichten. Das Spektrum der Sportfotografien war viel begrenzter. Doch obwohl Mosley als Sportler elitärer und reduzierter inszeniert wurde als der italienische Faschistenführer, veröffentlichte auch die BUF 1935 eine Aufnahme, die mit dem zeitgenössischen Tabu der Nacktheit spielte: ein Bade-hosen-Foto. Es zeigt Oswald Mosley und Neil Francis-Hawkins in Badebekleidung an einem steinigen Strand. Während Mosley die Bademontur auf Höhe der Taille heruntergekrempelt hat, also mit blankem Oberkörper porträtiert erscheint, sich auf den Fotografen zubewegt und markig in die Ferne blickt, steht hinter ihm ein untersetzter Francis-Hawkins in einem eher feminin anmutenden Badeanzug.1170 Es scheint fast, als wäre die Aufnahme bewusst ausge-wählt worden, um den Leader athletisch wirken zu lassen und den potenziellen Nachfolger und Stellvertreter zu diskreditieren. Das Ränkeschmieden war in der Bewegung stark aus-geprägt, so dass eine solche Intention nicht abwegig erscheint. Die Veröffentlichung der Foto-grafie kommunizierte, dass sich die Akteure als modern und aufgeschlossen verstanden, als locker und als präsentabel; zugleich stellte sie eine bewusste Provokation der aristokratischen und bürgerlichen Etikette dar, die besonders öffentlichen Personen ein rollenkonformeres, an-ständigeres Auftreten verordnete.

Badehosen-Fotografien von Politikern sind ein interessantes Phänomen, denn die Wahrneh-mung der Betrachter wird von ihrer politischen Voreinstellung dominiert. Nur sechzehn Jahre vor dem Mosley-Foto diente eine, objektiv betrachtet, ähnliche Aufnahme Friedrich Eberts und Gustav Noskes zur Schmähung der beiden Politiker und der Weimarer Republik, spannen doch rechtskonservative Kreise um diese Aufnahme, die am Tag von Eberts Vereidigung als Reichspräsident erschien und in der Nationalversammlung kursierte, eine ganze Kampagne der Diskreditierung.1171 Botschaft der Kampagne war, das neue Staatsoberhaupt sei unwürdig, undiszipliniert und schwächlich wie die Republik; der Kaiser hingegen hätte sich niemals so gezeigt.

Ein anderes Badehosen-Foto aus dem Jahr 1923 zeigt Benito Mussolini bei einem Badeaus-flug mit seiner Familie.1172 Auch dieses unterscheidet sich objektiv kaum von den genannten, bildet es doch ebenso einen Politiker in Badebekleidung in vermeintlich privater Atmosphäre ab – einen untersetzten Mann mit zu großem Kopf in einem gestreiften Schwimmanzug, der weit entfernt ist vom faschistischen Körperideal, wie es die Statuen des Stadio dei Marmi re-präsentieren. Die Aufnahme unterscheidet sich inszenatorisch stark von späteren Aufnahmen des Duce beim Sport oder bei der battaglia del grano , der Getreideschlacht, denn diese präsen-tieren ihn als athletisch und viril, entrückt und mächtig, aber doch zupackend.1173

Das Innovative der veröffentlichten Aufnahmen lag nicht allein im Tabubruch der Nackt-heit und der sexualisierten Sicht auf die Posierenden, sondern in der vermeintlich sichtbaren Nähe des Porträtierten zur breiten Masse, in der vorgeblichen Einfachheit, Authentizität und Spontaneität und dem unprätentiösen Auftreten. Der neue Politiker, so die unterschwellige Botschaft, habe nichts zu verstecken, er verschließe sich nicht vor der Öffentlichkeit, er sei präsent und bodenständig, zugleich aber vorbildlich gesund und fit.

Die Attribuierung des Dynamischen, Männlichen, Athletischen oder Charismatischen ob-liegt dem Betrachter; die Aufnahmen selbst geben sie nicht her. Von der Propaganda Unbeein-druckte empfinden die Darstellungen als lächerlich oder durchschaubar inszeniert. Die Äs-thetik der Diktatoren-als-Sportler-Porträts erreicht in erster Linie diejenigen, die schon eine Disposition für die Botschaft aufweisen. Mosleys Darstellung als Schwimmer war intentional für ein bereits dem Führerkult geneigtes Publikum veröffentlicht worden. Skurril und doch typisch ist, dass das Foto nicht die Ausübung des Sports zeigt: Der Leader schwimmt nicht, er posiert nur am Ufer. Das Paramilitärische als Selbstzweck?

In Chestertons erwähntem Aufruf zum „Return to Manhood“1174 kulminierte die Glorifizie-rung der Virilität. Die Atmosphäre und die paramilitärische Organisationsstruktur der Clubs und Branches und des Hauptquartiers seien dezidiert viril, ebenso wie das Fechten, Boxen oder Tauziehen, die Aufmärsche, Drill-Übungen und Kampfsportarten. Das häufig als typisch britisch angesehene fair play rangierte hinter der Betonung des Wettkampfs und der Domi-nanz. Der enge propagandistische Blick auf den Sport entsprach allerdings nicht der Realität. Tatsächlich hoffte die Bewegung auf einen Mobilisierungseffekt durch profanere, anschluss-fähigere Veranstaltungen. So versprachen sich die bis dahin geringen Zulauf verzeichnenden Zweigstellen in Schottland 1934, durch die Gründung von Fußballmannschaften bei jungen Männern mehr Rückhalt zu gewinnen.1175 Der BUF-Stabschef Ian Hope Dundas warb in Ita-lien für die Idee, ein Turnier der britischen gegen die italienischen Faschisten auszurichten.1176

Kleinanzeigen und Clubnachrichten verdeutlichen, dass sich vielerorts eine vereinsähnli-che Atmosphäre herausbildete und die Bandbreite des Sports insgesamt weitaus größer war, als die Fotografien in den Parteipublikationen suggerierten. Sie zeigte deutliche Brüche zum Label ‚Virilität‘. Tischtennis, Wasser-Polo und das Fechten ließen sich schlechter als dezidiert viril und klassenlos inszenieren als das Boxen oder die Kampfsportarten. Die BUF reagierte flexibler auf die Nachfrage ihrer Mitglieder, als ihr stereotypes Bild von Männlichkeit vermu-ten ließ. In wesentlich kleinerem Rahmen, aber strukturell ähnlich wie in der OND lag in der BUF eine Diskrepanz zwischen Männersport und Männlichkeitsdiskurs vor, die toleriert und kultiviert wurde, um eine größere Reichweite innerhalb der Gesellschaft zu erhalten. Camou-fliert wurden die Paradoxien durch Einstreuung eines Mottos, das schon das Parteiprogramm proklamiert hatte: „To Live like Athletes“1177.

Wie Julie Gottlieb betont, untermauerte die kommerzielle Seite des Innenlebens der Bewe-gung den Männlichkeitskult, warben ihre Medien doch für Bier, Automobile oder eine partei-eigene Zigarettenmarke, – „all emphasizing the leisure pursuits and the much-sought-after accessories of the British new fascist man.“1178 Konsumkultur und das Leben als spartanischer Athlet waren eigentlich unvereinbar. Die Kombination klang jedoch anziehend: Wer wollte kein Athlet sein, der sich ein paar Biere und Zigaretten erlauben konnte?

Die sozial exklusive Atmosphäre elitärer Clubs war in der Bewegung, der sich auch aristo-kratische, großbürgerliche und aufstiegsorientierte bürgerliche Männer und Frauen sowie ehe-malige ranghohe Militärangehörige angeschlossen hatten, diesen Privilegierten vorbehalten und diente oft dazu, den Einflussbereich in gehobenen gesellschaftlichen Kreisen auszudeh-nen. Neben dem January Club richtete die Parteiführung dinner parties und business lunches aus, nutzte dafür dieselben renommierten Clubs und Restaurants, die die Akteure der Fasci all’Estero zu Feierlichkeiten frequentierten.1179 Einige Events und Sportarten wie das Fechten stellten eine Reminiszenz an public-school -Gewohnheiten dar.

In ihrem Black House kultivierte die BUF dagegen eine paramilitärische Geselligkeit, die klare Regeln zu setzen und sich so aus der Trivialität zu befreien schien. Ein Headquarters Bul- letin von 1933 macht dies deutlich: Unter der Überschrift Standing Orders war der Verhaltens-kodex für Mitglieder und Bewohner des Hauptquartiers festgeschrieben: strikte Regeln, deren Verletzung zu Strafmaßnahmen führen sollten, bürokratisierte Verwaltungsvorschriften und mit der Außenwirkung argumentierende Verbote. Reglementiert wurden morgendliche Pa-raden, die Modalitäten der Essensausgabe, die Benutzung der Fahrzeuge der BUF, die Hand-habung der Mitgliedsausweise, der Umgang mit weiblichen Parteimitgliedern sowie das Salu-tieren, das drilling und die Kommunikation mit anderen Branches oder dem Hauptquartier.

Einige dieser Vorschriften dienten offensichtlich dazu, der BUF ein gesittetes Image zu ver-ordnen, um kein ungewolltes Aufsehen zu erregen und polizeiliche Maßnahmen zu provozie-ren. Sie muten angesichts der Männlichkeits- und Überwältigungsrhetorik paradox an, fügen sich aber in die Selbstwahrnehmung als asketische Elite ein. So sollten Mitglieder niemals in ihrer Uniform in einer Gaststätte zu sehen sein, die Alkohol ausschenkte, nie in der Öffentlich-keit rauchen oder in der Gegend um die Zweigstellen herumlungern und stets alle Rechnungen unmittelbar bezahlen, die während gemeinsamer Touren anfielen. Eine Fascist Police sollte, analog zu einer Militärpolizei, alle Verfehlungen von Mitgliedern in den Zweigstellen und in der näheren Umgebung ahnden. Um zu demonstrieren, dass die Bewegung spirituelle Werte habe, sollten kleinere Paraden zu katholischen und zu anglikanischen Gottesdiensten veran-staltet werden.1180

Die Blackshirts übten eine „symbolische Besetzung des öffentlichen Raumes“1181, die auf ei-nen Effekt ausgerichtet war, den Moritz Föllmer in Bezug auf die SA so beschreibt: „In Verbin-dung mit anderen, eher freizeitorientierten Aktivitäten ließ sich so das Leben von Ortschaften und selbst ganzen Städten tagelang dominieren.“1182 Im Fall der BUF war dieser Effekt zeitlich und räumlich begrenzter, doch eine intentionale Provokation und Drohung an die Zivilge-sellschaft war ihr Verhalten, insbesondere ihr Dominanzgebaren, im öffentlichen Raum auch.

Für das italienische Beispiel fasst Simonetta Falasca-Zamponi die Funktion der Gewalt-verherrlichung zusammen: „Violence granted movement and dynamism and brought about change; struggle constituted the movement’s life warranty.“1183 Diese Funktion lässt sich auch im britischen Fall identifizieren. Da die Chancen der BUF, einen politischen Wandel herbei-zuführen, gering waren, setzte sie auf eine Enttabuisierung der Gewalt. Der Mythos, in einer Bedrohungslage zu sein, verlieh der organisatorisch trägen BUF immer wieder Dynamik. Paramilitärische Aufmärsche und Straßenschlachten bildeten für einige Anhänger eine Frei-zeitaktivität. Deren Hooliganismus wurde von der BUF unter dem Begriff Widerstand sub-summiert. Mit der Fokussierung auf die Agitation im und um das Londoner East End nahm dies zu. Die kultische Idealisierung der Gewalt brach sich aktiv Bahn. Bei Demonstrationen und Kundgebungen entlud sich das in Kursen und Sporthallen der Branches Eingeübte in Aus-einandersetzungen mit ebenso gewaltbereiten und gewalttätigen Gegnern, die Polizeiberichte oft der kommunistischen Partei zurechneten.

Auch im Sportkontext war die Radikalisierung offenkundig. Die faschistische Sportrhetorik verband sich mit der antisemitischen Agitation. Autoren der BUF bzw. BU entwarfen das Bild des ‚ Sporting Jew‘ als Antityp zum britischen sportsman . Die sportbezogene Diffamierung habe dabei, so Michael Spurr, als Metapher für die postulierte generelle kulturelle Bedrohung durch jüdischen Einfluss fungiert.1184 Exemplarisch lässt sich das Argumentationsmuster in der ag-gressiv antisemitischen Rubrik Jolly Judah , die seit 1936 in The Blackshirt erschien, feststellen. Die antisemitische Hetze nahm darin Einzug in die Bereiche Boulevard, Kultur und Sport.1185

Die Bewegung richtete Boxwettkämpfe in Limehouse und anderen Gegenden des East Ends aus. Sie versuchte, dort über den Sport gewaltbereite junge Männer anzuwerben und aus deren Faszination für körperliche Gewalt Kapital zu schlagen. Die Popularität von Boxclubs kom-merzieller oder gemeinnütziger Anbieter war bereits hoch; sie schossen, wie Matthew Tay-lor anschaulich formuliert, in den dreißiger Jahren wie Pilze aus dem Boden.1186 Im East End Londons mit seiner sozialen Diversität sei das Boxen nicht nur ein beliebter, sondern auch ein wichtiger Sport gewesen, der viele Vorbilder und Lokalhelden hervorgebracht und bei der Knüpfung von Gemeinschaftsgefühlen geholfen habe. Viele erfolgreiche Boxer und Promoter seien jüdische Bewohner des East Ends gewesen.1187 Die BU stilisierte sich nun zum einzig wah-ren britischen Anbieter und versuchte aktiv einen Keil zwischen die aus ihrer Sicht britischen und die jüdischen Fans und Sportler zu treiben, die sie als nicht-britisch schmähte.1188 Der Sport stellte das nicht sanktionierte Exerzierfeld für ihre Kampfrhetorik dar, also den Bereich, in dem sie den Gewaltfantasien ihrer Mitglieder Raum geben konnte, ohne polizeiliche Maß-nahmen und rechtliche Konsequenzen befürchten zu müssen. Wie Jorian Jenks, der erwähnte Agrarspezialist der Bewegung, betonte, verstand diese ihre Ideologie als „fighting creed“:

Das Frauenbild der BUF war, wie erläutert, widersprüchlich. Bestimmten die britischen Fa-schistinnen die Agitation nachhaltig und vehement mit, so war die Sicht auf das weibliche Ge-schlecht doch restringiert und diminuierend (vgl. Kap. 2.3 und 3.4). Ihre Freizeitangebote für Frauen hatten einen starken Rückbezug zur Parteiarbeit; die weiblichen Mitglieder nahmen rege an den Gemeinschaftsaktivitäten, Kulturveranstaltungen, Kundgebungen und Schulun-gen teil, organisierten diese eigenverantwortlich und warben andere an. Welche Rollenbilder vermittelte die BUF also in ihrer Freizeitpolitik? Bestand eine Diskrepanz zwischen dem Bild der Frau als Teil der Bewegung und der britischen Frau im Allgemeinen? Wenn ja, wie wurde diese gerechtfertigt? Welcher Bezug zur sozialpolitischen Dimension von Freizeit lässt sich identifizieren?

Wie in anderen extremistischen, autoritären und patriarchalischen Bewegungen engagier-ten sich Frauen in der BUF im Dienste einer misogynen Politik. Sie sahen sich als emanzipierte Kämpferinnen für einen gesellschaftlichen Umsturz, dessen anti-emanzipatorische Seite sie zum Teil verklärten, zum Teil offen befürworteten. Aus Veröffentlichungen parteinaher Auto-rinnen lässt sich oft ein erzieherischer, missionarischer Impetus herauslesen, der mit Emphase eine Norm des Frau-Seins behauptet, die vor allem in der Klassenpyramide nach unten oder den jüngeren Frauen vermittelt werden soll. Hier spiegeln sich Traditionen eines konservativ bürgerlichen sozialimperialistischen Denkens mit dem Anspruch, die Massen vor einer Ver-wahrlosung zu retten, sie erziehen zu dürfen oder zu müssen. Die Zielsetzung dieser Agitation war alles andere als emanzipatorisch.

Die Quellen zeigen, dass die BUF keine Konzepte für eine spezifische Frauenfreizeit außer-halb ihrer eigenen Reihen entwickelte; sie kommunizierte keine sozialpolitische Vision von Freizeit, Regeneration oder Fortbildung für Arbeiterinnen, Angestellte, Schülerinnen, Studen-tinnen oder Arbeitgeberinnen. Die Freizeitaktivitäten, die sie weiblichen Mitgliedern nahe-brachte, schlossen die Reihen, anstatt sie zu öffnen. Dies stützt den grundsätzlicheren Befund, dass hinsichtlich des Frauenbildes der BUF zu differenzieren ist zwischen den Diskursen, die sich auf die Betätigungen und den Handlungsspielraum der Aktivistinnen und weiblichen Mitglieder beziehen, und denen, die die Rolle der Frau im korporativen Staat thematisieren und das Gesellschaftsverständnis der BUF deutlicher werden lassen. Symptomatisch ist ein Essay Anne Brock Griggs’, die als Propagandistin seit 1935 in der BUF kontinuierlich aufstieg, 1937 bei Lokalwahlen als Kandidatin antrat und zeitweilig Leiterin der Frauensektion für den Süden Großbritanniens war. Die Medien der BUF betonten, sie sei Mutter zweier Kinder und Ehefrau eines Architekten. In Fascist Quarterly definierte Brock-Griggs die Macht der Frauen im korporativen Staat so: Dieser werde den ‚sex warfare‘ beenden und ihnen die Macht geben, alle Sozialreformen auf den Weg zu bringen, die zur Verbesserung ihres familiären Lebens-standards und ihrer Mutterschaft notwendig seien. Frauenarbeit erwähnte Brock Griggs nicht, ebenso wenig konkrete Möglichkeiten weiblicher Einflussnahme auf die Politik. Sogar in ihrer Befürwortung einer Kindertagesbetreuung ging sie nur auf die Vorteile für die Kindererzie-hung und die Häuslichkeit ein:

Merklich tritt hier ein kleinbürgerlicher bis bürgerlicher Lebensentwurf um die Kernfamilie hervor. Die Freizeit der Frau ist in Brock-Griggs Vision die gemeinsame Zeit mit den Kindern im heimischen Umfeld. Damit bewegte sie sich ganz nah am Mainstream. Eine konträre Hal-tung zur Frauenarbeit lieferte Rosalind Raby: Mit Nachdruck, aber ohne Kohärenz behauptete sie, der korporative Staat bringe die vollkommene Gleichstellung von Mann und Frau und öffne Frauen alle Bereiche in Wirtschaft und Politik.1191

Innerhalb der Bewegung fanden sich viele Bereiche, in denen Frauen als Arbeitskräfte, als Rednerinnen oder als Kandidatinnen präferiert wurden, trotz der Misogynie, die schon deut-lich in Mosleys Parteiprogramm angelegt war und ein Charakteristikum der BUF blieb. Die Women’s Section war durch ihre Ausquartierung nicht nur formell vom Hauptquartier der Be-wegung separiert, sondern auch zu einer untergeordneten Einheit erklärt worden, die sich um Frauenbelange kümmern sollte, aber nicht in die Entscheidungen über die gesamte Bewegung einbezogen wurde. Die Bekanntgabe einer Ladies Section , später in Women’s Section umbe-nannt, war zunächst eine Randnotiz, die zeigt, dass von Beginn an Frauen zur klassischen po-litischen Wahlkampfarbeit, wie sie auch von den großen demokratischen Parteien praktiziert wurde, angeworben wurden. Die Women’s Sections richteten Schulungen ein, die den Frauen das notwendige Wissen über den britischen Faschismus vermitteln sollten, damit sie Fragen korrekt beantworten und als Multiplikatorinnen agieren könnten.1192 In einer eigentümlichen Weise betonten Berichte allerdings geradezu die fehlende Attraktivität des canvassings :

Wieso fanden sich trotz dieser offensichtlichen Eintönigkeit und des mangelnden Vergnügens viele Freiwillige? Die Aktivitäten der BUF-Frauen wurden zu quasi-karitativen Missionsarbei-ten verklärt, die eine Bedeutung für die Gesamtgesellschaft hätten: Wer seine Freizeit opfere, stelle sich in den Dienst einer höheren Sache. Die Attraktivität, die für die überzeugten An-hängerinnen und solche, die dies werden sollten, von dieser Missionsrhetorik ausging, speiste sich aus einem Bedürfnis nach einer Aufgabe, nach Gemeinschaftsgefühlen und nach relativer Macht. Das, was die Women’s Sections unter ihren Mitgliedern kultivierten, war Faschismus als Selbstzweck oder als ein Freizeitvergnügen für Frauen, die sich Gehör verschaffen und aktiv gegen die Krise ankämpfen wollten. Dabei spielten eigene negative Erfahrungen eine große Rolle.

Die Agitation der BUF-Frauen bildete derweil einen starken Kontrast zum öffentlichen Auf-treten der italienischen Frauen, die vor Ort in die Fasci femminili der Fasci all’Estero einge-schrieben waren: Diese sind mit Ausnahme der Gruppenleiterinnen der Mädchenorganisa-tionen oder der Lehrerinnen in den Quellen nur als passive Mitglieder präsent. Nach dem Willen der Verantwortlichen der Fasci sollten die Frauen in der Öffentlichkeit gerade nicht als erkennbare Botschafterinnen der faschistischen Sache auftreten, sondern ihre Loyalität im familiären, heimischen Umfeld beweisen. L’Eco d’Italia hatte das gewünschte Verhalten schon im März 1928 angemahnt:

Die BUF-Frauen waren dagegen sichtbarer Teil der Truppe. Ihr Engagement wurde zu einem Widerstand gegen das Establishment verklärt, das Frauen ausbeute und ihnen keine Gegen-wehr zutraue. Im Juni 1934, in der Hochphase der Unterstützung durch die Rothermere-Pres-se, argumentierte The Blackshirt dementsprechend:

Die Frauenfreizeit der BUF politisierte nicht unterschwellig, sondern offen. Antikommunis-mus, antidemokratische Agitation, Antisemitismus, Rassismus und Eugenik waren nicht nur latent angelegt, sondern zentrale Inhalte. Und die Frauen der Bewegung traten nicht weniger militant in der Verbreitung ihrer Überzeugungen auf als die Männer. Das Setting war aber oft dezidiert feminin bis familiär. Die BUF knüpfte hier an klassische Formen der Gemeindearbeit an und setzte in ihrer Agitation auf traditionell mit Frauen assoziierte gesellschaftliche Zu-sammenkünfte. Um Anschluss an die soziale Elite zu gewinnen, planten die Frauensektionen „Drawing-Room Meetings“1196. Sogenannte At Homes , also Veranstaltungen in Privathäusern wie Lunches oder Gartenpartys, waren auf ein spezifisch weibliches bürgerliches, provinzielles Publikum ausgerichtet. Basare ähnelten den klassischen kleinstädtischen Veranstaltungen zur Unterstützung lokaler Initiativen, Wohltätigkeitsorganisationen oder Vereine. Bälle und Tanz-tees sprachen ein urbanes, eher bürgerlich-konservatives Milieu an. In Arbeitervierteln setzte die BUF dagegen auf dances und Kinderpartys.

Einen semi-offiziellen Charakter erhielten diese Veranstaltungen durch die Auftritte von Rednerinnen, die in der Bewegung Prominenz genossen. Häufiger Gast war die Vorsitzende der Women’s Section , Maud Mosley, die diesen Zusammentreffen damit eine gehobene, fest-liche Atmosphäre verleihen sollte. Ihr eigenes At Home fand nicht in ihrem Privathaus statt, sondern im Women’s Headquarters , in Anwesenheit Oswald Mosleys.1197 Die soziale Diskre-panz zwischen ihrem Lebensstil und dem anderer Mitglieder wäre sicherlich groß gewesen. Nicholas Mosley berichtet, seine Großmutter habe sich für die jüngeren weiblichen Mitglieder verantwortlich gefühlt und die Naiven unter ihnen vor Annäherungsversuchen der männ-lichen Mitglieder gewarnt.1198 Damit übernahm sie in gewisser Weise die Funktion einer An-standsdame. Dass die verordnete Trennung der Geschlechter in den Branches nicht immer umgesetzt wurde, ergab sich einerseits aus der schwankenden Mitgliederstärke, zum anderen aus der Ablehnung dieses Konzepts gerade durch junge Mitglieder. So fanden letztlich auch im Hauptquartier der Bewegung immer mehr gemischte Kurse statt. Diese erleichterten das Anbandeln. Wie weit der britische Faschismus als ein Lebensstil in das Privatleben einiger Mitglieder hineinragte, zeigen Zeremonien mit faschistischer Ästhetik, die mit der Trauung des Ehepaares Dundas begonnen hatten, dann von anderen Paaren übernommen wurden und zu faschistischen Taufen und sogar einer faschistischen Beerdigung führten.1199 Während sich Pamela Ernestine Dorman bei ihrer Eheschließung mit dem Chief of Staff Dundas eigener in-szenatorischer Mittel bediente und ihr Hochzeitskleid mit Rutenbündeln versah, gingen ande-re weibliche Mitglieder weiter und erschienen zu ihrer Trauung gleich in Uniform.1200

Doch wie sahen das an Frauen gerichtete Freizeitangebot der BUF und deren Verständnis von Frauenfreizeit jenseits dieser Subkultur des harten Kerns aus? Vor dem Hintergrund der boomenden kommerziellen Freizeitangebote gerade für junge Frauen, des bereits etablierten breiten Marktes für Frauenmagazine, der großen Popularität der Jugendorganisationen für Mädchen und weibliche Jugendliche und der Fitnesstrends, die den Frauensport immer mehr zum festen Bestandteil der Kultur erhoben, ist es erstaunlich, wie gering das Engagement der britischen Faschisten in diesem Bereich ausfiel: Die BUF nahm nur wenige Modifikationen an ihrem eindimensionalen Freizeitverständnis vor, öffnete sich in der Frauenfreizeit nicht dem unpolitischen Massengeschmack und fand dadurch kaum Anschluss an die wachsende soziale Gruppe junger weiblicher Angestellter und Arbeiter mit eigenem Einkommen.

Zeitgenössische Studien zum Freizeitverhalten junger Frauen legen dar, welch hohen Stel-lenwert der Feierabend und die Freizeit für junge Arbeiterinnen und weibliche Angestellte hatte. Besonders das Kino und die dance-halls waren im städtischen und im ländlichen Raum äußerst populär. Diese Studien zeigen zudem die hohe Nachfrage und das breite Interesse von Mädchen und jungen Frauen an günstigen Büchern, Heftromanen und Zeitschriften.1201 Allein im Londoner Raum gab es 1931 258 Kinos mit 344 000 Plätzen sowie 92 Theater und music- halls mit Raum für 142 000 Besucher.1202 1935 waren einer Erhebung über das Freizeitverhalten der Londoner zufolge allein in der Metropole 39 900 Mädchen Mitglieder der Girl Guides , 34 000 Mädchen und junge Frauen gehörten sozialen Organisationen an, 24 000 besuchten Girls’ Clubs . Die Studie wertete gerade die Vielfalt des Freizeitangebotes und die Anpassungs-fähigkeit dieser Girls’ Clubs an Bedürfnisse und Lebenssituationen der weiblichen Mitglieder als Stärken.1203 Mit ihren selbstreferenziellen Aktivitäten für junge Frauen hatte die BUF in diesem Markt keine Aussichten, als Konkurrenz wahrgenommen zu werden. Ihre Women’s Sections versuchten dies wohl auch gar nicht, sondern agierten wie eine verschworene Gemein-schaft und suchten eine Nische am rechten Rand der Gesellschaft zu besetzen.

Einen kalkulierten Tabubruch nahm die BUF durch die Einrichtung von Kampfsportschu-lungen für Women Blackshirts vor. Wie Fiona Skillen in ihrer Studie zur Popularisierung des Frauensports in der Zwischenkriegszeit erläutert, galt die aktive Teilnahme von Frauen an här-teren Sportarten, die Gewalt oder auch nur körperlichen Kontakt beinhalteten, immer noch als unangemessen, unmoralisch und unweiblich.1204 Die BUF provozierte mit der medialen Ver-marktung ihrer Jiu-Jitsu übenden und fechtenden Frauen. Sie inszenierte die weiblichen Bla- ckshirts als militante, athletische und gefährliche junge Kämpferinnen, die als Amazonen für ihre Sache einträten und bereit seien, Gewalt gegen andere Frauen anzuwenden. Jiu-Jitsu hatte sich bereits im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zu einem internationalen Trend entwi-ckelt. Insofern erschien dieser Sport einem größeren Publikum als modern und provokant zu-gleich. Das Kampfsporttraining war schon bei den weiblichen British Fascists populär gewesen. Hinzu kamen noch nostalgische Erzählungen der ehemaligen Suffragetten von ihren Kämpfen oder ihren Einsätzen als Women’s Auxiliary Police . Das Resultat war eine Verherrlichung von weiblicher Schlagkraft und Gewalt in der BUF.1205 Sporadisch veröffentlichte Fotografien der in Blackshirt -Uniform reitenden jungen Frauen, der fechtenden Anhängerinnen oder der mar-schierenden Kontingente der Women’s Sections vermittelten den Eindruck, die BUF stehe für eine neuartige weibliche Militanz.1206 Die Bewegung spielte mit traditionellen Vorstellungen des geschlechterspezifischen Auftretens, verwischte so augenscheinlich die Trennlinien zwischen femininen und maskulinen Einflussbereichen und gab ihrer pseudo-emanzipatorischen Rhe-torik eine Visualisierung, die sich vermarkten ließ. Die grundlegende Rollenverteilung und die Programmatik beeinflusste dies nicht; es blieb letztlich Symbolpolitik. Die Metropole als Feindbild

Harsch fiel in der BUF die Beurteilung der Populär- und Konsumkultur aus, die gerade junge Frauen seit den 1920er Jahren als Kundinnen und Multiplikatorinnen entdeckt hatte. Wie ita-lienische Faschisten und deutsche Nationalsozialisten griff die BUF den mit urbaner, kosmo-politischer Kultur verbundenen Lebensstil aggressiv an, konzentrierte sich in einer Sozialneid schürenden Agitation auf die Symbole der Roaring Twenties , der Modernisierung, Liberalisie-rung und der Diversität der Gesellschaft. Vor allem die jüdischen Unternehmer aus dem Kreis der Kaufhausbesitzer, der Hoteliers, der Restaurant-, Bar- und Nachtclubbetreiber nahm sie ins Visier. Charakteristika moderner urbaner Kultur prangerte sie als ‚degeneriert, verdorben und unbritisch‘ an.

Die antimodernistischen Züge der BUF-Ideologie bedeuteten die Ablehnung all dessen, was das kosmopolitische London verkörperte. Diese reaktionäre Haltung deckte sich im Falle eini-ger ranghoher Vertreter des britischen Faschismus allerdings nicht mit dem privat präferierten Lifestyle. Nicht umsonst haftete Mosley der Ruf des Lebemanns und Frauenhelden an. Fran-cis Beckett schreibt in einem Buch über seinen Vater John Beckett, der zeitweilig Director of Policy und Herausgeber von Action war, hohe Kreise der BUF seien regelmäßig gemeinsam in Londons Nachtleben ausgegangen. So auch seine Mutter Anne, die John Beckett über Robert Forgan kennengelernt hatte:

Auch bei den geheimen Besuchen britischer Faschisten im nationalsozialistischen Berlin hät-ten diese einschlägige Nachtclubs frequentiert.1208

Die Bewegung bediente sich in ihrer Argumentation gegen die kosmopolitische Konsum- und Vergnügungskultur antisemitischer und rassistischer Vorurteile: Sie attestierte Kauf-hausbesitzern Wucher, Gier oder Ausbeutung. Vor allem das Unternehmen Marks & Spencer , dessen Vorstand Mosley nur wenige Jahre zuvor auf der Suche nach Unterstützern erfolglos umworben hatte, wurde zur Zielscheibe.1209 Im Zentrum ihrer Kulturkritik stand London, ins-besondere der Stadtteil Soho. In dieser kosmopolitischen urbanen Szene trafen unterschied-liche soziale Schichten, Religionen, Ethnien und Einwandererkulturen aufeinander und zu-gleich waren hier Vergnügen, Kultur und wirtschaftliche Existenzsicherung, Kriminalität und politische Agitation eng verknüpft.1210 Die Metropole versinnbildlichte in kleinbürgerlichen und eher provinziellen Milieus alle Negativentwicklungen und Laster der Moderne. Hier setz-te die BUF bzw. BU an: Lokale kriminelle Strukturen dienten ihr als Beleg für das Zutreffen ihrer Niedergangs-Prophezeiungen. Sie stellte, wie David Stephen Lewis erläutert, Assozia-tionen zwischen Bar- und Tanzlokalbetreibern und Zuhälterei und Menschenhandel her und erklärte die Musik der dance-halls zu ‚ jungle music ‘. Die Filme, die in Kinos Massen unter-hielten, seien voller Perversion und die Kunst das Produkt kranker Intellektueller, die sexuell fehlgeleitet seien.1211 Die Bewegung prophezeite ihren Anhängern, eine ‚Unterwelt‘ übernehme schleichend die Kontrolle über die Gesellschaft. In ihrer Anprangerung des Londoner Nachtle-bens berief sie sich in populistischer Weise auf offizielle Berichte über die Kriminalitätsrate in den Bereichen Prostitution und Drogenhandel und zeichnete düstere Zukunftsvisionen einer drohenden Ausbeutung junger Britinnen durch Einwanderer. Ihr Autor Henry J. Gibbs sah in einem nationalen faschistischen Freizeitwerk den Ausweg aus dieser Negativentwicklung: Insgesamt betrieben auch die britischen Faschisten eine Ideologisierung der Kultur, der Ge-selligkeit und des sozialen Lebens. Ziel sollte es sein, eine britische faschistische Volkskultur zu schaffen, die in einer Volksgemeinschaft erprobt, gefestigt und internalisiert würde; diese müsse ‚Nicht-Briten‘ ausgrenzen, um sich zu schützen. Zunehmend explizit bekannte sich die BUF bzw. BU zu ihrer Ausländerfeindlichkeit. So erklärte Mosley 1936 in Fascism: 100 Questi- ons Asked and Answered  – nach einem eindeutig rassistischen Exkurs über das British Empire , in dem britischer „social sense and pride of race“1213 eine ‚Durchmischung der Rassen‘ ver-hindert hätten –, unter Führung der BU würden jegliche Einwanderung verboten und bereits eingebürgerte Immigranten nicht als gleichwertige Mitbürger anerkannt werden:

Das an Radikalität zunehmende ultranationalistische und xenophobe Denken in der briti-schen faschistischen Bewegung hatte letztlich auch Auswirkungen auf ihr Verhältnis zu den italienischen Faschisten, insbesondere aber auf jenes zu den italienischen Einwanderern in Großbritannien, wie das folgende Kapitel zeigt.

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5 Kontakte, Allianzen und Intrigen – eine Beziehungsgeschichte

Italienischer und britischer Faschismus waren auf transnationaler Ebene in komplexen Bezie-hungen miteinander verbunden. Die Kontakte hatten sich nicht zufällig ergeben, sondern wa-ren von ihren Vertretern bewusst aufgenommen und ausgebaut worden. Diese agierten als Teil eines größeren Netzwerks von Anhängern faschistischer und autoritärer gesellschafts- und ordnungspolitischer Mentalitäten. Ihr Kooperationsinteresse war eigentlich ein Widerspruch zu ihrer nationalistischen Ausrichtung, ihrem Selbstverständnis und ihren Hegemonievor-stellungen. In einem transnationalen Raum loteten sie dennoch kontinuierlich Chancen und Grenzen einer Zusammenarbeit vor dem Hintergrund der sich wandelnden eigenen Ansprü-che und externen Kontexte aus. Gerade die Widersprüchlichkeit ihres Handelns ist ein An-reiz, den italienischen und den britischen Faschismus auch mit einem erweiterten transferge-schichtlichen Erkenntnisinteresse als eine transnationale Geschichte zu erfassen.

Die Untersuchung richtet hier den Blick nicht auf zwei Kulturen oder Gesellschaften in einer longue durée , wie die histoire croisée oder die Verflechtungsgeschichte bzw. die entangled his- tory verlangen.1215Vielmehr behandelt sie den zeitlich begrenzten gezielten Transfer und die beziehungsgeschichtliche Dimension der Kooperationen, Konflikte und gegenseitigen Wahr-nehmungen einzelner Akteursgruppen, die hinsichtlich ihrer Größe und Handlungsoptionen asymmetrisch waren.

Die bisherige Analyse hat gezeigt, dass eine komparative Untersuchung der Agitationsfelder Jugend und Freizeit viele Gemeinsamkeiten und Unterschiede deutlich werden lässt, die in Einzelanalysen nicht auffallen, da erst die Besonderheiten einer Vergleichseinheit die Frage nach Entsprechungen in den anderen Einheiten provoziert und so den Blick schärft. Deutlich geworden ist auch, dass sich ideologische, programmatische und inszenatorische Transfers zwar lokalisieren und benennen, nicht aber zweifelsfrei als direkte Adaptionen nachweisen lassen, da die Akteure diese selektiven Übernahmen oft leugneten und vehement Originalität und Singularität für sich reklamierten. Als ultranationalistische Bewegungen argumentierten sie, die eigene Nation sei durch Dekadenz bedroht und müsse durch eine Revolution regene-riert und zu historisch vorherbestimmter Größe geführt werden. Wie Margrit Pernau betont, ist Nation als ein Konstrukt zu sehen, das durch Zuschreibung Bedeutung erhalte, „immer einen Akt der Homogenisierung nach innen und der Differenzbildung nach außen“1216 be-inhalte und an Überzeugungskraft gewinne, wenn es in Praktiken umgesetzt, ritualisiert und inszeniert werde.1217 Im italienischen und im britischen Fall sowie in jenem der Fasci all’Estero bildeten der Nationenbegriff und die absolute Überhöhung der Nation ein Leitmotiv in der Ideologie und Programmatik.

In den frühen 1930er Jahren gewann dennoch in den Bewegungen parallel Internationalität als Charakteristikum des Handlungsspielraumes und als Faktor der Machtaneignung bzw. Machterweiterung an Beachtung. Auch hier fand diskursiv eine Homogenisierung nach innen statt, also unter den beteiligten Akteuren im transnationalen Gefüge, und eine Differenzbil-dung nach außen, zu allen außerhalb ihrer Übereinkünfte Stehenden. Die Beschwörung von Einmütigkeit, Gleichgesinntheit und einer machtpolitischen Interessengleichheit war aller-dings sehr brüchig, intern umstritten und von spannungsgeladenen gegenseitigen Wahrneh-mungen und dem Superioritätsdenken beeinflusst.

Transnationalität muss in dieser Untersuchung nicht erst auf die Untersuchungsgegenstän-de projiziert werden, denn sie ist auf mehreren Ebenen manifest: in den Kontakten zwischen den Bewegungen, ihrem Verhältnis zueinander, in ihrem zeitweilig universalistischen, dann wieder als singulär bemühten Faschismusbegriff oder in ihrer Sicht auf die in ihrem Agita-tionsraum lebenden Anhänger des anderen Faschismus. Die Verbindungen zwischen italieni-schen und britischen Faschisten waren allerdings in beiden Räumen begrenzt; sie agierten oft miteinander, jedoch in klaren Schranken. So zeigen sich einzelne Flechtstränge zwischen den Bewegungen, die sich bildlich zwar nicht als ein dicht gewebter Teppich illustrieren lassen, wie ihn konzeptionelle Überlegungen der histoire croisée und der Verflechtungsgeschichte voraus-setzen, wohl aber als lockere Zöpfe.

Die Beziehungen zwischen italienischen und britischen Faschisten entwickelten sich vor dem Hintergrund eines schon lange währenden Austausches zwischen den Gesellschaften, in denen sie sich formierten, und der bilateralen gegenseitigen Wahrnehmungen, also einer größeren italienisch-britischen Geschichte. Vorstellungen von der jeweils anderen Kultur, die faschistische Akteure äußerten, waren insgesamt vielschichtig und oft widersprüchlich: Neben chauvinistischen Positionen spiegelten sich hier immer auch ein traditionelles Italienbild in Großbritannien und, analog, ein traditionelles Bild Großbritanniens bzw. Englands in Italien. Gegenseitige Einschätzungen in den Quellen zeigen den Einfluss von stereotypen Vorstellun-gen über den ‚Anderen‘. Der Fokus liegt hier aber nicht auf langfristigen kulturellen Verknüp-fungen der Gesellschaften, sondern auf den konkreten Allianzen und den Faktoren, die sie beeinflussten. Italienische und britische Faschisten nahmen Beziehungen in einem transnatio-nalen Raum auf und machten diesen zu einem Austragungsort ihrer Politik. Ihre Verbindun-gen nutzten ihnen politisch, wirtschaftlich und inszenatorisch. Gleichzeitig höhlten sie aber den nationalistischen Impetus aus. Transnationalität als Merkmal eines Lebensstils wurde derweil in beiden Bewegungen negativ bewertet, als Verlust von Zugehörigkeit und Identität. Ihrer Zusammenarbeit verordneten sie also die Wahrung klarer Verhältnisse; doch war sie geprägt von Paradoxien und Disparitäten, von Sympathien und Antipathien, von Konkurrenz und Intrigen. Eine faschistische Internationale, die CAUR und die BUF

„Il Fascismo Come Fattore Di Pace Universale“1218 – unter dieser Überschrift erschien im Oktober 1932 ein Aufsatz Oswald Mosleys in Gerarchia , der italienischen faschistischen Zeitschrift für die Parteikader. Der Faschismus als Faktor (im Sinne eines Schöpfers) uni-versellen Friedens – dieser Titel war eigentlich ein Etikettenschwindel, denn der Aufsatz präsentierte vor allem die neugegründete BUF in britischer historischer und innenpoli-tischer Perspektive. Auf einen fascismo universale kam Mosley erst in den abschließen-den Zeilen zu sprechen, als er die Vision eines Friedens, den faschistische Kräfte in allen zivilisierten Ländern auf der Grundlage einer weltweiten Organisation schaffen könnten, verkündete. Es bedürfe des ‚eisernen Realismus des faschistischen Universalismus‘ als Ge-genentwurf zur, wie er schrieb, ‚kränklichen Sentimentalität der sozialistischen Interna-tionale‘.1219

Mosley bewies 1932 Gespür für Opportunitäten. Die Gründung der BUF fiel exakt in die Phase des italienischen Faschismus, in der sich Befürworter eines Exportes von Programmatik und Ideologie und der Konstruktion einer internationalen faschistischen Allianz durchzuset-zen begannen. Die BUF befand sich damit von Beginn an im transnationalen Beziehungs-gefüge faschistischer Bewegungen. Sie durchlief, im Unterschied zum italienischen Fall, die Entwicklungen zu einer nationalen Bewegung mit politischem Einfluss und zu einem Akteur in diesem internationalen Netzwerk gleichzeitig.

Die in den 1920er Jahren in Italien erfolgte Machtkonsolidierung, die Ausschaltung poli-tischer Gegner, die zunehmende Zensur und Gleichschaltung konkurrierender Institutio-nen waren entscheidende Vorbedingungen für den Kurswechsel des Regimes gewesen, wie Michael Arthur Ledeens Untersuchung zu Konzeptionen einer faschistischen Internatio-nale aufzeigt.1220 Die Diskussionen über eine internationale Orientierung oder eine Export-fähigkeit hatten sodann auch die Fasci all’Estero frühzeitig erfasst, denn mit ihrer Insti-tutionalisierung und ihrer propagandistischen Ausrichtung war ihnen ein exportierender Charakter eigen. Vehement lehnten ihre Repräsentanten den Begriff einer Internazionale ab, der ihnen von sozialistischer und liberaler Seite zum Vorwurf gemacht worden sei. Mit Emphase insistierten sie, der Nation und der Italianità verpflichtet zu sein.1221 In London nahm ein Kommentator in L’Eco d’Italia erbost Stellung zu Briten, die sich eine faschisti-sche Missionierung durch italienische Freunde verbeten hätten, und zu jenen, die meinten, den Faschismus adaptieren zu können. Er urteilte lapidar, der Faschismus sei singulär und er sei italienisch.1222

Der Einflussgewinn universalistischer Auslegungen des Faschismus war ein längerer Pro-zess, der sich aus unterschiedlichen Strömungen in der Bewegung speiste. In den späten zwan-ziger Jahren führten die divergierenden Ansätze einer Ideologie- und Institutionenkritik zu einer Neubewertung der Internationalisierung, die schließlich über ein ganzes Netz von ver-mittelnden Institutionen Zuspruch und Verbreitung fand.1223 Die Debatten um einen univer-salistischen Anspruch oder eine Internationale waren dabei maßgeblich von einem internen Generationenkonflikt beeinflusst, der die bereits kursierenden Wahrnehmungen einer ideo-logischen Unzulänglichkeit oder einer Aushöhlung der Revolutionsideale kanalisierte.1224Auf intellektueller Ebene beförderte dies eine Kulturkritik, die eine Unzufriedenheit mit dem starren Gefüge und der vermeintlichen Trägheit des Regimes ausdrückte und nach Weiter-entwicklung verlangte. Eine Verjüngung, die Formung neuer Eliten und eine Re-Ideologisie-rung und Mystifizierung des Faschismus waren zentrale Postulate. In diesem Kontext sind die durch Arnaldo Mussolini in Mailand gegründete Scuola di Mistica Fascista und die Polemik Giuseppe Bottais zu sehen, der mit der Zeitschrift Critica Fascista eines der einflussreichsten Foren zur Kritik der jungen Generation an der älteren bot.1225

Noch im März 1928 hatte Benito Mussolini betont, der Faschismus eigne sich nicht zum Ex-port.1226 Den Kurswechsel machte er in einer Rede am 27. Oktober 1930 öffentlich, bezeichnete Idee, Doktrin, Realisierung und Geist des Faschismus nun als universell.1227 So wenig stringent und kohärent die Einlassungen des Regimes in der Folgezeit ausfielen, so prominent wurde doch der Begriff des Universalismus.

Propagiert wurde die Idee eines fascismo universale in einer ganzen Reihe von Medien. Ins-besondere Asvero Gravelli wurde zu einem wichtigen Akteur und seine Zeitschrift Ottobre rasch zu einem Forum internationaler Beiträger. Seit der Mitte der zwanziger Jahre standen in den Debatten divergierende Konzeptionen einer Internazionale fascista oder eines fascismo universale in Konkurrenz, die zugleich Schnittstellen zu den Aktivitäten der Fasci all’Este- ro zeigten. Gravelli und andere verwendeten den Terminus panfascismo ; andere Angehöri-ge dieser Kreise sprachen von einer Art europäischer Föderation faschistischer Nationen. Sie einte, wie Davide Rodogno konstatiert, ein Sendungsanspruch, der Rom zum Zentrum einer zivilisatorischen Transformation Europas erklärt habe. Dabei seien hohe Erwartungen an die Rückwirkung einer europäischen Mission des faschistischen Italien geknüpft worden. In ihr hätten junge Faschisten ein Heilmittel gegen die von ihnen empfundene Verbürgerlichung des Faschismus und Banalisierung seiner Ziele gesehen.1228

Die Entwicklung in Italien und das Erstarken des Nationalsozialismus in Deutschland, der italienische Hegemonievorstellungen in Frage stellte, übten eine starke Sogwirkung auf kleinere faschistische Bewegungen aus, deren Repräsentanten nun internationale Foren fan-den. In Gravellis Zeitschriften Ottobre und Antieuropa erschienen sodann auch Essays Os-wald Mosleys, der zu dieser Zeit Opportunitäten der Vernetzung suchte und mit Gravelli in Kontakt stand.1229 Das Titelblatt des Ottobre vom 1. Juli 1933 übernahm eine Karikatur aus The Blackshirt , die als weder künstlerisch noch inhaltlich ausdrucksstark zu bewerten ist; sie präsentierte, wenig subtil, die Blackshirts als Wahrer des englischen Nationalismus.1230 Das Verhältnis kühlte allerdings bald wieder ab. Gravellis Panfascismo von 1935 erwähnte Mosley zwar als Anführer der britischen Faschisten und früheren Beiträger, aber nicht mehr als wich-tigen Mitstreiter. Angesichts der Verbindungen der BUF zum italienischen Regime und der Intensität, mit der sie den Kontakt zu etablieren gesucht hatte, ist dies irritierend. Zu fragen ist: Wie fügte sich die BUF in das internationale Geflecht faschistischer Bewegungen ein? Welche Positionen nahm sie zu einem fascismo universale ein? Wie wurde sie von den italienischen Verbindungsmännern eingeschätzt? Wie gestaltete sich das Verhältnis?

Die Möglichkeit einer nicht mehr nur auf persönlichen Kontakten beruhenden, sondern in-stitutionalisierten Einbindung ausländischer faschistischer Bewegungen wie der BUF in den italienischen fascismo universale ergab sich im Juni 1933, als die Comitati d’azione per l’univer- salità di Roma (CAUR), die Aktionskomitees für die Universalität Roms, gegründet wurden. Deren Emblem spiegelte einen mit dem Romanità -Mythos verbundenen Missionierungsan-spruch deutlich wider. Es zeigte die Wölfin mit den Knaben, ein M und den Schriftzug Roma Universa . Die CAUR zielten darauf, wie Monica Fiovaranzo betont, „to spread the classical ide-als of Roman culture ( Romanità ), embodied in Fascism, to movements and groups throughout Europe.“1231 Aus Sicht der Anhänger der CAUR schien deren Herrschaftsanspruch durch ein Sendungsbewusstsein und eine Mission legitimiert: „According to this ideology, only Rome could ensure the “political restoration” of a “divided and tormented world”.“1232 Innenpolitisch kam ihnen noch eine pragmatischere Rolle zu, waren sie doch der Versuch des Regimes und Mussolinis, die heterogene Bewegung der Internationalisierungsbefürworter unter Kontrolle zu bringen und die Kritik am Regime einzudämmen.1233

Führen sollte die CAUR Eugenio Coselschi, ein ex-combattente , der bei der Besetzung Fiu-mes als persönlicher Sekretär Gabriele D’Annunzios in Erscheinung getreten war. Coselschi, der Rechtswissenschaften und Französische Literatur studiert hatte, soll sich als Poet verstan-den haben und in den 1930er Jahren auch als Radiokommentator tätig gewesen sein. Seit dem ‚Marsch auf Rom‘ hatte er verschiedene Posten in Kultur- und Propagandaeinrichtungen inne-gehabt.1234 Die CAUR wurden dem Sottosegretariato per la Stampa e la Propaganda unterstellt, dessen Leitung Galeazzo Ciano oblag. Ihr erster Kongress fand im Dezember 1934 in Mont-reux statt. Faschistische oder mit dem Faschismus sympathisierende Bewegungen aus Öster-reich, Dänemark, Belgien, Frankreich, Griechenland, Irland, Norwegen, den Niederlanden, Portugal, Rumänien, Schweden, der Schweiz, Spanien und Litauen nahmen daran teil.1235 Die BUF war hier nicht vertreten. Aus den Akten des italienischen Regimes geht allerdings hervor, dass ihre Führung spätestens seit Mai 1934 in Kontakt mit Coselschis Organisation stand. Der Stabschef, Ian Hope Dundas, hatte persönlich die Zentrale der CAUR in Rom aufgesucht, um sich über deren Ziele zu informieren.1236 Dass die BUF sich später nicht zu den Beschlüssen von Montreux bekennen wollte, wurde seitens der Vertreter der CAUR, die Mosleys Bewegung inspizieren und analysieren sollten, als ein negatives Vorzeichen für die Zusammenarbeit ge-wertet.

Asvero Gravelli suchte derweil Anschluss an die International Action of Nationalisms , die ihren Sitz in Zürich hatte. Sie tagte 1934 und 1935 in Zürich und Berlin . Aus Gravellis Be-schreibung des Berliner Kongresses geht hervor, dass die BUF nicht teilnahm.1237 In Zürich soll Mosley dagegen gesichtet worden sein. Diese konkurrierende Organisation hätten die deutschen Nationalsozialisten mitfinanziert, die Montreux fern geblieben waren.1238 Für die BUF wie für die zahlreichen anderen faschistischen oder nationalsozialistischen Bewegungen in Europa in den frühen 1930er Jahren gilt, dass sie sich in dem bipolaren Wirkungsfeld des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus bewegten und ihre Ähnlich-keiten, Unterschiede, gemeinsamen Interessen und ideologischen wie machtpolitischen Kon-flikte mit dem einen oder dem anderen Regime intern und in einem Austausch miteinander diskutierten, um sich zu positionieren. Denn auch die kleineren Bewegungen waren durch Allianzen oder Konkurrenz und Abgrenzung miteinander verbunden und sie mussten sich zueinander verhalten.

In Montreux wurde die Übereinkunft formuliert, zur Faschisierung Europas bedürfe es der Überzeugung und Mobilmachung der Jugend. Der fascismo universale nahm damit den Giovinezza -Mythos wieder auf. Trotz vieler Differenzen einigte man sich auf ideologische Grundpfeiler: einen starken Staat, die gesellschaftliche Neuordnung im Sinne des Korpora-tivismus und die Mobilisierung der Jugend Europas zu einer Revolution.1239 Die Idee, über die CAUR eine faschistische Internationale mit einer Vertretung in den beteiligten Ländern zu etablieren, traf bei kleineren europäischen faschistischen Bewegungen auf Zuspruch. Aus-handlungen über Inhalte und Ziele verliefen dennoch schleppend. Der vage Kompromiss des Kongresses von Montreux hinsichtlich eines Leitgedankens war symptomatisch. Die CAUR organisierte drei weitere Kongresse, die im Januar 1935 in Paris, im März desselben Jahres in Amsterdam und im September erneut in Montreux stattfanden.1240 Über das Verhältnis zu den deutschen Nationalsozialisten, deren Antisemitismus und über den Rassenbegriff wurde bei den Treffen debattiert, dazu aber letztlich keine gemeinsame Linie gefunden. Die BUF-Füh-rung war, so lässt sich späteren Stellungnahmen der italienischen Kontaktpersonen entneh-men, auch bei diesen Kongressen nicht unter den Teilnehmern, obwohl sie mehrfach bekundet hatte, an einer Einbeziehung interessiert zu sein. Exemplarisch zeigt sich auch hier, dass in den asymmetrischen Beziehungen zwischen den Regimen und den kleineren Bewegungen sich die letztgenannten eine gewisse Unabhängigkeit zu bewahren suchten und ihnen die Internatio-nalisierungsbestrebungen der in Konkurrenz stehenden ‚großen Faschismen‘ Verhandlungs-spielraum boten.

Im Juni 1935 reiste auf Veranlassung des Ministero per la Stampa e la Propaganda und der CAUR ein sich als Gesandter inszenierender Inspizient namens Pier Filippo Gomez Homen nach London, um vor Ort das durch den Abessinienkonflikt angespannte britisch-italieni-sche Verhältnis zu analysieren und eine Bewertung der BUF vorzunehmen. Sollte diese als Bündnispartner untauglich erscheinen, so sollte Gomez Homen vor Ort gezielt Alternativen ausloten. Er kam zu einem ablehnenden Urteil über die BUF, denn er bezweifelte, dass Mosley bereit sei, sich entschlossen hinter die Beschlüsse von Montreux zu stellen oder sich der CAUR anzuschließen. Der Inspizient vermutete dahinter Kalkül angesichts Mosleys zunehmend of-fen geäußerten Sympathien für den Nationalsozialismus. Zugleich kritisierte er die mangelnde Effizienz der BUF.1241

Es lohnt, die Quelle über die sachliche Erkenntnis Gomez Homens hinaus ausführlicher zu betrachten, denn sie ist im Sinne einer Kulturgeschichte des Politischen sehr interessant. Go-mez Homens Bericht ermöglicht viele Einblicke unter die Oberfläche. Er ist voller vielsagender Zwischentöne und wirft in beide Richtungen ein Licht auf Mentalitäten und persönliche Ani-mositäten. Der Beobachter der CAUR ließ seine Eindrücke zu den befragten Personen unge-filtert in den Bericht einfließen und sparte nicht mit bissiger Kritik. Er habe ein zweistündiges Gespräch mit Mosley geführt, mehrfach den Stabschef Ian Hope Dundas getroffen und weitere Vertraute Mosleys befragt. Die BUF habe 400 Sektionen mit einer Mitgliederstärke zwischen 40 und 2000; Dundas habe aber keine Details offengelegt mit der Begründung, sie dokumen-tierten diese nicht, um im Falle einer polizeilichen Durchsuchung kein belastendes Material zu liefern. Gomez Homen überzeugte dies nicht. Der Prozess der Umstrukturierung, den man ihm erläutert habe, sei faktisch eine moralische, politische und finanzielle Krise, die alle Män-gel der Bewegung offenbare: die Unfähigkeit der Kommandoebene, die Mittelmäßigkeit der Berater und des Stabs, zweifelhafte Führungszeugnisse bei vielen Mitgliedern, die zwar eine gewisse Gefügigkeit bei militaristischer Disziplin zeigten, denen aber der Antrieb zum Faust-schlag oder zum Schlag gegen den Staat fehle.1242

Der Gesandte der CAUR sah allerdings auch strukturelle Gründe dafür, dass Mosley noch keine Macht erlangt hatte: Für einen Aufstieg in der britischen Gesellschaft hätten zwei ent-scheidende Faktoren der Massenmobilisierung gefehlt: Unzufriedenheit und Elend – eine Ein-schätzung, welche die Verzahnung massenpsychologischer Theorien mit machtpolitischen Er-wägungen deutlich werden lässt. Gomez Homen lieferte den CAUR und dem Ministero per la Stampa e la Propaganda ebenso anschauliche wie geringschätzige Beschreibungen seiner Gesprächspartner: Mosley sei ein „bruno bellimbusto casanoviano“1243, also ein gebräunter und dunkelhaariger Stutzer des Typs Casanova, bei dem vom Aussehen bis zu seinen Theorien aufscheine, dass bei weitem nicht alles englisch sei, von dem er es behaupte. Mit der spötti-schen Charakterisierung als Stutzer, einer beliebten Invektive in der Etikette-Literatur vom 17. bis zum 19. Jahrhundert, attestierte Gomez Homen Mosley zwar Galanterie, aber auch Eitel-keit, lockere Moral und – was am schwersten wog – fehlende Seriosität. Die von den italieni-schen und britischen Faschisten exaltierte Ästhetisierung der Politik und des Politikers traf hier – darin liegt eine gewisse Ironie – nicht auf einen geneigten Betrachter. Dessen Kritik an Auftreten und Selbstinszenierung der britischen Gastgeber richtete sich ebenso gegen den Stabschef: Dundas sei ein rothaariger Schotte mit begrenzten Fähigkeiten, aber umso stärkerer Überzeugung. Er sei bei der Marine gewesen, leide aber an Seekrankheit.1244

Viele solcher Anspielungen drehen sich um die Wahrnehmung von Männlichkeit und nut-zen die Dichotomie von Virilität und Effemination. Gomez Homen stellte, wie andere ita-lienische Beobachter, die Virilität der Blackshirts in Frage. Dies war ein beliebtes Muster der ultimativen Diskreditierung, das als Charakterstudie in beide Richtungen weist. In diesen Kontext floss bisweilen die Erörterung ein, ob Mosley jüdische Wurzeln habe oder jüdisch aussehe. Es erscheint fast ironisch, dass der radikal antisemitische Leader der BUF von sei-nen italienischen faschistischen Kontaktpersonen mit antisemitischen Zuschreibungen einer jüdischen Identität belegt wurde – Attribuierungen, die auch andere britische rechtsextreme antisemitische Akteure in Bezug auf Mosley verwendeten.

Gomez Homen beschrieb ihn des Weiteren als schwarzhaarig mit Hakennase und großer Statur. Er könnte Italiener sein und in der Ersten Mannschaft des A. S. Roma spielen. Sein Blick und seine Mimik hätten allerdings etwas Aufgesetztes. Auch das Gemälde des Duce hinter Mosleys Schreibtisch und ein Emblem der CAUR in seinem Büro wirkten auf Gomez Homen zu inszeniert, denn nichts hätte auf den „hitlerismo“1245 hingewiesen, obwohl Mosleys Bewun-derung für Hitler bekannt sei.1246 Die Einschätzung zeigt, dass das Taktieren Mosleys auf ita-lienischer Seite durchschaut wurde.

Aus dem Bericht geht ferner hervor, dass Dundas bereits eine Abschrift der Protokolle des Montreux-Kongresses vorliegen hatte. Mosley habe bekundet, seine politischen Gegner könn-ten es öffentlich gegen ihn verwenden, wenn er sich anschließe. Gomez Homen referierte, er habe Mosley auf den offensichtlichen Widerspruch hingewiesen, es für gefährlich zu halten, sich einer internationalen Allianz faschistischer Bewegungen anzuschließen und doch kei-ne Bedenken zu haben, ständig nach Rom zu reisen, sich mit dem Duce zu zeigen und seine Solidarität zu bekennen. Mosley habe wissen wollen, ob Deutschland sich der Gruppe von Montreux angeschlossen habe und ob Asvero Gravelli eine ähnliche Initiative wie die CAUR plane.1247 Der zeitliche Kontext legt nahe, dass Mosley bei seinem Besuch in Italien wenige Wo-chen später versuchte, die Zweifel an seiner Loyalität zu zerstreuen und die BUF als verbündete Bewegung zu präsentieren. Zwischen der Reise des CAUR-Delegierten und dem Auftakt der Mind Britain’s Business Campaign der BUF lagen nur wenige Monate.

Gomez Homen suchte nun nach Alternativen für das Bündnis. Seine Wahl fiel auf Charles Petrie, für den sein Vermögen und die daraus resultierende finanzielle Unabhängigkeit spreche. Auch verkehre dieser im Carlton Club , dem Treffpunkt der Conservative Party , und er sei in anderen Parteien gut vernetzt, Oxford-Absolvent, Autor und ausgewiesener Freund der Italie-nischen Botschaft. Seit Jahren halte er sich dieser zur Verfügung. Schon 1933 habe er sich selbst den CAUR angedient. In der Vision Gomez Homens sollten die CAUR mit Petrie als englischem Multiplikator eine neue faschistische Bewegung der Jugend konstituieren, Förderer gewinnen und die aktiven anglo-italienischen und italophilen Organisationen in die Arbeit einbeziehen.1248

Sir Charles Petrie hatte 1931 eine Mussolini-Biografie veröffentlicht, in der er seine Bewun-derung nicht verhehlte und in der er Luigi Villari, einem der führenden italienischen Pro-pagandisten in London, für die Zusammenarbeit dankte. Petrie stellte die europäische Di-mension des Faschismus heraus, den er in einer Passage – wohl des eigenen sozialen Status bewusst – als „essentially a revival of aristocracy, in the etymological sense of the word“1249beschrieb. Mussolini repräsentiere:

Petrie scheint sich mithilfe des Botschaftssekretärs Vitetti als Kontrahent der BUF ins Spiel gebracht zu haben – eines Mannes, zu dem, wie im Folgenden noch erläutert wird, Ian Hope Dundas eine offene Feindschaft pflegte. Die CAUR hätten mit Petrie als Verbindungsmann eine engere Anbindung an konservative italophile bzw. regimefreundliche britische Kreise aus dem Umfeld des Fascio vornehmen können, die die BUF ablehnten. Zu dieser Art der Ko-operation kam es allerdings nicht. Schon 1935 soll in Italien der Zuspruch zu den CAUR ab-genommen und Galeazzo Ciano sie als ineffizient und nicht zielführend beurteilt haben.1251Im Zuge der sich herausbildenden Allianz der ‚Achse Berlin-Rom‘ wurden dann die Konzep-tionen einer faschistischen Internationale ohne NS-Deutschland obsolet. Coselschis CAUR passten sich zwar an den neuen Kurs an, ihr Handlungsspielraum wurde aber sukzessive ein-geschränkt und sie verloren weiter an Einfluss.1252

Für die kleineren Bewegungen hatte in den CAUR eine Chance zur Vernetzung und Förde-rung gelegen. Weshalb also hatte die BUF einem Engagement nicht zugestimmt, obwohl dies ihre Beziehungen zu anderen europäischen Bewegungen hätte festigen und ihren Einfluss-bereich vergrößern können? War nur ihre Annäherung an die Nationalsozialisten ausschlag-gebend? Welche internen Überlegungen spielten hier eine Rolle? Wie äußerten sich britische Faschisten in programmatischen Schriften zur Frage eines fascismo universale ? In frühen Tex-ten der BUF finden sich Einlassungen zum Ziel einer internationalen Kooperation nach einer Machterlangung der britischen Faschisten. Der ganzseitige Bericht zur Romreise ihrer Dele-gation 1933 nahm das Narrativ eines „universal Fascism“ auf und sprach von einem „common service to a common cause“1253.

Das Insistieren auf eine Verwurzelung der Ideologie und Programmatik in der Tudor-Zeit korrespondierte mit dem ultranationalistischen Denken und der imperialistischen Mentalität vieler BUF-Anhänger. Ebenso wie der Romanità -Mythos dem italienischen Faschismus eine vermeintliche historische Legitimation verlieh, fungierte der Tudor-Historismus der BUF als Anker in der britischen Geschichte. Beide Narrative nährten die Behauptung ultimativer zi-vilisatorischer und kultureller Überlegenheit. W. E. D. Allens Essay Fascism in Relation to British History and Character ist paradigmatisch für die widersprüchliche Verknüpfung von Nationalismus und Universalismus. Allens Argumentation definiert den Nationalismus als „the idealisation of the nation as the supreme synthesis of a group of individuals with a com-munion of linguistic and historical traditions and of regional and economic interests“1254. Seine Ausführungen zum Begriff universal fascism vermeiden dagegen klare Definitionen des Be-ziehungsgefüges der Faschismen:

Die BUF bekannte sich über Formeln der Freundschaft und der gemeinsamen Interessen hi-naus nicht explizit zu einem universalistischen Anspruch des italienischen Regimes. Da sie in einem solchen Machtgefüge, in dem Italien die Führungsrolle beanspruchte, eine Unter-ordnung hätte vornehmen und kommunizieren müssen, hätte sie die Radikalisierung ihres Nationalismus, die sie zeitgleich vorantrieb, ad absurdum geführt. In ihrer Programmatik ge-noss der Nationalismus den Primat.

Die BUF profitierte zwar in finanzieller und in propagandistischer Hinsicht von Mussolinis erwachtem Interesse an einem Internationalismus, sie war aber zugleich noch mitten in ihrer Konstituierung als britische Bewegung in der britischen Parteienlandschaft vor einem briti-schen Publikum. Die außenpolitischen Stellungnahmen der BUF waren schon in The Greater Britain vage. Das Leitmotiv bildete hier eine Wiederbelebung des britischen Imperialismus. Ohne innenpolitisch Gewicht erlangt zu haben, war eine außenpolitische Agitation wenig sinnvoll – insbesondere, wenn sie sich nicht auf das von der BUF proklamierte British Empire als Teil des Greater Britain bezog, sondern auf eine Allianz mit anderen europäischen Mäch-ten und Bewegungen, aus der für die britischen Anhänger kein unmittelbarer wirtschaftlicher oder territorialer Nutzen resultierte.

Die Beschwörung eines universal fascism hatte aber einen inszenatorischen Wert, da sie im höchsten Maße provokant und aufsehenerregend war, solange eine Allianz als diffuse Drohung im Raum stand. In der Binnenkommunikation kam die Bezugnahme auf das faschistische Ita-lien als Vorbild und Freund einem Ritual gleich und es nutzte ihr, dass solche Ritualisierungen eine systemstabilisierende Wirkung entfalten.1256 Die BUF erzeugte so ein Kontinuitätsver-sprechen und eine Zukunftsvision. Die wenigsten Artikel in ihren Medien, die sich mit dem italienischen Faschismus oder dem deutschen Nationalsozialismus befassten, thematisierten die markante Asymmetrie als Problem. Sie verwiesen vielmehr diffus auf geglückte Fälle einer Realisierung von Politik, die ihrer ähnlich sei. Die schon ritualisierte Bezugnahme auf die ‚großen Faschismen‘ verwies auf einen größeren geografischen und politischen Raum und be-hauptete – mehr oder weniger unterschwellig – einen „sakralen Zusammenhang“1257, näm-lich den Faschismus als angeblich schicksalhaft vorherbestimmte Zukunft. Die Texte der BUF über den italienischen Faschismus oder den deutschen Nationalsozialismus lösen sich in der Regel in einer abstrakten Zukunftsvision auf, der britische Faschismus werde ‚seinem Land‘ einen ähnlichen Wiederaufstieg bringen. Während die Institutionalisierung der Allianz über die CAUR scheiterte, standen italienische und britische Faschisten und die Fasci all’Estero doch vor, während und nach dieser Episode in Kontakt und in Austauschprozessen, wie im Folgenden erläutert wird. Institutionalisierte britisch-italienische Freundschaften als Foren der Auslandspropaganda

Die Fasci all’Estero in Großbritannien erachteten von Beginn an eine Kontaktpflege zu Ita-lien-interessierten Briten als wichtig. Eine Schlüsselrolle schrieben sie Kulturvereinen, Stu-dienkreisen oder Charity -Organisationen zu. Sie knüpften dabei an etablierte Beziehungen lokaler italienischer Institutionen zur britischen High Society an und stellten thematisch ein elitäres, kulturzentriertes Italienbild in den Mittelpunkt, das sich eklektisch aus der Kultur der Renaissance und des antiken Rom, der italienischen Oper oder den Eindrücken der Grand Tour speiste. Camillo Pellizzi hatte nicht ohne Grund frühzeitig Anschluss an intellektuelle konservative Kreise und die Società Dante Alighieri in London gesucht. In den späten 1920er Jahren organisierten der Fascio di Londra , der Club Cooperativo und die Società Italiana di Be- neficenza regelmäßig italienisch-britische Veranstaltungen, welche die italienische Kultur als Hochkultur einem breiteren Publikum präsentierten und der Pflege von Netzwerken dienten.

Kulturveranstaltungen, die im Umfeld der Fasci , der Italienischen Botschaft oder der Kon-sulate stattfanden, glichen sich in ihrer Ausrichtung. Sie setzten eine sehr traditionelle Aus-wahl aus Kunst, Literatur und Musik in Szene. Nicht modernistisch und avantgardistisch, sondern klassisch und konservativ war das Programm. Ein traditionelles Arkadienbild formte den Überbau für den in festlicher Atmosphäre stattfindenden Kulturaustausch. Diese Veran-staltungen dienten allerdings zugleich der Werbung für das Regime, denn nach dem Willen ihrer Initiatoren sollten sie ‚im Ausland bestehende Irrtümer‘ bezüglich des italienischen Fa-schismus und der italienischen Nation beseitigen.

Zur Lebensrealität der Mehrheit der in Großbritannien lebenden Italienerinnen und Italiener oder zur britischen Sicht auf Londons Little Italy hatten sie zumeist keinen inhaltlichen Bezug. Die faschistische Partei nutzte die Events zur positiven Selbstdarstellung, nicht zur Thematisierung sozialer oder wirtschaftlicher Probleme vor Ort. Unter den Italienern, die den Fasci nahestanden, erfreuten sich diese Veranstaltungen dennoch großer Beliebtheit. Auf emotive Weise erreichte das kulturpolitische Programm Teile der Einwanderergemeinden, da es nicht nur Unterhaltung und Bildung bot, sondern ebenso eine positive Reputation Italiens vermittelte. Außerdem wandte es sich an aufgeschlossene britische Kreise wie auch Gäste anderer Herkunft. Da viele Veranstaltun-gen nicht nur parteipolitisch geprägt, sondern zudem sozial exklusiv waren, verkehrte die Elite der italienischen Gemeinde zu ihren Bedingungen mit einem britischen Personenkreis, an den sie gesellschaftlich und wirtschaftlich Anschluss gesucht hatte. Sie waren faktisch eine Bühne italie-nischer Auslandspropaganda, die auch geneigte britische Akteure mitbespielten.

Als ein Kooperationspartner diente sich die Anglo-Italian Literary and Dante Society an. Sie war 1907 auf Initiative des damaligen italienischen Botschafters gegründet worden und hatte nach dem ‚Marsch auf Rom‘ nichts von ihrer Nähe zum italienischen Staat eingebüßt. Im Gegenteil, sie hatte einen fließenden Übergang vom liberalen Staat zur Diktatur vollzogen und erhielt 1932 eine Auszeichnung vom Regime für ihre ‚hervorragende Arbeit der Kultur-propaganda‘.1258 Sie unterstand der Schirmherrschaft der Botschaft und hielt in der Wahl ihrer Veranstaltungsorte oft Abstand zur italienischen Gemeinde in Clerkenwell und Soho, richtete z. B. exklusive Empfänge in Privatanwesen mit Kammermusikkonzerten oder Rezitationen aus.1259 Ein prominentes Mitglied dieser Gesellschaft war Rennell Rodd, der frühere britische Botschafter in Italien. Er gehörte zugleich zum Bekanntenkreis Oswald Mosleys und überließ diesem 1935 sein Haus in Italien für die Sommerferien (vgl. Kap. 3.4).1260 Auch Camillo Pel-lizzi war Mitglied des Komitees der Gesellschaft, in der er Vorträge über italienische Literatur hielt.1261 Veranstaltungen der Anglo-Italian Literary and Dante Society wurden seit Beginn der dreißiger Jahre zunehmend explizit politisch. Im Januar 1933 richtete die Gesellschaft einen Empfang für den Botschafter Dino Grandi aus, bei dem Lord Burnhams Laudatio den ‚beein-druckenden Aufstieg des faschistischen Italien‘ pries. L’Italia Nostra berichtete, der Redner habe mit den Worten geschlossen, Italien verdanke sein Glück dem Duce , der in England nicht nur Bewunderung finde, sondern auch ein wenig Neid wecke.1262

Eine weitere Organisation im Einflussbereich des Fascio war die British Italian League , die 1916 ins Leben gerufen worden war und sich nach 1919 dem Ziel verschrieben hatte, die briti-sche Öffentlichkeit über die italienischen Kriegsleistungen aufzuklären. Sie verstand sich als patriotische Gemeinschaft mit einer elitären Ausrichtung. Eine ihrer Zielgruppen bildeten ita-lienische und britische Studenten.1263

Zwischen den italienisch-britischen Vereinen, der Parteizelle und den diplomatischen Ver-tretungen bestanden enge Kontakte und personelle Übereinstimmungen. Tullio Sambucetti, der erwähnte Segretario der Friends of Italy , einer Gesellschaft, der auch britische Parlaments-abgeordnete und ehemalige Minister angehörten, war Mitglied des Leitungskomitees der An- glo-Italian Literary and Dante Society , des Fascio di Londra sowie des von der BUF maßgeblich gesteuerten January Club . Sambucetti, der die Festveranstaltung im Black House der BUF in Chelsea besucht hatte, organisierte Reisen der Friends of Italy nach Italien und nahm an der ‚Pilgerreise‘ des Fascio nach Rom im Sommer 1934 teil. An seiner gut dokumentierten Um-triebigkeit in den Jahren 1933 bis 1934 wird deutlich, dass einige Sympathisanten des italieni-schen Faschismus sich auch für den britischen erwärmten und vice versa. Wenngleich es sich um eher lose Netzwerke handelte und unter den Akteuren mehr Konkurrenz als Kooperation herrschte, so gab es doch Überschneidungen.

Die Friends of Italy , die in L’Italia Nostra gelegentlich unter ihrem italienischen Namen Amici d’Italia thematisiert werden, verschrieben sich der Wiederaufwertung der italienischen Spra-che zu einem festen Bestandteil britischer höherer Bildung. Sie gründeten in mehreren Städ-ten Niederlassungen und waren mit einigen elitären Londoner Clubs verbunden. Sie nutzten diese Clubs, Londoner Luxushotels und Privatanwesen, um Konzerten, Vorträgen oder Aus-stellungen einen festlichen oder privaten Charakter zu verleihen. Zu den geladenen Gästen der Friends of Italy zählten namhafte Künstler aus Italien, Angehörige des diplomatischen Korps oder ranghohe Vertreter der italienischen Verwaltung, wie der römische Bürgermeister. Die Gesellschaft hatte enge Verbindungen zu akademischen Einrichtungen und lud zu Konferen-zen im Politecnico in der Regent Street ein. Sie verzweigte sich organisatorisch in Studienkreise und Gruppen für junge Erwachsene. Ende Oktober 1932 gründete sie einen Studienkreis mit dem Namen „Fede Entusiasmo Imaginazione“1264 (Glaube, Enthusiasmus, Vorstellungskraft), der ihr bereits als Motto diente, eine Referenz an Mazzini formulierte1265 und zugleich durch seinen transzendentalen Anklang die Öffnung zum faschistischen Mystizismus anzudeuten schien. Der neue Studienkreis sollte einen literarischen Schwerpunkt haben und italienische und britische Kulturinteressierte vernetzen. Sambucetti betonte bei der Gründungsfeier, die britische Öffentlichkeit interessiere sich für die Kultur Italiens, da sie sich insgeheim Inspira-tion und Führung vom ‚neuen Italien‘ verspreche.1266

Insgesamt stand das Angebot der Friends of Italy nicht nur Mitgliedern offen. Die Organisati-on bemühte sich vielmehr um eine große Reichweite in der Gesellschaft. In Edinburgh traf sich seit 1919 ein ähnliches, schottisch-italienisches Netzwerk, das die Scoto-Italian Society gründe-te, die sich in Briefen an den Palazzo Venezia als Verein der Verehrer Mussolinis präsentierte.1267Die Aktivitäten der italienisch-britischen Vereinigungen in den dreißiger Jahren sind in den Akten des faschistischen Regimes gut dokumentiert. Informationen auch über kleine Ereig-nisse und Banalitäten gelangten über die diplomatischen Vertretungen stets zeitnah nach Rom.

Die Steuerung der Auslandspropaganda erfolgte über diverse Stellen gleichzeitig, darunter die im Außenministerium angesiedelte Direzione Generale degli Italiani all’Estero unter der Leitung Parinis. Kompetenzstreitigkeiten und Machtkämpfe waren keine Seltenheit. 1934 wurden die Initiativen dann in einer Direzione Generale per la Propaganda , einer General-direktion für Propaganda, gebündelt, diese vom Ufficio Stampa (Pressebüro) in ein Sottoseg- retariato des Ministero per la Stampa e la Propaganda (Untersekretariat des Ministeriums für Presse und Propaganda) überführt und später dem neuen Ministero della Cultura Popolare (Ministerium für Volkskultur) zugewiesen.1268 Die Direzione Generale per la Propaganda soll-te, Benedetta Garzarelli zufolge, die öffentliche Meinung in anderen Ländern zugunsten des italienischen Faschismus beeinflussen, zu diesem Zweck Medien herausgeben und an Multi-plikatoren in anderen Ländern versenden, dortige Organisationen finanziell unterstützen und ihnen neue Impulse liefern.1269 Seit den frühen dreißiger Jahren setzte sich die Bewertung der Auslandspropaganda als ein wichtiger Handlungsraum durch. Die Aufsicht erhielt das von Galeazzo Ciano geführte Ufficio Stampa . Ciano galt aufgrund früherer journalistischer Tätig-keiten, seiner Posten im diplomatischen Dienst und seiner Verbindungen ins Außenministeri-um als erfahren genug, um das Pressebüro binnen kurzer Zeit zum Zentrum der Auslandspro-paganda auszubauen; vor allem inszenierte er sich als höchste Autorität in diesen Belangen.1270Dem sukzessive vergrößerten und institutionalisierten Bereich stand er bis zum Juni 1936 vor, wurde dann von Dino Alfieri abgelöst. Durch die Zentralisierung ließen sich die Propaganda-aktivitäten maßgeblich verstärken. Auch britische Institutionen wurden über die neuen Wege beliefert. So gelangten Publikationen zu Italien im Ersten Weltkrieg an das Imperial War Mu- seum in London und die Bibliothek des British Museum erhielt Buchsendungen; eine britische Privatschule für Jungen wurde mit Veröffentlichungen über das faschistische Italien ausgestat-tet und eine Fotoausstellung mit Bildmaterial zum Thema Modern Italy versorgt.1271

Die Aktivitäten der italienisch-britischen Vereine und Gesellschaften wurden in den folgenden Jahren wiederholt analysiert und bewertet. So hielt 1937 das Konsulat in Liverpool in einem Brief an das Außenministerium, die Botschaft in London und das Ministerium für Presse und Propa-ganda fest, dass es dem örtlichen Fascio noch nicht gelungen sei, sich die wichtigsten Posten im Komitee der britisch-italienischen Società Letteraria Italiana einzuverleiben. Sie werde noch im-mer von Briten geleitet. Dieser Zustand habe sich während der Abessinienkrise als problematisch erwiesen, da die Gesellschaft nicht ausreichend Stellung zugunsten Italiens bezogen habe und viele britische Mitglieder ausgetreten seien. Der Verfasser warnte allerdings vor Maßnahmen gegen die Società Letteraria Italiana , denn diese sei eine traditionell angesehene Einrichtung. Er schlug vor, stattdessen deren Kulturprogramm stark auszubauen und zu fördern, um die Attrak-tivität für Briten zu steigern und die Gesellschaft wieder zu einem Zentrum der Propaganda zu machen.1272 Exemplarisch zeigt sich hier das in und zwischen den Kultureinrichtungen wahr-nehmbare Klima des Argwohns und des Belauerns. Die Botschaft schickte derweil umfassende Sammlungen britischer Presseberichte als Beweis gelungener Auslandspropaganda an das Mi-nisterium und warb darum, populäre Magazine wie den Tatler gezielt einzuspannen.1273

Zum Freundeskreis der italienisch-britischen Vereine, der Botschaft oder der Fasci zähl-ten einige Angehörige der britischen Oberschicht, die sich einerseits als Kenner Mussolinis, andererseits als ‚Kulturbotschafter‘ zwischen dem britischen Rechtskonservatismus und dem italienischen Faschismus verstanden. Zu den gut vernetzten Kreisen gehörte der bereits er-wähnte John Squire, der als Gründer des January Club auftrat, ebenso wie E. G. Mandeville Roe.1274 Dieser war in den 1920er Jahren ranghohes Mitglied der British Fascists gewesen und später zur BUF übergetreten, für die er in den frühen 1930er Jahren in Italien und Deutschland Kontakte zu knüpfen suchte.1275 Er hatte Mussolini im September 1930 in dessen Residenz Villa Torlonia getroffen und sich ihm als britischer Verehrer des Faschismus präsentiert. Mussolini forderte daraufhin von der Botschaft Hintergrundinformationen über Mandeville Roe und die British Fascists . Die Informanten beschrieben ihn als jungen Journalisten mit gutem Ruf, der eine faschistische Zeitung leite und Artikel in Provinzzeitungen veröffentliche.1276 Mandeville Roe war nicht das einzige Mitglied der BF gewesen, das um die Anerkennung des italienischen Diktators gebuhlt hatte. Bereits 1924 hatte die Segreteria Generale dei Fasci Italiani all’Estero ein Schreiben Arthur W. Sebrights, der sich als Anführer der British Fascisti bezeichnete, an Mussolini übermittelt. Es scheint über Pellizzi an Bastianini gelangt zu sein. Bastianini hatte gegenüber Mussolini betont, die Fasci pflegten keinerlei offizielle Verbindung zu den BF, ihr Delegierter für den Raum Großbritannien und Irland unterhalte lediglich persönliche Kontak-te zu einigen britischen Faschisten.1277

Ein Treffpunkt dieser Kreise war der Londoner Lyceum Club , den die Anglo-Italian Litera- ry and Dante Society für viele Veranstaltungen nutzte. Hier verkehrten auch Angehörige der British Fascists .1278 In den Räumen elitärer Geselligkeit trafen Aristokraten, Politiker, Militär-angehörige von Rang, Unternehmer, Journalisten, Schriftsteller und Diplomaten ganz selbst-verständlich aufeinander, darunter auch Sympathisanten der faschistischen Bewegungen. Es überschnitten sich nicht nur die Bekanntenkreise, es ergaben sich mitunter Kooperationen oder Rivalitäten. Major John Frederick Charles Fuller, den Mosley als Berater für die BUF anwarb, als er ihre Umstrukturierung plante, gehörte zum Kreis derer, die mit Dino Grandi in Kontakt standen und im Abessinienkonflikt in Presseartikeln die Position Italiens vertraten.1279 G. Ward Price, der für Lord Rothermeres Zeitungen schrieb, war sowohl für Mussolinis Regime als auch für Mosleys Bewegung ein Sprachrohr. Der erwähnte Sir Charles Petrie stand dem Fascio di Londra und der Botschaft besonders nahe. Er, der zum direkten Konkurrenten Mosleys um das Vertrauen der Delegierten der CAUR avancierte, soll Mosley anfänglich finanziell unterstützt haben.1280 Petrie, Harold E. Goad, Muriel Currey und Major Strachey Barnes gehörten einem Studienkreis am Royal Institute of International Affairs an, der sich mit dem korporativen Staat auseinandersetzte. Dieser Studienkreis war laut Stephen Dorril dezidiert profaschistisch. Da die Treffen als zu politisch für das Institut betrachtet worden seien, habe man sie in Curreys Wohnung verlegt, in der auch Dino Grandi regelmäßig zu Gast gewesen sei.1281 Als engmaschig ordnet Claudia Baldoli die Verbindungen derer zum Institut ein, die sie „Italophiles“ nennt; sie seien noch während des Abessinienskonflikts sehr gefestigt gewesen:

Der u. a. von Baldoli verwendete Begriff ‚italophil‘ ist problematisch, weil er zu kurz greift: Die Akteure waren vielmehr vom Faschismus denn von Italien begeistert. Es ging hier nicht um eine Zuneigung zu Bella Italia , sondern um eine klare politische Positionierung als Anhänger des italienischen Faschismus. Insofern müsste, korrekter, von einer Fascismo-Philie gespro-chen werden. Einige dieser Anhänger Mussolinis, die aus den Freiräumen der Demokratie her-aus eine Diktatur lobten, die sie selbst nur aus der Vogelperspektive kannten, lieferten Beiträge für The Blackshirt und Fascist Quarterly . Das BUF-Journal veröffentlichte zudem Reden und Texte Mussolinis, Goebbels’ und Robert Leys, bewarb italienische faschistische und deutsche nationalsozialistische Publikationen ebenso wie die Bücher Curreys und Goads.1283

Die Fasci , die Italienische Botschaft und die BUF waren also über ein recht großes, aber dif-fuses Netzwerk von Personen verbunden, die über Einfluss in Politik, Wirtschaft und Medien verfügten und als Multiplikatoren auftraten, indem sie die Reichweite faschistischer Propagan-da vergrößerten. Innerhalb dieses Netzes herrschten allerdings durchaus starke Spannungen und wechselnde Loyalitäten. Symptomatisch waren Konflikte wie die geschilderte Konkurrenz zwischen Tullio Sambucetti und Carlo Camagna um den Posten des Segretario oder das Wett-eifern Mosleys und Petries um die Gunst der Italienischen Botschaft und der CAUR. Beide suchten hier eher die Anerkennung als die Verpflichtung. Der bis in die frühen dreißiger Jahre erfolgende häufige Wechsel an der Führungsspitze des Fascio war mit einem regen Nepotismus einhergegangen, der sich auf die affiliierten italienisch-britischen Kultureinrichtungen aus-weitete, wie die Korrespondenz zwischen der Botschaft, den Einrichtungen und den Zentral-stellen für die Auslandspropaganda und die Fasci all’Estero zeigt. Gegenseitige Bezichtigungen der Propagandisten, die einander Untauglichkeit unterstellten, waren keine Seltenheit. Tiefere Konflikte sollten, wie im Folgenden erläutert wird, zwischen ranghohen Vertretern der BUF und deren Verbindungsmännern in Italien und im Kreis der Italienischen Botschaft entstehen. Die Intensivierung der Propaganda während der Abessinienkrise So vielschichtig und verzweigt proitalienische Propagandaaktivitäten in Großbritannien schon in den 1920er und frühen 1930er Jahren waren, umso manifester wurden sie in der Zeit vom Herbst 1935 bis zum Sommer 1936. Der Abessinienkrieg bedeutete für die Multiplikatoren italienischer Propaganda im Vereinigten Königreich, dass sie sich explizit und medien- und öffentlichkeitswirksam auf die Seite des Regimes stellen und den Schutzschild einer angeb-lich kulturell begründeten Italophilie aufgeben mussten. Die Massen an Propagandamaterial, die nach Großbritannien gelangten, veranschaulichen den hohen Stellenwert, den das Regime der Beeinflussung der öffentlichen Meinung attestierte. Die Auslandspropaganda sollte gezielt, aber subversiv den Rückhalt der britischen Regierung in der Bevölkerung schwächen.

Aus der Konkurrenz der lokalen profaschistischen Akteure entwickelte sich eine Dynamik, welche die Italienische Botschaft zu nutzen wusste. Ebenfalls zugunsten des Regimes wirkten sich die Infiltration italienisch-britischer Organisationen, die zahlreichen Kanäle der Bespitze-lung, Überwachung und Kontrolle der italienischen Gemeinden sowie die finanzielle Abhän-gigkeit lokaler italienischer Institutionen und der British Union of Fascists aus. Die Botschaft hatte ein ganzes Netz an Propagandaakteuren in Großbritannien zur Verfügung, die sich an verschiedene Milieus richten konnten. Botschaftsangehörige erachteten die Chancen einer Ideologisierung im Interesse des Regimes als hoch. Wie groß der Einfluss auf die öffentliche Meinung insgesamt war, ist jedoch eine andere Frage.

Eine zentrale Figur in der Koordination der Maßnahmen war Dino Grandi. In seiner Bot-schaft liefen die Kanäle zusammen, sie erteilte Anweisungen zu kurzfristigen Aktionen, zu Veröffentlichungen oder zu großen Veranstaltungen. Luigi Goglias Untersuchung zur proita-lienischen Propaganda während des Abessinienkriegs übernimmt oft die Darstellung Gran-dis aus dessen Berichten und Korrespondenz. Goglia sieht in Grandi den Strippenzieher der Propagandamaschinerie.1284 Zweifellos saß Grandi an einer maßgeblichen Stelle und wollte als spiritus rector wahrgenommen werden. Involviert war aber auch hier eine Vielzahl faschisti-scher Dienststellen, wie das Propagandamaterial nahelegt: Allein 56 unterschiedliche Publi-kationen mit hoher Auflage sandte das italienische Regime an seine Vertretung in London. Sie befassten sich mit der italienischen Kolonialfrage, dem Verhältnis Italiens zum Völkerbund, angeblichen Gräueltaten der Abessinier, dem rechtlichen Hintergrund der Sanktionen, dem britisch-italienischen Verhältnis oder der britischen Kolonialpolitik. Das Ministerium Cianos übermittelte zusätzlich eine Serie von Bildbänden mit einer Auflagenstärke zwischen 300 und 5000.1285 Dies war nur ein kleiner Teil des Propagandamaterials, das insgesamt zur Rechtferti-gung und Dokumentation des Krieges produziert worden war. Wie Matteo Pretelli ausführt, diente ein Großteil des Bildmaterials der propagandistischen Verewigung der Feldzüge und des Anspruchs, Imperialmacht zu sein: 16 000 Fotografien mit Kriegs- und Eroberungsmo-tiven aus dem Abessinienkrieg seien vom Istituto Luce als Souvenirs gefertigt und verkauft worden. Die Propagandaaktivität habe einen in Italien beispiellosen Werbefeldzug dargestellt, der den Rückhalt des Regimes auch in den Auslandsgemeinden nachdrücklich gesteigert habe; neben Publikationen und Filmen habe dort das Radio eine entscheidende Rolle bei der Indok-trination der Emigrierten gespielt.1286

Diese Entwicklung beobachteten die britischen Geheimdienste mit Sorge. Ein Dossier, das der MI5 für das Home Office erstellte, warnte, das Presse- und Propagandaministerium in Rom initiiere ein Programm englischsprachiger Propagandasendungen, in dem britische Zuhörer zu aktiver Beteiligung durch postalische Solidaritätsbekundungen aufgerufen wür-den. Sprecherinnen der Sendungen aus Rom seien Lisa Sergio und E. A. Waring.1287 Bei der Letztgenannten wird es sich um Anna Waring gehandelt haben, die ein prominentes Mit-glied der BUF- Branch in Rom war und als Italien-Korrespondentin der britischen Faschis-ten auftrat. Sie veröffentlichte Artikel in The Blackshirt , in denen sie dem italienischen Fa-schismus Vorbildcharakter attestierte.1288 Waring ging nicht explizit auf die Verbindungen zwischen dem Regime und der BUF ein, stellte aber die Zukunftsvisionen der BUF in einen Zusammenhang mit der faschistischen Politik in Italien. Diese kommunikative Strategie wählten auch weitere Propagandisten der Bewegung: Ziel war es, das Parteiprogramm der BUF realisierbar erscheinen zu lassen. Anna Waring agierte 1935 als Aktivistin für das ita-lienische Regime. Dem Geheimdienstdossier zufolge war sie dabei alles andere als zurück-haltend. Der Verfasser vermerkte: „Mrs. WARING is reported to have expressed extremely anti-British sentiments.“1289

Die Botschaft in London beauftragte Autoren damit, für L’Italia Nostra und deren italieni-schen Leserkreis sowie für die englische Beilage The British-Italian Bulletin Texte zu liefern. Britische Journalisten im Umfeld der Botschaft und der italienisch-britischen Vereine sollten zudem in großen überregionalen Zeitungen Artikel platzieren, die für die Position Italiens argumentierten. Einige erhielten dafür finanzielle Zuwendungen oder bekamen die Kosten für sogenannte Forschungsreisen erstattet.1290 Bei anderen scheint der antizipierte Wille des Duce Triebfeder gewesen zu sein oder die persönliche politische Überzeugung. In proitalienischen Stellungnahmen mischten sich deutliche imperialistische und rassistische Motive sowie pseu-dohistorische Argumente, die an den Romanità -Mythos anknüpften.

Proitalienische Darstellungen fanden zugleich Raum in den Medien Lord Rothermeres und Lady Houstons. Rothermere finanzierte die Reise Major Fullers ins Kriegsgebiet, in dem dieser als Korrespondent der Daily Mail tätig war.1291 Zuvor hatte Fuller in The Blackshirt Partei für Italien ergriffen und einen Verzicht auf Sanktionen gefordert. Großbritannien habe sich durch den Vertrag von Versailles einer unrechtmäßigen Beschränkung des italienischen Kolonial-territoriums schuldig gemacht und müsse diesen Fehler nun korrigieren. In Fullers Artikel schwang eine pseudo-pazifistische Argumentation mit, die die BUF in ihrer Mind-Britain’s- Business -Kampagne ausbaute.1292

Die BUF war bemüht, sich gegen Vorwürfe von außen und aus den eigenen Reihen ab-zusichern, sie stelle sich gegen britische Interessen und begehe Verrat an der eigenen Na-tion. In The Blackshirt argumentierten die Autoren, der eigentliche Verräter sei die bri-tische Regierung, da sie sich in einen Konflikt einmische und Militäreinsätze britischer Soldaten plane, die unnötig und ungerechtfertigt seien. Sie warfen der Regierung und dem Völkerbund Bellizismus vor und werteten die BUF als eine pazifistische Bewegung der Ge-neration, die aus den Schrecken des Ersten Weltkriegs Lehren gezogen habe. In direkten Stellungnahmen für die Position Italiens argumentierten sie, die Italien gegebenen Ver-sprechen seien systematisch gebrochen worden. Attacken der äthiopischen Truppen auf ita-lienische Einrichtungen seien nie geahndet worden. Italien befinde sich also in einer Lage der Selbstverteidigung und der Verteidigung zivilisatorischer Grundsätze. Dies sei auch im Interesse der anderen europäischen Kolonialmächte.1293 Die BUF trug diese Kampagne in Demonstrationen auf die Straße, bei denen uniformierte Mitglieder auf belebten Plätzen Parolen skandierten. Die eigene Agitation nannte sie einen Widerstand gegen unrechtmä-ßiges Handeln der Regierung, sprach gar von einer „warmongering policy of the present Government“1294. Die BUF erklärte sich hier erneut kontrafaktisch zu einer überparteili-chen Sammlungsbewegung und zum Interessenvertreter all jener, die für Pazifismus und Patriotismus einstehen wollten:

Die Agitation war rassistisch und imperialistisch, bezichtigte die britische Regierung und den Völkerbund einer grundsätzlich antiitalienischen Haltung und nutzte erneut den Vorwurf ei-ner Effemination der britischen politischen Klasse. Diskursiv geriet die BUF allerdings gegen-über eigenen Mitgliedern in die Defensive: Je stärker sie sich als pazifistisch bezeichnete, umso deutlicher führte sie ihre militaristische Rhetorik ad absurdum – eine Problematik, der E. D. Randall zu begegnen suchte, indem er Virilität, Heldenmut und Militanz pries, aber dem Kon-flikt als „foreign quarrel“ die Eignung als Erprobungsfeld dieser faschistischen Qualitäten ab-sprach. Wenn Großbritannien und sein Empire bedroht wären, würde die Jugend mutig Krone und Nation verteidigen, sie werde sich aber nicht als Kanonenfutter von der verweiblichten Regierung und dem kosmopolitischen Völkerbund in einen fremden Krieg zerren lassen.1296

Grandi behauptete in Briefen an das Außenministerium, er bestelle spontan proitalienische Aktionen bei der BUF-Führung, die dann kurzfristig Auftritte kleiner Gruppen organisie-re.1297 Auch die britischen Sicherheitsbehörden gingen von direkten Anweisungen Grandis an Mosley aus. Ein Dossier in den Akten des Inlandsgeheimdienstes sah in Mosleys Italienauf-enthalt im Sommer 1935 den Startpunkt dieser gesteuerten Kampagne. Er habe von dort aus Fuller angewiesen, einen Artikel gegen die britischen Sanktionen zu verfassen. Grandi habe im September vom Außenminister die Order erhalten, Mosley zu einer eigenen Kampagne zu überreden.1298 Zu dieser Zeit war Benito Mussolini Regierungschef und Außenminister.

Stellte die Mind-Britain’s-Business -Offensive den Höhepunkt proitalienischer Propaganda der BUF dar, so folgte unmittelbar danach die Neuausrichtung. Nur wenige Monate liegen zwischen der explizit proitalienischen Positionierung und der Umbenennung in British Union of Fascists and National Socialists . Die Bewegung orientierte sich ausgerechnet in dem Moment um, in dem sie in der öffentlichen Wahrnehmung die größte Nähe zum italienischen Regime erreicht hatte.

Die Distanzierung hatte sich allerdings inszenatorisch schon länger abgezeichnet. Auf der Titelseite The Blackshirt s erschien zeitgleich zum Auftakt der Kampagne das neue Parteisym-bol: der Blitz im Kreis – das Symbol, das sichtbare Ähnlichkeit zu den Runen der SS aufwies.1299In einem Zwischenschritt deutete The Blackshirt das fasces -Symbol als ein Symbol mit zugleich römischer und britischer Tradition um. Im Juni 1935 lieferte sie ihren Anhängern einen ver-meintlichen Beweis: die Fotografie eines alten Steines in Shrewsbury, dem das Rutenbündel eingemeißelt sei.1300 Im August zeigte die Titelseite der Ausgabe, in der Fullers Artikel über die britischen Sanktionen gegen Italien zu lesen war, das Rad der „Tudor gun in Dover Castle“1301aus dem Jahr 1544. Hier interpretierte The Blackshirt die Speichen als stilisierte fasces -Sym-bole, also als ein urenglisches Wahrzeichen. Nur eine Woche später erschien an dieser Stelle das neue Parteiemblem des „Circle and Flash“1302.

Francis Beckett erklärt, sein Vater John Beckett sei der Initiator des Emblemwechsels ge-wesen und kurz darauf zum Director of Publicity aufgestiegen.1303 Die BUF hatte zuvor das fasces -Symbol als Zeichen einer Kontinuitätslinie vom Römischen Imperium zum British Em- pire interpretiert.1304 Jetzt vollzog sie den Bruch mit dieser Symbolik und suchte sich ein neues Vorbild. Hier deutete sich also in der Bildsprache bereits der Prozess an, der sich in Program-matik und Ideologie wenige Monate später manifestieren und offenlegen sollte, dass sich ihr Verhältnis zu den italienischen Faschisten in der Phase verschlechtert hatte, in der das Regime sichtbarere Gegenleistungen für die jahrelange Finanzierung einforderte. Die Bewegung such-te nun vorrangig die Anbindung an die Nationalsozialisten.

Neben der BUF, den italienisch-britischen Kulturvereinen, den Gemeindeinstitutionen und der Società Dante Alighieri positionierten sich die italienische Handelskammer, die Vertretun-gen der italienischen Banken und Kreditinstitute und Unternehmen. Sie wirkten über Veran-staltungen, finanzielle Hilfen oder Solidaritätsbekundungen aktiv an der Einflussnahme auf die öffentliche Meinung im Umfeld der italienischen Gemeinden mit. Dazu nutzten sie ihre Nähe zu Clubs und akademischen Einrichtungen. Fasci und diplomatische Vertretungen be-obachteten diese Initiativen. Goglia führt an, Grandi habe die Scoto-Italian Society als sehr ef-fizient bewertet, die Anglo-Italian Society , welcher der ehemalige Botschafter Großbritanniens in Rom, Sir Ronald Graham, angehörte, hingegen in einem Vermerk als Verein alter Jungfern und verbitterter alter Frauen bezeichnet. Wegen der negativen Haltung vieler Mitglieder zu Italiens Expansionsbestrebungen habe er mit Graham eine Neuausrichtung der Gesellschaft beschlossen.1305

Grahams Liaison mit den Konfidenten der Fasci war bei weitem keine Privatangelegen-heit, sondern Ausdruck einer politisch heiklen Distanzlosigkeit. Sie machte ihn und die Angehörigen der Britischen Botschaft angreifbar und nährte den Eindruck, er sei conflic- ted . Bereits in Italien hatte seine Reputation gelitten. Graham war 1933 aus Rom abberufen worden. Aus den Akten der Polizia Politica wird deutlich, dass sich diese in Botschaftskrei-sen, Clubs und den privaten Netzwerken in Rom lebender Briten über Grahams Privatleben informiert hielt. Die Berichte enthalten pikante Details und Spekulationen insbesondere über Grahams Ehefrau. So hätten Quellen verlauten lassen, Grahams Gattin habe eine Af-färe mit einem italienischen Bankier, der als Bonvivant gelte. Sie habe damit ihren Mann in englischen Kreisen vor Ort bloßgestellt.1306 Die Spitzel wussten zunächst nicht, um wen es sich bei dem Geliebten handelte, gaben sich aber gut informiert, als sie notierten: „Die genannte Dame hatte am Abend des 28. um 20.30 Uhr im Hause des Betreffenden eine amouröse Verabredung.“1307

Kurz darauf entstand ein Vermerk zu diesem Mann: Er sei etwa vierzig Jahre alt, Sohn eines Bankiers, der durch eine frühere Affäre mit einer Frau jenseits des fünfzigsten Lebensjahres Zugang zu römischen aristokratischen Kreisen gefunden habe.1308

Der Vorgang ist, unabhängig davon, ob der Vorwurf stimmt oder nicht, bezeichnend. Gleich mehrere zur Diskreditierung genutzte Stereotype scheinen hier auf: Der Botschafter Graham wird im Grunde als der Gehörnte beschrieben – in der italienischen Wahrnehmung ist dies die ultimative Beleidigung. Zugleich entsteht das Klischee der moralisch lockeren Nordeuropäe-rin, die auf einen Gigolo mit einer Vorliebe für reifere Frauen hereinfällt.

Nach seiner Abberufung 1933 vermerkte die Polizia Politica , Graham sei in der englischen community Roms unbeliebt gewesen und er habe in der Botschaft durch sein distanzloses Ver-hältnis zur italienischen Regierung Vertrauen eingebüßt und sich angreifbar gemacht.1309 In Großbritannien verkehrte Graham nun in den angeblich unpolitischen Italien-begeisterten Kreisen um die Fasci all’Estero .

Die Abessinienkrise leitete einen Wendepunkt in der Überwachung der Aktivitäten italie-nischer Faschisten ein. Seit November 1935 informierte der MI5 das Innenministerium regel-mäßig in Dossiers über die verschiedenen Quellen und Verbreitungswege italienischer Pro-paganda im Land.1310 Die Sicherheitsbehörden warnten, dass die in Großbritannien lebenden Italiener nicht nur zur moralischen und finanziellen Unterstützung des Regimes aufgefordert würden, sondern auch eine Mobilisierung und militärische Rekrutierung drohe. Anlass zu dieser Sorge bot die sogenannte Test-Mobilisierung, zu der auch L’Italia Nostra aufrief – eine deutliche Provokation.

Anlässlich einer Großkundgebung, welche die Italienische Botschaft und der Fascio di Londra im Dezember 1935 im Londoner Hippodrome abhalten wollten, wurde Grandi vom britischen Innenminister einbestellt. Die Kundgebung mit bis zu 2000 Teilnehmern sollte eine Gold- und Eheringsammlung umfassen. Der Innenminister habe Grandi mit-geteilt, er bezweifle zwar nicht, dass die italienische Gemeinde friedlich demonstrieren wolle, er könne aber Gegendemonstrationen nicht ausschließen. Die Veranstaltung sei „most undesirable“. Grandi habe betont, es sei keine Veranstaltung der faschistischen Par-tei, sondern einer eigenständigen Organisation der italienischen Gemeinde, er verstehe aber die Haltung des Home Office . Die Kundgebung, die, wie der Innenminister anmerkte, unter Angabe der Adresse des Fascio in der Greek Street angemeldet worden war, wurde schließlich abgesagt.1311

In London suchten mehrere aus Italien eingereiste italienische Faschisten die persönliche Profilierung. Neben Camillo Pellizzi arbeitete sich hier Luigi Villari als Propagandist hoch. Villari, zwischen 1926 und 1934 in London aktiv, war der Sohn des langjährigen Präsidenten der Società Dante Alighieri , Pasquale Villari. Er profitierte wohl von dessen Ruf in nationalis-tischen und irredentistischen Kreisen. Der Sohn war vom Kommissariat für Emigration nach London geschickt worden, um die Situation der Emigranten zu bewerten. Hier wurde er als Agent provocateur tätig. Baldoli zufolge berichtete Villari Mussolini von einer giftigen antifa-schistischen Kampagne, zu der sowohl Briten als auch Italiener beigetragen hätten, und wurde von diesem beauftragt, vor Ort gezielt Gegenattacken durchzuführen:

Seit 1935 leitete er dann in Rom eine Sektion des Ministeriums für Presse und Propaganda. Villaris Vernetzung in der britischen High Society wurde in Dossiers der britischen Behörden häufig thematisiert. Er und Luigi Gario, der Sekretär der Società Dante Alighieri in London, sollen 1935/36 geplant haben, ein zentrales Propagandabüro im Vereinigten Königreich ein-zurichten, das sich als parteiunabhängiger Verlag tarnen sollte.1313 Villari war Mitglied des Athenaeum Club und, wie der MI5-Bericht betonte, exzellent vernetzt.1314

Im Sommer 1936 ebbte die Welle der offensiven politischen Propaganda wieder ab. Der Ton allerdings hatte sich gewandelt. Die polizeiliche und geheimdienstliche Beobachtung der ita-lienischen Organisationen wurde derweil fortgeführt. Im Juni 1937 erstellte der Inlandsge-heimdienst ein neues Dossier über die proitalienischen Akteure im britischen Einflussbereich, das von einer gleichbleibend hohen Gefahr der Sabotage ausging. Die italienischen Gemein-den standen fortan im Fokus. Wie erläutert, beschäftigten sich die Sicherheitsbehörden nun intensiv mit den faschistischen Jugendorganisationen, da sich die Befürchtung, diese dienten schon seit Jahren als Rekrutierungsorgane, zu bewahrheiten schien. Inzwischen war Carlo Ca-magna nach Vorwürfen der Veruntreuung von seinem Posten als Segretario des Fascio abge-zogen worden und Guglielmo Della Morte hatte kommissarisch die Leitung übernommen.1315Camagna war allerdings weiterhin London-Korrespondent von Il Popolo d’Italia und der Ste- fani News Agency , der profaschistischen Nachrichtenagentur in Rom. Der Personalwechsel er-scheint entgegen der Einschätzung des MI5 nicht als Notlösung, sondern vielmehr als Versuch, die Effizienz der britischen Fasci zu erhöhen. Della Morte hatte zu Beginn der 1930er Jahre in London in der Banca Commerciale Italiana gearbeitet und war dann Sekretär des Fascio von Berlin geworden. Er wurde nach Abschluss seiner Londoner ‚Mission‘ in Berlin befördert und zum Aufseher über alle Fasci im deutschsprachigen Raum ernannt.1316 Die Spur des Geldes: die Zahlungen des italienischen Regimes an die BUF

Schon während sich die BUF formierte und ihre Kontakte zu anderen faschistischen Bewe-gungen ausbaute, stellte sich vielen Beobachtern die Frage, wer sie finanziere. Die britischen Sicherheitsbehörden, andere politische Parteien, die Presse und faschistische Bewegungen an-derer Länder setzten sich seit der Bekanntgabe der BUF-Gründung im Oktober 1932 mit der Frage auseinander, woher die Gelder flossen, die Mosleys Organisation nutzte, und welche Quellen diese anzuzapfen gedachte. Dass die BUF spätestens seit ihrer Reise nach Italien im April 1933 auf das italienische Regime setzte, wenn es um die Akquirierung von Finanzmitteln ging, ist eine der meistdokumentierten und -diskutierten Angelegenheiten in den britischen Akten und in der Forschungsliteratur zur British Union of Fascists .1317 In den Akten der briti-schen Behörden finden sich stark divergierende Schätzungen über die Gesamthöhe der Gelder aus Italien. Ursächlich für die Divergenzen war, dass die BUF über viele Konten verfügte und die Aushändigung hoher Summen über umständliche Wege erfolgte.

In den ersten Monaten soll regelmäßig Geld in Paketen an die Italienische Botschaft ge-schickt oder im Diplomatengepäck nach London transportiert worden sein.1318 Grandi sah, wie er gegenüber Fulvio Suvich, dem Untersekretär im Außenministerium, bekundete, eine Gefahr in der Art und Weise, wie das Geld zur BUF gelangen sollte. Er forderte, dies müsse direkt über die faschistische Partei laufen, auf keinen Fall dürften Regierung oder Botschaft nachweislich involviert sein.1319 Im Briefnachlass Grandis finden sich Schreiben des Außen-ministeriums an die Botschaft mit detaillierter Auflistung der Summen und Währungen.1320

Auch die BUF fühlte sich mit der Intensivierung der Überwachung durch die Geheimdienste zunehmend verfolgt und verschleierte die Zahlungswege deshalb immer stärker. Die Finanzie-rung durch das faschistische Regime wurde damit nicht nur für die britischen Geheimdienste und Polizeibehörden zusehends unübersichtlich, sondern wohl auch für die italienischen und britischen Faschisten selbst.

In italienischen und britischen Akten finden sich widersprüchliche Schätzungen zur Höhe der Summen und zum Zeitraum der Finanzierung. Die BUF erhielt Gelder in unterschied-lichen Währungen, die nicht nur in Italien und in Großbritannien, sondern auch in anderen europäischen Ländern übergeben wurden. In einigen Fällen erfolgte dies über italienische Konsulate, in anderen trafen sich Mittelsmänner in neutraler Umgebung. So vermerkte ein britischer Geheimdienstbericht, der in den frühen 1940er Jahren eine Zusammenfassung über die Zahlungen liefern sollte, dass im Oktober 1936 in Genf ein BUF-Repräsentant einen Geld-koffer nicht – wie sonst üblich – im Hotel entgegengenommen habe, sondern „in a taxi-cab at some pre-arranged rendezvous in the vicinity of Geneva“1321.

Ein Konto in der Zweigstelle der Westminster Bank Ltd. in Charing Cross war dem Bericht zufolge 1940 nach der Festnahme Mosleys besonders aufgefallen. Dieses sei im März 1933 vor der Italienreise der BUF-Delegation eröffnet und auf W. E. D. Allen, Ian Hope Dundas und Major G. H. J. Tabor eingetragen worden. Allein zwischen Oktober 1933 und April 1934 seien monatlich hohe Geldbeträge in französischer, schweizerischer, deutscher und amerikanischer Währung eingezahlt worden. Insgesamt seien so mehr als 40 000 Pfund zusammengekommen. Zwischen April und August 1934 hätten die Einzahlungen stagniert, dann seien umgerechnet rund 14 600 Pfund eingezahlt worden. Zwischen September 1934 und Juli 1935 hätte sich die monatliche Summe, die nun aus Paris gekommen sei, bei 5000 Pfund eingependelt.1322 Stephen Dorril nimmt in seiner 2007 erschienenen Mosley-Biographie eine Schätzung des relativen Wertes der Geldbeträge vor und geht davon aus, dass die 1934 insgesamt gezahlte Summe von 77 800 Pfund umgerechnet etwa 2,66 Millionen Pfund ausgemacht hätte.1323 5000 Pfund pro Monat glichen nach dieser Umrechnung von 2007 einer monatlichen Zuwendung von 170 000 Pfund – eine Summe, die darauf schließen lässt, dass dem italienischen Regime bereits die Möglichkeit einer Manipulation britischer Innenpolitik hohe Summen wert war.

Der Geheimdienstbericht aus den frühen 1940er Jahren bezog seine Erkenntnisse auch aus den Aussagen des ehemaligen BUF-Mitglieds und Direktors ihres Legal Departments , Captain C. C. Lewis, der angegeben habe, die BUF habe 1933 eine Übereinkunft mit den italienischen Faschisten getroffen, dass über fünf Jahre monatlich 5000 Pfund gezahlt werden sollten. Ein Bericht merkte an, es gebe Klärungsbedarf hinsichtlich der Frage, ob die BUF auf ähnlichen Wegen Bargeld aus Deutschland erhalten habe. Der Verfasser berief sich auf eine Aussage C. C. Lewis’, der zufolge Alexander Raven Thompson zu einer Youth Rally nach Breslau gereist war, um dort Goebbels zu treffen und die finanzielle Unterstützung einzuwerben. Der Geheim-dienst wertete zudem Telegramme Robert Gordon-Cannings an Mosley als Indiz, dass es eine Übereinkunft gegeben haben könnte.1324 Mosley argumentierte in Anhörungen zu seiner In-ternierung, allein die Buchhaltung seiner Organisation sei für die Finanzen verantwortlich gewesen und man habe ihn nie über Zahlungen aus Italien unterrichtet. Er könne sich rückbli-ckend zwar vorstellen, dass Gelder aus Italien eingegangen seien, aber gewusst habe er davon nichts.1325

Mosleys Einlassungen in den Protokollen der Advisory Committee -Anhörungen lesen sich beinahe wie eine Realsatire. Er stritt vieles ab, das offensichtlich war. Sein Leugnen jeglichen Transfers ging so weit, dass er das fasces -Symbol als nicht italienisch, sondern als vom römi-schen Britannien unter Hadrian inspiriert erklärte, die Wahl seiner Uniform auf sein Faible für Fechtuniformen und den Hang seiner Anhänger zu Theatralik zurückführte. Die Italiener erklärte er zu Nachahmern, die die antisemitische Agitation der BUF übernommen hätten. Seine Nähe zum Nationalsozialismus kommentierte er in ähnlicher Weise. Der Flash in a Circ- le sei keine Abwandlung der SS-Rune, dies sehe man schon am abweichenden Schrifttyp und der Zeichenanzahl. Die SS habe zudem nie einen Kreis um ihr Zeichen gehabt. Ähnlichkeiten seien rein zufällig.1326

Die Treffen mit Benito Mussolini und Dino Grandi stritt er nicht ab, betonte aber, diese seien privater Natur gewesen. Auf die Frage, in welcher Verbindung er zu Grandi gestanden habe, gab Mosley an, sie hätten sich bei Grandis erstem Besuch in London kennengelernt, bei gesell-schaftlichen Ereignissen wieder getroffen und gut verstanden. Als beide angefeindet worden seien, hätten sie beschlossen, die Freundschaft ruhen zu lassen, um sich nicht gegenseitig zu schaden.1327

Insgesamt bewegte sich Mosley in seinen Einlassungen genau in dem Rahmen, den die BUF, die Italienische Botschaft oder die Fasci all’Estero schon in den dreißiger Jahren öffentlich nicht überschritten hatten. In den Anhörungen taktierte er sogar bei der Frage, wann er Mus-solini zum ersten Mal getroffen habe. Er gab Erinnerungslücken vor und deutete den Kontakt als eine Reihe zufälliger Begegnungen.1328

Mosley beschrieb seine Verbindungen zu italienischen Faschisten als nicht durch finanzielle Abhängigkeiten oder Kollaborationsmotive bestimmt, sondern als beiläufig entstanden, als Konsequenz eines Lebensstils, der für seine Klasse nicht ungewöhnlich sei. Damit rückte er sich in die Nähe zu den noch nicht rechtswidrig handelnden britischen Verehrern Musso-linis, die Diktatorenbesuche als gesellschaftliche Ereignisse betrachteten. Mosley behauptete an anderer Stelle, den ersten Kontakt habe die Britische Botschaft in Rom vermittelt. Er habe mit Mussolini über die BUF gesprochen, da dieser sehr interessiert gewesen sei; er habe aber Zweifel gehegt, ob Mussolini wirklich einen Erfolg der BUF hätte sehen wollen. Einerseits wäre dieser wahrscheinlich stolz gewesen, die Ausbreitung der modernen Bewegung in der Welt zu beobachten, da er als eitler Charakter es bestimmt als sein Werk betrachtet hätte, andererseits hätte er sicherlich ein starkes Britisches Empire gefürchtet.1329

Spätestens im Januar 1932 hatte Mosley aktiv die Anerkennung Mussolinis gesucht. Sein Besuch zu der Zeit, als er noch Chef der kriselnden New Party war, machte dies vielen Weg-begleitern deutlich.1330 Auch zu Grandi und anderen ranghohen Vertretern des PNF nahm Mosley frühzeitig Kontakt auf. In seiner Anhörung vor dem Internierungsausschuss prahlte er damit, alle prominenten Vertreter des PNF zu kennen – Achille Starace kenne er sogar gut.1331Ihn hatte er ebenfalls schon im Januar 1932 getroffen. Mosley besichtigte damals in Italien Vorzeigeprojekte des Regimes wie die Trockenlegung der Pontinischen Sümpfe und ließ sich ausführlich über die Partei und das politische System informieren. Seine Tour setzte er in München fort, traf hier Vertreter der NSDAP und studierte die Organisation der Partei.1332Später behauptete Mosley, Adolf Hitler erst 1935 begegnet zu sein.1333

Chiara Chini zitiert einen Brief Mosleys an den italienischen Botschafter aus dem November 1932, aus dem hervorgeht, dass er sich gezielt und freiheraus an Grandi wandte, um sich die finanzielle und propagandistische Unterstützung der Italiener zu sichern: Das Ziel der BUF sei nicht weniger als die Ergreifung der Macht. Dazu bräuchten sie die Hilfe der italienischen fa-schistischen Regierung.1334 Im März 1933 nahm Grandi in einem Schreiben an Fulvio Suvich, den Sottosegretario im Außenministerium von 1932 bis 1936, Stellung zu der Frage, ob es lang-fristig im Interesse Italiens sei, Mosley zu unterstützen. Er halte ihn für sehr fähig, er sei ein sehr guter Autor und Redner und mutig. Mosley habe aufgrund der Reaktionen der britischen Öffentlichkeit auf die nationalsozialistische Machtergreifung Schwierigkeiten, seine Propa-gandaarbeit wie geplant durchzuführen. Grandi räumte ein, dass ein Teil des Geldes, das man Mosley gebe, wohl in Londoner Nachtclubs landen werde, dies beunruhige ihn aber nicht.1335

Bei der Übereinkunft zwischen Lord Rothermere und Oswald Mosley, die im Frühjahr 1934 zu der Daily-Mail -Kampagne Hurrah for the Blackshirts! führte, griffen Dino Grandi und Benito Mussolini vermittelnd ein. Sie standen seit den 1920er Jahren mit Rothermere in Ver-bindung.1336 Grandi teilte Mussolini in einem Brief mit, Mosley lasse Dank ausrichten für die erfolgten Zahlungen und die Hilfe bei der Überzeugung Rothermeres. Grandi behauptete, mit beiden im Dezember 1933 verhandelt zu haben, dabei sei G. Ward Price einbezogen gewesen.1337Inwiefern es der Vermittlung durch Mussolini und Grandi bedurfte, ist zumindest fraglich, denn der Pressemagnat und Mosley waren ohnehin durch ein Netzwerk britischer Politiker, Aristokraten, Journalisten und Unternehmer verbunden. Grandis Brief an Mussolini ist durch einen anbiedernden Tonfall geprägt, der nahelegt, dass er hier die Gelegenheit nutzte, sich als unverzichtbar zu präsentieren. Er liefert in dem Schreiben nicht nur seine Einschätzungen zu Mosley, sondern auch einen Lagebericht zur britischen Politik und Kollektivmentalität, die er als im Viktorianischen Zeitalter stecken geblieben betrachtet. Er zeigt sich irritiert bis amüsiert vom britischen Isolationismus. Die Briten glaubten, sie seien isoliert vom Kontinent, nur weil kein Tunnel unter dem Kanal existiere und weil die Züge in Calais stoppten; dabei landeten täg-lich Hunderte Flüge in Croydon und ließen das Meer, von dem sie glaubten, es sei so groß, ver-schwindend klein werden.1338 Der Lagebericht erörtert die Möglichkeiten einer Einflussnahme auf die britische Politik, so dass die beiläufige Bemerkung doch zielgerichtet erscheint.

Grandis Sicht auf die BUF ist interessant, denn er prognostiziert, die Übereinkunft mit Rot-hermere werde Mosley schon bald vor Probleme stellen. So habe der Pressemagnat bereits ver-sucht, Mosley zu überzeugen, das Wort ‚ Fascists ‘ aus dem Namen der Bewegung zu streichen und sie nur als ‚ Blackshirts ‘ zu bezeichnen.1339 Eine Episode, die, wenn sie zutrifft, eine Parado-xie erkennen lässt: Rothermere als ausgewiesener Kenner der britischen Gesellschaft und Poli-tik hätte demnach nicht die Inhalte und Inszenierung von Mosleys Politik als problematisch angesehen, sondern die Bezeichnung, die zu sehr an das italienische Beispiel erinnere und ne-gative Konnotationen erzeugen könne. Den offensichtlichen (schon im Namen angelegten) Ta-bubruch des paramilitärischen Auftretens der Blackshirts hätte er als Vorteil bewertet. Grandi lieferte als Beleg dieser Darstellung, dass in allen Artikeln in den Rothermere-Zeitungen nicht von Faschisten, sondern nur von Schwarzhemden die Rede gewesen sei.1340

Eine zentrale Rolle in den Beziehungen zwischen dem italienischen Regime und der BUF spielte Ian Hope Dundas. Die BUF hatte ihren Chief of Staff als Verbindungsmann nach Italien geschickt. Nachdem die Zahlungen reduziert und zeitweilig eingefroren worden waren, zog Dundas mit seiner Familie nach Rom. Die BUF versprach sich davon wohl unmittelbare Ein-flussmöglichkeiten. Britische Geheimdienstberichte führten ihn schon frühzeitig als liaison officer der britischen Faschisten auf, bisweilen nannten sie ihn lakonisch „the Self-Styled Am-bassador to Rome for the BUF“1341. Berichte über dessen Aktivitäten weisen häufig einen sar-kastischen Unterton auf. Dundas galt in britischen und italienischen Behörden als persönlich unangenehm und als Störfaktor. Schon in London machte der Stabschef viel Aufhebens um seine Person, informierte etwa die Metropolitan Police vorab über seine Hochzeit – die erste BUF-Hochzeit mit faschistischem Dekor –, da es hier doch Ausschreitungen seitens politischer Gegner geben könne, oder er kündigte in ähnlicher Weise die wöchentlichen Paraden vor dem Black House an. Dundas übermittelte dies in pseudo-offiziellem Stil und in großspuriger Rhe-torik. Für seine Reisen nach Italien fertigte er sich einen Ausweis an, der den Vermerk trug: Dundas übersetzte seine Funktionsbezeichnung in Italien als Capo dello Stato Maggiore . Er zeigte einen Größenwahn, den er in der BUF kultivieren konnte. Zugleich erscheint er als überzeugter Anhänger ihrer Ideologie und eines internationalen Faschismus. Er verinnerlich-te wohl stärker als andere Mitglieder die transzendentale Rhetorik, nannte sein Motorboot, das er mit einer Funkeinrichtung ausstatten ließ, Advance und eine Firma New Epoch Products Ltd .1343Den britischen Geheimdiensten galt er zeitweilig als wichtigster Vertrauter Mosleys. Seit April 1933 reiste er regelmäßig nach Italien und fiel den Sicherheitsbehörden auch mit eigentümlichen Begründungen seiner Reisen auf. So soll er im Januar 1936 erklärt haben, er treffe auf seiner Mission italienische Funktionäre in Rom, um sich für eine Beilegung des Abessinienkonflikts einzusetzen.1344 Dundas versuchte sich gegenüber der britischen Seite als Vermittler zu inszenieren – ein großspuriges, aber auch eigenartiges Manöver.

Im Mai 1936 begleiteten Dundas und Allen Mosley nach Rom, wo dieser erneut Mussolini traf. Eine in diesem Kontext entstandene Notiz in der MI5-Akte gibt an, Dundas gelte den Italienern als Trinker, der dazu neige, mit seinem Wissen über den britischen Geheimdienst zu prahlen.1345 Im Frühsommer 1936 ließ er sich dann in Rom nieder – nicht auf eigene Kosten, wie Geheimdienstberichte vermerkten:

Wie Anna Waring agierte Dundas als Propagandist im Radio. Es erscheint widersprüchlich, dass er als Delegierter der BUF Posten bezog, während die faktischen Geschäftsbeziehungen zwischen den italienischen und den britischen Faschisten zurückgefahren wurden. Über täg-liche Aktivitäten des Chief of Staff in Rom liegen nur wenige konkrete Informationen vor. Er versuchte hier, ähnlich wie William Joyce später in Kollaboration mit dem nationalsozialis-tischen Regime, einen Kurzwellen-Radiosender einzurichten, um profaschistische und anti-britische Propaganda zu verbreiten. Während seiner Abwesenheit aus London verschlechterte sich seine Position in der Bewegung und Neil Francis Hawkins beschloss 1937, Dundas nicht länger in bezahlter Anstellung zu beschäftigen.1347 Eine absurd anmutende Einlassung Mosleys zu Dundas’ Italienaufenthalten knüpfte daran an: Mosley erklärte vor dem Advisory Commit- tee , er habe Dundas in London aus dem Weg haben wollen, um andere in der Hierarchie der BUF befördern zu können, ohne ihn zu kränken. Daher sei dieser nach Italien geschickt wor-den.1348 Auf Dundas’ frühere Reisen ging er nicht ein.

Dundas und Mosley verkehrten in Rom im Hotel Savoia und trafen hier Dr. Carlo Enderle. Dieser soll der Kontaktmann der britischen Faschisten gewesen und in die Planungen zum Radioprojekt einbezogen worden sein. Enderle war im Zweiten Weltkrieg Direktor des Psych-iatrischen Hospitals in Castiglione della Stiviere. Dort fand das US-Militär kistenweise Akten des italienischen Regimes.1349 In den 1933 vom Außenministerium an die Italienische Bot-schaft gesandten Zahlungsanweisungen ist vermerkt, Dr. Enderle und sein Neffe Arturo Resio könnten zu einer Übergabe im Oktober nicht anreisen. Das Paket werde daher an die Botschaft geschickt. Im Außenministerium vermutete man, Enderle sei den britischen Behörden bereits aufgefallen. Daher habe er Arturo Resio empfohlen, dieser kenne England gut und spreche auch Englisch.1350 Exterritorialer britischer Faschismus: BUF- Branches in Italien

Wie bereits erwähnt, besaß auch die BUF eigene kleine Auslandsparteizellen, die sie in ihren Medien bisweilen zu Kontaktbüros der internationalen Netzwerke stilisierte (vgl. Kap. 2.3 und 4.4). In Italien waren ihre Zweigstellen in Rom, Mailand, Genua, Turin, Florenz und Bordig-hera ansässig und sie existierten mindestens zwischen 1933 und 1935. Es ist davon auszuge-hen, dass sich ihre Mitglieder vorrangig als britische Faschisten sahen, deren Loyalität zuerst Mosley, dann Mussolini galt.1351 Über die Gruppierungen ist so wenig dokumentiert, dass sich mehr Fragen als Antworten ergeben: Wie viele Mitglieder zählten sie? Aus welcher Motivation heraus hatten sich diese der BUF angeschlossen? Welcher sozialen Schicht entstammten sie? Wie hoch war der Frauenanteil? Welchen Berufen gingen die Mitglieder nach? Wo lag ihr Al-tersdurchschnitt? Wie waren sie in die italienische Gesellschaft eingebunden? Wie gestaltete sich ihr Kontakt zum PNF?

Die behördliche Dokumentation ihrer Aktivitäten scheint erst in Sir Eric Drummonds Amtszeit als Botschafter begonnen zu haben. Er schätzte die BUF aufgrund niedriger Mit-gliederzahlen als eher irrelevant ein, ließ sich aber von den britischen Konsuln in italie-nischen Städten über die Entwicklung unterrichten und leitete diese Informationen nach London weiter.

Ein Konflikt zwischen Mosley und dem ersten Leiter der Rome-Branch , C. R. De Miege, ist sowohl in britischen Geheimdienstakten, in italienischen Akten als auch in Mosleys Nachlass dokumentiert. Mosley beantwortete im Mai 1933 eine Anfrage De Mieges nach einer Kosten-erstattung mit dessen Entlassung aus der BUF. De Miege hatte schriftlich übermittelt, dass er für die BUF in Italien propagandistisch und Mitglieder akquirierend tätig geworden sei und das Konto der BUF in Rom überzogen habe. Er erbat nun die Erstattung der Ausgaben von 2000 Pfund. Mosley lehnte dies ab und erklärte in bissigem Ton, ihn nie entsprechend beauf-tragt zu haben. De Miege habe vorab versichert, alle Kosten seiner Aktivitäten selbst zu tragen, und müsse dies nun auch tun.1352 Aus diesem Briefwechsel geht hervor, dass De Miege bereits im Oktober 1932 Mosley Hilfe bei der Etablierung einer Sektion in Italien angeboten hatte. 1945 erstellte die militärische Security Division nach Sichtung italienischer Akten ein Dossier über De Miege, das dessen Biografie kurz umriss und die Eindrücke unterschiedlicher Infor-manten und Quellen zusammentrug. Er sei in Kanada geboren, habe einen britischen Pass und vor seiner Übersiedlung nach Italien in London gelebt. Im September 1932 sei er dann nach Rom gereist, wo er im Grand Hotel residiert habe. In einer Audienz bei Mussolini habe er die-sem vorgeschlagen, eine britische faschistische Partei zu gründen. In der britischen Gemeinde Roms allerdings habe er nur wenig Unterstützung gefunden. Ähnlich wie Ian Dundas scheint De Miege alsbald den italienischen Kontaktmännern als unzuverlässig und maßlos gegolten zu haben, denn, so berichteten Informanten, 1933 sei er seine Rechnung im Grand Hotel schuldig geblieben, die sich auf mehrere tausend Lire summiert habe. Als straffällig gewordener Aus-länder wäre er ausgewiesen worden, wenn nicht das Innenministerium interveniert hätte. De Miege habe Italien schließlich verlassen.1353

Hier stellt sich angesichts der bisweilen anekdotischen und so letztlich auch verharmlo-senden Tendenzen in der Beschreibung der faschistischen Personen seitens der Sicherheits-behörden die Frage, ob die Gefahr, die von ihnen ausging, nicht doch unterschätzt wurde. Es handelte sich schließlich um offen antidemokratische, antisemitische und gewaltverherr-lichende politische Akteure, die ein internationales Netzwerk aufbauen wollten und die in machtpolitischer Hinsicht Opportunitäten suchten. An ihrer unverhohlenen Bewunderung für die italienischen Faschisten und deutschen Nationalsozialisten und ihrer Bereitschaft, deren Ziele und Strategien zu übernehmen, änderten die Konflikte mit ihren Verbindungs-leuten nichts.

In Italien trafen sich Mitglieder der BUF- Branches zu gemeinsamen Kundgebungen und Demonstrationen. Im März 1934 intervenierte der britische Konsul in Genua deswegen vor-ab beim Präfekten der Provinz.1354 Später unterrichtete der Konsul den britischen Botschafter über die Vorkommnisse. Die britischen Faschisten hätten zunächst einen anglikanischen Got-tesdienst besucht, dann am Grabmal eines Gefallenen der ‚faschistischen Revolution‘ einen Kranz niedergelegt und abschließend in einem Hotel eine Versammlung abgehalten. Mitglie-der des PNF seien dabei nicht involviert gewesen.1355

Nach dem Bruch mit De Miege trat ein gewisser John Celli die Nachfolge als Koordinator der Branches in Italien an. Der britische Konsul in Genua vermerkte über Celli, der zuvor in Genua gelebt habe, er sei britisch-italienischer Herkunft und spreche Englisch mit einem leichten aus-ländischen Akzent. In Genua habe er nie als exponiertes Mitglied der britischen Gemeinde ge-golten.1356 Celli schrieb unter anderem für The Blackshirt als Auslandskorrespondent Features über wirtschafts- und sozialpolitische Themen.

Im Nachlass Mosleys findet sich ein skurriles Dokument zu Celli – nämlich ein pikantes Zeugnis seines Rosenkriegs: Er hatte 1935 seine italienische Ehefrau und die vier gemeinsa-men Kinder verlassen und kam Zahlungsverpflichtungen nicht nach. Cellis Gattin veranlasste das Verhalten ihres Mannes, sich in einem emotionalen, aber selbstbewussten Brief bei Mos-ley über Celli zu beschweren und Mosley zur Intervention aufzufordern. Subtil drohte sie mit einem Skandal, falls ihr Mann sich nicht einsichtig zeigen sollte. Davon habe sie bisher nur die Rücksichtnahme auf ihre Kinder abgehalten.1357

Die Anekdote ist erhellend, weil sie exemplarisch eine Konsequenz der autoritären Struktu-ren beleuchtet, nämlich die Erwartungshaltung der Mitglieder an ihren Leader , eine paterna-listische Verantwortung zu übernehmen und in persönlichen Belangen seiner Untergebenen für Ordnung zu sorgen. Dieser Fall zeichnet sich dadurch aus, dass die Verfasserin als An-gehörige eines BUF-Mitglieds zwar die Autorität des Adressaten anerkennt, aber doch recht deutlich die eigene soziale Stellung und die eigenen Handlungsoptionen betont.

Für den italienischen Fall ist von vielen ähnlichen Vorgängen auszugehen, in denen eine patriarchalische Gerechtigkeit gesucht wurde.1358

Die italienischen BUF- Branches buhlten um Anerkennung durch die Britische Botschaft, die Konsulate und durch Vertretungen des PNF. Der britische Konsul in Turin informierte im April 1934 die Botschaft, die Überbetonung des Nationalismus in der örtlichen Branch werde von italienischen Beobachtern als störend und als Zeichen gewertet, dass die Verbreitung des Faschismus im Ausland nicht förderlich für Italien sei, sondern schädlich.1359 In Rom nahm eine Delegation der ansässigen britischen Faschisten an den Feierlichkeiten zum Gedenken an Italiens Kriegseintritt teil und wurde zu einer Feier in der Casa del Fascio eingeladen, bei der schmeichelnde Worte gewechselt wurden.1360 Die in Italien lebenden britischen Faschisten erhielten hier Zugang, weil sie als Delegation anderer Nationalität auftraten und so die proto-kollarischen Gepflogenheiten eingehalten wurden. Worüber die Quellen keinen Aufschluss bieten, ist die Frage, ob die Case del Fascio im Alltag auch solchen Besuchern offenstanden. Die Entwicklung der Zweigstellen nach 1934 liegt weitgehend im Dunkeln. Einige wurden um 1935 geschlossen. Ein Teil ihrer Mitglieder soll unter Führung John Cellis weiter proitalieni-sche Propaganda betrieben haben.1361 Der Bericht der militärischen Security Division von 1945 enthält Informationen über die Verlegung des Hauptsitzes von Rom nach Mailand.1362

Dass die exterritorialen Zweigstellen die Parteiführung belasteten, trifft wohl nur teilweise zu. Sie nutzten ihr in der Binnenkommunikation erheblich, da sie die Illusion erzeugten, die BUF breite sich in Europa aus und verfüge über ein Netz von Außenposten. Die britischen Faschisten wollten die Taube auf dem Dach – der Spatz in der Hand war ihnen zu mickrig. Denn während sie die Anerkennung ranghoher italienischer Faschisten suchten, betrachteten sie, wie im Folgenden erläutert wird, den Umgang mit den ‚einfachen‘ Italienern in Großbri-tannien als unter ihrer Würde. Getrennte Welten oder abgesteckte Reviere?

Angesichts der günstigen Ausgangslage, dass die Bewegungen in vielen britischen Städten nur wenige hundert Meter Luftlinie trennten und sie weltanschaulich so viel einte, fiel die Koope-ration schwächer aus, als zu erwarten gewesen wäre. Aktive Doppelmitgliedschaften in PNF und BUF stellten eine Ausnahme dar. Es existierten, so vermitteln es zumindest die Quellen, nur wenige personelle Überschneidungen an der Basis zwischen den Camicie Nere und den Blackshirts in Großbritannien und ebenso in Italien. Woran lag dies? Grundsätzlich wäre dies die leichteste Form der Kooperation und der Sympathiebekundung gewesen. Claudia Baldoli und Chiara Chini erläutern, dass es 1932/33 mehrfach zu Treffen zwischen Angehörigen des Fascio di Londra und der BUF gekommen sei, die sogar zu einzelnen Doppelmitgliedschaften geführt hätten. Dies habe angesichts der strikten Anweisung an die Fasci , sich nicht in innen-politische Belange der Gastgeberländer einzumischen, zu großer Besorgnis geführt, sowohl in der Italienischen Botschaft und im Fascio als auch in Rom. 1933 seien die öffentlichen Kon-takte zwischen dem Fascio und der BUF unterbunden worden.1363 L’Italia Nostra habe fortan nicht mehr über Treffen berichtet, The Blackshirt nur noch gelegentlich.1364 Tatsächlich finden sich allerdings auch vor diesem Beschluss nur sehr wenige Berichte übereinander. L’Italia Nos- tras Artikel befassen sich mit Mosley nur als Leader der britischen Faschisten, mit der Reise seiner Delegation nach Italien im April 1933 und mit dem Tod Cynthia Mosleys. Ein Mitglied der italienischen Gemeinde veröffentlichte ein Lobgedicht auf Mosley. John Celli, Leiter der BUF-Zweigstelle in Rom, übermittelte dem Duce ein Huldigungsschreiben. Berichte über diese Vorgänge waren nicht prominent platziert.1365 Weder The Blackshirt noch Action lieferten In-formationen über die Fasci in Großbritannien. Die Ausnahme bildet ein Artikel zu Feierlich-keiten zum Jahrestag des ‚Marsches auf Rom‘ 1934. The Blackshirt beschrieb hier rückblickend die Feier und das Zeremoniell, hatte aber nicht vorab informiert.1366 Angesichts des langen Zeitraumes, in dem das Regime die BUF finanziell unterstützte, ist die Anzahl solcher Artikel schon auffallend klein.

Grandi beklagte in seiner Korrespondenz nach Rom, dass Ian Hope Dundas durch sein pro-vokantes Auftreten vor der Italienischen Botschaft ein Risiko darstelle. Es sei nicht mit der diplomatischen Funktion der Botschaft vereinbar, dass hier ein Vertreter der BUF ein und aus gehe. Dundas trete dreist auf; er habe allen – auch denen, die es nicht hören wollten – kund-getan, vom Duce instruiert worden zu sein, sich beim Botschafter einzufinden.1367

Waren Bedenken, den Sicherheitsbehörden aufzufallen, allein ausschlaggebend? Stellten die offene Werbung der BUF für den italienischen Faschismus und ihre provokante Kommunika-tion bezüglich ihrer Italien-Visiten denn eine geringere Gefahr dar als Berichte über eher banal anmutende Treffen einzelner lokaler Mitglieder? Die Medien beider Bewegungen hätten über die Aktivitäten der jeweils anderen informieren können, ohne eine Kooperation zu empfehlen. The Blackshirt berichtete hingegen über Treffen von BUF-Mitgliedern mit Italienern, die sich temporär in Großbritannien aufhielten. So wurde ein Ausflug britischer Faschisten zum Hafen von Bristol, bei dem sie sich mit Besatzungsmitgliedern italienischer und deutscher Schiffe austauschten, als ein offizielles Treffen der Faschisten verschiedener Länder interpretiert:

Entscheidend war hier, dass bei diesem Treffen eine klare Trennung nach Nationalitäten vor-lag. In performativer Hinsicht war dies so auch viel wirkungsvoller – ließ es sich rückblickend doch als eine paradigmatische internationale faschistische Zusammenkunft präsentieren, bei der sich vermeintlich Gleichgesinnte unterschiedlicher Herkunft gegenseitig beehrten.

Die Kooperation blieb deutlich unter dem Maß des Möglichen. Vor allem in den Bereichen Freizeit und Jugend hätten gemeinsame Ausflüge, Camps, Sportwettkämpfe, Kulturveranstal-tungen und Weiterbildungskurse auf sehr effiziente Weise Beziehungen herstellen können. Ge-rade die ähnlichen Mechanismen der Indoktrination und Mobilisierung und der Erzeugung eines Gemeinschaftsgefühls hätten eine Grundlage geschaffen für eine scheinbar unpolitische Kooperation an der Basis. Die Hindernisse ergaben sich nicht allein außerhalb, sie waren in-trinsischer Natur. Eine intensive Zusammenarbeit musste durch die ultranationalistische und monozentrische Ausrichtung und den kulturellen Hegemonialanspruch an Grenzen stoßen. Welchen Stellenwert hätte der Leader für die italienischen Faschisten, welchen der Duce für die britischen einnehmen sollen?

Wie die vorigen Kapitel aufgezeigt haben, verfolgten die faschistischen Parteien spezifi-sche Ideologisierungs- und Mobilisierungsinteressen. Sie wandten sich jeweils an ihre eigene Nation, bezweckten die radikale Neuordnung ihrer eigenen Gesellschaft und ihres Staates. Der überhöhte Nationalismus und der Imperialismus umfassten das Postulat einer rassischen Überlegenheit. Bei einem offiziellen Besuch waren die Zuordnungen eindeutig; bei einer Ko-operation vor Ort wäre dies aber in Frage gestellt worden. In beiden Faschismen spielten dar-über hinaus Xenophobie und Isolationismus eine maßgebliche Rolle.

Dass Mosley keine allzu positive Sicht auf ‚gewöhnliche‘ Italiener, insbesondere auf italie-nische Einwanderer, hatte, war bereits 1926 offenkundig. Frederick Mullally zitiert aus einem damaligen Artikel des Daily Herald , in dem Oswald Mosley seiner diskriminierenden Sicht dadurch Ausdruck verliehen hatte, dass er sich des Stereotyps der Emigranten bediente, um die britischen Faschisten, die BF, zu diskreditieren: Er bezeichnete sie als „blackshirted buf-foons making a cheap imitation of ice-cream sellers, and slavishly but ineffectually imitating the latest frenzy of Continental hysterics“1369.

Später, vor dem Advisory Committee , antwortete er auf die Frage, ob ihn die jüdischen Ein-wanderer mehr störten als Italiener oder Schweden in Großbritannien, ihm sei es am liebsten, sie alle würden sofort verschwinden.1370 Mosley unterschied zwischen den ranghohen Vertre-tern des Regimes oder des PNF und den eingewanderten Italienern. Rassistische Ressenti-ments nahmen auf beiden Seiten zu. Die Mobilisierung sowohl der BUF-Anhänger als auch der Faschisten unter den italienischen Einwanderern in Großbritannien stellte die Mehrheits-gesellschaft offen in Frage. Bei der BUF spielten das Moment des Aufweichens britischer Iden-tität und Kultur durch fremde Einflüsse und die Verdrängung von Briten auf dem nationalen Arbeitsmarkt eine große Rolle. Für die Fasci bedeutete die Abgrenzung zur britischen Bevöl-kerung, dass sie in der Überhöhung der Italianità eine Glorifizierung von Britishness ablehnen mussten. Bei einer Doppelmitgliedschaft wären Mitglieder entweder massiv aneinandergera-ten oder mit der Notwendigkeit konfrontiert worden, sich eine Ideologie selbst zusammenzu-mischen.

Aber auch auf den Ebenen, auf denen eine intensivere Kooperation stattfand, zeigten sich schon frühzeitig Bruchstellen. Die Beziehungen waren bei weitem nicht immer harmonisch. Skepsis und Misstrauen brachen sich Bahn. Auch persönliche Befindlichkeiten, Antipathien und individuelle Machtansprüche prägten das Verhältnis. So soll Dundas sich einen erbit-terten Machtkampf mit dem Sekretär der Italienischen Botschaft in London, Vitetti, gelie-fert haben. Dundas intrigierte demnach in Rom gegen Vitetti, dem er vorwarf, Dino Grandi gegen die BUF aufgebracht zu haben. Ein Informant der britischen Geheimdienste berichtete in mehreren Dossiers über diesen Machtkampf. Dundas habe Achille Starace aufgesucht und Vitetti beschuldigt, Mussolinis antibritische Politik während der Abessinienkrise in London konterkariert zu haben und von jüdischen Finanziers gesteuert zu werden. Vitetti, als Ver-trauter Galeazzo Cianos beschrieben, sei derweil ins Außenministerium versetzt worden, wo er sich neue Feinde gemacht habe. Eine vom italienischen Geheimdienst abgefangene Nach-richt des britischen Botschafters Eric Drummond habe Vitetti als engen Freund Großbritan-niens bezeichnet. Daraufhin habe Mussolini seiner Tochter eine Reise mit dem Ehepaar Vitetti untersagt. Dem britischen Bericht zufolge verlautete in italienischen Kreisen, Vitetti fördere die Spielsucht Cianos und verschaffe ihm Mittel britischer Geldgeber, um einen probritischen Kurs durchzusetzen. Dundas soll seine Vorwürfe, die Vitettis seien Teil einer jüdischen Ver-schwörung, mit der Aussage zu untermauern versucht haben, der BUF sei die Information aus der britischen Verwaltung zugetragen worden. Der Verfasser der Geheimdienstberichte charakterisierte den Vorgang als typische Intrige.1371

Ein Bericht der Polizia Politica bezweifelte derweil die Angaben der BUF zu deren Mitglie-derstärke.1372 Der Informant gab an, er und Carlo Camagna hätten sich mit Dr. Pfister, dem Leiter des Foreign Relations Department der BUF, getroffen. Camagna sei vermutlich so naiv, die Zahlen zu glauben, er hingegen tue dies nicht.1373 Andere Informanten, die mit Pfister zu tun hatten, kamen zu einem abweichenden Urteil, lobten sein Wissen über den Faschismus, seine Italienischkenntnisse und sein preußisches Aussehen.1374 Über Dr. G. A. Pfister ist nur wenig bekannt und auch in den Veröffentlichungen der BUF taucht sein Name selten auf. Ei-nem Brief Pfisters an Mosley, der in dessen Nachlass erhalten ist, lässt sich entnehmen, dass der Foreign-Relations- Beauftragte 1935 zeitweilig von seinem Posten suspendiert wurde, weil er eigenmächtig Entscheidungen zur Korrespondenz mit ‚Berlin‘ getroffen hatte. Ob er hier nur mit einer Berliner BUF- Branch oder mit deutschen Kontaktpersonen korrespondiert hatte, bleibt unklar – wahrscheinlicher ist angesichts der Suspendierung letztere Möglichkeit. Für Pfister scheint der vorübergehende Ausschluss gravierende Folgen gehabt zu haben, da sein Gehalt wegbrach und er nun fürchtete, die Miete nicht zahlen zu können.1375 Der Fortgang dieses Disputs liegt im Dunkeln.

So unterschiedlich die italienischen Urteile ausfallen und so unklar das Zustandekommen der Berichte ist, als Quelle sind die Akten der Polizia Politica dennoch sehr interessant, da sie Interna der BUF beleuchten, die sonst nicht gut dokumentiert sind. Sie verdeutlichen, dass das italienische Regime Agenten auf britische Faschisten ansetzte. Ein Agent gab an, durch Täuschung Pfisters Freund geworden zu sein. Er habe sich als italienischer faschistischer Jour-nalist ausgegeben, der zuvor in Berlin gelebt habe. Er berichtete, von Pfister für ein Wochen-ende nach Richmond eingeladen worden zu sein, wo er sich mit ihm über andere europäische faschistische Bewegungen ausgetauscht habe. Seiner Darstellung zufolge hatte Pfister ihn auch durch das Black House geführt, ihm die Automobile gezeigt und dabei mit ihm den Entwick-lungsstand der BUF erörtert.1376

Die BUF orientierte sich bevorzugt an der offiziellen Vertretung Italiens im Vereinigten Kö-nigreich, statt vor Ort auf Parteiebene zu kooperieren. Als zukünftiges faschistisches Regime sah sie sich trotz der manifesten Asymmetrie der Machtverteilung auf Augenhöhe mit dem ita-lienischen Regime. Als Parteiführer der BUF tauschte sich Mosley mit Achille Starace aus, dem Parteisekretär des PNF, der ihm im April 1933 einen Gagliardetto , eine Standarte, für die BUF überreicht hatte, wie eine italienische Zeitung meldete.1377 Starace gratulierte Mosley im Ok-tober 1933 per Telegramm zur Großkundgebung in Manchester und dokumentierte so, dass er die Entwicklung aus der Ferne verfolgte.1378 In ihrem ganzseitigen Bericht „Visit to Rome“ hatte die BUF selbstbewusst betont, sie sei nicht nach Rom gereist, um sich Befehle erteilen zu lassen. Sie postulierte explizit Gleichwertigkeit mit der italienischen faschistischen Bewegung. Ihren Rombesuch beschrieb sie als ein Erweckungserlebnis:

Diesen weitgespannten Erwartungen entsprechend suchte die BUF die Kooperation in Fragen der Weltpolitik – nicht der Lokalpolitik rund um Einwandererviertel. Wenngleich sich die Wege in britischen Städten oft kreuzten und Mitglieder großes Interesse an den Aktivitäten und Treffpunkten der jeweils anderen faschistischen Bewegung vor Ort zeigten, so entsprang daraus doch kein regelmäßiger aktiver Austausch. Spätestens 1940, nach Inkrafttreten der De- fence Regulation 18B und dem Beginn der Internierungen, hätten in Großbritannien Doppel-mitgliedschaften auffallen müssen.

Ein Fall, der wegen der Lokalprominenz des Betroffenen und dessen Karriere heraussticht, ist derjenige John Spernis. Dieser war britischer Staatsbürger mit italienischen Wurzeln, der sein Arbeitsleben als Mosaikleger begonnen und nach dem Ersten Weltkrieg einen eigenen Be-trieb aufgebaut hatte. Brisant ist, dass er seit 1931 konservativer Lokalpolitiker war und 1938 Bürgermeister des Londoner Stadtteil St. Pancras wurde. Der Akte des MI5 zufolge war er Mitglied der Società Mazzini Garibaldi , zudem Präsident einer Vereinigung in Großbritannien geborener Italiener. Nach dem Angriff Italiens auf Abessinien veröffentlichte er in L’Italia Nos- tra eine Loyalitätsbekundung. Zugleich hatte er sich der BUF zugewandt. Ein Vermerk gab an, bei einer Veranstaltung habe Sperni den Eindruck vermittelt, dem anwesenden Mosley recht nahe zu stehen. Für eine pro-italienische Rede bei einem vom Fascio finanzierten Dinner habe er von einem in London lebenden NSDAP-Mitglied einen lobenden Brief erhalten.1380 Sperni protestierte bei einer Anhörung vor dem Internierungsausschuss gegen die Bezeichnung ‚Fa-schist‘. Er habe Mosley in seiner Funktion als Bürgermeister getroffen. Er sei Anti-Faschist und Freimaurer, wenngleich letzteres kein Widerspruch zur PNF-Mitgliedschaft sei, denn die Italian Lodge in London habe über 100 Mitglieder und werde von der faschistischen Partei toleriert. Das Casa del Littorio habe er nur zweimal besucht und sich nicht selbst als Mitglied eingetragen.1381

Sperni lieferte viele Argumente, die ihn von dem Vorwurf, er sei Mitglied einer faschisti-schen Partei, freisprechen sollten. Die Befragungen griffen tief in das Privatleben der Inter-nierten ein. So wurde in Spernis Fall die politische Orientierung seiner Kinder aus mehreren Ehen erfragt und als belastendes Indiz gewertet. Vier seiner sieben Kinder hätten nach der Kriegserklärung das Land verlassen und seien nach Italien gezogen. Ein Sohn sei Propagan-dist für Radio Roma . Sperni wandte ein, er habe im britischen Militär gedient und zwei seiner Töchter hätten sich als Krankenschwestern freiwillig gemeldet.1382 Es ergibt sich kein klares Bild der Person und des Ausmaßes ihrer Verstrickung in faschistische Organisationen aus diesen Protokollen.

Das Dokument zeigt, wie problematisch diese Geheimdienstakten als Quelle sind, denn in der Regel können die Informationswege nicht nachvollzogen werden. Außerdem widerspre-chen sich enthaltene Angaben. In der Gegenüberstellung wird deutlich, dass sich der Ton in Vermerken und Befragungen in Spernis und Oswald Mosleys Fall unterscheidet; in Spernis Fall ist er harscher. Während Mosley unzweifelhaft Faschist war, der Sympathien für feind-liche Mächte gezeigt hatte, war dies bei Sperni zumindest weniger offensichtlich. Die Akte offenbart bisweilen antiitalienische Vorurteile und rassistische Anklänge. Der Unterschied in der sozialen Herkunft und im Standing in der britischen Klassengesellschaft dürfte hier eine Rolle gespielt haben.

Der Inlandsgeheimdienst war derweil auf dem rechten Auge blinder als auf dem linken. Der seit 1933 für die BUF zuständige Secret Service Officer Maxwell Knight war laut Christopher Andrews Geschichte des MI5 stärker mit den britischen Faschisten verbunden, als seiner Auf-gabe zuträglich war: Knight sei von 1924 bis 1930 als Agent Mitglied der British Fascists gewe-sen, habe sich dort bis zum Posten des stellvertretenden Stabschefs und Director of Intelligence hochgearbeitet und 1925 die Leiterin der BF- Women’s Units geheiratet.1383 Seine Kontakte aus dieser Zeit hätten es erleichtert, die BUF geheimdienstlich zu durchdringen – die Grenzen seien aber verschwommen. Der rechtskonservative Knight habe bisweilen profaschistische Tendenzen gezeigt und einen Bekanntenkreis gepflegt, dem radikale Antisemiten angehört hätten. Seine tendenziell apologetische Haltung habe frühe Berichte des MI5 über die BUF beeinflusst.1384 Auch im Innenministerium wurde, laut Andrew, die Gefahr, die von Mosley und der BUF ausging, lange unterschätzt, so dass weder Sir John Gilmour noch Sir John Simon als Home Secretary offiziell die Überwachung anordneten. Lange sei vom Home Office keine Freigabe zur Überwachung der Korrespondenz und Telefonate des Ehepaars Mosley erfolgt, obwohl dies bei anderen Mitgliedern der BUF bereits verfügt worden war.1385

Vom Advisory Committee wurde Oswald Mosley auch zu den Fasci all’Estero befragt. Er gab an, sie für social clubs der Immigranten gehalten zu haben. Jemand, den er über das Fechten kenne, habe ihm von dieser Organisation der italienischen faschistischen Partei berichtet. Ver-mutlich hätten diese Clubs italienische Faschisten zusammenbringen sollen. Befragt, ob ihm der Gedanke gekommen sei, sie könnten so etwas wie eine ‚ fifth column ‘ sein, gab er an, er habe zwar daran gedacht, aber das wäre doch viel zu offensichtlich gewesen.1386 Das Advisory Committee fragte hier zwar nach Kontakten zwischen den Fasci und der BUF, ließ aber nach Mosleys Aussage, es habe keine Beziehungen gegeben, die BUF habe lediglich ein paar Briefe von Italienern erhalten, von dem Thema ab.1387

Dass die Beziehungen zwischen den Bewegungen konfliktreich waren, bedeutet nicht, dass von ihnen eine geringere Gefahr ausgegangen wäre. In der von Konkurrenz und machtpo-litischem Kalkül befeuerten Allianz entstand eine eigene Dynamik der Unberechenbarkeit. Gleichzeitig führten die Disparitäten dazu, dass auch in der Wahrnehmung der britischen Sicherheitsbehörden sowohl die BUF als auch die Fasci all’Estero und die Auslandspropaganda des italienischen Regimes lange als harmloser wahrgenommen wurden, als sie es tatsächlich waren.

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6 Fazit und Ausblick

Die Szene, die ein Reporter des Daily Telegraph hier einfing, ereignete sich im Zuge der geschil-derten großen Test-Mobilisierung der Italiener in Großbritannien zu Beginn der Abessinien-krise. Die Provokation war ein Schlüsselereignis für eine sich wandelnde öffentliche Wahrneh-mung. Die Ausmaße faschistischer Agitation in Little Italy wurden evident. So wie die Olympia Rally ein Jahr zuvor die Sicht auf die BUF und auf den heimischen Faschismus verändert hatte, so rückte diese Eskalation nun den importierten Faschismus ins Blickfeld.

Die asymmetrische Konstellation des Vergleichs in dieser Dissertation könnte Fragen provo-zieren: Ist das, was die British Union of Fascists und die Fasci all’Estero in Großbritannien an jugend- und freizeitbezogener Vergemeinschaftung vornahmen, nicht nebensächlich, vergli-chen mit der Jugend- und Freizeitpolitik im faschistischen Italien? Welche Bedeutung hatten ihre Treffen und Auftritte, ihre Angebote an Kinder und Jugendliche, ihre Sport- und Kultur-veranstaltungen, kurz: ihre Agitation im öffentlichen Raum? So fragte auf einer Konferenz eine Historikerin, ob es nicht letztlich unerheblich sei, wenn sich Splittergruppen wie die Fasci all’Estero an einer katholischen Prozession der italienischen Gemeinde Londons beteiligten und dort neben den italienischen und britischen Flaggen, den Kreuzen und Marienstatuen dann faschistische Symbole im Straßenbild auftauchten.

Tatsächlich ist es das nicht; es ist vielmehr als ein Versuch extremistischer Akteure zu wer-ten, durch Präsenz und vermeintlich unpolitisches Gebaren in der Zivilgesellschaft Anschluss und Akzeptanz zu finden, sich demonstrativ zu ‚normalisieren‘. Ein Schachzug, den auch heu-tige extremistische und populistische Bewegungen vornehmen und den in einigen Gegenden Italiens Mafiaorganisationen nutzen, um ihre Verbundenheit mit der katholischen Kirche bzw. dem christlichen Glauben sogar gegen den Willen der Kirche kundzutun, im Grunde also eine eigene Autorität über sie zu erheben. Wenige Wochen nach der erwähnten Historiker-konferenz riefen im November 2014 in Dresden Rechtsradikale zu Demonstrationen mit ge-meinschaftlichem Adventslieder-Singen auf und versuchten fortan regelmäßig, sich mit die-sem auf Traditionen und Bräuche rekurrierenden Auftreten einen zivileren Anstrich zu geben und den öffentlichen Raum zu beanspruchen. Im jüngeren Kontext der Covid-19-Pandemie waren rechtsextreme Gruppierungen sogar bestrebt, sich zu Verteidigern selbstbestimmter Freizeitgestaltung und bürgerlicher Freiheiten zu inszenieren. Indem sie Proteste organisieren oder unterwandern, sie als Bühne und Agitationsraum nutzen und Diskurse in sozialen Span-nungssituationen zu monopolisieren versuchen, erzeugen extremistische Bewegungen eine Dynamik, die dann den demokratischen Austausch der Zivilgesellschaft stört und spürbar belastet. Exemplarisch zeigt sich in diesen Fällen, dass sich die Neue Rechte wieder solcher Me-chanismen der performativen Vereinnahmung bedient, die in den 1920er und 30er Jahren den hier untersuchten kleineren faschistischen Gruppierungen den Weg zur Rekrutierung neuer Mitglieder und Sympathisanten ebneten und in der Gesellschaft zu Spaltungen führten.

Das Thema der komparativen Analyse dieser Arbeit ist die politische Vereinnahmung der gesellschaftlichen Schlüsselbereiche Jugend und Freizeit in drei divergierenden faschistischen Räumen. Wie die Untersuchung aufgezeigt hat, entwickelte sich bei einer Vielzahl von ideo-logischen, programmatischen und strategischen Affinitäten in allen drei Kontexten eine eigene Dynamik und distinkte innere Logik der auf Vergesellschaftung zielenden inszenatorischen Politik. In der Faschismusforschung ist die jugend- und freizeitbezogene Agitation der klei-neren Faschismen noch weitgehend ein blinder Fleck, verglichen mit jener des italienischen Faschismus und des deutschen Nationalsozialismus. Noch weniger erforscht sind die Verbin-dungen zwischen den Faschismen in diesen Bereichen. Die Analyse zeigt aber grundlegende ideologische Gemeinsamkeiten und darüber hinaus in den Versuchen der Realisierung die-ser Politik, in Mobilisierungstechniken und in situativen Anpassungen viele Parallelen und Schnittstellen zu den ‚großen‘ Faschismen. An den ‚kleinen‘ Varianten lässt sich die Genese dessen, was in den Regimen zur Grundlage einer antidemokratischen, illiberalen Gesellschafts-politik wurde, wie in einer Petrischale beobachten. Zugleich offenbaren sie Besonderheiten, eigene Inhalte und Entwicklungen und lassen so die Komplexität des Faschismus sichtbarer werden. Insofern finden sich – um im Bild zu bleiben – in den jeweiligen Petrischalen zwar eng verwandte, aber doch unterschiedliche Gestalt annehmende, wachsende Mikroorganismen. Wie die Analyse ergeben hat, sind die Jugend- und Freizeitagitationen paradigmatisch für die weitergehende Gesellschafts- und Kulturpolitik der jeweiligen Bewegung. Für alle drei Fälle lässt sich eine hohe Flexibilität in der Umsetzung und Anpassung der ideologisch ähnlichen Vorstellungen konstatieren. Die Bewegungen nährten sich aus Krisenerfahrungen und sozia-len Konfliktstellungen und funktionalisierten diese. Sie sattelten zur Implementierung ihrer politischen Konzepte gezielt auf etablierte und populäre Muster der Vergesellschaftung auf, die sie ideologisch eigentlich bekämpften. Die pleonastische Verwendung von sprachlichen

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Codes und Symbolen, Inszenierungstechniken und Ritualisierungen nutzten die Bewegungen zur Camouflage programmatischer und ideologischer Disparitäten und zu einer oft kultur-politisch argumentierenden Legitimierung ihrer Gesellschaftsvorstellungen.

Die Beziehungen zwischen den italienischen Faschisten, deren Parteizellen in Großbritan-nien und den britischen Faschisten waren derweil vielschichtig: Sie alle sahen sich als An-hänger einer gemeinsamen Sache, als Brüder im Geiste und als Speerspitze einer europäischen faschistischen Allianz. Sie suchten und fanden Kooperationsmöglichkeiten und gingen fak-tisch eine klandestine Geschäftsbeziehung ein, von der alle Beteiligten profitierten. Und doch war ihr Verhältnis spannungsgeladen: Es war zugleich von Sympathie und Konkurrenz wie auch Dominanzgebaren bestimmt und zunehmend von Opportunismus, Intrigen und Res-sentiments geprägt.

Die ideologischen Vorstellungen und programmatischen Forderungen italienischer und bri-tischer Faschisten glichen sich stark: Sie teilten die Ablehnung des demokratischen Systems, die Wahrnehmung einer umfassenden, in Dekadenz mündenden Krise ihrer Gesellschaft, die nur durch Ermächtigung ihrer vermeintlich bisher unterdrückten Generation und durch eine radikale Transformation der Gesellschaft aufgehalten werden könne. Beide erhoben zudem die Etablierung eines korporativen Staates zu ihrem wirtschaftspolitischen Ziel, hingen dem Ultranationalismus und Imperialismus an, propagierten Rassismus und Antisemitismus und prägten einen Kult der Gewalt und Militanz. Das Inszenatorische wurde zu einem wesent-lichen Faktor ihres Politikstils und ihres Selbstverständnisses als vermeintlich dynamische, moderne und allumfassende Bewegung. Korporatistische Grundsätze übertrugen sie in viele Bereiche des Alltagslebens und schrieben ihnen die Fähigkeit zu, soziale Konflikte und kom-plexe Krisen zu überwinden. Frühzeitig erkannten sie die gesellschaftspolitische Tragweite der Themenfelder Jugend und Freizeit für die Identitätsbildung, Sozialisation und Lebensweise in einer modernen Gesellschaft und ihre eigenen Chancen, sich hier zu positionieren und sich Einfallstore zu öffnen.

In allen drei Kontexten zielten die faschistischen Bewegungen darauf, die Teilhabe an Gesel-ligkeit, die idealiter nicht staatlicher Einflussnahme unterworfen ist, sondern selbstbestimmt sein sollte und sich oft spontan entwickelt, politisch zu durchdringen. Sie bedienten sich ihrer, um möglichst große Zustimmung zu gewinnen und um ihre Ideologie und Programmatik ins öffentliche Leben und in die Privathaushalte zu tragen. In der faschistischen Jugend- und Freizeitpolitik artikulierte sich ihre Idealvorstellung, eine teleologische und konformistische Geselligkeit der Vielen zu kultivieren und zu popularisieren. Die von Georg Simmel als „Spiel-form der Vergesellschaftung“1389 bezeichnete Geselligkeit, die schon historisch nur scheinbar unpolitisch und von gesellschaftlichen Hierarchien unabhängig war, sich tatsächlich aber in ihren vielen Formen stets in einem Spannungsfeld integrativer und exkludierender Motive bildete, werteten faschistische Akteure als dienstbar und größeren politischen Zielen der Ge-sellschafts- und Bevölkerungspolitik sowie der Wirtschafts- und Außenpolitik verpflichtet. Bereits existente konkurrierende Formen, Traditionen und Orte der Geselligkeit werteten sie um, indem sie diese von ihren freiheitlichen, demokratischen und emanzipatorischen Eigen-schaften entkoppelten. Andere diskreditierten, bekämpften und – im italienischen Fall – atta-ckierten und verboten sie. Die faschistische Jugend- und Freizeitpolitik nahm zeitgenössische gesellschaftskritische Strömungen und ältere paternalistische, autoritäre und sozialdarwinis-tische Ansätze einer Steuerung der Freizeit der Massen auf und steigerte diese. Sie integrierte konservative bis reaktionäre Rollen- und Moralvorstellungen sowie autoritäre, nationalisti-sche und militante Formen des Assoziationswesens, andererseits aber auch erlebnisbetonte, egalisierende und modernistische Ansätze. In allen drei Fällen war sie in der Umsetzung trendbewusster und anpassungsfähiger, als die Ideologen eingestanden.

Die Freizeitangebote des italienischen Faschismus im In- und Ausland sahen für Kinder, Ju-gendliche und Erwachsene eine Vielzahl gemeinschaftsstiftender und diese Gemeinschaft wie-derum zelebrierender kleiner und großer Events vor. Im britischen Fall war die Agitation wi-dersprüchlicher: Die BUF warb vorrangig deshalb so lautstark um die Heranwachsenden, um einem bestimmten Bild und Anspruch faschistischer Bewegungen gerecht zu werden, haderte aber zugleich mit dieser Öffnung zu jüngeren Zielgruppen. Es bildete sich in allen drei Kon-texten, aber in unterschiedlicher Gestalt und Intensität, ein Nexus aus Gemeinschaftsrhetorik, politischer Mobilisierung und Inszenierungen von Festlichkeit. Die politische Inanspruchnah-me der Sozialisationsräume Jugend und Freizeit stabilisierte sich durch das propagandistische Versprechen, Geselligkeit werde aus der Profanität des Alltags befreit und stattdessen einem höheren Ziel verpflichtet; zugleich finde der Einzelne in der faschistischen Gemeinschaft Halt und Sinn und profitiere moralisch, spirituell, physisch, aber auch sozial und wirtschaftlich von seiner Teilhabe. Ritualisierungen, Inszenierungen, Pathos und Performanz waren nicht nur Ausdrucksformen dieser faschistischen Geselligkeit, sie dienten ihr vielmehr als Rückgrat.

Um mehr als dreizehn Jahre versetzt beginnend, hatten sich die italienische und die briti-sche faschistische Bewegung in stark divergierenden gesellschaftlichen und politischen Kon-texten formiert. Mosleys British Union of Fascists wurde schon vor ihrer formalen Gründung im Oktober 1932 Nutznießer des neu erwachten Interesses des italienischen Regimes an einer Internationalisierung des Faschismus und an einer europäischen Machtpolitik in Konkurrenz zum erstarkenden Nationalsozialismus. Die Strategen der BUF erwiesen sich schon hier als opportunistisch, suchten sie doch den Kontakt zu beiden Kontrahenten. Die italienischen Aus-landsparteizellen in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft waren für sie zunächst von deutlich geringerem Interesse als die diplomatischen Vertretungen und – mehr noch – die Führungs-riege von Regime und Partei in Italien. Trotz der offenkundigen Asymmetrie gingen die bri-

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tischen Faschisten von einer Gleichwertigkeit aus und verlangten hochrangige Verhandlungs-partner. Die Förderung durch das italienische Regime hatte für die britische Bewegung nicht nur unmittelbare finanzielle Vorteile, sondern verhalf ihr sowohl national als auch internatio-nal zu verstärkter Aufmerksamkeit und zu einer wirkmächtigen Drohkulisse.

Während die BUF innenpolitisch Gewicht zu erlangen und ihr Profil zu schärfen suchte, setzte sie zugleich auf eine Adaption der exterritorialen Parteizellen, allerdings mit gerin-gerem Erfolg als das italienische Pendant und mit signifikant anderen Adressatenkreisen und Inhalten: Eine Rückbindung emigrierter Landsleute an die britische (faktisch viel-mehr die englische) Nation war hier nicht das Ziel. Vielmehr schuf sich die BUF Außen-posten, um ihren internationalen Spielraum zu vergrößern und ihn zu propagandistischen Zwecken und strategischen Allianzen zu nutzen. Störungsfrei verlief der Aufbau dieser Auslandszellen nicht, denn ihre Eigeninitiative konterkarierte, ebenso wie die einiger in-ländischer Branches , den Anspruch der Parteispitze auf absolute Führung und strenge Hierarchisierung.

In Großbritannien ergaben sich jenseits der Kontakte der BUF-Parteiführung zur diploma-tischen Vertretung Italiens, zu den offiziellen Repräsentanten der Fasci in britischen Städten sowie zu sozial privilegierten, oft einem Salonfaschismus anhängenden britischen Förderern italienischer Auslandspropaganda und zu Organisatoren italienisch-britischer Gesellschaften kaum Schnittmengen zwischen den Bewegungen. Das transnationale Verhältnis blieb eines von faschistischen Eliten. In ihren Kontaktzonen an der Basis waren die Agitationsräume der Bewegungen dagegen nicht nur divergierend, sondern bisweilen sogar entgegengesetzt, wenn-gleich sich beide Seiten bemühten, die jeweils andere Bewegung in xenophoben Diskursen aus-zuklammern. Das Verhältnis der BUF zu italienischen Einwanderern war von einem auffälli-gen Desinteresse geprägt. Die Weisung der italienischen Diplomatie und der Fasci all’Estero an eigene Mitglieder, im Interesse der bilateralen Beziehungen Zurückhaltung zu demonstrieren und sich nicht in politische Konflikte der host countries einzumischen, dürfte der BUF gelegen gekommen sein. Die von Mosley im Kontext der CAUR-Verhandlungen vorgebrachte, sein Taktieren leugnende Begründung, keine zu große Aufmerksamkeit erregen und unter dem Radar der Sicherheitsbehörden bleiben zu wollen, überzeugte italienische Beobachter letztlich nicht. Waren die Geldspritzen an die BUF anfänglich mit erstaunlicher Freigiebigkeit erfolgt, so hatten Dino Grandi und andere Vertreter des Regimes doch Zweifel an der Durchsetzungs-fähigkeit Mosleys und dessen BUF geäußert. Die Missionen der BUF-Botschafter in Italien, allen voran des als Aufschneider und Störfaktor betrachteten Ian Hope Dundas, nährten Zwei-fel, statt sie auszuräumen. Die Beziehungen verschlechterten sich zusehends; und doch flossen über Mittelsmänner und ausländische Institutionen noch 1937 Gelder. Zwar hatte die BUF im Anschluss an die mit den Fasci all’Estero und Grandis Botschaft abgestimmte proitalienische Kampagne in der Abessinienkrise begonnen, sich aus dem Engagement zurückzuziehen und

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neue Allianzen zu suchen; ein radikaler Bruch erfolgte hier allerdings nicht, sondern alle Sei-ten loteten neue Opportunitäten aus.

Das ambivalente Konkurrenzverhältnis war in der jugend- und freizeitbezogenen Politik keine Nebensächlichkeit, sondern es bestimmte kommunikative Strategien und programma-tische Festlegungen. Adaptionen und Parallelen waren von Beginn an begleitet von Distan-zierungsbemühungen und oft widersprüchlichen Abgrenzungen. Italienischer wie britischer Faschismus spiegelten in ihrer Idealisierung der Jugend und des Generationenkonfliktes als Antrieb gesellschaftlicher Umbrüche, in der Überhöhung der Virilität, der Dynamik und der Gewalt sowie in der Zivilisationskritik und Nostalgisierung des Vormodernen einen seit dem späten 19. Jahrhundert virulenten, durchaus internationalen Zeitgeist. Und doch reklamier-ten sie Originalität und Singularität; betonten bei aller Vehemenz der Gesellschaftskritik die Überlegenheit ihrer Nation gegenüber anderen Nationen. Dies erreichte auch die gesellschafts-politischen Bereiche der Jugend und Freizeit. Die Verfasstheit der Jugend, deren Erziehung, Familien- und Rollenbilder, Bräuche und Traditionen, Kultur, Sport und Fitness – in all diesen Kontexten beanspruchten die faschistischen Bewegungen auch gegenüber einander Autorität. Das Credo einer faschistischen Freundschaft zeigte sich hier als brüchig.

Nicht nur die Ausgangslage unterschied sich zwischen den drei Fällen, sondern auch die kon-kreten Zielsetzungen, die mit gesellschaftspolitischen Konzepten verbunden waren. Während der italienische Faschismus Jugend- und Freizeitpolitik als Massenprogramm zur Umerzie-hung der Bevölkerung im Sinne eines reaktionären social engineering konzipierte und betrieb, die Fasci all’Estero sie vor allem als Mittel einer nationalistischen Identitäts- und Integrations-politik (auf fremdem Gebiet) nutzten, setzte der britische Faschismus sie vorrangig als eine Kulturpolitik der Auflehnung gegen Werte und Normen der Mehrheitsgesellschaft ein. Die ‚kleineren‘ Varianten suchten Nischen innerhalb der Gesellschaft zu besetzen, einzelne gesell-schaftliche Gruppen zu unterwandern und sie anzuwerben und den Zugriff auszudehnen. Die BUF zeigte dabei insgesamt ein bürgerlicheres bis kleinbürgerlicheres Verständnis von Verge-sellschaftung, Erziehung und Jugendsoziabilität, Bevölkerungspolitik, Geschlechterrollen und Frauenarbeit. Sie war zurückhaltender in der Propagierung einer historisierenden Volkskultur oder einer Volkstümlichkeit und entwarf stattdessen eine ideologisierte Form englischer Pro-vinzialität. Waren im Dopolavoro Erntefeste, Trachtenumzüge, an Heilige erinnernde Prozes-sionen, Kunsthandwerksschauen, Feiern mit regionalen Spezialitäten, Bräuchen, Tänzen und Liedgut oder sogar Kleintierzüchtermessen ein wichtiger Bestandteil, so setzte die BUF eher auf eine anheimelnde Geselligkeit, nahm feudale, dörfliche oder provinzielle Traditionen in Beschlag und nutzte Bazars, Gartenpartys, At Homes , Tanztees, Kostümbälle oder gemein-schaftliche Besuche von Country Fairs .

Gemein war den Bewegungen eine stark ideologisch aufgeladene Sport- und Technikbe-geisterung. Gerade in diesen Bereichen verorteten sie einen angeblich dezidiert faschistischen

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Lebensstil, eine sinnhafte, politisch und militärisch nutzbare Freizeitgestaltung und das Er-probungsfeld einer neuen Männlichkeit und Weiblichkeit. Zugleich fanden sowohl anerken-nende als auch diskreditierende Jugend- und Sportmetaphern Eingang in ihre gegenseitigen Wahrnehmungen. Dabei lagen die Kommentare oft näher an der Populärkultur als am propa-gandistischen Ideal der faschistischen Körperkultur. Dies ist mehr als eine skurrile Anekdote, spiegelt es doch einen nicht-ideologiekonformen Einfluss des Zeitgeistes. Als heroische, gestähl-te Athleten sah man einander nicht, schon eher als Freizeitsportler mit Fitnessbedarf. Wäh-rend das Theatralische ihrer Politik und ihre Allmachtsphantasien zeitgenössische Kritiker an Operettenhelden, Schauspieler, Kriegsgötterstatuen oder Mythenfiguren denken ließ, fand ihre Überbetonung von Dynamik, Fitness, Agilität und Männlichkeit Resonanz in sportbezogenem Humor. Im November 1934 brachte die Satirezeitschrift Punch eine Karikatur Bernard Partrid-ges mit dem Titel „Willing Substitutes“. Es handle sich um „A fanciful scene before the England v. Italy Football Match on the Highbury ground“: Zu sehen sind Mussolini als Mannschafts-kapitän im Profifußball, der einen mit ‚ Dictatorship ‘ beschrifteten Ball haltend das Spielfeld überwacht, und an seiner Seite (neben Sir Stafford Cripps, dem Gründer der Socialist League ) ein servil auftretender, kleinerer Mosley, der an Mussolinis Hosenbein zerrt und sich als Er-satzspieler anbietet.1390 Schon 1930 hatte dieser Karikaturist des Punch Mosley wegen dessen aufscheinenden Ambitionen, italienische Verhältnisse herzustellen, als „Moslini“1391 verspottet.

In Italien hatte sich aus der Überhöhung der Jugend und der daraus abgeleiteten, von Gewalt getragenen Selbstermächtigung der Fasci di Combattimento binnen weniger Jahre ein rigides System zur Eingliederung und Kontrolle der Jugend entwickelt. Dieses manifestierte Hier-archien, die es durch Ritualisierungen und Inszenierungen fortwährend neu zu legitimieren suchte. Es schuf mit den GUF eine neue faschistische Elite, die sich in sozialer Hinsicht weitge-hend aus den alten Eliten rekrutierte und die den Systemerhalt sicherstellen und international die Reputation des Faschismus erhöhen sollte. Die Erfassung der Jugend dehnten die Faschis-ten sukzessive bis in das Kindergartenalter aus. Sichtbar gemacht wurde die Vereinnahmung durch Uniformen, Abzeichen und choreografierte Massenveranstaltungen. Die Jugendorgani-sationen prägten eine spezifische Kommunikation, die pathetisch war und eigentlich zutiefst private kindliche Gefühle auf den Duce und die Nation lenkte. Italianità und Romanità wur-den zu Maximen der Identitätsbildung erhoben. Insgesamt setzten die Jugendorganisationen Opera Nazionale Balilla und Gioventù Italiana del Littorio auf eine autoritäre und zunehmend monopolisierte Erziehung der Jugend und auf deren Umwerbung durch oft konkurrenzlose Freizeitangebote. Diese erleichterten die Indoktrination, schufen aber auch gemeinschaftlich erfahrbare Freiräume und boten Zugang zu materiellen und immateriellen Zuwendungen.

Als eine nicht weniger stark auf Neudefinition der Soziabilität abzielende Massenorgani-sation hatte sich seit 1925 die Opera Nazionale Dopolavoro entwickelt. Sie war als autoritäres Surrogat für die von der faschistischen Bewegung zuvor entmachteten Arbeiterbewegungen konzipiert, fußte in weiten Teilen faktisch auf älteren paternalistischen und gewerkschaftli-chen Konzepten der Sozialpolitik und der Arbeiterfreizeit sowie der Staatsbürgerschaftserzie-hung. Die OND bildete als Element des Korporatismus einen Stützpfeiler der Wirtschaftspoli-tik. Gleichzeitig war sie ein Vehikel der Kultur- und Gesellschaftspolitik, indem sie angepasste Programme aus Kultur, Bildung, Sozialfürsorge, Sport und Tourismus in städtische und länd-liche Gegenden trug. Das von faschistischen Autoren als propagandistisches Aushängeschild wahrgenommene Dopolavoro -Programm war ein bürokratisches Monstrum, das Popularität generierte, weil es massentauglich war, eine Vielzahl an Vergünstigungen bot und Kultur-, Freizeit- und Weiterbildungsangebote in deprivierte Gegenden trug. Gleichzeitig stellte es ein hohes Maß an staatlicher Überwachung sicher, machte die Bevölkerung für politische Ziele empfänglich und spannte sie ein.

Die OND kultivierte viele Formen selbstreferenzieller Repräsentation und Vergemeinschaf-tung. Neben die regulären, oft zweckgebundenen Zusammenkünfte traten die vielen Ausflü-ge, Ferienlager, Ausstellungen, Schauen, Wettbewerbe, Wettkämpfe, Feste, Bälle, Konzerte und Kulturevents. Zum Programm gehörten aber ebenso die vor- oder paramilitärischen Übungen und Aufmärsche, die schließlich in tatsächlichen militärischen Einsätzen münde-ten. In ihren Veröffentlichungen interpretierten ONB, GIL und OND die eigenen Massen-veranstaltungen als Zeichen des zivilisatorischen Fortschritts, der die gesamte Gesellschaft erfasst habe.

Exterritorial behaupteten auch die Fasci all’Estero in Großbritannien, ihre Formen der Ver-gesellschaftung trügen einem kollektiven Bedürfnis der von ihnen mit unterschwelliger Ge-ringschätzung betrachteten Einwanderer nach Reintegration und nach Wiederbelebung ihrer Italianità Rechnung. Das Vordringen der Fasci in die italienischen Gemeinden vollzog sich in vielen kleinen Schritten, die in ihrer Gesamtheit nachhaltig wirkten und eine Unterwan-derung bestehender Strukturen und sozialer Beziehungen ermöglichten. Ihren Rückhalt und Einfluss in den Gemeinden vergrößerten die Parteizellen durch Verbalangriffe und Denunzia-tion, durch gezielte Bündnisse mit etablierten Organisationen und einflussreichen Persönlich-keiten sowie durch geschickte PR. Zudem agierten sie als verlängerter Arm des italienischen Regimes. Die Verzahnung der Fasci mit für die Einwanderer wichtigen Institutionen wirkte sich zunehmend auf deren Alltag aus. Durch die Zusammenführung der Kompetenzen der Emigrationsbehörden, der Schulaufsicht für die Auslandsschulen, der Fasci all’Estero und der zugehörigen Wohltätigkeitsorganisationen in der Direzione Generale degli Italiani all’Estero mehrten sich vor Ort die Möglichkeiten der Einflussnahme auf Kinder, Jugendliche und Er-wachsene. Das enge Verhältnis, das die Fasci schließlich zu italienischen Schul- und Kirchen-

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vertretern, zu Clubs der Gemeinden, zu Studienkreisen, zu Kultur- und Freizeiteinrichtungen pflegten, erhöhte ihre gesellschaftliche Akzeptanz.

Die begleitende Öffentlichkeitsarbeit verstand es, selbst kleinen profanen Ereignissen im Ju-gend- und im Freizeitbereich eine gemeinschaftsstiftende Wirkung und eine nationale Trag-weite zu attribuieren. In aggressiver Weise diskreditierten die Fasci Oppositionelle und zuneh-mend auch diejenigen, die sich in die britische Gesellschaft integriert hatten. Sie konstruierten die Dichotomie des Für-oder-gegen-Italien-Seins, die mit der Verschlechterung der bilateralen Beziehungen und neuen Ausgrenzungserfahrungen eine Sogwirkung entfaltete. Mit einem großen Angebot an Freizeitaktivitäten für Kinder und Erwachsene versuchten die Parteizellen Alternativen zur Teilhabe an britischen Organisationen zu entwerfen, die eigenen Angebote als moralisch höherwertig, interessanter und dem Nationalcharakter zuträglicher zu präsentieren und die politische Indoktrination zu normalisieren. Die Kommunikation der Fasci all’Este- ro in Großbritannien und der diplomatischen Vertreter Italiens mit den Emigranten war in vielen Fällen von einer nicht nur pathetischen, sondern sogar infantilisierenden Ansprache bestimmt. Die Jugendpolitik entwickelte sich hier seit den 1920er Jahren zum erfolgreichsten Mittel der Durchdringung von Gemeindestrukturen und der Aufwertung des Faschismus in den Augen derjenigen, die sich in der britischen Gesellschaft verkannt fühlten und sich für die omnipräsente Beschwörung der Italianità empfänglich zeigten.

Die Freizeitpolitik gestaltete sich langwieriger und umständlicher. Eine Dopolavoro -Adap-tion war schon durch die Beschäftigungsstrukturen und die wirtschaftspolitischen Verhält-nisse nicht möglich, die sozialpolitischen Eingriffsmöglichkeiten der Parteizellen waren sehr begrenzt. Die Fasci all’Estero und die diplomatischen Vertreter setzten hier mehr noch als im jugendpolitischen Bereich auf die Inszenierung einer kollektiven Identität, auf deren Aufwer-tung durch repräsentative Ereignisse und auf ein Kulturprogramm, das Italien zum gelobten Land erklärte und es in dieser euphemistischen Darstellung erfahrbar machte. Sie kultivierten einen gefühlsbetonten Nationalismus und banden ihnen zugeneigte Emigranten in Italien-be-zogene Spektakel, ‚Pilgerfahrten‘ nach Italien, in Ausflüge, Filmabende, Vorträge, Ausstellun-gen, Konzerte und Sportevents ein.

Die britischen Faschisten schrieben der Funktionalisierung und Politisierung der Freizeit der Massen ebenfalls einen gesamtgesellschaftlichen, zivilisatorischen Nutzen zu, pflegten al-lerdings eine beinahe subkulturelle Form der Geselligkeit, in der sie gezielt nach Abgrenzungs-möglichkeiten durch eine überbordende Ideologisierung und durch Fokussierung auf das Per-formative suchten. Mit ähnlicher Vehemenz wie ihr italienisches Pendant pflegten sie eine Selbstwahrnehmung als Elite und nicht selten eine Arroganz der vermeintlich Erleuchteten. In der Wahl ihrer Freizeitaktivitäten, Sport- und Kulturangebote und Gemeinschaftstätigkeiten waren sie insgesamt kaum originell. Neben den offenkundig selbstreferenziellen, den Faschis-mus als politischen Glauben und Gemeinschaftserlebnis zelebrierenden Veranstaltungen, wie

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community singing events , speakers classes oder ideologische und programmatische Schu-lungen, setzten die britischen Faschisten auf eine ganze Bandbreite zeitgenössisch populärer Sportarten, den Motor- und Flugsport, Kulturangebote, dances , Ferienlager und Ausflüge. In ihrer Innenperspektive waren ihre Boxkämpfe, Tänze, Fahrradtouren, football-matches denen der Außenstehenden vor allem moralisch überlegen, weil ihre Teilnehmer als Angehörige ei-nes modern movements nicht nur zielstrebiger und fitter seien, sondern eine wirklich britische, patriotische, nicht korrumpierte Haltung verträten.

Der Anspruch der BUF-Führung, den Mitgliedern eine geistige Heimat zu bieten, geriet al-lerdings an Hindernisse. Die politische Ernsthaftigkeit und Disziplin, welche die Parteifüh-rung den Branches verordnete, und das widersprüchliche Verhältnis zur Militanz kollidierten schon bald mit Erwartungshaltungen der Basis. Das Performative genoss in der Jugend- und Freizeitpolitik der britischen Faschisten einen hohen Stellenwert und wurde zu einem effizi-enten Mittel der Rekrutierung. Ihre inszenatorisch aufwendigen, choreografierten Demons-trationen und Kundgebungen, die gewaltverherrlichenden Aufmärsche in Nachbarschaften nahe sozial deprivierten Gegenden, die Prozessionen in kleinen Städten und idyllischen Fe-rienorten – überall hier ritualisierte die BUF die performative Drohung einer Einnahme des öffentlichen Raumes und setzte dabei ihre Musik- und Sportgruppen, ihre paramilitärischen Verbände und Jugendsektionen ein.

Die Arbeit eröffnet weitere Perspektiven und Forschungsansätze: So stellt sich etwa die Frage nach den Nachwirkungen der faschistischen Freizeitpolitik. Welchen langfristigen Einfluss hatte diese? Welche Spuren hinterließ sie in der Alltagskultur und in der gesellschaftlichen Interaktion? Während sich in den letzten Jahrzehnten eine Auseinandersetzung darüber ent-sponnen hat, wie die im Faschismus aufgewachsene Generation geprägt worden ist und welche Konsequenzen ihre Sozialisation für die Nachkriegsgesellschaft hatte, sind die Folgen der an-deren Form der scheinbar unpolitischen Vereinnahmung ein kaum erforschtes Terrain.

Hinsichtlich des Faschismus in Großbritannien eröffnen sich Fragen nach anderen faschis-tischen Gemeinschaften unter Immigranten und deren Verhältnis zu den hier analysierten Be-wegungen. So ist eine Untersuchung zu den Verbindungen zwischen britischen Faschisten, den Fasci all’Estero und den nationalsozialistischen Zellen der Auslandsorganisation ein lohnen-des Forschungsvorhaben, denn die britischen Sicherheitsbehörden schätzten die NS-Auslands-organisation in britischen Städten als ebenso aktiv und gefährlich ein, befassten sich aber vor-rangig separat mit den Akteuren. Hier müssten Netzwerke identifiziert und Konstellationen analysiert werden. Wie verhielt es sich mit faschistischen Zellen unter Einwanderern anderer Herkunft? In einem mikrohistorischen Ansatz könnte sich die Forschung zu den Internierun-gen auf Grundlage der Defence Regulation 18B während des Zweiten Weltkriegs, die in den

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letzten Jahren zugenommen hat, mit den Kontakten, wechselseitigen Wahrnehmungen und weiteren Lebensläufen britischer und italienischer Internierter befassen.

In der italienischen Neuen Rechten, insbesondere im Umfeld der Casa Pound , finden eine Wiederbelebung vieler Ansätze des Dopolavoro und ein Vordringen in den Jugend- und Frei-zeitbereich statt. Ebenso zeigt sich hier eine eigentümliche inszenatorische Rückbesinnung auf den italienischen und den britischen Faschismus. Die Dimensionen der neofaschistischen und rechtsextremen Bewegungen reichen weit. Zu erforschen wäre, welche Traditionslinien sich hier im Einzelnen zeigen, welche Rolle die Anleihen aus dem (transnationalen) Faschismus der 1920er bis 1940er Jahre in ihrem Selbstverständnis und in ihren Mobilisierungsstrategien spielen. In einem vergleichenden Ansatz könnte untersucht werden, in welchen Milieus, Struk-turen, Agitationen und Kampagnen auch über die Neue Rechte hinaus in der britischen Ge-sellschaft ultranationalistische, antidemokratische, antisemitische, rassistische oder illiberale Positionen aktuell wieder Raum greifen, die bereits der britische Faschismus besetzte.1392

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Abkürzungsverzeichnis

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Quellen- und Literaturverzeichnis

The National Archives (TNA), Kew: University of Birmingham. Cadbury Research Library. Special Collections: