Dira lues – Unheilvolle Pest
Das Seuchenmotiv in der lateinischen Dichtung des ersten vor- und nachchristlichen Jahrhunderts
Inhalt
Einleitende Worte
Im Jahr 2020 gewann diese Arbeit durch die SARS-CoV-II-Pandemie eine traurige Aktuali- tät, die zu Beginn meines Promotionsstudiums 2018 nicht abzusehen war. Zahlreiche Ein- zelbeiträge haben sich seitdem verstärkt mit der Geschichte der Seuchen auseinandergesetzt, deren Fülle vermutlich nur zum Teil berücksichtigt werden konnte. Im besten Fall kann auch die hier vorliegende Untersuchung dazu beitragen, das historische Verständnis von Epidemien zu befördern. Während unserer Untersuchung dieser fiktiven Beschreibungen, die neben didaktischen primär zu Unterhaltungszwecken verfasst sind, ist das Leben und Leid derjenigen zu berücksichtigen, die von dieser realen Krankheit in vielfacher Hinsicht betroffen sind. Ein erster Dank gilt in diesem Zusammenhang all jenen, die unter Einsatz ihrer Gesundheit weltweit ihren Beitrag zur Bewältigung der Pandemie geleistet haben und noch immer leisten. Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um die leicht überarbeitete Fassung meiner Dis- sertation, die von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln angenommen wurde. Sie wäre ohne zahlreiche Freunde und Förderer nie fertiggestellt worden: Mein größter Dank gilt meinen Betreuern Herrn Prof. Dr. Jürgen Hammerstaedt und Herrn Prof. Dr. med. Karl- Heinz Leven für ihre Förderung, wertvollen Anregungen und ihre Kritik in unseren Kollo- quien und in Betreuungsgesprächen. Bei der Durchsicht und Verbesserung des Manuskripts halfen neben Herrn Hammerstaedt und Herrn Leven auch Frau Prof. Dr. Anja Bettenworth, Frau Prof. Dr. Nicola Hömke, Herr Prof. Dr. Peter Schenk und meine Familie, denen ich von Herzen danke. Weiterhin wäre ich ohne meine Lehrerinnen und Lehrer sowie Kolleginnen und Kollegen am Institut für Altertumskunde der Universität zu Köln weder in der Lage ge- wesen noch hätte ich den Mut besessen, dieses Projekt zu beginnen und durchzuführen. Ein besonderer Dank ergeht an Herrn Prof. Dr. Dr. Andreas Weckwerth, der parvulos igniculos in mir erkannt und geschürt hat, und an Herrn Schenk, der mich so oft (und dennoch so gedul- dig) mit seinem Rat unterstützte. Schließlich möchte ich allen Forscherinnen und Forschern danken, deren Beiträge diese Ausarbeitung (direkt oder indirekt) bereichert haben – sie alle bilden die Schultern, auf denen ich stehe.
1 Vorüberlegungen
Der Satiriker Lukian von Samosata (2. Jh. n. Chr.) kritisiert im fünfzehnten Abschnitt seines Werkes ‚Wie man Geschichte schreiben soll‘ den Historiker Krepereios Kalpurnianos. Dieser habe sich zum Ziel gesetzt, genau wie Thukydides zu schreiben: ein hehres Unterfangen, das Lukian reichlich Material für seinen Spott liefert. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf der Seuchenbeschreibung, die Kalpurnianos schlicht von seinem Vorbild übernommen habe. Aus diesem Grund habe Lukian die Lesung verlassen, da er schließlich ganz genau gewusst habe, was noch folgte – nach seinem Urteil handelte es sich bei diesem Zeitgenossen um einen Möch- tegernliteraten. Ob Kalpurnianos tatsächlich auf diese Weise dilettierte, ist nicht rekonstru- ierbar. Dennoch spiegelt die Kritik die Wirkung wider, welche die Beschreibung der Pest von Athen bis in das zweite nachchristliche Jahrhundert und darüber hinaus besaß. Ein Ergebnis dieser Nachwirkung bildet den Gegenstand unserer Untersuchung, insofern der epikureische Dichter Lukrez (1. Jh. v. Chr.) das Motiv der Seuche in enger Anlehnung an Thukydides für die lateinische Dichtung erschlossen hat. Er begründete damit eine Tradition, die sich über beinahe zwei Jahrhunderte von Vergil über Grattius, Ovid, Manilius, Seneca, Lucan bis Silius Italicus erstreckt.1 Als Vorläufer dieser Arbeit sind neben zahlreichen Einzelbetrachtungen die Dissertation von Gerard Vallillee (1960), die komparatistische Ausarbeitung von Jürgen Grimm (1965) und jüngst die literaturwissenschaftlichen Studien von Hunter Gardner (2019) zu nennen. Eine vergleichende Untersuchung der gesamten Tradition unter Berücksichtigung ihres Wertes für die Medizingeschichte wurde bislang nicht vorgenommen. Dieses Forschungsdesiderat2 wird in den folgenden Vorüberlegungen näher ausgeführt: An die nähere Betrachtung des Gegen- standsbereichs (Kapitel 1.1) schließt sich die Frage nach dem Verhältnis von antiker Dichtung und Medizin an (Kapitel 1.2). Daraufhin werden der Wert der Quellen für die Medizinge- schichte begründet (Kapitel 1.3) und die Methode vorgestellt (Kapitel 1.4). Die Beschreibung 1 Diese zeitliche Begrenzung ist darin begründet, dass das Motiv nach Silius Italicus erst wieder in Form des spätantiken Dichters Endelechius ( De mortibus boum , 4. Jh. n. Chr.) greifbar wird, vgl. Barton (2000).
2 Auch Kruschwitz (2020, 140) betont die Notwendigkeit einer Zusammenstellung des Materials. Hat Kruschwitz seine Inschriftensammlung (ab dem 2. Jh. n. Chr.) eine ‚Kleine Poetik der Seuche‘ ge-nannt, könnte diese Untersuchung (mit ihrem Blick auf Epos und Tragödie) als ‚Große Poetik der Seuche‘ bezeichnet werden.
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1.1 Seuchenbeschreibungen in der lat. Dichtung: Die conspiratio poetarum des Thukydides wurde oben bereits als Grundlage der Tradition genannt, sodass aus seiner Darstellung ein Grundschema erstellt wird (Kapitel 1.5). In einem abschließenden Exkurs (Ka- pitel 1.6) wird das Motiv in einen Zusammenhang mit moderner Literatur gebracht und damit in einer überzeitlichen Dimension greifbar gemacht.
1.1 Seuchenbeschreibungen in der lat. Dichtung: Die conspiratio poetarum
Diese Untersuchung hat eine Krankheitseinheit3 zum Gegenstand, die in den zugrundege- legten Quellen u. a. als λοιμός ( loimós ), lues , malum , morbus oder pestis 4 bezeichnet und im Folgenden mit ‚Pest‘ wiedergegeben wird. Darunter lässt sich in der Antike nach Meier „die rasche Ausbreitung hochansteckender Infektionskrankheiten mit hoher Mortalität innerhalb eines begrenzten zeitl. u. räumlichen Rahmens“5 verstehen. Diese Art des Massensterbens be- zieht sich, wie aus der Motivtradition (insbesondere bei Vergil und Grattius) ersichtlich wird, sowohl auf Menschen als auch auf Tiere. Doch wird der Begriff ‚Krankheitseinheit‘ dem be- 3 Zum Begriff vgl. Häussler (1980), 177: „Eine Krankheitseinheit stellt sich zunächst als eine ganz bestimmte Kombination von Symptomen und festgelegten Befunden mit einem Namen, dem der Krankheit, dar; es handelt sich also um eine Definition“ und Leven (1998), 163: „Krankheitseinheiten werden nicht von der Natur definiert, sondern von Wissenschaftlern […]. Demnach sind Krank-heitseinheiten, wie sie in (historischen) Texten niedergelegt sind […], als Argumentationsfiguren aufzufassen, die von historischen Akteuren fortwährend neu ausgehandelt werden.“
4 Eine ursprünglich breitere Semantik von λοιμός hat bereits Marie Delcourt (1938, 23) aufgezeigt. Die Varianz der lateinischen Terminologie, die sogar innerhalb der einzelnen Beschreibungen fest-zustellen ist, ergibt sich nicht aus den Gattungsspezifika oder dem Handlungsablauf der jeweiligen Werke, sondern kann auf die bereits früh einsetzende Auflösung fester terminologischer Grenzen im Grundvokabular für Krankheiten zurückgeführt werden (vgl. Migliorini 1993). Michelakis (2019, 390–397) spricht sich in der griechischen Motivtradition gegen eine schlichte Auswechselbarkeit der Begriffe aus und will semantische Wechselwirkungen ausmachen, die durch eine Ersetzung ein-treten. Zur kulturellen Prägung von Krankheitsbeschreibungen vgl. Lupton (32012), 8–11 und Stol-berg (2012), 216: „In diesem Sinne sind Krankheiten stets und unhintergehbar soziale, kulturelle Konstrukte. Sie werden in den jeweils verfügbaren, zeitgenössischen Begriffen und mit Hilfe von Metaphern und Bildern beschrieben, die ihrerseits vielfach übergreifende Körper- und Krankheits-vorstellungen und, damit verknüpft, herrschende Normen und Ideologien spiegeln.“
5 Meier (2021), 422. Die Bezeichnung ist dezidiert von der durch den Erreger Yersinia Pestis verur-sachten Krankheit, bzw. insbesondere dem sog. ‚Schwarzen Tod‘ des 14. Jahrhundert (Ausdruck aus dem 17. Jahrhundert) zu unterscheiden. Der Ausdruck ‚Pest‘ wurde hier im Singular dem der Seuche vorgezogen, da er auch eine affektive Komponente aufweist, die jenem klinischen abgeht, und somit der (mutmaßlichen) Reaktion auf Seiten der Rezipienten eher entspricht (vgl. ebenso Schmitz 2005, 55). Zur Schwierigkeit der Terminologie vgl. auch Michelakis (2019), 383 Anm. 5.
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handelten Phänomen nur bedingt gerecht:6 Die lateinischen Dichter7 des ersten vor- und nach- christlichen Jahrhunderts beschreiben eindeutig verschiedene Krankheiten, blickt man neben der Terminologie etwa auf die Unterschiede in der Pathogenese, der Pathophysiologie oder der Symptomatik,8 ganz zu schweigen vom jeweiligen (myth)historischen und erzählerischen Zu- sammenhang. Von einer Krankheitseinheit wird hier dennoch gesprochen, da es sich bei den Quellen um aufeinander Bezug nehmende, fiktionale9 Beschreibungen handelt, sodass eine literarische Einheit der Autoren gebildet wird. Bei den Seuchenbeschreibungen handelt es sich um eine Motivtradition,10 für die sich in der Literaturwissenschaft der Terminus des literarischen Topos eingebürgert hat.11 Innerhalb der6 Die von Häussler (1980, 180) geäußerte Kritik an der Statik und dem Abstraktheitsgrad der Krank-heitseinheit gegenüber der Dynamik des Krankheitsgeschehens und der Invididualität einer jeden Erkrankung kann ebenso auf die literarische Umsetzung der Krankheit übertragen werden.
7 Zur vermeintlichen Überzeitlichkeit des Dichterbegriffs und den damit verbundenden problema-tischen Implikationen vgl. Jahns Vorwort zur überarbeiteten Georgica -Ausgabe (91915), XXIX. Für den Untersuchungszeitraum stellt sich insbesondere die (bisweilen nicht zu beantwortende) Frage nach der Herkunft der Dichter, da sie bspw. über die Tatsache entscheidet, ob sich der Autor in finan-zieller Abhängigkeit (von einem Mäzen oder Kaiser) befand, vgl. Fantham (1996), 2–7.
8 Bei der Verwendung moderner medizinischer Terminologie ist das Selbstverständliche in Erinne-rung zu rufen, dass den Verfassern der hier behandelten Quellen eine solche Kategorisierung fremd gewesen ist (vgl. auch das caveat bei Langholf 1990, 39). Wird dennoch ein Terminus wie ‚Ätiologie‘ oder ‚Pathophysiologie‘ verwendet, dient er (als meine Interpretation) dem besseren Verständnis des Textes und (besonders für die medizinisch Vorgebildeten) einer erleichterten Einordnung der manchmal fremd anmutenden Beschreibungen in gewohnte Vorstellungsstrukturen. Bei der phi-lologischen Betrachtung der Seuchenbeschreibungen ist spätestens seit David Wests Vergleich von Lukrez und Vergil (1979) die Einteilung in Ätiologie, Symptomatologie und Epidemiologie geläufig.
9 Mit Gabriel (1975, 28) wird unter fiktional „nicht-behauptende Rede, die keinen Anspruch auf Refe-renzialisierbarkeit oder auf Erfülltheit erhebt“ verstanden. Dies impliziert nicht, dass eine Referenz (s. Anm. 104, S. 33) der Rede auf real existierende Personen oder Ereignisse (z. B. im historischen Epos) nicht stattfinden darf – eine solche ist jedoch nicht notwendig. Damit ist unter Berücksich-tigung der Rezipientenperspektive der Bezug zur Wirklichkeit nicht determiniert, im Moment der Rezeption befindet man sich in einer ‚Quasi-Wirklichkeit‘ (vgl. Corbineau-Hoffmann 32013, 31); dies gilt umso mehr für den antiken Rezipienten, für den sich auch Beschreibungen des Mythos (wie in Ovids oder Senecas Beschreibung) durchaus real angefühlt haben können.
10 Nach Dahms (2013, 125) ist ein Motiv aufzufassen als „kleinstes, handlungsstrukturierendes und bedeutungsvermittelndes Element“, wobei es sich nach der dort vorgestellten Kategorisierung von Motiven bei der Pest um ein Situationsmotiv handelt. Zum Verhältnis von Motiv und Stoff, wobei Letzterer auch unabhängig von seiner Verarbeitung in literarischer Form bereits ein Verarbeitungs-potenzial des Plots vermittels Motiven vorgibt, vgl. Frenzel (41978), 24–29. Dass die eigenen Vor-stellungen dieser Potenziale reflektiert werden müssen, zeigt das nicht selten negative Urteil Jürgen Grimms über antike Autoren, die das Motiv seiner Meinung nach nicht angemessen umgesetzt ha-ben.
11 Unter dem (mittlerweile im dichten Nebel der Verallgemeinerung liegenden) Begriff des Topos wird in dieser Ausarbeitung mit Veit (1961, 14) eine Denkform bezeichnet. Diese Definition bietet zum
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Tradition besteht ein Abhängigkeitsverhältnis der Autoren untereinander, das sich nicht als einzelnes Vorkommnis inhaltlicher und sprachlicher Koinzidenz ob der gleichen Thematik auf die Seuchenbeschreibungen beschränkt, sondern in einem weiteren literaturhistorischen Rah- men zu sehen ist. Die wetteifernde Bezugnahme der lateinischen Autoren auf ihre Vorgänger ist literarisches Prinzip,12 das Dorothea Gall prägnant umschrieben hat:13 Die leicht variierende Übernahme einzelner Wendungen, Verse oder Versteile, eines ge-lungenen Vergleichs, einer anschaulichen Schilderung oder einer spezifischen Erfassung seelischer Gestimmtheit ist den Dichtern ebenso wie den Theoretikern antiker Poetik insofern selbstverständlich; sie legitimiert den jüngeren Dichter, weist ihn als „Fach-mann“ aus und verleiht seinem Einzelwerk den bedeutsamen Hintergrund der Tradition, an der er konstruktiv weiterbaut. Insofern literarische imitatio nicht jedem beliebigenWerk gilt, sondern dem vorbildlichen, vermittelt sie auch ein literarisches Urteil und den eigenen Anspruch des Nachahmers. In der geringfügigen Abweichung, der Integration
übernommener Motive in neue Kontexte oder der völligen Umstrukturierung bzw. Be-deutungsänderung offenbart sich zugleich die dichterische Begabung. Anhand seiner Bezugnahme trifft der Nachfolger demnach eine Aussage sowohl über das eige- ne als auch das fremde literarische Schaffen, er nimmt eine Haltung gegenüber dem Vorgänger ein und positioniert sich gewissermaßen im künstlerischen Raum. Freilich ist dieses Prinzip antiker Poetik wohlbekannt, doch ist die Art und Weise seiner Umsetzung im Falle des Seu- chenmotivs insbesondere aufgrund der Kontinuität durchaus bemerkenswert – und erregte damit früh Aufmerksamkeit. einen eine erleichterte Integration in die Untersuchung der Seuchenbeschreibungen vor dem Hinter-grund der Vorstellungsgeschichte (vgl. Kapitel 1.3 und 1.4), unterstreicht zum anderen die für die medizinische Anthropologie wesentliche Wechselwirkung von Vorstellung und Primärerfahrung, vgl. Lupton (32012), 11.
12 Für dieses Prinzip der Überbietung wurde im 1. Jahrhundert n. Chr. der Terminus der aemulatio geprägt, früher war bereits von der kreativen Nachahmung ( imitatio ) gesprochen worden (vgl. noch immer maßgeblich Reiff 1959 und Thill 1976); Schmitz (2015), 527 Anm. 8 verzeichnet ausgewählte Literatur zum Thema. Treffend auch von Albrecht im Vorwort zu seiner Habilitationsschrift über Silius Italicus (1964, 6): „Ist für den antiken Dichter Originalität nicht Freiheit von Bindungen, son-dern Freiheit in der Gebundenheit, so darf die Abhängigkeit römischer Poesie von literarischen Vor-bildern nicht als außerkünstlerisches, werkfremdes Element abgetan werden.“ Bei der Aufnahme des Vorgängers durfte eine Markierung der Entlehnung nicht ausbleiben, da für den Rezipienten ansonsten die Anspielung bzw. Allusion verborgen bliebe und der Vorwurf eines Plagiats ( furtum ) drohte (vgl. Zintzen 1987, 25f.). Zur Abgrenzung der Allusion als bewusster Form der Bezugnahme von Intertextualität vgl. Schmitz (2015), 537f.
13 Gall (1999), 18f.
1.1 Seuchenbeschreibungen in der lat. Dichtung: Die conspiratio poetarum
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Bereits der Jesuit Juan Luis de la Cerda stellt in seinem Kommentar zu Vergils Georgica (Erstfassung 1608) verblüfft fest, dass die thematisch und gestalterisch augenfälligen Parallelen zu anderen Autoren noch wenig Aufmerksamkeit von Seiten der Kommentatoren erfahren haben: Die Pest, die der Dichter hier in Breite besingt, hat als erster von allen Thukydides im zweiten Buch [seiner Historiae ] niedergeschrieben. Von ihm nahm sie Lukrez im sechs-ten Buch [seines Werkes De rerum natura ]. Und es ist verwunderlich, in welcher Über-einstimmung die übrigen Dichter sich verschworen haben, ihre rühmliche Begabung auf eine ähnliche Weise zu offenbaren. Es gibt nämlich fast niemanden unter ihnen, der kei-ne Pest beschrieben hat. Ich will versuchen, den Dichter auf Basis von ihren und anderenBeschreibungen zu erhellen. Denn ich muss mich doch wundern, dass die Kommentato-ren auf einem so weiten Feld derart schweigsam gewesen sind.14 In der Tat kann man als Beobachter den Eindruck gewinnen, es handle sich um eine ‚Ver- schwörung‘ der Dichter, wenn man die ständig neue Einfassung des Motivs in neue Gattungen und Handlungsstränge bewundert.15 Die Pest breitet sich, um ein Bild von Helen Slaney auf-
14 Cerda (1618), 433: „Pestem, quam hic late Vates canit, primus omnium scripsit Thucydides lib. 2. a quo Lucret. lib. 6. Et mirum est, quo consensu Poetae reliqui conspiraverint ad similem ingenii gloriam indicandam. Nemo enim fere illorum est, qui non pestem descripserit. Ex istis et aliis etiam conabor Poetam illustrare. Miror enim Interpretes in tam lato campo ita siluisse.“ Zur Bedeutung von Cerdas Werken in der Entwicklung des philologischen Kommentars vgl. Laird (2002). Vor ihm räumte bereits Julius Caesar Scaliger dem Seuchenmotiv im fünften Buch seiner Poetices libri (1561, 263–265) eine Vorrangstellung ein, indem er mit ihm seine Motivstudien in der lateinischen Dich-tung eröffnete. Er unternahm Vergleiche primär zwischen Lukrez, Vergil und Ovid – Silius Italicus wurde lediglich hinzugenommen, um ihn im Vergleich als „stammelnden Studenten“ oder „arme Krähe“ ( balbutientem scholasticum [264] und cornicula [265]) vorzuführen. Scaligers Gegenüber-stellung ist bei Vogt-Spira (1998, 451–471) auch in Übersetzung zugänglich.
15 Eine solche Be- und Verwunderungsoffenheit (Formulierung von Degelmann 2018, 11) muss der gesamtenMotivtradition entgegengebracht werden. Allzu schnell kam mancher Editor, Überset-zer bzw. Interpret aufgrund der zahlreichen Überschneidungen zu verdrossenen Folgerungen, wie etwa Reckford (1958, 85) in seinen Betrachtungen zum Goldenen Zeitalter: „Of course, like all good things, it grew trite through over-use“, vergleichbar auch Töchterle (1994, 166) zur „überkommenen Topik“ und Finnegan (1999), 39 mit „a stock theme in poetry“; auch Toners (2013, 109f.) Motiv-porträt wirkt statisch und wenig anregend. Treffend und auf alle Motivelemente übertragbar ist in diesem Zusammenhang eine Feststellung von Perkell (1989, 111): „That these points are conventional detracts neither from their truth nor from their power to move readers.“ Schließlich ist auch eine Konstruktion linearen Fortschritts, die an einer (mehr oder weniger gut begründeten) Stelle der literarischen Tradition die Krönung der Entwicklung zu sehen glaubt, wenig förderlich, vgl. bspw. Heerink (2011), 464 und passim . Ein solches Vorgehen führte meist zu negativen Bewertungen der späteren Autoren, deren Behandlung ohnehin lange Zeit unter literaturhistorischen Rahmungen wie
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zugreifen,16 vom Lehrgedicht über das Epos bis hin zur Tragödie aus und stellt folglich ein ein- zigartiges Zeugnis für das römische Aemulationsprinzip dar, das eine Untersuchung fruchtbar erscheinen lässt;17 entsprechend wird das erste Ziel der vorliegenden Ausarbeitung darin be- stehen, den Wandel des Motivs nachzuvollziehen und damit einen Eindruck des literarischen Schaffens der Dichter zu gewinnen.18 Bei aller Faszination stellt sich schnell die Frage nach dem ‚Warum‘: Aus welchem Grund wählten die Dichter immer wieder gerade das Motiv der Pest? Es kann bereits an dieser Stelle vermutet werden, dass bei den Dichtern die ästhetische Motivierung vorherrschte,19 wohingegen eine historische oder medizinische Abhandlung nicht deren Zielsetzung war – mit Jürgen Grimm ist bei den hier zugrundegelegten Quellen deshalb von ‚Pestliteratur‘ bzw. literarischen Seuchenbeschreibungen (im engeren Sinn) zu sprechen.20 Auf die Tradi- tion bezogen bedeutete dies, dass die Erschließung des Motivs durch Lukrez vor dem Hin- tergrund des Aemulationsprinzips beinahe notwendigerweise zu einer derart ausgedehnten Nachfolge hätte führen müssen. Doch eine monokausale Erklärung greift zu kurz. Neben der ästhetischen Motivierung liegen noch weitere motivimmanente Faktoren vor, die zur Attraktivität des Seuchenmotivs beigetragen haben und die im Folgenden kurz angerissen werden. der ‚goldenen‘ und ‚silbernen‘ Latinität gelitten hat. Die Auswirkungen zeigen sich bis heute: Noch in Nethercuts (2020, 115 und 129) Darstellung der Tradition wird neben Grattius, der freilich häufig übersehen wird, auch Silius Italicus übergangen.16 Slaney (2009, 58) spricht in diesem Zusammenhang von einer „textually transmitted disease“.
17 Durch die wiederholte Aufnahme des Motivs haben die Dichter möglicherweise auch dazu beigetra-gen, dass Seuchen in der rhetorischen Theorie als typischer Ekphrasisgegenstand aufgefasst wurden (s. auch im Folgenden), wie Quintilian (Inst. 7,2,3) im ersten Jahrhundert n. Chr. belegt. Zur wech-selseitigen Beeinflussung von Rhetorik und Dichtung vgl. Veit (1961), 1–3.
18 Monica Gale (2011, 205) hat für den allmählichen Prozess der Motiverweiterung das passende Bild einer schichtweisen Verkrustung gewählt. Interessant wären danach insbesondere die Stellen, an denen die Krusten Löcher aufweisen, die einen Blick auf die darunterliegenden Schichten erlauben.
19 Zur Terminologie vgl. Radicke (2004), 101, dessen Position einer häufigen Verselbstständigung der übernommenen Motive (im Sinne einer mangelhaften Integration in den neuen Zusammenhang) für die hier behandelten Quellen nicht bestätigt werden kann. Neben der ästhetischen Motivierung ist die Einbindung des Motivs in eine Argumentation und Paränese zu nennen, die insbesondere bei Lukrez, Vergil und Manilius eine bedeutende Rolle spielt, vgl. Effe (1977), 113 und Paulsen/Schulze (2005), 329f.
20 Grimm (1965), 9: „Positiv ausgedrückt zählen wir also zur Pestliteratur das Schrifttum, das andere als historische oder medizinische Absichten verfolgt.“ Gleichwohl offenbart ein zweiter Blick, dass eine derart rigorose Trennung vom Rezipienten nicht unbedingt empfunden wurde. Beispielsweise zeigt das Motivelement des Symptomkatalogs, der sowohl Pathos als auch Authentizität bezweckte (zu Katalogfunktionen vgl. Gaertner 2001, 300), wie eng die literarische und medizinische Ebene miteinander verflochten sein konnten.
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Zu Beginn steht der Lebensweltbezug: Es ist unumstritten, dass Seuchen seit der Niederlas- sung größerer Gruppen von Menschen Bestandteil des Zusammenlebens und damit ein Übel sind, dem es zu begegnen und das es zu bewältigen gilt. Vor allem in Kriegszeiten kam es auf- grund von Migrationsbewegungen und daraus resultierenden bzw. dadurch verstärkten man- gelhaften hygienischen Verhältnissen zu Seuchenausbrüchen.21 Grimm bezeichnete sie als „Kol- lektivschicksal der Menschheit“, als „ existenzielles Thema“ und setzt sie damit als überzeitlichen Faktor der condicio humana .22 Trotz dieser epochenübergreifenden Verbindung von Mensch und Seuchen sei nach Mischa Meier für die Antike eine außergewöhnliche Art der Konfronta- tion mit ihnen gegeben, der sie als schwer fassbare „Begleiter des Alltags“23 bezeichnet. Dieses Etikett ist jedoch nicht voreilig zu übernehmen, da die Häufigkeit von Epidemien (insbeson- dere für unseren Beobachtungszeitraum) keinesfalls als sicher zu gelten hat und Gegenstand der Forschungsdiskussion bleibt.24 Unabhängig von der Frage, inwiefern die Autoren selbst von 21 Vgl. Seibert (1983) und Breitwieser (2018).22 Grimm (1965), 12, vgl. ähnlich bereits Büchner (1957), 65. Angesichts der Forschungsergebnisse des Dekonstruktivismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts umschreibt Gardner (2019, 235) vorsichtiger (und kommt dennoch zum selben Schluss): „Plague narratives, for all their variety, as they chart a process of contagion, are fundamentally concerned with physical and ideological con- tactus among members within any community: that is to say, these accounts reveal bonds between individuals within a collective, whether that collective is an ancient fledgling city on the Tiber or a twenty-first-century superpower or, perhaps more speculatively, but no less compellingly given the number of fictive accounts that address the issue, the species homo sapiens under constant threat from the global reach of the next pandemic.“
23 Meier (2009a). Wohl in seiner Dramatik zu verallgemeinernd zuerst Horstmanshoff (1989, 1): „Het dagelijks leven in de Oudheit was doortrokken van angst en machteloosheid. Telkens weer werd de mens geconfronteerd met zijn onvermogen“, später (S. 262) jedoch differenzierter: „Perioden van crisis wisselden dan ook af met perioden van betrekkelijke stabiliteit“, vgl. ebenso Toner (2013), 94.
24 Irene Huber (2005, 91) unterscheidet die minimalistische und maximalistische Position, die sich möglicherweise auch auf weiter zurückreichende Extreme der Forschungstradition zurückführen lassen (vgl. Stathakopoulos 2004, 1f.). Der Unterschied quantitativer Bemessungen der Epidemien gründet sich darauf, in welchem Umfang die Nennungen von Seuchen in der Literatur als histo-risch belastbar angesehen werden, inwieweit von den seltenen epigraphischen Zeugnissen (dazu Kruschwitz 2020, 139 mit Anm. 7) verallgemeinert wird und in welchem Maße Interdependenzen von Seuchen und anderen Katastrophen (z. B. Überschwemmungen) als Basis einer Induktion ak-zeptiert werden (vgl. Aldrete 2018, 368). Entsprechend schwankt die Deutung zwischen ‚margina-lem Einfluss‘ hin zum genannten ‚Begleiter des Alltags‘. Das Postulat einer ‚Allgegenwart‘ verbindet die Seuchen mit dem Krieg, dessen Bedeutung für die Antike ebenfalls in den letzten Jahrzehnten quantitativ relativiert wurde (vgl. Zimmermann 2009, 34 Anm. 107 für einen Überblick über die Diskussion). Meines Erachtens ist es fraglich, ob die andauernde Beliebtheit des Motivs (vor allem mit Blick auf den Rezipienten) mit einer permanenten Konfrontation mit Seuchen und ihren drasti-schen Folgen vereinbar ist (vgl. ebenso Kruschwitz 2020, 137f.). Als wie unterhaltsam wäre wohl das Seuchenmotiv empfunden worden, wenn die Rezipienten gar akut mit Seuchen zu kämpfen gehabt hätten? Dazu tritt die offen spielerische Verarbeitung in Ov. ars 2,315–330, auf die Hunter Gardner
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Seuchen betroffen waren,25 zeugen antike Quellen dennoch davon, welchen Platz diese in der Vorstellungswelt der römischen Oberschicht des ersten vor- und nachchristlichen Jahrhunderts eingenommen haben.26 Indem die Dichter dieses Motiv wählten, konnten sie sich der emotio- nalen Anteilnahme und Aufmerksamkeit ihrer Rezipienten27 gewiss sein – ein Aspekt, der auch für die Platzierung der Beschreibungen innerhalb der Werke von Bedeutung gewesen ist. Diese Lebenswirklichkeitsnähe des Stoffes und die daraus resultierende Anteilnahme der Rezipienten hat sich auch die antike Rhetorik zunutze gemacht und Seuchen für Ex- kurse verwendet. Für das enorme Potenzial des Motivs sorgt nicht zuletzt dessen Makro-28 in ihrem Vortrag zur Online-Konferenz „Body and Medicine in Latin Poetry“ am 17.09.2020 hin-gewiesen hat. Diese Überlegungen können auch als Plausibilitätsargument gegen eine Datierung des sophokleischen Oedipus zur Zeit des Ausbruchs (430/429 v. Chr.) angesehen werden, vgl. dazu Müller (1984), 32–38 und Manuwald (2012), 6f. mit Anm. 13.25 Dies wäre eine Fragestellung für die Ereignisgeschichte, vgl. Kapitel 1.3 und 1.4. Ansätze für ein Ar-gument ließen sich aus den Angaben der Historiographie (Livius, Tacitus) ziehen. Über den Potenti-alis gehen autorenbezogene Untersuchungen jedoch nicht hinaus, da der römischen Oberschicht (zu der beinahe alle Autoren zumindest mittelbar zu zählen sind) nicht nur aufgrund ihrer Wohnorte auf den Hügeln Roms, sondern auch durch Landhäuser eine Ausweichmöglichkeit zur heißen und damit krankheitsfördernden Jahreszeit offenstand, die sie auch höchstwahrscheinlich genutzt haben (vgl. Wazer 2016, 132f.). Daraus ist jedoch nicht abzuleiten, dass Lukrez, Vergil, Ovid und Seneca überhaupt keine eigenen Erfahrungen mit Seuchen gehabt haben (so Friedman 1969, 362).
26 Vgl. Toner (2013), 108f. und Gardner (2019), 22–28. Dies hängt nicht zuletzt mit den weniger strit-tigen, katastrophalen Auswirkungen von Epidemien zusammen, für die Harper (2017, 18) im Zu-sammenhang der Schlacht von Hadrianopel 378 n. Chr. die Formulierung prägte: „[G]erms are far deadlier than Germans.“
27 Die Erforschung der Rezeptionsbedingungen bedürfte einer ausführlicheren Darlegung. Zumindest ein Teil des Rezipientenkreises der hier behandelten Quellen ist jedoch über den untersuchten Zeit-raum von zwei Jahrhunderten (relativ) stabil geblieben und besteht in der senatorischen Oberschicht; eine Ausnahme bildet nach Fantham (1996, 10) Ovid mit einer jüngeren Leserschaft, Lukrez wendet sich zumindest in der Theorie an alle, die der Aufklärung bedurften (vgl. Effe 1977, 66 Anm. 1 und Wiseman 2015, 95–98). Mit Leberl (2004, 103–108) ist zwar eine soziale und lokale Ausbreitung li-terarischer Wirkung zum Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts in Form einer ‚neuen Mit-telschicht‘ festzustellen, die aber bei der Betrachtung unserer Quellen ausgeblendet werden kann. Gleichwohl ist immer wieder vor Augen zu halten, dass sich auch innerhalb dieses stabilen Teils die politischen und sozialen Bedingungen (und damit auch der Autoren, vgl. erneut Fantham 1996, 183–221) stark unterscheiden. Die stärksten Brüche finden wohl im Übergang von der Spätrepublik (Lukrez) zum Prinzipat unter Augustus (Vergil, Grattius, Ovid) und von der julisch-claudischen (Manilius, Lucan, Seneca) zur flavischen Dynastie (Silius Italicus, vgl. jedoch Anm. 72, S. 117) statt. Schließlich ist die Rezeptions situation in Form von Vorträgen (vor kleinem oder großem Publikum) oder Lektüre ebenfalls ähnlich geblieben (pragmatische Invarianz); aus der Reihe fällt potenziell Senecas Tragödie, vgl. dazu Wessels (2014), 129–166.
28 Vgl. Steel (1988), 107: „Curiously enough too, epidemic diseases of which the plague is perhaps the most notorious, share with works of literature an inherent structure, an aetiology, rising from an onset, through a climax to a decline and an ending.“
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und insbesondere Mikrostruktur, durch die „ein kollektiver Rahmenvorgang sich in eine Vielzahl von Individualvorgängen auflösen läßt.“29 Während demzufolge auf einer höheren Ebene die Seuche eine kohärente Einordnung unterschiedlicher Erzählstränge in den Ge- samtzusammenhang ermöglicht und damit deren Nachverfolgung erleichtert, können die Einzelschicksale in variabler Ausführlichkeit und mit unterschiedlichem Schwerpunkt ge- schildert werden. Mit der konkreten Ausgestaltung ist der Inhalt des Motivs verbunden, der anhand eines Wechselspiels von Kollektiv- und Einzelschicksal die Möglichkeit bietet, Wer- te menschlichen Zusammenlebens zu bestätigen, in Frage zu stellen oder gar zu verwerfen: So drängen sich den Erkrankten, Angehörigen, Ärzten30 und Priestern sowie der gesamten Gesellschaft Fragen hinsichtlich der sozialen Interaktion auf, die nunmehr im Zeichen der Krankheit und Ansteckung steht.31 In Anbetracht des bevorstehenden Todes erfahren Wert- maßstäbe (moralische ebenso wie ästhetische) eine Relativierung und dienen den Dichtern dazu, dem Rezipienten durch die Folie des Schreckens das eigene Wesen (nicht selten zu didaktischen Zwecken, s. u. Kapitel 1.6) vor Augen zu führen. Diese Grundeigenschaften von Stoff und Motiv machten und machen die Seuchenbeschreibungen zu einem gattungs- übergreifend attraktiven Gegenstand, was sich auch in den hier behandelten Quellen wider- spiegelt.32 Weiterhin hat Hunter Gardner kürzlich das metaphorische Potenzial des Motivs für die la- teinische Dichtung herausgearbeitet.33 Mit Rückgriff auf Theorien u. a. von Antonin Artaud, René Girard, Susan Sontag und Michel Foucault hat sie eine Parallele zwischen dem indivi- duellen Verfallsprozess, dem Kollaps des Kollektivs und der res publica zu Zeiten von Bürger- krieg und Prinzipat gezogen, die zumindest zum Teil auch von den antiken Quellen nahegelegt29 Lausberg (2008), 401 § 811 – neben Seuchen nennt Lausberg Vorgänge des Arbeitslebens, kriegeri-sche Vorgänge, Naturkatastrophen und Feste; vgl. zur Einbindung von Seuchenbeschreibungen in die rhetorische Theorie auch Anm. 17, S. 15.
30 Mit Steger (2021, 351) ist darauf hinzuweisen, dass die antiken Bezeichnungen ἰατρός ( iatrós ) und medicus eine wesentlich umfangreichere Bedeutung aufwiesen als ‚Arzt‘, was sich auch im subjekti-ven Verständnis von Medizin niedergeschlagen haben dürfte.
31 Vgl. Thießen (2015), 11: „Seuchen sind die sozialsten aller Krankheiten. Sie treffen ganze Gesellschaf-ten, schüren kollektive Ängste und verschärfen soziale Spannungen.“
32 Vgl. Rosenberg (1992), 279: „It is their public character and dramatic intensity – along with unity of place and time – that make epidemics as well suited to the concerns of moralists as to the research of scholars seeking an understanding of the relationship among ideology, social structure, and the construction of particular selves.“
33 Vgl. Gardner (2019) und die hilfreiche Sammlung bei Thome (1993), 267–272. Hierzu ist allerdings mit Kazantzidis (2018, 88) anzumerken, dass bei Lukrez (und m. E. nicht nur bei ihm) zumindest im Moment der ersten Rezeption keine metaphorische Lesart naheliegt; vgl. jedoch Kazantzidis (2021), 74f.
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wird:34 Ein Vergleich dieser Art tritt in der begrifflichen Prägung von Krankheit in politischer Terminologie bereits in den frühesten Zeugnissen medizinischer Theorie zu Tage.35 Weitere Unterstützung liefern auch die Beobachtungen von Jerry Toner mit einer engen Verflechtung von politischer Sphäre und Katastrophengeschehen.36 Es scheint daher plausibel, dass die Seu- chenbeschreibungen die von Gardner dargelegte Metaphorik umsetzen, wenngleich deren Vielfältigkeit nicht zugunsten einer einzigen Deutung reduziert werden sollte, auch um die Quellen nicht zu stark zu belasten.37 Schließlich reihen sich Seuchenbeschreibungen durch die (bisweilen plastische) Betrachtung menschlichen Verfalls in eine Ästhetik des Leids, des Grausamen oder gar des Ekelhaften ein.38 Entsprechend lässt sich für sie, wie für jede mediale Umsetzung von Gewalt39 und Leid, die Frage stellen, weshalb Menschen sie konsumieren möchten: Worin genau bestand das Inte- resse der Rezipienten?40 Welche Schaulust ( voluptas ) auf das Sterben liegt vor und wie macht34 Ergänzend zu Gardners Andeutungen zum Verhältnis zwischen Thukydides und den lateinischen Dichtern ist auf die in der Forschung anerkannten Parallelen zwischen der Seuchenbeschreibung des Thukydides im zweiten und dem Aufstand auf Korkyra im dritten Buch hinzuweisen (vgl. bereits Finley 1967, 159, Horstmanshoff 1989, 208, Ambühl 2015, 43 mit Anm. 104 und Michelakis 2019, 396). Des Weiteren ist anzumerken, dass eine Behandlung des Manilius, der Hunger, Seuche und Krieg in einen engen gedanklichen Zusammenhang stellt (s. u. Kapitel 2.1.5), Gardners These hätte zuträglich sein können; vgl. weiterhin die nützliche Rezension von Leonardis (https://bmcr. brynmawr.edu/2020/2020.12.22/, letzter Zugriff: 23.03.22).
35 Paradigmatisch ist das Alkmaionfragment DK 24 B 4, das Gesundheit als Gleichgewicht mit dem Begriff der Isonomie (als Gegensatz zur Monarchie) zu umschreiben sucht; vgl. zur strittigen Ein-ordnung des Fragments Triebel-Schubert (1984), Mansfeld (2013), Holmes (2018), 80, Année (2019) und Steger (2021), 84f.
36 Vgl. Toner (2013), 45–66, 131–152 und 177–180 und Foster (2011), 97–99.
37 Vergleichbare Schwierigkeiten ergeben sich, wenn man Butlers (2011, 59) Deutung eines poetologi-schen Paradoxes („the [anthropomorphic] composition of a scene of [bodily] decomposition“) als Motivation der anderen Dichter der Motivtradition annehmen will.
38 Für ‚das Grausame‘ sei der grundlegende Aufsatz von Manfred Fuhrmann (1968, 27) zitiert: „Als grausig sollen optisch wahrnehmbare Gegenstände gelten, die eine spezifische Art von Schreck ver-ursachen; ihre Beschaffenheit weicht von der normalen Ordnung der Dinge ab und ruft das Gefühl des Unheimlichen hervor.“ Fuhrmann hebt ebendort (S. 31) die Sonderstellung der Seuchenbeschrei-bungen in Hinsicht auf Grausiges und Ekelhaftes hervor.
39 Gewalt liegt in den Beschreibungen nicht nur durch personale, physische Gewaltausübung zwi-schen Menschen (bzw. durch Autoagression) vor, sondern auch immer dann, wenn die Krankheit als selbstständiger Akteur aufgefasst wird und durch den Befall der Erkrankten sowohl physische als auch psychische Gewalt auszuüben scheint (vgl. Kapitel 3.1.2); zu dieser begrifflichen Unterschei-dung der modernen Gewaltforschung vgl. Wessels (2014), 27–29.
40 Hier liegt die (unbeweisbare) Prämisse zugrunde, dass auf Seiten der Rezipienten ein solches Interes-se bestand. Zweifelsfrei ließe sich postulieren, dass die literarische Motivation ausreichte, um dem Seuchenmotiv einen derartigen Erfolg über zwei Jahrhunderte zu bescheren. Diese Annahme würde jedoch eine starke Isolation von Dichter und Rezipient bedeuten, die durch Zeugnisse des antiken
1.1 Seuchenbeschreibungen in der lat. Dichtung: Die conspiratio poetarum
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der Autor sich diese zunutze?41 Dieser Frage hat Maria Backhaus jüngst ein eigenes Kapitel ihrer Dissertation gewidmet, die mit ihrem Schwerpunkt auf der Rezipientenperspektive eine methodische Schnittmenge mit der vorliegenden Arbeit aufweist und daher als Grundlage verwendet werden kann.42 Unter Rückgriff auf antike philosophische und historiographische Quellen hat Backhaus untersucht, wie die Lust an Gewalt bewertet, aber auch der Absicht der Literaten und Redner dienstbar gemacht wurde. Als Basisempfindungen stellte sie dabei (in al- ter Tradition) Faszination und Schrecken, korrespondierend mit den Reaktionen der Verwun- derung und der Erschütterung, heraus. Diese emotionale Reaktion auf Seiten der Rezipienten kann zum einen Selbstzweck sein, zum anderen ist die Funktion der Sinnstiftung von Gewalt- inhalten hervorzuheben, die im Folgenden besonders bei der Besprechung der Lehrgedichte im Mittelpunkt stehen wird.43 Um zu ergründen, in welcher Hinsicht Gewalt der Sinnstiftung gedient haben könnte, ist eine Studie der Medienwissenschaftlerin Anne Bartsch aufschlussreich, die Bedingungen für bedeutungsvollen Konsum von Gewalt in der heutigen Zeit untersucht hat.44 Die Er- gebnisse der Konsumentenbefragungen wurden von Bartsch kategorisiert und mit ihren jeweiligen Häufigkeiten graphisch dargestellt (Abbildung 1). Dabei lassen sich die genann- ten Gedankengänge der Probanden in drei Dimensionen – ‚subjektive Einschätzung des Wahrheitsgehaltes‘, ‚Lebensweltbezug‘ und ‚psychologische und moralische Implikatio- nen‘ – unterscheiden. Ob die hier besprochenen Seuchenbeschreibungen einen vergleich- Literaturbetriebes so nicht gestützt werden kann – vielmehr kann man dafür argumentieren, dass bereits durch das Diktat des Autors gegenüber dem Schreiber eine Rezipientenorientierung systema-tisch inhärierte, vgl. Dorandi (1991), 16f. mit Anm. 65.41 Beagon (2005, insbes. 103–122) hat die kulturellen Dimensionen des Sterbens für die römische Gesellschaft differenziert dargelegt. Die theatralische Komponente hob Hope (2018, 383) hervor: „Death was life’s final challenge, and thus how it was faced was important. People were interested in how people died and the more drama and bravery (or the lack of it) the better.“ Speziell für den epi-kureischen Rezipienten untersucht Morrison (2013, 29–31) die Frage nach der Wirkung einer Todes-beschreibung.
42 Vgl. Backhaus (2019), 43–94. Eine Übersicht über die mittlerweile transdisziplinäre Forschung zur Ästhetik des Leids zu geben (man denke nur an Diskussionen über die aristotelische Katharsis, dazu jüngst Hammann 2020, 13–21), erscheint hier weder möglich noch zielführend. In Anbetracht dieser Aporie wird daher auf die grundlegende Frage nach der Ästhetik des Leids nur kurz eingegangen; je-doch wird ein Exkurs dem besonderen Reiz von Seuchenbeschreibungen als Katastrophenszenarien gewidmet, der zumindest einen Teilbereich der Frage abzudecken versucht (vgl. Kapitel 1.6).
43 Backhaus (2019, 93) fasst darunter „Forschen, Lernen, Belehrung, Erkenntnis“, von denen Lehren und Belehrung in Entsprechung zur Tätigkeit von Produzent und Rezipient von zentralem Interesse sein werden.
44 Vgl. für das Folgende Bartsch et al. (2016), 741–765. Beim Versuch eines Analogieschlusses ist auf die Diskrepanz zwischen antiken und modernen, bisweilen auch zwischen antiken Gewaltvorstellungen hinzuweisen, vgl. Wessels (2014), 27–32.
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21 baren inneren Monolog im antiken Rezipienten ausgelöst haben, kann nicht mehr rekons- truiert werden. Es ist jedoch bemerkenswert, dass viele Äußerungen der Probanden aus der Dimension des psychologisch-moralischen Bereichs auff ällige Überschneidungen mit dem Deutungsangebot der dichterischen Seuchenbeschreibungen aufweisen. Vor diesem Hintergrund liegt es zumindest nicht ganz fern, auch eine Entsprechung im Rezipienten- horizont anzunehmen. Ab bildung 1: Zeitgenössische Gedanken in der Refl exion von Mediengewalt, aus: Bartsch et al. (2016), 750. Es ist deutlich geworden, dass Seuchenbeschreibungen sowohl auf Seiten des (antiken) Rezi- pienten (Lebensweltbezug, Ästhetik des Leids) als auch auf Seiten der Dichter (Aemulations- prinzip, didaktisches und rhetorisches Potenzial) ein hohes Maß an Attraktivität aufweisen. Im nachfolgenden Kapitel wird dafür argumentiert, dass zu diesen motivimmanenten und literaturhistorischen zugleich medizin- und geistesgeschichtliche Gründe für den Erfolg des Motivs hinzutreten. In diesem Zusammenhang muss überdies die Frage gestellt werden, woher die Dichter, wenn nicht gar aus eigener Anschauung (vgl. Anm. 25, S. 17), die Befähigung be- saßen bzw. welche Quelle(n) sie nutzten, um eine Seuchenbeschreibung anzufertigen, welche die gebildeten Rezipienten nicht nur zu begeistern verstand, sondern sie auch hinsichtlich ihrer Authentizität überzeugte.
1.1 Seuchenbeschreibungen in der lat. Dichtung: Die conspiratio poetarum
1.2 Poetae medicina docti ? Oder: Was wussten die Dichter – und woher?
Dass Dichtungen, die Seuchen beschreiben, allein aufgrund ihres Beschreibungsgegenstands eine inhaltliche Schnittmenge mit medizinischen45 Fachschriften46 aufweisen, ist augenfällig. Stellt man jedoch die Frage, auf welche Weise diese Schnittmenge Niederschlag in Sprache und Vorstellung gefunden hat, d. h. inwiefern von einem Einfluss47 medizinischen Fachwis- sens auf die Poesie oder einer Verflechtung von Medizin und Literatur im engeren Sinne ge- sprochen werden kann, bedarf es einer genaueren Betrachtung.48 Die Motivtradition erstreckt sich über zwei Jahrhunderte: Eine Untersuchung des ersten vorchristlichen Jahrhunderts fällt schwer, weil ein solcher Einfluss der Medizin nur durch die Verwendung von Fachsprache49 so- 45 Wenn im Folgenden nur in seltenen Fällen zwischen Veterinär- und Humanmedizin unterschieden wird, geschieht dies einerseits unter Berücksichtigung der Seuchenbeschreibungen selbst, die eine solche Differenzierung nicht vornehmen, andererseits auf Grundlage der ohnehin vergleichbaren Konzepte und Vorgehensweisen der beiden Disziplinen, vgl. exemplarisch Pel. vet. 4: morbos plerum- que equi concipiunt aut lassitudine aut aestu aut frigore aut fame aut <si>, cum diu steterint, subito ad cursum fuerint stimulati, aut si suo tempore urinam non fecerint, aut sudantes et a concitatione statim biberint . (‚Pferde werden meistens krank durch Müdigkeit, Überhitzung, Kälte, Hunger oder wenn sie, nachdem sie lange gestanden haben, sofort zum Galopp angespornt werden, wenn sie nicht zur rechten Zeit Urin lassen oder wenn sie noch schwitzend und unmittelbar nach einer Anstrengung trinken.‘). Hier sind nicht nur die ätiologischen Kategorien vergleichbar, sondern auch die im Fol-genden angeführten pharmakologischen Zusammensetzungen.
46 Mit dem Begriff der Fachschrift werden nach Luchner (2004, 9 Anm. 3) „Schriften bzw. Texte [be-zeichnet], deren primäres Ziel in der Darstellung bzw. Vermittlung von medizinischem Wissen durch den Fachmann (Arzt) an Fachkollegen und / oder Laien besteht.“ Für den Fall des Cornelius Celsus wird mit Christian Schulze (1999, 2001; pace Leven 2018, 159) ein professionell begründeter Kenntnisstand angenommen (vgl. zur kritischen Diskussion Langslow 2000, 45–48); die Öffnung des Adressatenkreises bei Luchner entspricht wiederum der These von Gautherie (2017), nach der De medicina nicht nur für Fachleute geschrieben wurde.
47 Unter ‚Einfluss‘ wird mit Rechenauer (1991, 6f.) kein ausschließlich passiver (oder höchstens reak-tiver) Prozess verstanden, nach dem das literarische Produkt lediglich Ergebnis äußerer Einflüsse darstelle; stattdessen wird immer auch die (kreative) Aneignung der Inhalte durch den Dichter als aktiver Anteil am Schaffensprozess impliziert.
48 Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass Dichter Fachschriften dazu verwendeten, eigene Erfahrungs-lücken zu füllen (s. auch Anm. 25, S. 17). Als Beispiel dieser Art von Quellenbenutzung nennt v. Albrecht (2003, 244f.) Vergil, der auf der Grundlage von Varro einen Tiger beschrieb, ohne selbst jemals einen zu Gesicht bekommen zu haben.
49 Die Fachsprache setzt sich aus Fachbegriffen zusammen, die mit Langslow (2000, 25) wie folgt aufge-fasst werden: „[A] referring expression which is recognized and used in a standard conventional way by the relevant community of specialists and which unambiguously (and often uniquely) names an object or a concept of the discipline, and therefore, because of his attachment, lends itself to absolute
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1.2 Poetae medicina docti? Oder: Was wussten die Dichter – und woher? wie durch die Implementierung genuin medizinischer Theorien ermittelt werden kann.50 Die Fachsprache befand sich zu diesem Zeitpunkt aber noch in der ‚Präformierung‘ und ist ent- sprechend schwer greifbar,51 die Verschriftlichung der Theorien ist nur bruchstückhaft überlie- fert. Für die Theorien bleiben das wesentlich ältere Corpus Hippocraticum 52 und peripatetische Schriften, für Theorie und Fachsprache das jüngere Werk De medicina des Celsus, die Compo- sitiones des Scribonius Largus und Testimonien zeitgenössischer Ärzte als Vergleichspunkt.53 Um einiges leichter fällt die Aussage über den Einfluss der Medizin im zweiten nachchristli- chen Jahrhundert, da sie im Lauf der Jahrhunderte in das römische Bildungskonzept integriert wurde.54 So schreibt der ‚Buntschriftsteller‘ Aulus Gellius in seinen Noctes Atticae : Nachdem ich mich daran erinnert hatte, dass dies an einem Arzt getadelt wurde, glaubte ich, es sei nicht nur schändlich für einen Arzt, sondern auch für alle freien und gebilde-ten Menschen, nicht einmal die Dinge zu wissen, welche die Kenntnis unseres Körpers betreffen, die in nicht allzu tiefer und entlegener Verborgenheit liegen und welche die
Natur frei zugänglich und völlig offenliegend wissen wollte, damit wir unsere Gesund-heit bewahren; und deshalb habe ich mich, so weit ich die Zeit erübrigen konnte, auch mit den Büchern der medizinischen Wissenschaft befasst, von denen ich glaubte, dass sie für die Lehre geeignet seien …55synonymy and total translation.“ Nach Kollesch (1999), 2276 ist das medizinische Latein aufgrund fehlender sozialer Distinktion nur unter Vorbehalt als Fachsprache zu bezeichnen. Zur Wechselwir-kung von Alltagssprache und Fachsprache vgl. Krenkel (2003), 12f.
50 Beispielsweise ist mit der Respirationstheorie die Formulierung einer systematisch durchdachten und begründeten Vorstellung des physiologischen Vorgangs der Atmung gemeint, wie Rothschuh (1978, 8) sie als Basis für das Krankheitskonzeptdefiniert.
51 Vgl. Önnerfors (1993), 230 und Schulze (2001), 23.
52 Im Folgenden wird die traditionelle Bezeichnung des Corpus Hippocraticum verwendet, wenngleich mit Craik (2018) darauf hinzuweisen ist, dass die Genese der Sammlung weit weniger geordnet statt-fand als die Bezeichnung suggeriert; jüngere Überblicksdarstellungen bieten Lane Fox (2020), 86–97 und Steger (2021), 109–117.
53 Grundlegend zum Einfluss von Fachwissen und -sprache auf die lateinischen Dichter sind die Stu-dien von Mazzini (1998), Langslow (1999) und Reitz (2003). Eine stärkere Berücksichtigung der me-dizinischen Prosa hat auch Goyette (2020) in seiner Rezension zu Gardners Monographie erbeten.
54 Im Zusammenhang einer schrittweisen Etablierung der Medizin in der römischen Gesellschaft er-scheint es nicht verwunderlich, dass spätere Zeugnisse mit größerer Wahrscheinlichkeit eine positi-ve Haltung ihr gegenüber einnehmen; vgl. auch Mazzini (2014), der insbesondere Quellen der Kai-serzeit anführt.
55 Gell. 18,10,8: Hoc ego postea cum in medico reprehensum esse meminissem, existimavi non medico soli, sed omnibus quoque hominibus liberis liberaliterque institutis turpe esse ne ea quidem cognovisse ad notitiam corporis nostri pertinentia, quae non altius occultiusque remota sunt et quae natura nobis tuendae valitudinis causa et in promptu esse et in propatulo voluerit; ac propterea, quantum habui
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Diese Darstellung schließt sich unmittelbar an die Anekdote eines Arztes an, der Venen und Arterien terminologisch nicht korrekt unterschieden hatte.56 Entsprechend der Zielsetzung aus Gellius’ Proömium, für den Rezipienten voluptas, cultus, usus zu bewirken,57 wird im zitierten Kapitel 1. eine unterhaltsame Geschichte erzählt, die 2. über notwendige Bildungs- inhalte aus der Medizin reflektieren lässt, deren Nutzen wiederum 3. im Anschluss erläutert wird. Zu Gellius’ Lebzeiten (der sog. ‚Zweiten Sophistik‘58) besteht folglich das Ideal, dass ein Zeitgenosse mit Blick auf ausgewählte medizinische, d. h. hier vor allem oberflächlich ana- tomische, Grundlagen geschult sein sollte, um als gebildet gelten zu können.59 Auch für das erste nachchristliche Jahrhundert ist eine vergleichbare Vorstellung belegt:60 Vitruv fordert in seinem Werk De architectura von den künftigen Architekten Kenntnisse der Medizin ein, da- mit sie die Eignung der für die Bebauung ausgewählten Orte einschätzen können, und rech- net jene zur encyclios omnium doctrinarum disciplina (‚Ausbildung, die alle Wissenschaften umfasst‘).61 Auf Grundlage von Gellius und Vitruv ist folglich für die ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderte ein Fachschriftbestand zu vermuten, dessen Abfassung in lateinischer Sprache temporis subsicivi, medicinae quoque disciplinae libros attigi, quos arbitrabar esse idoneos ad docen- dum …56 In der Folge löst Gellius die Frage nach dem Unterschied auf: Der Lehre der Pneumatiker entspre-chend (vgl. Caldwell 2018, 641f.) enthalten Arterien und Venen jeweils Pneuma und Blut, wobei Erstere einen höheren Pneuma-, Letztere einen höheren Blutgehalt aufweisen. Eine vergleichbare Konzeption findet sich in Galens Schrift An in arteriis sanguis contineatur , vgl. Leven (2005b), 94f.
57 Gell. noct, pr. 11. Anlage und Ziel des Werks untersucht Holford-Strevens (2003), 27–47, vgl. speziell zum Bildungskonzept Heusch (2011), 303–402.
58 Die Charakteristika dieser umstrittenen Epoche fassen Johnson/Richter (2017, 4) in ihrer Ein-führung zum Oxford Handbook to the Second Sophistic wie folgt zusammen: „[N]ostalgia for an ide-alized (Athenian) classical past; archaism and purity of language; sophistic performance and contest and display; paideia and erudition; anxieties over (Hellenic) self-definition and identity.“
59 Als Informationsquelle kann einem Zeitgenossen bspw. die Schrift ‚Für den Nicht-Mediziner‘ des Rufus von Ephesus gedient haben (vgl. Sideras 1994). Der intellektuelle Fauxpas des medicus besteht nicht nur darin, als Fachmann Venen nicht von Arterien unterscheiden zu können; vielmehr kommt noch hinzu, dass es sich dabei um Wissensinhalte handelt, die auch Laien verinnerlicht haben soll-ten. Neben der Frage nach der Verbreitung der Medizin als Bildungsbestandteil geht Leith (2016) auch von einer Popularisierung medizinischer Praxis aus.
60 Bezüglich der Motivation für die Wissensaneignung sind die beiden nur bedingt vergleichbar, weil dem Wissen um die Medizin im Fall des Architekten ein konkreter praktischer Nutzen, im Fall des ‚Bildungsbürgers‘ die soziale Distinktion als Zielsetzung zugrundeliegt.
61 Vgl. Vitr. 1 pr. 3 und 6 pr. 4. Zusätzlich zur Oberflächenanatomie bei Gellius treten damit die Topo-graphie und ihre Auswirkung auf den menschlichen Organismus, wie sie aus der hippokratischen Schrift ‚Über die Umwelt‘ wohlbekannt ist. Zweifelnd hinsichtlich der tatsächlichen Umsetzung die-ses Ideals zeigen sich König/Woolf (2013, 47).
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mittels Vitruvs Sprachgebrauch wahrscheinlich gemacht werden kann.62 Bereits in der frühen Kaiserzeit zeugt nur noch wenig vom Status der griechischen Medizin als Fremdkörper63 in der römischen Gesellschaft, sodass die Möglichkeit einer Auseinandersetzung mit medizinischer Wissenschaft für Ovid, Manilius, Seneca, Lucan und Silius Italicus (sowie deren Rezipienten) als gesichert gelten darf. Wie aber stand es um die Medizin in der späten Republik und unter Augustus? Die Vielzahl der Haltungen gegenüber der Medizin im ersten vorchristlichen Jahr- hundert speist sich aus ihren Anfängen in Rom. Im Rahmen unserer Untersuchung kommen wir daher trotz der eingangs genannten Schwierigkeiten nicht umhin, auch diese Anfänge mit in den Blick zu nehmen, um uns im Anschluss Schritt für Schritt zum ersten vorchristlichen Jahrhundert vorzuarbeiten.64 Beinahe jede moderne Darstellung zur Medizingeschichte in Rom nimmt ihren Anfang im Zitat des Annalisten Cassius Hemina bei Plinius,65 das von dem Griechen Archagathos berich- tet, der im Jahr 219 v. Chr. das Bürgerrecht und eine eigene Behandlungsstätte am frequentier- ten compitum Acilii erhalten habe. Mit Archagathos, der aufgrund seiner unterstellten Vorliebe für das Schneiden und Brennen schnell mit dem wenig schmeichelhaften Beinamen carnifex (‚Henker‘) versehen wurde, sei die griechische Medizin erstmals nach Rom gekommen. Von da an sei sie jedoch primär Sache griechischer Sklaven gewesen, eine medizinische Fachsprache sei erst im ersten vorchristlichen Jahrhundert oder später aufgekommen. Dass eine solche Re- konstruktion der historischen Realität nicht entspricht, hat David Langslow herausgearbeitet: Angesichts der Tatsache, dass in plautinischen Komödien (Ende 3. Jh. v. Chr.) einerseits medi- zinisches Fachvokabular verwendet, andererseits auf ein komisches Konzept des Arztes Bezug genommen werde, muss dem Zuschauer sowohl ein basales Lexikon als auch ein Verständnis62 Vgl. Langslow (2000), 34. Dieser Befund deckt sich mit der Beobachtung, dass der Ärztestand und die Medizin in Rom ab der frühen Kaiserzeit fest etabliert sind (vgl. Nutton 22013, 167f.), zur Hetero-genität der (privaten) Ärzteschaft vgl. Kudlien (1986), 210f. und Steger (2021), 357.
63 Nutton (22013, 160) wählt passend die Metapher der Transplantation, bei der nicht selten eine Ab-wehrreaktion des aufnehmenden Organismus erfolgt; vgl. zum Verhältnis von griechischer und rö-mischer Medizin auch Mudry (1990).
64 Es sei bereits an dieser Stelle auf die Ergebnisse von Jane Draycott (2016) hingewiesen, die unter anderem anhand epigraphischer und papyrologischer Quellen die Verbreitung der Laienmedizin in anderen Teilen des römischen Reiches beleuchten und damit den traditionellen Schwerpunkt der Medizingeschichte auf die ‚professionelle‘ Medizin relativieren konnte.
65 Plin. nat. 29,12: Cassius Hemina ex antiquissimis auctor est primum e medicis venisse Romam Pelo- ponneso Archagathum Lysaniae filium L. Aemilio M. Livio cos. anno urbis DXXXV, eique ius Quiri- tium datum et tabernam in compito Acilio emptam ob id publice . (‚Cassius Hemina ist ein Gewährs-mann unserer Vorfahren dafür, dass als erster Arzt Archagathos, der Sohn des Lysanias, von der Peloponnes nach Rom gekommen war, als Lucius Aemilius und Marcus Livius Konsuln waren [im Jahr 535 seit Gründung der Stadt], und dass ihm das Bürgerrecht verliehen und deshalb aus öffentli-chen Mitteln eine Stube an der Kreuzung der Acilii bezahlt worden ist.‘)
1.2 Poetae medicina docti? Oder: Was wussten die Dichter – und woher?
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für derartige soziale Stereotype zueigen gewesen sein.66 Jukka Korpela sieht Archagathos als Repräsentanten einer großen Zahl von Ärzten, die seit dem Ende des dritten Jahrhunderts nach Rom kommen – was sich demographisch als nur noch schwer rekonstruierbar heraus- stellt.67 Es ist dennoch anzunehmen, dass mit dem Wachstum der Bevölkerung und des Wohl- standes auch die Nachfrage nach Ärzten gestiegen war, deren Kenntnis über die traditionelle Medizin hinausging, die nun schlechterdings nicht mehr genügte.68 Da sich eine solche Ärzte- schaft logistisch zunächst nur aus Griechen rekrutieren konnte, bot sich ein Nährboden für ideologische Grabenkämpfe, möglicherweise auch auf fremdenfeindlicher Basis. Dementsprechend trifft die griechische Medizin zu Beginn des zweiten Jahrhunderts in Cato Maior auf ihren ersten, für uns durch Plinius greifbaren, Kritiker in Rom, der seinen Sohn vor der griechischen Kultur und besonders vor den griechischen Ärzten warnt.69 Cato tritt uns in66 Vgl. Langslow (1999), 202–205 mit Verweis auf den morbus hepatiarius in Pl. Cur. 239 sowie Önner-fors (1993), 232f. zu den plautinischen Menaechmi . Aus entsprechenden Erscheinungen im griechi-schen Drama schließt auch Lane Fox (2020, 63f.) auf ärztliche Tätigkeit. Hervorzuheben ist freilich die Mahnung von Jackson (1988, 81), aus der Komödie oder Satire nicht eine tatsächlich verbreitete Wertung des Arztberufes lesen zu wollen, da es sich um Überspitzungen handelt.
67 Vgl. Korpela (1987), 29–33 und Näf (1993), 20.
68 Wie die Krankenfürsorge vor der Ausbreitung der ärztlichen Profession in Rom aussah, lässt sich nicht genau bestimmen. Sicher ist, dass der pater familias als Familienoberhaupt die Medikation der Angehörigen der familia in Form traditioneller Hausmittel übernahm. Daneben dürfte bereits in der frühen Republik ein heterogener Heilermarkt von Magiern, Ärzten und Kultisten bestanden haben (vgl. Wacht 2006, 832f. und Steger 2021, 271). Ein aus Migration resultierendes Bevölkerungs-wachstum befördert die Verbreitung bislang unbekannter Krankheiten; manche Erreger können außerdem erst ab einer bestimmten Bevölkerungszahl endemisch werden (vgl. Sallares 1991, 229 und zur Krankheitsökologie im römischen Reich Harper 2017, 68–98). Dafür, dass im Kontext dieses Sachzwanges auch die Maßnahmen des Iulius Caesar und Augustus zur Rekrutierung und lokalen Bindung von Ärzten zu sehen sind, vgl. Kudlien (1986), 199f.
69 Plin. nat. 29,14: Dicam de istis Graecis suo loco, M. fili, quid Athenis exquisitum habeam et quod bo- num sit illorum litteras inspicere, non perdiscere. vincam nequissimum et indocile genus illorum, et hoc puta vatem dixisse: quandoque ista gens suas litteras dabit, omnia conrumpet, tum etiam magis, si medicos suos hoc mittet. iurarunt inter se barbaros necare omnes medicina, sed hoc ipsum mercede faciunt, ut fides iis sit et facile disperdant. nos quoque dictitant barbaros et spurcius nos quam alios Ὀπικῶν appellatione foedant. interdixi tibi de medicis . (‚Ich werde von diesen Griechen an entspre-chender Stelle erzählen, mein Sohn Marcus, was ich in Athen gefunden habe und dass es zwar gut ist, ihre Schriften einzusehen, nicht jedoch auswendig zu lernen. Ich werde beweisen, dass es sich bei ihnen um einen nichtsnutzigen und unbelehrbaren Menschenschlag handelt; nimm dies hier als den Spruch eines Sehers: Wann immer dieses Volk uns seine Schriften geben wird, wird es alles verder-ben und sogar noch mehr dann, wenn es seine Ärzte schicken wird. Sie haben einander geschworen, alle Barbaren mit ihrer Medizin zu ermorden; aber selbst dies tun sie für Geld, damit sie glaubwür-dig erscheinen und ihr verderbliches Werk leicht verrichten. Zudem nennen sie uns Barbaren und entehren uns mit der Bezeichnung ‚Opiker‘, die noch beleidigender ist als die, die sie für andere verwenden. Ich verbiete dir, dich mit Ärzten einzulassen.‘). Mit den angeführten Punkten (Überheb-lichkeit, Morden, Uneinigkeit und Geldgier der Ärzte) benennt Plinius’ Cato wesentliche Elemente
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seiner Schrift De agricultura eindeutig als Vertreter der traditionellen römischen Laienme- dizin, die dem dominus die entscheidende Autorität in medizinischen Fragen zusprach, ent- gegen.70 Auch wenn man mit der neueren Forschung davon auszugehen hat, dass Catos Kritik bei Plinius eine extreme Position darstellt und nicht repräsentativ gewesen ist,71 wirkt eine Isolierung des einflussreichen Römers doch recht unwahrscheinlich; im Kreise der römischen Oberschicht sollte man deshalb zumindest zum Teil Tendenzen der Ablehnung annehmen dürfen.72 Eine derart negative Einstellung von Teilen der Oberschicht gegenüber der Medizin muss jedoch keinen entsprechend geringen Einfluss der Disziplin bedeuten. Folgerichtig wird heute trotz fehlender Zeugnisse angenommen, dass die griechische Medizin zu Beginn des zweiten Jahrhunderts akzeptierter gewesen ist, als man früher meinte.73 Zwischen Catos Kritik und der ersten Einzelabhandlung über die Medizin durch Varro in den Disciplinae verging beinahe ein Jahrhundert, in dem sich das Bild von Medizin und Medi- zinern wesentlich veränderte (wenngleich ein Blick auf Plinius’ eigene Kritik74 im ersten nach- der Medizinerkritik bis in die Renaissance und darüber hinaus, deren Entwicklung im Mittelalter Bergdolt (1991) dargelegt hat. Weniger bekannt, jedoch nicht weniger aussagekräftig als das Zeugnis bei Plinius ist ein Redefragment (Gell. 1,15,9) gegen den Volkstribunen Caelius, der abschätzig mit dem griechischen Lehnwort pharmacopola (‚Salbenhändler, Quacksalber‘) bezeichnet wird.70 Vgl. Mudry (1990), 135f., Draycott (2016), 436–438 und für die paradigmatische Verquickung ra-tionaler und irrationaler Elemente der traditionellen Heilkunde Cato agr. 70. Eine Einordnung von Catos medizinischen Kapiteln in den Gattungszusammenhang nimmt Diederich (2007, 105–114) vor. Zur Frage, ob in Catos Werk eine Einzelschrift über die Medizin enthalten war, vgl. Pisi (1989), 31 Anm. 1 mit weiterer Literatur.
71 Vgl. für eine Überblicksdarstellung der Kritikpunkte der Römer gegenüber der griechischen Medi-zin Kudlien (1986), 190–198 und zur Rezeption der Kritik in Rom Näf (1993). Kudliens Forderung nach einer differenzierten Darstellung der emotional gefärbten Gegenargumente findet in Näfs Kon-trastierung von Plinius und Plutarch eine Entsprechung.
72 Vgl. Draycott (2019), 31. Mit Steger (2021, 272) ist hervorzuheben, dass Cato die griechische Kultur nicht generell ablehnte: „Catos anti-hellenische Einstellung war selektiv: Er nahm davon an, was die römische Kultur voranbringen konnte, und lehnte ab, was die römische Identität verändert hatte. Ihm war bewusst, dass in Auseinandersetzung mit griechischem Kulturgut in Rom etwas Neues geschaffen werden konnte. Der richtige Umgang damit erforderte also keine kritiklose Übernahme und kein blindes Ausblenden, vielmehr produktive Transformation zur Konstituierung einer römi-schen Identität“. Vgl. zu diesem Aspekt bereits Wöhrle (1992), 124.
73 Vgl. Nutton (22013), 166f.
74 Für eine ausführliche Untersuchung der plinianischen Kritik mit reichen Literaturverweisen vgl. Hahn (1991), hier exemplarisch zitiert, um die geringe Berücksichtigung des Plinius an dieser Stelle zu begründen (212f.): „So ist des Plinius Urteil über die griechischen Ärzte und ihre Medizin zwar vernichtend, seine darin sich erweisende Ignoranz gegenüber Begründung und Selbstverständnis der wissenschaftlich-theoretischen Medizin seiner Zeit allerdings umfassend […]; kennzeichnend für seine Sichtweise der zeitgenössischen Medizin ist nicht die Einordnung in konkurrierende Schu-len [s. Anm. 80], sondern die persönliche Verunglimpfung ihrer Protagonisten und die pauschale Zuweisung von Attributen und Charakterisierungen“. Hahns Untersuchung fördert jedoch das na-
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christlichen Jahrhundert einen anderen Eindruck erweckt). Rawson vermutete, dass das siebte Buch der verlorenen Disciplinae vor allem eine Darstellung nach Art des Cato enthalten haben müsse, was jedoch zu kurz greifen dürfte:75 In seinen Res rusticae erscheint Varro nämlich als Vermittler, indem er Fälle, in denen der Aufseher über das Vieh mithilfe eines Rezeptbuchs eine Automedikation vornehmen kann, von denjenigen unterscheidet, in denen die Hilfe eines ‚professionellen‘ Arztes notwendig ist.76 Im Übrigen hätte man im Jahr 37 v. Chr. (Veröffent- lichung der Res rusticae ) bei der Konsultation eines Arztes ohnehin keine homogene Berufs- gruppe vorgefunden. Dies lässt sich aus dem berühmten Proöm des De Medicina des Celsus schließen:77 In die- sem Proöm schildert Celsus den Ursprung der Medizin und ihre Entwicklung bis zu seiner Zeit, d. h. bis zur Herrschaft des Kaisers Tiberius. Man liest von einer primär chirurgisch orientierten Wundmedizin bei Homer und einer Zuschreibung innerer Krankheiten an die Götter; außerdem von einer Loslösung der Medizin von der Philosophie durch Hippokra- tes und einer Tripartition in Diätetik, Pharmakologie und Chirurgie.78 Im Rest des Proöms stellt Celsus die Unterteilung in rationale, empirische und methodische Medizin vor.79 Der Streit dieser unterschiedlichen Traditionen ( partes )80 in Rom betraf die epistemische Grund- lage der ärztlichen Behandlung: Die sogenannten Dogmatiker postulierten, die Suche nach turphilosophische Fundament von Plinius’ Traditionalismus zu Tage, das es bei der Bewertung des Autors zu bedenken gilt.75 Vgl. Rawson (1985), 178f. und dagegen Önnerfors (1993), 230f.
76 Zur Differenzierung der Krankheitsfälle vgl. Varro rust. 2,1,21 und zum Rezeptbuch 2,10,10 (dazu Draycott 2019, 136f.). Auf der anderen Seite zeigt er sich in rust. 1,4,5 stolz darüber, dass er auf Korkyra eine Pest durch eine neue Belüftung vertrieben hat. Das Spannungsfeld der Äußerungen spiegelt den Konflikt zwischen dem römischen Wunsch nach Autonomie und der Notwendigkeit der Inanspruchnahme mutmaßlich fortschrittlicherer Methoden griechischen Ursprungs wider.
77 Blümel (1995, 28) spricht von einem eigenen Forschungszweig, der sich um das Proöm entwickelt hat. Besonders hervorzuheben ist der ausführliche Kommentar von Philippe Mudry (1982); für die ältere Forschung sei auf die Bibliographie bei Schulze (2001, 100–150) verwiesen, neuere Impulse (auch in der Frage nach der Verwendungsweise der Schrift) wurden zuletzt von Aurélien Gautherie (2017) geliefert.
78 Vgl. Cels. 1 pr. 3–9, Nutton (22013), 53–71 und Steger (2021), 83f.
79 Die aufkommende pneumatische Tradition findet keine Erwähnung; vgl. zu dieser Tradition noch immer maßgeblich Wellmann (1895, Neudruck 2011), Kudlien (1968) und zuletzt Caldwell (2018). Weshalb Celsus die Pneumatiker nicht erwähnt, ist nicht mehr festzustellen. Möglicherweise pass-te die direkte und offensichtliche Beeinflussung durch die Lehre der Stoa schlichtweg nicht in das medizinhistorische Programm des Proöms, das wie bereits angemerkt die Autonomie der Medizin gegenüber der Philosophie unterstreichen wollte.
80 Mit Verweis auf Stegers (2021, 273f.) Ausführungen wird an dieser Stelle nicht der in der Forschung gängige, jedoch problematische Begriff ‚Schule‘ verwendet.
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den Krankheitsursachen müsse der Behandlung vorangehen.81 Die Empiriker hingegen ge- standen der Erfahrung und genauen Beobachtung der Symptome den Vorrang zu, da die ‚versteckten Ursachen‘ für den menschlichen Geist nicht zu verstehen seien.82 Die Metho- diker, obgleich in ihrer Theorie vermutlich nicht einheitlich, boten einen dritten Weg, der die ärztliche Praxis dahingehend vereinfachte, dass allen Krankheiten sog. communia zu- gesprochen werden, d. h. allgemeine Charakteristika, die sie teilen und nach denen zu thera- pieren ist.83 Celsus’ Abriss zeugt demnach von einer regen Diskussion unter Medizinern ver- schiedener Traditionen, die im ersten vorchristlichen Jahrhundert stattfindet. Diese innere Differenzierung ist zu ergänzen durch Tempelärzte (rituelle Medizin) und Salbenhändler ( pharmacopolae ).84 Hinsichtlich medizinischer Theorie und Praxis hätten die Dichter dem- zufolge aus einem breiten Angebot wählen können: Umso bemerkenswerter ist der Befund, dass in den Schilderungen eine drastische Vereinheitlichung der Medizin vorgenommen wird (s. Kapitel 3.2.1). Neben der schulischen Gesamtausrichtung ist für die Rezeption medizinischer Theorie und Terminologie die Frage entscheidend, in welchem Idiom die Ärzteschaft in Rom miteinander kommunizierte. Naturgemäß bieten hierfür Schriftquellen die einzige Orientierung, deren Mangel im ersten vorchristlichen Jahrhundert oben bereits genannt wurde. David Langslow sieht dennoch Indizien dafür, dass ein fachliches Idiom bestand: Dafür sprächen zum einen die übersetzerische Tätigkeit des Pompeius Lenaeus (Freigelassener des Pompeius Magnus) und die zahlreichen Parallelen zum späteren Celsusin Lukrezens De rerum natura .85 Liegt Langslow mit seiner These richtig, ist das Fundament für die Rezeption der Fachsprache durch Lukrez, Vergil und Grattius gelegt – es bleibt die Frage, weshalb sie ein Interesse für dieses Idiom hätten entwickeln sollen.8681 Der Primat der Ätiologie war jedoch der einzige Punkt, in dem diese Gruppe übereinstimmte. Die Vielfalt theoretischer Ansätze, die sich unter dem Etikett der Dogmatiker verbirgt, macht augenfäl-lig, dass es sich bei der Tradition eher um einen von außen beigelegten Distinktionsbegriff handelt, vgl. Labisch (2005), 233f.
82 Es geht wohl nicht zu weit, diese Diskussion neben die Äußerungen des Thukydides (2,48,3) und Diodorus Siculus (12,58,2) zu stellen: Während Thukydides die Suche nach Ursachen den anderen überlässt (s. u. Kapitel 1.5.3), betont Diodor ihre Notwendigkeit. Vgl. für eine Gegenüberstellung auch Lane Fox (2020), 279f.
83 Vgl. Nutton (22013), 193–196 und Caldwell (2018), 640.
84 Vgl. Lloyd (2021), 51f.
85 Vgl. Langslow (2000, 34). Der Freigelassene Lenaeus erhielt von Pompeius laut Plin. nat. 25,7 den Auftrag, diejenigen Schriften des Mithridates zu übersetzen, die den medizinischen Gebrauch von Pflanzen behandelten.
86 Vgl. zu dieser Frage Mazzini (2014), 77–81.
1.2 Poetae medicina docti? Oder: Was wussten die Dichter – und woher?
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An dieser Stelle könnte Asklepiades von Prusa eine bedeutende Rolle gespielt haben. Ob- wohl die Lebensdaten des Asklepiades nicht eindeutig zu bestimmen sind,87 ist sein Einfluss auf das Verständnis von Medizin in der späten Republik mittlerweile anerkannt.88 Für unser Vorhaben ist er vor allem deshalb von Interesse, weil die Grundlage seiner medizinischen Behandlung eine Atomtheorie gewesen ist.89 Durch Lee Pearcy ist ein direkter Einfluss auf Philodem von Gadara wahrscheinlich gemacht worden;90 dabei ist nicht nur die lokal-zeit- liche, sondern auch die philosophisch-konzeptuelle Nähe zu Lukrez und auch Vergil zu betonen.91 Beide Autoren können dementsprechend im Zusammenhang des epikureischen Milieus mit der medizinischen Theorie des Asklepiades in Kontakt gekommen sein, viel- leicht sogar mit ihm selbst. Dies vertritt Alfred Stückelberger, der in seiner Untersuchung zahlreiche Parallelen bei Lukrez aufgezeigt hat;92 Vergils Krankheitsbeschreibungen weisen solche allerdings kaum auf.93 Unabhängig von der Frage nach der direkten Beeinflussung hat87 Für das Leben des Asklepiades ist man neben Cic. de or. 1,62 primär auf die Äußerungen seiner Kritiker angewiesen. So charakterisiert ihn Galen als „a meretricious nobody hard at work taking over second rate ideas from second rate philosophers“ (Vallance 1993, 694f.). Den Tod des Asklepia-des setzt Rawson (1982) mit Verweis auf Cicero im Jahr 91 v. Chr. an, Flemming (2010, 33 Anm. 59) spricht sich für die Möglichkeit einer späteren Datierung aus, sodass Asklepiades Zeitgenosse des Pompeius gewesen wäre.
88 Vgl. bereits Crawfurd (1914), 60, Rawson (1985), 171–178, Nutton (22013), 194f. und Caldwell (2018), 638f.
89 Zur Rekonstruktion seiner Lehre vgl. Vallance (1990, 1993) und Leith (2009, 2012). Leith zufolge steht Asklepiades in der Tradition des epikureischen Atomismus.
90 Vgl. Pearcy (2012). Pearcys Ziel besteht insbesondere darin, Spuren der medizinischen Theorie des Asklepiades bei Philodem im Groben nachzuweisen, ohne genauere Aussagen über die Art der Re-zeption und ggf. Adaptation der Theorie zu tätigen.
91 Eine solche Verbindung über individuelle Persönlichkeiten ist für das Fortwirken medizinischer Theorien (angesichts fehlender Institutionalisierung des Arztbetriebs) charakteristisch. Vgl. für eine Darstellung der Forschungsgeschichte zu Vergil in den herkulanensischen Papyri den postum über-setzten und veröffentlichten Aufsatz von Gigante (2004). Für Vergil ist demnach ein direkter Einfluss durch Philodem erwiesen, bei Lukrez darf ein solcher jedoch nur angenommen werden, wenngleich Knut Kleve dafür argumentierte (1989 und insbes. 1997); dessen Argumente wurden durch Capasso (2003) widerlegt, als Überblicksdarstellung der Diskussion ist Beer (2009b) anzuempfehlen. Zur Be-ziehung zwischen der epikureischen Philosophie und der Medizin unter besonderer Berücksichti-gung der Kompendienliteratur vgl. jüngst Damiani (2021), 125–135.
92 Vgl. Stückelberger (1984), 151–156. Medizinische Einflüsse auf Lukrez waren bereits Gegenstand vie-ler Untersuchungen, eine Übersicht liefern Piergiacomi (2019), 191 Anm. 2 und Kazantzidis (2021), 60 Anm. 84.
93 Langslow (1999, 209) nimmt nichtsdestoweniger an, dass sich sowohl in Lukrezens als auch Vergils Werken nicht nur die Theorie des Asklepiades, sondern auch die von dessen Schüler Themison nie-dergeschlagen haben.
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Asklepiades durch seine Behandlungsmethoden zu einer Popularisierung der Medizin in Rom beigetragen;94 ein nicht unerheblicher Faktor dürfte dabei dessen rhetorische Schulung gewesen sein.95 Damit schaffte er die Grundlage für ein verbreitetes Interesse an der Medi- zin, das möglicherweise auch zur Kanonisierung derselben beigetragen und damit mittel- bare Auswirkungen auf die Seuchenbeschreibungen ausgeübt hat. Der nicht selten vorausgesetzte, jedoch in seiner Genese häufig nicht näher dargelegte Einfluss medizinischer Fachschriften auf die Dichter der späten Republik und der frühen Kaiserzeit konnte durch unsere Betrachtung von Primärquellen und Testimonien zum Teil bewiesen, zum Teil wahrscheinlich gemacht werden. Für die hier behandelten Autoren kann man in der philologischen Bearbeitung auch mit Blick auf medizinische Einflüsse von einer soliden Forschungstradition sprechen.96 Für die Medizingeschichte jedoch, de- ren Forschungsbereich auch die Vorstellungen von Krankheit und Gesundheit umfasst,97 scheinen die Seuchenbeschreibungen lediglich marginaler Untersuchungsgegenstand ge- wesen zu sein – das muss verwundern.98 Im Folgenden wird deshalb der Ursache dafür nachgegangen und gezeigt, mit welchem Recht eine Untersuchung der Beschreibungen auch aus Perspektive der Medizingeschichte als Forschungsdesiderat bezeichnet werden kann.94 Nutton (22013, 167) spricht davon, dass es ab der Mitte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts zum guten Ton gehörte, einen griechischen Arzt in der domus zu beschäftigen.
95 Rawson (1982), 364 beschreibt frühe Kunstreden über die Medizin vor großem Publikum, wie sie spätestens zu Galens Zeit bekannt sind (vgl. Luchner 2004, 25f.), und hebt den Fokus auf die Elo-quenz des Arztes bei Cicero und Plinius als bemerkenswert hervor. Gerade der Professionswechsel vom Rhetor zum Arzt stößt bei Plinius (Nat. 26,12f.) auf Kritik.
96 Anstelle einer wenig zielführenden Gesamtauflistung der Sekundärliteratur wird auf die jeweiligen Besprechungen der Autoren im zweiten Kapitel verwiesen.
97 Grob kann das Aufgabenfeld der Medizingeschichte mit Sigerist (1963, 5) wie folgt abgesteckt wer-den: „Die Geschichte der Medizin wird sich deshalb damit befassen, wie es zu einzelnen Zeiten um Gesundheit und Krankheit stand, wird die Bedingungen der Gesundheit und Krankheit studieren und die Geschichte all jener menschlichen Bemühungen erforschen, die darauf abzielten, Gesund-heit zu fördern, Krankheit zu verhüten und Kranke zu heilen, ganz gleich, wer dies tat.“ Eine Präzi-sierung erfolgt in Kapitel 1.3 und 1.4.
98 Ausnahmen stellen die an der medizinischen Akademie in Düsseldorf in den 30er Jahren unter Wilhelm Haberling entstandenen Dissertationen dar (vgl. Moritz 1935 zu Lukrez und Seneca, Win-zen 1935 zu Horaz, Matthesius 1937 zu Vergil und Ovid und Engelhard 1939 zu Livius, Sueton und Lucan, außerdem zuvor Remund 1928 zu Martial und Juvenal in Zürich), die jedoch die Seuchen-beschreibungen meist nur am Rande thematisieren, methodisch bedenklich, sachlich fehlerbehaftet und zum Teil rassenideologisch geprägt sind.
1.2 Poetae medicina docti? Oder: Was wussten die Dichter – und woher?
1.3 Fiktionale Krankheitsbeschreibungen als Gegenstand der Medizingeschichte
Fragte man einen an der Medizingeschichte der Antike interessierten Studierenden nach einer bedeutenden Seuchenbeschreibung, so vernähme man als Antwort vermutlich diejeni- ge des Archetyps unseres Motivs: Thukydides. Dem entspricht auch das Bild innerhalb der Forschungstradition, in der nicht zuletzt zahlreiche Versuche unternommen wurden, die be- schriebene Pest zu identifizieren.99 Neben der retrospektiven Diagnose etablierte sich (u. a. an- geregt von Karl-Heinz Leven100) auch für literarische Texte eine historisch-kritische Methode, welche die Krankheitsbeschreibungen unter Berücksichtigung des werkinternen Zusammen- hangs, der Gattungsspezifika und der zeitlichen Umstände ihrer Abfassung untersucht.101 Es wurde für die Seuchenbeschreibung des Thukydides festgestellt, dass sie nicht berichtet, ‚wie es eigentlich gewesen sei‘, sondern als ein Bestandteil literarischer Komposition, bspw. im Kontrast zur Leichenrede des Perikles, anzusehen ist (vgl. Kapitel 1.5). Auffällig an der me- dizingeschichtlichen Behandlung von Seuchenschilderungen ist, dass die hier versammelten Texte der lateinischen Dichtung in der Regel ausgespart werden: Beispielhaft für das geläufige Vorgehen ist ein Aufsatz von Mischa Meier, in dem er fundierte Beobachtungen zunächst zu Thukydides und Prokop, und in der Folge zu unterschiedlichen Quellen über die Pest zur Zeit der Antoninen vorstellt.102 99 Vgl. Seibert (1983), 78f. Die vielfältigen Interpretationen ergeben sich dadurch, dass Einzelbestand-teile aus der Seuchenbeschreibung herausgegriffen und isoliert betrachtet werden. Für eine Auflis-tung der unterschiedlichen Diagnosen (in Auswahl) vgl. Littman (2009), 459; eine neuere Liste liegt in Lutz Graumanns noch unveröffentlichem Aufsatz zur Pest in Athen vor, für dessen Übermittlung ich ihm herzlich danke. Zur Diskussion vgl. Kapitel 1.4 und 1.5.2.
100 Vgl. maßgeblich Leven (1998 und 2005g) sowie in seiner Nachfolge Moog/Karenberg (2004), Karen-berg (2009), Stolberg (2012) und (resümierend) Krischel (2019).
101 Dabei sind Gattungsgrenzen nicht als starr, sondern als (potenzieller) Gegenstand spielerischer Interaktion im Beziehungsfeld von Autor, Rezipient und Werk aufzufassen; vgl. Gildenhard (2007), 283–285 mit einer nützlichen Übersicht zur Gattungsforschung und weiteren Literatur-verweisen.
102 Vgl. Meier (2009a); ebenso Hopkins (1983), 209 Anm. 9, Perilli (2020) und erneut Meier (2021, trotz Nennung der Tradition auf S. 425). Eine Ausnahme stellen zwei Aufsätze von John Dirckx (2000a/b) dar, die jedoch aus inhaltlichen und methodischen Gründen kein Vorbild für die folgende Untersu-chung sein können. Die jüngeren Quellensammlungen (Cerchiai Manodori Sagredo 2020 und Steger 2021) beziehen zwar auch Dichtung mit ein, greifen die Tradition jedoch nicht (ausführlich) auf. Ein jüngeres Beispiel für die Auswertung poetischer Texte für die Medizingeschichte bietet Lane Fox (2020), 28–34.
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1.3 Fiktionale Krankheitsbeschreibungen als Gegenstand der Medizingeschichte Möglicherweise ist Levens Mahnung, das Wahrscheinlichkeitsspiel der retrospektiven Diagnose in literarischen Quellen der Antike nicht zu weit zu treiben, im Anschluss durch eine Ausblendung dieser Texte überkompensiert worden. Mit vergleichendem Blick auf die ansonsten in der Forschung untersuchten Texte (primär Geschichtsschreibung) findet sich noch eine andere Begründung: Da es sich bei diesen Seuchenbeschreibungen um Dich- tung handelt, mag ein Fiktionalitätsvorwurf in dem Sinne formuliert werden, dass in ihnen Krankheiten beschrieben werden, die in ihrer konkreten Ausformung allein der Imagina- tion der Dichter entspringen und keine Entsprechung in einem historischen Ereignis be- sitzen, ja solche vielmehr an vielen Stellen verformen und die Wirklichkeit ‚literarisieren‘.103 Angesichts der daraus resultierenden quellenkritischen Probleme könnte daraufhin folgen- der Einwand geäußert werden: Wenn die Autoren lediglich eine ausgedachte Krankheit beschrieben und diese auch nicht diagnostiziert werden dürfte – welchen Wert hätten diese Schilderungen für die Medizingeschichte? Mit der Fiktion ergäben sich hinsichtlich der Verwertbarkeit der Quellen Bedenken, die Maria Reicher in ihrer erkenntnistheoretischen Untersuchung zur Wissensvermittlung von fiktionalen Texten u. a. unter dem ‚Einwand der epistemischen Unzuverlässigkeit‘ und ‚Einwand der fehlenden Referenz‘ zusammen- gefasst hat.104 Zunächst zur fehlenden Referenz: In der Tat verlieren die Beschreibungen durch die Aus- weisung als Phantasiegebilde ihren Wert für die Ereignisgeschichte und die sich an sie an- schließenden Disziplinen, bspw. die historische Demographie. Über den Einfluss der spezi- fischen Krankheit auf eine spezifische Population zu einem spezifischen Zeitpunkt können die Gedichte nichts sagen,105 kurz: Auf die Fragen ‚Was‘, ‚Wann‘ und ‚Wie viele‘, die sich leicht
103 Vgl. bspw. Horstmanshoff (1989), 20. Eine derart pauschale Beurteilung würde der Vielfalt der Quel-len jedoch nicht gerecht: Während für die Beschreibungen des Grattius, Ovid und Seneca die Rück-führung auf ein historisches Ereignis aufgrund der Allgemeinheit der Darstellung oder auf Grund-lage des Mythos m. E. niemals erfolgte, gab es bei Vergils ‚Norischer Viehseuche‘ durchaus solche Versuche (vgl. Anm. 286, S. 166). Lukrez, Manilius, Silius Italicus und womöglich Lucan nehmen eine interessante Zwischenposition ein, da sich ihre Schilderung unmittelbar an die von Historikern anlehnt, freilich ohne sich zwanghaft an die Vorlage zu halten. Für alle Beschreibungen gilt, dass sie nach der in Anm. 9, S. 12 gegebenen Definition fiktional sind und dass die von ihnen beschriebenen Sachverhalte lediglich in ihnen existieren (vgl. Corbineau-Hoffmann 32013, 133). Zu Überlegungen, inwiefern gerade die Verformung des Ereignisses einen lohnenden Erkenntnisgegenstand darstellt, vgl. Goetz (2003), 25f.
104 Vgl. Reicher (2014), 79–92. Mit Referenz bezeichnet Reicher die behauptende Bezugnahme auf die Welt; zum umstrittenen Begriff der Referenz vgl. Münch (1992), 385–388.
105 Dabei bleibt ausgeklammert, dass, selbst wenn eine solche Krankheit als historisch ermittelt werden könnte, ein Einfluss auf die Population im ersten vor- und nachchristlichen Jahrhundert stets ein mehr oder minder wahrscheinliches Zahlenspiel bliebe, vgl. van Galen (2016).
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messen und in Graphiken ausdrücken ließen,106 liefern sie keine historisch belastbare Ant- wort.107 Dabei handelt es sich jedoch nicht um ein Defizit der Quellen, sondern um die falschen Fragen. Ganz ähnlichen Wünschen nach einer quantitativen Bemessung des Ereignisses sah sich schon Gerhard Waldherr in seiner Habilitationsschrift über die literarische Umsetzung von Erdbeben gegenüber. In dieser plädierte er für einen Perspektivwechsel hin zum sozialen und gesellschaftlichen Aspekt von Katastrophen, die dann erst interessant würden, wenn sie sich nicht mehr im quasi menschenleeren, unbewerteten Raum abspielen, son-dern auf den/die Menschen, Individuen, Gruppen, Gesellschaften auf unvorhergeseheneWeise einwirken, deren Lebensbeziehungen stören oder ganz unterbrechen und dazu zwingen, daß man sich in vielfältiger Form mit ihnen auseinandersetzt.108 Waldherr sensibilisiert dafür, dass die Reduktion historischer Ereignisse auf Zahlen unzu- lässig ist und rückt die schwerer fassbare soziale Dimension in den Vordergrund. Zum Ziel wird folglich eine Untersuchung des ‚Wie‘ des jeweiligen Phänomens, in unserem Fall des imaginierten Erlebens der Krankheit (individuell und vor allem gesellschaftlich) im geistes- geschichtlichen Kontext.109 Eine solche Untersuchung baut auf der Prämisse auf, dass die Literatur einen Adäquat- heitsanspruch aufweist, d. h. nach Gabriel einen „ Anspruch auf die adäquate Darstellung
106 Vgl. bspw. Alexander (1993), 461–494.
107 Dazu humorvoll Toner (2013, 31): „We usually lack simple facts about the basic dimensions of the disaster, relating to such aspects as its scope, speed of onset, duration and the level of social prepared-ness. These were not matters which concerned ancient writers. Instead we get cracked statues and dead sheep.“
108 Waldherr (1997), 13f., dessen Bedeutung für die Untersuchung von Katastrophen in den Alter-tumswissenschaften Borsch (2018, 10f.) in seinem Forschungsüberblick hervorhebt. Wie noch zu zeigen sein wird, kann erst durch den Einbezug dieser Wahrnehmung durch Mensch und Gesell-schaft aus dem bloßen Naturereignis eine Katastrophe werden, vgl. Dietrich (2012), 90 und Kapi-tel 1.6.
109 Nach Gabriel (2014, 168) ist gerade die Imagination der Kernpunkt der dichterischen Darstellung, nicht der propositionale Gehalt: „Was Dichtung wesentlich meint, wird nicht in ihr gesagt oder als in ihr enthalten mitgeteilt, sondern gezeigt, und zwar in der Weise, dass ein fiktional berichtetes Geschehen aufgrund seiner Fiktionalität den Charakter des Historisch-Einzelnen verliert und so – zu einem Besonderen geworden – eine Vergegenwärtigungsleistung erbringt.“ Diese Vergegenwär-tigungsleistung sei auch eine Art der Bekanntmachung mit der beschriebenen Situation; dass die hier behandelten Seuchenbeschreibungen jedoch eine Antizipation der Gefahrensituation darstel-len sollten, ist zu bezweifeln, wenngleich sie aus kyrenaischer Perspektive durchaus die Grundlage einer praemeditatio malorum (‚geistige Vorbereitung auf die Übel‘ ~ negative Visualisierung) bilden könnten.
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1.3 Fiktionale Krankheitsbeschreibungen als Gegenstand der Medizingeschichte (Verkörperung) eines prädikativen Wesentlichen im Besonderen “.110 Auf unser Vorhaben be- zogen: Die Seuchenbeschreibungen spiegeln die Krankheitsvorstellung 111 der römischen Oberschicht in Form einer erdachten, häufig alle Lebewesen betreffenden Epidemie wider.112 Mit diesem Erkenntnisgegenstand ordnet sich unsere Untersuchung in die von Hans-Werner Goetz begründete Vorstellungsgeschichte ein.113 Der Vorteil der vorstellungsgeschichtlichen Methode für die Untersuchung liegt in der ausbleibenden Erfordernis einer quantitativen Bemessung. Um römische Vorstellungen herauszuarbeiten, ist es schlichtweg unerheblich, ob die beschriebenen Seuchen historische Ereignisse korrekt abbilden. Notwendige und zu- gleich hinreichende Bedingung ist ausschließlich, dass die Texte als Rezeptionsgegenstände konzipiert und auch tatsächlich rezipiert wurden.114 Unter dieser Bedingung kann aus den Quellen entweder ein kohärentes Bild der Krankheitsvorstellung zusammengefügt oder auf Unterschiede und Wandlungsprozesse innerhalb der Vorstellungsgeschichte hingewiesen werden.115 Darüber hinaus ist wahrscheinlich, dass die Dichtungen nicht nur durch ihren Adäquatheitsanspruch die Momentaufnahme einer bestimmten Auffassung darstellen, son- dern durch ihren Inhalt und insbesondere ihre Form ebenso das Verständnis wie die Erfah-
110 Gabriel (1975), 84. Diese Prämisse kann sich auch auf Aristoteles’ Theorie der Fiktion berufen, der-zufolge eine Fiktion das beschreibt, was geschehen kann, wobei die notwendige Bedingung für die Annahme der Fiktion durch den Rezipienten das Schreiben κατὰ τὸ εἰκὸς ἢ τὸ ἀναγκαῖον (‚entspre-chend dem, was wahrscheinlich oder notwendig ist‘) besteht, vgl. Arist. Po. 9 1451a36–1451b4.
111 Unter Krankheitsvorstellung kann bezogen auf die Krankheit selbst mit Rothschuh (1978, 8) „die jeweilige Auffassung vom Anlaß und Schauplatz beobachtbarer, konkreter Veränderungen im er-krankten Menschen, im Körper, in der Seele, die gestörte Blutbewegung, das morphopathologische Substrat, die biochemischen Zusammenhänge“ verstanden werden, wobei Blutbewegung und Bio-chemie in Abhängigkeit von der jeweiligen Quelle durch eine Mischung von Humoral- oder Solidar-pathologie (s. Kapitel 3.1.2) zu ersetzen sind.
112 Durch ihre Poetik kommt den Texten nach Schipperges (1988, 139) dabei eine besondere Rolle zu: „Vielleicht sind es die Dichter und Denker, die in großen Umrissen, aber auch in der vollen Dichtig-keit am ehesten noch eine Sinngestalt vom Kranksein zu entwerfen in der Lage sind.“
113 In Abgrenzung von der Ereignis- und der Strukturgeschichte (aber stets in Kooperation mit ihnen) untersucht die Geschichte der Vorstellungen die subjektive Auffassung des historischen Geschehens in der Quelle und ordnet diese in einen rekonstruierten Erfahrungshorizont des Verfassers ein. Sub-jektivität wird folglich nicht mehr ausgeklammert, sondern ganz bewusst Gegenstand historischer Forschung – die damit paradoxerweise einen objektiveren Beitrag leistet, indem sie nicht unzulässi-gerweise moderne Fragen an den Text richtet, die ihm und dem Verfasser nicht gerecht werden, vgl. Goetz (1979), 267.
114 Zur Frage der Rezipienten s. Anm. 27, S. 17. Umstritten muss bleiben, in welchem Umfang die jewei-ligen Dichtungen rezipiert wurden und welchen Einfluss sie tatsächlich besaßen.
115 Dabei ist die Schwerpunktsetzung auf der Krankheitsvorstellung dem Motiv selbst geschuldet: Ins-besondere vor dem Hintergrund der holistischen Konzeption der Seuchen wären freilich andere in sich geschlossene Untersuchungsfelder denkbar, wie bspw. die Vorstellung von Vorzeichen in Seu-chenzeiten, vgl. Engels (2007), 244–258.
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rungder Rezipienten prägen.116 Die fehlende Referenz auf ein Einzelereignis ist daher kein Hindernis, fiktionale Seuchenbeschreibungen als Erkenntnisobjekt medizingeschichtlicher Forschung anzusehen. Wie steht es nun mit dem Einwand der epistemischen Unzuverlässigkeit? Die Zuverläs- sigkeit der Zeugnisse könnte dahingehend in Zweifel gezogen werden, dass die Autoren innerhalb dieser Phantasiegebilde keine realistischen Vorstellungen der damaligen Zeit verarbeiteten, also schlicht nichts Faktisches in der Fiktion zu finden und damit auch der Adäquatheitsanspruch nicht erfüllt wäre. Dass es sich bei den Beschreibungen um solip- sistische Phantastereien handelt, die keinerlei authentische Informationen enthalten, kann zwar nicht vollständig ausgeschlossen, jedoch durch folgende Argumente unwahrschein- lich gemacht werden: Zunächst handelt es sich bei den Schilderungen um literarische Er- zeugnisse, die für historische Rezipienten verfasst sind, an deren Vorstellungswelt das Geschriebene anknüpfen muss, da sie erst hierdurch eine bestimmte Wirkung erzielen. So ergibt sich bspw. die besondere Tragik der Leichenhaufen bei Lukrez daraus, dass der (aus anderen Zeugnissen hinreichend bekannte, s. Anm. 246, S. 154) Sepulkraltopos des frühzeitigen Todes ( mors immatura ) in den Leichenhaufen von Eltern und Kindern ver- arbeitet worden ist. Als künstlerische Gebilde mit einer Orientierung am zeitgenössischen Rezipienten erscheinen sie also durchaus als Quelle von Vorstellungen geeignet. Weiter- hin verbindet die Texte der Motivtradition ihr großer Detailreichtum;117 im letzten Kapitel wurde herausgearbeitet, dass die meisten von ihnen Fachvokabular und/oder Theorie(an- teile) bezeugen, die in medizinischen Schriften ab dem ersten nachchristlichen Jahrhun- dert greifbar werden, sodass die Dichter eine Brücke (terminologisch wie konzeptionell) vom Corpus Hippocraticum zu den römischen Fachschriften schlagen. Schließlich zeugen116 Vgl. Lupton (32012), 58: „The use of language when referring to disease and those at risk of contract-ing it has a direct effect upon the way in which ill people deal with their condition and the ways in which others treat them.“ Nach Goetz (2003, 32) ist das Resultat der sich in einem reziproken Ver-hältnis zur Wirklichkeit verdichtenden Auffassung als Wahrnehmungs- und Deutungsmuster zu bezeichnen, das sich wiederum in weiteren Kulturerzeugnissen niederschlagen kann. Einflüsse des Seuchenmotivs auf die Kunst in Pompeji lassen sich nachweisen (vgl. Tybout 1979), sodass die An-nahme vergleichbarer Umsetzungen für unsere Motivtradition plausibel erscheint. Horstmanshoff (1989, 91) vermutet gar in der Seuchenszene in der Casa del criptoportico in Pompeji eine Rezeption von Lukrez oder Vergil.
117 Für die Detaillierung der Erzählung als rhetorisches Mittel, das die Erzählung realistischer wirken lässt, vgl. Lausberg (2008), 402–404 § 813. Es ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass sowohl De-tailreichtum als auch der Anteil an Fachsprache in den Quellen unterschiedlich starke Ausprägung findet, was nicht zuletzt an einer immer stärkeren Orientierung am literarischen Vorgänger liegt. Diese Diskrepanzen werden bei der Besprechung der Autoren thematisiert.
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1.4 Zielformulierung und Methode Texte anderer Gattungen (auch der Historiographie118) von vergleichbaren Vorstellungen. Die dichterische Umsetzung der Seuchen ist also keinesfalls ein isoliertes Gebilde künst- lerischer Phantasie, sondern besitzt Parallelen in medizinischen Fachschriften sowie in der Geschichtsschreibung. Daher müsste man entweder annehmen, dass sämtliche Nennungen dieser Art der antiken Welt fremd gewesen wären, oder, dass die Beschreibungen wohl eine allgemeine Vorstellung (d. h. in unserem Falle zumindest die der römischen Oberschicht) widerspiegeln.119 Folglich sind die hier behandelten Texte trotz der Tatsache, dass es sich um fiktionale Seuchenbeschreibungen handelt, geeignete Erkenntnisobjekte für die Me- dizingeschichte. Sowohl der Einwand der fehlenden Referenz als auch der epistemischen Unzuverlässigkeit konnten ausgeräumt werden. Nachdem die ersten drei Kapitel das ‚Was‘ und ‚Warum‘ der Untersuchung sowohl aus der Perspektive der philologischen als auch der medizinhistorischen Forschung heraus- gestellt haben, wird im nächsten Kapitel das ‚Wie‘ in Form der angewandten Methode(n) erläutert.
1.4 Zielformulierung und Methode
Der Untersuchungsgegenstand wurde in den ersten drei Abschnitten in Gestalt der literari- schen Seuchenbeschreibungen des ersten vor- und nachchristlichen Jahrhunderts festgelegt und begründet.120 Im Umgang mit dem Gegenstand ergibt sich die besondere Schwierigkeit, dass die Texte verschiedenen Gattungen angehören und Erzeugnisse sehr unterschiedlicher politischer Verhältnisse sind. Diese Vielfalt ist jedoch eher als Herausforderung denn als Aus- schlusskriterium zu sehen: Es gilt demnach, nicht nur den jeweiligen Gesamtzusammenhang des Werkes, sondern auch die Gattungsspezifika und die zeitlichen Umstände im Blick zu behalten. Auf diese Weise sind die historisch-pragmatische und rezeptionsgeschichtliche Per- spektive auf die Quellen ineinander verschränkt. Folgende Hauptziele können nach den Überlegungen der ersten Abschnitte formuliert werden: 118 Vgl. Dutoit (1948) zu Livius und Woodman (2010) zu historiographischen Entlehnungen der medi-zinischen Fachsprache von der Republik bis zur Kaiserzeit.
119 Folgt man Holm (2012, 21) in seiner kulturellen Analyse von Katastrophenbeschreibungen (vgl. Kapitel 1.6), verläuft die kulturelle Prägung von Deutungsmustern eines solchen Ereignisses auch schichtübergreifend. Ein wichtiger Unterschied zwischen Antike und Spätmoderne besteht jedoch in der Zugänglichkeit von Literatur, sodass sich die Annahme einer Trennung durchaus begründen lässt.
120 Ausgenommen wurden kleinere Abschnitte (Verg. Aen. 3,135–142 und Ov. met. 15,626–636), da sie als Nebenzeugnisse einzustufen sind. Sie finden jedoch im Zuge der Kommentierung Berücksichti-gung.
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1. Die Rezeption und Entwicklung des Motivs soll in chronologischer Reihenfolge nachver- folgt werden.121 2. Die Beschreibungen sollen in ihrer Fiktionalität und Rezipientenorientierung als Spiegel zeitgenössischer Krankheitsvorstellung gelesen und ausgewertet werden. Die zu verfolgende Methode für das erste Ziel ist der Vergleich der Texte.122 In seinem Basis- artikel zur altphilologischen Komparatistik hat Stefan Freund aufgezeigt, dass die mittlerweile über Jahrhunderte praktizierte altphilologische Hermeneutik bereits ihrem Wesen nach kom- paratistisch ist: Antike Texte werden durch den Vergleich mit anderen antiken Texten erklärt und damit für die heutigen Rezipienten erschlossen.123 In diesem Sinne stellt sich unser Vor- haben methodisch in eine lange Tradition und knüpft inhaltlich an die Untersuchungen von Gerard Vallillee und Jürgen Grimm an. Mithilfe des Vergleichs wird sowohl das allen Gemein- same als auch das Eigentümliche einer jeden Beschreibung herausgearbeitet. Dabei werden die Schilderungen nicht als eine Art Exkurs künstlich isoliert,124 sondern stets im Werkzu- sammenhang und als Teil der literarischen Tradition begriffen, ohne jedoch die Beeinflussung durch den Vorgänger direkt vorauszusetzen ( post hoc ergo propter hoc ). Folgende zentrale Ver- gleichspunkte sind zu nennen:125121 Die chronologische Abfolge der Quellen erlaubt, den Rezeptionsvorgang der Dichter nachzuvoll-ziehen und das jeweils Eigentümliche der Beschreibung herauszuarbeiten (vgl. Grimm 1965, 10). Sie könnte jedoch eine vergleichbare Form der Rezeption in pragmatischer Hinsicht auch für die Antike suggerieren, was nicht nur die Realität verfälschen dürfte, sondern auch fruchtbaren Überle-gungen den Raum nimmt. Die Tradition erstreckt sich über einen Zeitraum von mehr als 150 Jahren, sodass man von 4–5 Generationen sprechen kann. Wie gestaltete sich die Wahrnehmung des Lukrez, wenn man nicht ihn zu allererst, sondern Manilius oder Seneca gelesen/gehört hatte? Mit derartigen Gedankenspielen erhalten (häufig recht abstrakte) intertextuelle Überlegungen und virtuelle Bezüge eine sehr konkrete und zugleich realistische Ausformung. Diese komplexen Untersuchungen führ-ten über unser Vorhaben hinaus, finden jedoch hier einen Ausgangspunkt.
122 Als Antwort auf eine grundsätzliche Kritik der Methode (etwa vor dem Hintergrund der unhin-tergehbaren Abgeschlossenheit eines jeden Textes als Rhizom) ist mit Angelika Hoffmann-Maxis zu erwidern, dass die Individualität des Textes seine Verwandtschaft mit anderen nicht ausschließt und der Vergleich vielmehr die jeweilige Besonderheit herauszustellen vermag, vgl. Corbineau-Hoff-mann (32013), 62f.
123 Vgl. Freund (2013), 9f.
124 Zur Kritik dieser Vorgehensweise bei der Erklärung des Manilius vgl. Hübner (2010a), V.
125 Dabei gilt Wests (1979, 88) caveat hinsichtlich einer Verabsolutierung von Vergleichsdimensionen: „Virgil is rhetorical by comparison with Lucretius. This does not mean that it is helpful to say that Vir-gil is rhetorical, or Lucretius not rhetorical. Lucretius is emotional by comparison with Thucydides. But it would be misleading to say, tout court , that Lucretius is emotional or that Thucydides is dispas-sionate. […] The characteristics elicited by comparison are valid as comparisons, not by themselves.“
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1.4 Zielformulierung und Methode 1. Sprachliche Gestaltung: Zunächst ist zu untersuchen, welchen Eindruck die Dichter durch welchen Ausdruck erreichen. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der Untersu- chung auf Wort- und Satzebene, doch werden auch Gliederungsmerkmale genannt, die das Motiv anreichern. 2. Ausgestaltung der Vorstellung: Als Vorbereitung für das zweite Ziel unseres Vorhabens richtet sich der Blick darauf, welches Gesamtbild der Pest gezeichnet wird. Dies impliziert zum einen die sprachliche Gestaltung, zum anderen auch den Umgang mit Motivelementen mittels Hinzu- fügungen, Umstrukturierungen und Auslassungen. Hinzufügungen werden wiederum auf ih- ren Sitz im antiken Leben untersucht, bspw. im Falle verbreiteter Adynata oder Sprichwörter.126 3. Implementierung des Motivs: Angesichts der Vielfalt der Gattungen und der Überzeit- lichkeit des Motivs stellt sich die Frage nach der narrativen Verwendungsweise desselben in Anpassung an das literarische Genus. 4. Funktion des Motivs: Mit der Einbindung in den Erzählzusammenhang ist die Funktion im Gesamtzusammenhang eng verknüpft. Bereits Jürgen Grimm erstellte ein Raster unter- schiedlicher Motivfunktionen. Anstelle einer (zwangsläufig reduktionistischen) Etikettie- rung wird an dieser Stelle das Augenmerk auf dem jeweiligen Gesamtzusammenhang liegen. Ausgangspunkt für den Vergleich bildet ein Schema, das aus dem Archetyp der Motivtradi- tion, dem Historiker Thukydides, im nächsten Kapitel erarbeitet wird. Eine Codierung der ursprünglichen Bestandteile ermöglicht eine erleichterte Auffindbarkeit des Vorgängers im Nachfolger. Der Historiker tritt am Anfang der Motivtradition an die Stelle der unmittelbaren Erfahrung der Pest und darf damit als Ursprung der geistigen Herkunft gelten:127 Der Dichter Lukrez, der das Motiv für seine Nachfolger erschließt, orientiert sich noch sehr genau an sei- nem Vorbild – so genau, dass seine Beschreibung bisweilen als Übersetzung bezeichnet wur- de.128 Es wird in der Folge schnell deutlich werden, dass sich die Tradition weitestgehend von 126 Rowe (1965, 390 und 396) ordnet hingegen Adynata als eine Form des Sprichworts ein.
127 Vgl. Veit (1961), 196: „Denn ein Topos wird dann erst in seinem Wesen erfaßt, wenn neben dem Behar-ren auch die Wandlung, neben den literarischen Ursprung auch die Untersuchung der geistigen Her-kunft tritt.“ Im Falle des Thukydides fallen folglich literarischer Ursprung und geistige Herkunft ineins.
128 Eine genaue Überprüfung im 20. Jahrhunderts (s. u. Kapitel 2.2.1) hat jedoch ergeben, dass es sich bei der Pest des Lukrez nicht um eine Übersetzung ( interpretatio ) der griechischen Vorlage handelt ( contra Foster 2011, die noch von einer solchen spricht), sondern um eine kreative Nachahmung ( imitatio , vgl. Reiff 1959, 27). Mit diesem Beginn illustriert die Motivtradition einen zentralen Zug römischer Kultur, nämlich die Abhängigkeit von der griechischen, vgl. Zintzen (1987), 17: „Auf allen literarischen Ge-bieten und in der Philosophie sind die Griechen den Römern vorangegangen. Die Römer übernehmen von den Griechen inhaltliche Vorlagen, sie leben vom griechischen Mythos, vor allem aber greifen sie die literarischen Formen der verschiedenen Gattungen auf und übertragen sie nach Rom. Dieser Rezeptionsvorgang ist wahrscheinlich so niemals mehr in seiner Vollständigkeit in einer anderen euro-
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Thukydides-Lukrez löst und kreativ mit den Motivelementen hantiert. Überhaupt impliziert die Entwicklung der Tradition, dass die Vergleichsbasis vom Ende besehen immer breiter wird, weshalb im Anhang eine tabellarische Übersicht aus der Perspektive des letzten Dichters, Si- lius Italicus, geliefert wird (vgl. Appendix A). Für die Zuordnung der Motivelemente und die Beurteilung der literarischen Bezugnahmen bedeutet das eine wachsende Unsicherheit, die jedoch an vielen Stellen handhabbar ist (vgl. Anm. 72, S. 117). Das zweite Ziel ist die Erforschung der Krankheitsvorstellung auf Grundlage der Seuchen- beschreibungen. Die Methode ist die historisch-kritische Lektüre der Texte, die Karl-Heinz Leven als Gegenentwurf zur (tendenziell stets modernisierenden) retrospektiven Diagnose vorgeschlagen hat.129 In ihr sollen die Kategorien der Zeitgenossen angelegt und die Eigen- heiten der literarischen Gattung berücksichtigt werden. Demzufolge offenbart sich die Krank- heitsvorstellung in einem Wechselspiel von Individuum, Arzt,130 Gesellschaft und Krankheit sowie der in der Schilderung impliziten Prämissen, die dieses Wechselspiel bedingen.131 Im Rahmen des Vergleichs wird deutlich werden, dass die Schwerpunktsetzung der Dichter unter- schiedlich ausfällt,132 ein Gutteil von ihnen jedoch einen Blick auf den Wandel der gesellschaft- lichen Normen unter den Bedingungen der Katastrophe gemein hat (vgl. auch Kapitel 1.6). Die Komplexität des gesellschaftlichen Bedingungsgefüges, in dem sich die Beteiligten bewegen, lässt sich durch ein Modell von Karl Eduard Rothschuh abbilden (vgl. Abbildung 2),133 das bei päischen Literatur wiederholt worden, daß eine nationale Literatur in voller Breite die wesentlichen Fundamente ihrer Existenz und Ausformung einer anderen vorausgehenden Literatur verdankt.“129 Vgl. Leven (1998), 155. Stolberg (2012, 223–227) behandelt nach einer Bekräftigung von Levens Argu-menten erneut die Frage nach der Relevanz der retrospektiven Diagnose für die Medizingeschichte.
130 Der Singular impliziert, dass es sich jeweils um konkrete Interaktionen handelt. Lloyd (2021, 51–53) hat darauf hingewiesen, dass die Vielfalt der Mediziner auch zu zahlreichen Auseinandersetzungen innerhalb der Profession geführt hat. Diese werden von den Quellen jedoch höchstens implizit auf-gegriffen und werden deshalb ausgeklammert.
131 Aufgrund dieses Beziehungsgeflechts hängt die Vorstellung von Krankheit (bspw. in ihrer sozialen Dimension) eng mit derjenigen von der gesellschaftlichen Reaktion zusammen (s. auch im Folgen-den). Diese wird in Kapitel 1.6 im Zusammenhang der Deutung des Motivs als Vorläufer moderner Katastrophenbeschreibungen und in Kapitel 3.2 beleuchtet.
132 Gemäß Toner (2013), 111: „Disasters throw up competing claims for ownership. That is to say, various competing texts give different accounts of what were the most significant effects of a disaster. These alternative versions of the story represent rival ways of looking at society and about the importance of the damage the event had caused. Often this disaster discourse reflects the politics of disasters. It is a battle to frame the account in such a way as to show certain sections of society in the best or worst possible light.“ Eine Besonderheit liegt freilich in der Überzeitlichkeit dieses ‚Wettbewerbs‘ zwischen den Dichtern, die nicht zuletzt durch den fiktionalen Charakter der Beschreibungen bedingt ist.
133 Zur Erklärung der einzelnen Begriffe des Modells vgl. Rothschuh (1975), 415f.: Aegritudo = subj. Hilfsbedürftigkeit des Kranken. Nosos/Pathos = Klinischer Befund und pathol. Substrat der Krank-heit (Arzt). Insanitas = Kranker als Objekt ärztlicher Hilfe (Arzt). Infirmitas = Kranker als Objekt
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1.4 Zielformulierung und Methode der Anwendung auf die Antike freilich an einigen Stellen zu modifizieren ist.134 Dabei zeichnet das Modell mit seinen Bezugsgrößen (Krankheit, Kranker, Gesellschaft und Arzt) zugleich das soziale Grundgefüge innerhalb einer Krankheitsvorstellung. Abbildung 2: Relationsmodell von Karl Eduard Rothschuh (1975), 414. sozialer Hilfe (Gesellschaft). Insalubritas = Krankheit als Anlass öffentlicher Maßnahmen (Gesell-schaft). Bemerkenswert ist, dass nach Rothschuh (1975, 411) das relationale Schema eigentlich stets mit dem Kranken beginne, der sich krank fühlt und sich entsprechend in seiner infirmitas der Ge-sellschaft zeigt, die auf diese insalubritas mit Maßnahmen reagiert. In der lateinischen Dichtung jedoch scheinen sämtliche Beschreibungen mit der Krankheitbzw. den sie bedingenden Umwelt-faktoren zu beginnen.
134 So speist sich etwa die Individualverantwortung des Arztes stets aus zeitgenössischen normativen Prinzipien. Für manchen Arzt der Antike bestand möglicherweise die Norm, dass man die Behand-lung eines hoffnungslosen Patienten verweigerte (vgl. u. a. Kudlien 1976, 72f., dagegen jedoch Leven 2018, 168f.). Dies hatte seinen Grund im fehlenden Lizenzsystem der Profession (zur Aneignung des medizinischen Wissens vgl. Kudlien 1970 und Steger 2021, 353f. mit Literaturverweisen) sowie der daraus resultierenden Bedeutung der δόξα ( dóxa ), des professionellen Rufs. Darüber hinaus ist die Rolle der Gesellschaft, für welche die Krankheit primär soziale Bedeutung hat, nicht so sehr auf kollektive (vgl. Rothschuh 1975, 413–415) als vielmehr auf individuelle Maßnahmen der Krank-heitsbewältigung bedacht.
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Anhand dieses Grundgefüges wird im dritten Kapitel die Krankheitsvorstellung der Motivtra- dition herausgearbeitet, wobei zwischen den Ebenen der Krankheit selbst (Kapitel 3.1) und den Reaktionen darauf (Kapitel 3.2) unterschieden wird, die eng miteinander verknüpft sind. Die Aufteilung der ersten Betrachtung in Ätiologie, Pathophysiologie und Symptomatik orientiert sich zum einen an der Vergleichsstudie von David West (s. Anm. 8, S. 12), zum anderen an den Quellen selbst. In der Darstellung der Reaktionen auf die Epidemien lehnt sich die Ausarbei- tung terminologisch wie strukturell mit kleineren Modifikationen an die Untersuchung zu spätrömischen und frühbyzantinischen Seuchenbeschreibungen von Dionysios Stathakopou- los an.135 Neben der von ihm vorgenommenen Differenzierung in Autoritäten und Gesellschaft erschien für unser Vorhaben eine gesonderte Behandlung der Erkrankten unabdinglich, da die Dichter diesen verstärkte Aufmerksamkeit haben zukommen lassen. Eine ebenfalls wichtige Vorarbeit für diesen Teil lieferte Manfred Horstmanshoff mit seiner Dissertation über die Seu- chen der griechischen Welt (800–400 v. Chr.). Über die zwei Hauptziele hinaus dient die Arbeit dazu, die Texte der Motivtradition an einer Stelle zu versammeln und mithilfe einer gut verständlichen (und konzeptuell unverfälschten, vgl. die Einleitung zu Kapitel 2) Übersetzung interdisziplinär zugänglich zu machen. Damit kann sie eine Grundlage nicht nur für medizinhistorische, sondern auch für komparatisti- sche und kulturanthropologische Forschung bilden.136 Es wäre bspw. ein großer Gewinn, wenn Grimms geradezu überwältigend umfangreiches Unternehmen, Seuchenbeschreibungen von der Antike bis Albert Camus zu vergleichen, auf mehrere Einzelbeiträge verteilt würde, um dieses faszinierende Motiv auf eine Art und Weise zu beleuchten, die den einzelnen Texten auch gerecht zu werden vermag.137 Schließlich können die hier getätigten Beobachtungen mög- licherweise ein neues Licht auf alte Fragen werfen: Wenngleich die Annahme, die Seuchenbe- schreibungen wären stets entscheidend für die Gesamtinterpretation eines Werks, sicherlich eine Überschätzung des Motivs darstellt, kann ihre Berücksichtigung dennoch nützliche Teil- ergebnisse für breitere Betrachtungen liefern. Nachdem Untersuchungsgegenstand und Erkenntnisweg ausgeleuchtet sind, wird im fol- genden Kapitel der Archetyp des Motivs vorgestellt. Um den ersten Vertreter der lateinischen135 Vgl. Stathakopoulos (2004), 57–87 (zu Hungersnöten) und 146–154 (zur Justinianischen Pest).
136 In diesem Sinne versteht sich die Arbeit, in der Tradition von Hans-Werner Goetz (2003, 29), „als an-thropologische[r] Erkenntnisbeitrag für die Wahrnehmungs-, Deutungs- und Darstellungsweise(n)“ von Seuchen im Rom des ersten vor- und nachchristlichen Jahrhunderts.
137 Diese Beiträge dürften auch voneinander profitieren: So hätte Totaros (2012, 11–15) Rückbindung des Pestepos im England des 17. Jahrhunderts an die Antike die gesamte Motivtradition berück-sichtigen können. Ein Vergleich dieser Gattung mit den antiken Vorläufern erscheint (auch vor dem Hintergrund von Totaros ersten Ergebnissen) fruchtbar, kann aber an dieser Stelle nur andeutungs-weise erfolgen.
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1.5 Der Begründer des Motivs: Die Pest von Athen bei Thukydides Tradition Lukrez einschätzen zu können, ist eine historische und literarische Einordnung der thukydideischen Beschreibung notwendig. Für Thukydides gilt derselbe modus operandi wie für die übrigen Vertreter der Tradition, sodass zunächst eine Einordnung der Pest in den Ge- samtzusammenhang erfolgt.
1.5 Der Begründer des Motivs: Die Pest von Athen bei Thukydides
Die Pest von Athen, welche die Stadt im zweiten Kriegsjahr (430 v. Chr.) heimsuchte und wohl bis 426 v. Chr. in Schüben auftrat, wird von Thukydides im zweiten Buch seiner Historiae (2,47–54, s. Kapitel 1.5.1) beschrieben.138 Sie ist dort Teil der fortlaufenden Handlung, kurz zuvor findet sich ein Einschnitt in Form des Jahreswechsels. Die Pest ist nach dem erneuten Einfall der Peloponnesier in Attika das erste beschriebene Ereignis des Sommers und bildet damit den Anfang des neuen Erzählabschnittes. Durch ihre Nachwirkung auf die Expedition des Hagnon nach Potideia oder den Tod des Perikles bleibt sie eine handlungsbestimmende Kraft zunächst für das zweite Buch, für einige Interpretatoren sogar für das Gesamtwerk.139 Darüber hinaus weist die Beschreibung eine enge Verbindung zur Schilderung der Ereignisse des Vorjahres auf: einerseits in Hinsicht auf die Handlungsabfolge, indem die von Perikles angewiesene Evakuierung der umliegenden Gebiete (2,13,2) erst zur Überfüllung der Stadt ge- führt hat; andererseits wurde die Pest kompositorisch stets als Gegengewicht zur Leichenrede des Perikles (2,36–46) und als Überleitung zu dessen letzter Rede und dem Charakterport- rät gelesen.140 Trotz der vermeintlichen chronologischen Reihenfolge muss diese Gegenüber- 138 Zu den infrastrukturellen Voraussetzungen von Krankheit und Tod in Athen vgl. Liston (2021).
139 So bspw. Rechenauer (2011), 242, der die Pest als „a continuous structural element over a large part of the entire work“ ansieht und Bruzzone (2017, 902), die sie als „not a digression but a key symptom“ einstuft. Die Wirkung auf die Expedition im Sommer antizipiert Thukydides bereits im ersten Teil des Buches bei der erfolgreichen Operation um Megara (2,31,2): στρατόπεδόν τε μέγιστον δὴ τοῦτο ἁθρόον Ἀθηναίων ἐγένετο, ἀκμαζούσης ἔτι τῆς πόλεως καὶ οὔπω νενοσηκυίας· (‚Das Heer der Athe-ner fand sich dort in seinem größten Umfang ein, weil die Stadt noch in Blüte stand und noch nicht von der Pest heimgesucht wurde.‘)
140 Vgl. Connor (1984), 63–75, Morgan (1994), 207 und Nielsen (1996). Edith Foster (2010, 204–210) förderte mit ihrem Schwerpunkt auf den Materialismus in der Grabrede eine neue Sicht auf die Re-lativierung der Einteilung von Arm und Reich in der Seuchenbeschreibung zu Tage. Nach Demont (2013, 87) fungiert die Leichenrede als retardierendes Element, damit der Rezipient nicht die Evaku-ierung von Attika und mit ihr Perikles als Ursache der Pest ausmache – angesichts der militärischen Expeditionen zwischen Evakuierung und Leichenrede scheint dies jedoch nicht notwendig. Eine Entlastung des Perikles hätte (wenn intendiert) mithilfe einer Nennung der Ursache, wie sie Thu-kydides in 2,48,3 explizit nicht vornimmt, wesentlich leichter erfolgen können. Für eine Kritik der
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stellung als Element betrachtet werden, das durch die literarische Gestaltung motiviert ist;141 daneben zeugt auch die erzählerische Verdichtung der Pest auf ein Einzelereignis, obwohl die Krankheit Athen über Jahre hinweg heimsuchte, vom literarischen Charakter der Beschrei- bung.142 Diese Verdichtung erlaubt es auch, die Pest „als de[n] Anfang der mit dem Kriege fort- schreitenden sittlichen Auflösung“143 in einem für den Rezipienten nachvollziehbaren Prozess zu inszenieren.144 Im Folgenden wird im Anschluss an Text und Übersetzung, vergleichbar mit Kapitel 1.2, die Frage nach der Quelle des Thukydides, d. h. konkret nach dem Einfluss der hippo- kratischen Schriften gestellt, da diese seit dem 19. Jahrhundert eng mit der Frage nach der Verlässlichkeit der Seuchenbeschreibung und mit Ansätzen retrospektiver Diagnose verbunden war. Im Anschluss wird (als Vorarbeit des medizingeschichtlichen Teils) das Krankheitskonzept des Thukydides nachgezeichnet.145 Dadurch wird die Vorstellungs- grundlage, auf die Lukrez neben seinen eigenen Überzeugungen zurückgreift und die er an mancher Stelle durch seine Ideen anreichert, ermittelt und wird als Vergleichsbasis bei der Lektüre der anderen Primärtexte in ihrer Entwicklung greifbar. Abschließend wird anhand der Quelle ein Schema erarbeitet, auf dessen Basis ein Vergleich in der Motivtra- dition erleichtert wird. einschlägigen Gegenüberstellung von Rede und Pest vgl. Balot (2017), 330f. Insbesondere für die Be-trachtung des Lukrez ist der Kontrast zwischen der von Perikles blühend beschriebenen Metropole (2,41,1 τήν τε πᾶσαν πόλιν τῆς ῾Ελλάδος παίδευσιν) und der anschließenden Katastrophe hervorzu-heben (vgl. Komm. zu Lucr. 6,1139–1143).141 Vgl. Nielsen (1996), 399. Nach Horstmanshoff (1989, 202) handelt es sich um eine Tragödie um Peri-kles.
142 Vgl. Leven (1991), 153 und Mitchell-Boyask (2008), 39–43. Neben der zeitlichen Dimension ist auch auf anderen Ebenen von Verformungen der historischen Realität auszugehen – so hat bspw. Horst-manshoff (1989, 228–242) anhand weiterer Quellen (literarisch wie epigraphisch) herausgearbeitet, dass die Abkehr von Religion und Kult keineswegs derart einheitlich stattfand, wie Thukydides be-schrieb. Es war nicht zuletzt dieser Aspekt, der den Historiker für Lukrez so attraktiv machte – Grimm (1965, 54) spricht von einer „gleichsam praestabilierten Harmonie“.
143 Büchner (1957), 67.
144 Demont (2013, 74f.) hat darauf hingewiesen, dass Thukydides mit seiner Seuchenbeschreibung das medizinisch-religiöse Paradigma des Miasma, das Fehlverhalten als Ursache für die Erkrankung ansieht, umgedreht hat: Nun ist es die Krankheit, die zum Verbrechen führt.
145 Damit wird nicht impliziert, Thukydides habe bewusst „durchdachte, systematisch formulierte und begründete Theorien von den Krankheitserscheinungen, ihrem Charakter, ihrer Verursachung und ihrer Regelmäßigkeit“ (Rothschuh 1978, 8) aufgestellt (so etwa Thomas 2006, 103f.). Dennoch lässt sich aus seiner Beschreibung sowohl eine Vorstellung des Erzählers als auch der in der Erzählung agierenden Personen mit Blick auf den Ursprung und die Übertragung der Krankheit rekonstruie-ren.
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1.5.1 Thukydides (Thuc. 2,47,3–54) – Text und Übersetzung14647 (3) καὶ ὄντων αὐτῶν οὐ πολλάς πω ἡμέρας
ἐν τῇ Ἀττικῇ ἡ νόσος πρῶτον ἤρξατο
γενέσθαι τοῖς Ἀθηναίοις, λεγόμενον μὲν
καὶ πρότερον πολλαχόσε ἐγκατασκῆψαι
καὶ περὶ Λῆμνον καὶ ἐν ἄλλοις χωρίοις,
οὐ μέντοι τοσοῦτός γε λοιμὸς οὐδὲ
φθορὰ οὕτως ἀνθρώπων οὐδαμοῦ
ἐμνημονεύετο γενέσθαι. (4) οὔτε γὰρ
ἰατροὶ ἤρκουν τὸ πρῶτον θεραπεύοντες
ἀγνοίᾳ, ἀλλ’ αὐτοὶ μάλιστα ἔθνῃσκον
ὅσῳ καὶ μάλιστα προσῇσαν, οὔτε ἄλλη
ἀνθρωπεία τέχνη οὐδεμία· ὅσα τε πρὸς
ἱεροῖς ἱκέτευσαν ἢ μαντείοις καὶ τοῖς
τοιούτοις ἐχρήσαντο, πάντα ἀνωφελῆ
ἦν, τελευτῶντές τε αὐτῶν ἀπέστησαν
ὑπὸ τοῦ κακοῦ νικώμενοι.
(3) Und als sie sich noch nicht viele Tage in Attika auf-hielten, begann erstmals diese Krankheit in Athen auf-zutreten; sie hatte zwar, wie gesagt wurde, auch früher schon an vielen Stellen zugeschlagen, im Raum Lem-nos und andernorts, doch konnte man sich nicht er-innern, dass sie irgendwo zu einer derartigen Seuche mit einem Massensterben dieses Ausmaßes ausgeartet sei. (4) Weder nämlich konnten Ärzte, die ohne Kennt-nis der Erkrankung diese zum ersten Mal behandeln mussten, etwas ausrichten, starben vielmehr selbst am ehesten, da sie ja am meisten zu den Kranken gingen, noch irgendetwas anderes, was Menschen vermögen; das Bittflehen vor den Heiligtümern oder die Befra-gung der Orakel und dergleichen, alles war nutzlos, und am Ende gaben sie es auf, von der Katastrophe gebrochen.
48 ἤρξατο δὲ τὸ μὲν πρῶτον, ὡς λέγεται, ἐξ
Αἰθιοπίας τῆς ὑπὲρ Αἰγύπτου, ἔπειτα δὲ
καὶ ἐς Αἴγυπτον καὶ Λιβύην κατέβη καὶ
ἐς τὴν βασιλέως γῆν τὴν πολλήν. (2) ἐς δὲ
τὴν Ἀθηναίων πόλιν ἐξαπιναίως ἐσέπεσε,
καὶ τὸ πρῶτον ἐν τῷ Πειραιεῖ ἥψατο τῶν
ἀνθρώπων, ὥστε καὶ ἐλέχθη ὑπ’ αὐτῶν ὡς
οἱ Πελοποννήσιοι φάρμακα ἐσβεβλήκοιεν
ἐς τὰ φρέατα· κρῆναι γὰρ οὔπω ἦσαν
αὐτόθι. ὕστερον δὲ καὶ ἐς τὴν ἄνω πόλιν
ἀφίκετο, καὶ ἔθνῃσκον πολλῷ μᾶλλον
ἤδη. (3) λεγέτω μὲν οὖν περὶ αὐτοῦ
ὡς ἕκαστος γιγνώσκει καὶ ἰατρὸς καὶ
ἰδιώτης, ἀφ’ ὅτου εἰκὸς ἦν γενέσθαι αὐτό,
καὶ τὰς αἰτίας ἅστινας νομίζει τοσαύτης
(1) Angefangen hatte es zuerst, wie berichtet wird, von dem südlich Ägyptens gelegenen Äthiopien aus, sodann war es auch nach Ägypten und Libyen he-runtergekommen und hatte sich weit im Lande des Großkönigs ausgebreitet. (2) Über die Stadt der Athe-ner brach es ganz plötzlich herein, und zuerst befiel es die Menschen im Piräus, weshalb von ihnen auch behauptet wurde, die Peloponnesier hätten Gift in die Zisternen geschüttet; denn Fließwasserquellen gab es dort damals noch nicht. Später erreichte es auch die weiter landeinwärts gelegene Stadt, und nun gab es ein noch viel größeres Sterben. (3) So soll denn über diese Seuche jeder, Arzt wie Laie, seine Meinung äu-ßern, woraus sie wahrscheinlich entstanden ist und welche Ursachen er für wirkungsmächtig genug hält,
146 Text und Übersetzung folgen Weißenberger (2017), Abweichungen werden durch Fettdruck gekenn-zeichnet.
1.5 Der Begründer des Motivs: Die Pest von Athen bei Thukydides
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μεταβολῆς ἱκανὰς εἶναι δύναμιν ἐςτὸ μεταστῆσαι σχεῖν· ἐγὼ δὲ οἷόν τε
ἐγίγνετο λέξω, καὶ ἀφ’ ὧν ἄν τις σκοπῶν,
εἴ ποτε καὶ αὖθις ἐπιπέσοι, μάλιστ’ ἂν
ἔχοι τι προειδὼς μὴ ἀγνοεῖν, ταῦτα
δηλώσω αὐτός τε νοσήσας καὶ αὐτὸς
ἰδὼν ἄλλους πάσχοντας.einen derart radikalen Umschwung auszulösen; ich jedoch will beschreiben, wie sie verlief, und die Sym-ptome, von deren Untersuchung ausgehend man, falls sie noch einmal hereinbrechen sollte, am besten durch Vorwissen vor Ahnungslosigkeit gefeit sein kann, die will ich darstellen, der ich selbst die Krankheit durch-gemacht und andere mit meinen eigenen Augen lei-den gesehen habe.
49 Τὸ μὲν γὰρ ἔτος, ὡς ὡμολογεῖτο ἐκ
πάντων , μάλιστα δὴ ἐκεῖνο ἄνοσον
ἐς τὰς ἄλλας ἀσθενείας ἐτύγχανεν
ὄν· εἰ δέ τις καὶ προύκαμνέ τι, ἐς
τοῦτο πάντα ἀπεκρίθη. (2) τοὺς δὲ
ἄλλους ἀπ’ οὐδεμιᾶς προφάσεως, ἀλλ’
ἐξαίφνης ὑγιεῖς ὄντας πρῶτον μὲν
τῆς κεφαλῆς θέρμαι ἰσχυραὶ καὶ τῶν
ὀφθαλμῶν ἐρυθήματα καὶ φλόγωσις
ἐλάμβανε, καὶ τὰ ἐντός, ἥ τε φάρυγξ
καὶ ἡ γλῶσσα, εὐθὺς αἱματώδη ἦν καὶ
πνεῦμα ἄτοπον καὶ δυσῶδες ἠφίει· (3)
ἔπειτα ἐξ αὐτῶν πταρμὸς καὶ βράγχος
ἐπεγίγνετο, καὶ ἐν οὐ πολλῷ χρόνῳ
κατέβαινεν ἐς τὰ στήθη ὁ πόνος μετὰ
βηχὸς ἰσχυροῦ· καὶ ὁπότε ἐς τὴν καρδίαν
στηρίξειεν, ἀνέστρεφέ τε αὐτὴν καὶ
ἀποκαθάρσεις χολῆς πᾶσαι ὅσαι ὑπὸ
ἰατρῶν ὠνομασμέναι εἰσὶν ἐπῇσαν, καὶ
αὗται μετὰ ταλαιπωρίας μεγάλης. (4)
λύγξ τε τοῖς πλέοσιν ἐνέπιπτε κενή,
σπασμὸν ἐνδιδοῦσα ἰσχυρόν, τοῖς μὲν
μετὰ ταῦτα λωφήσαντα, τοῖς δὲ καὶ
πολλῷ ὕστερον. (5) καὶ τὸ μὲν ἔξωθεν
ἁπτομένῳ σῶμα οὔτ’ ἄγαν θερμὸν ἦν
οὔτε χλωρόν, ἀλλ’ ὑπέρυθρον, πελιτνόν,
φλυκταίναις μικραῖς καὶ ἕλκεσιν
ἐξηνθηκός· τὰ δὲ ἐντὸς οὕτως ἐκάετο
ὥστε μήτε τῶν πάνυ λεπτῶν ἱματίων καὶ
(1) Das Jahr war – hierüber waren alle sich einig – bis dahin, was sonstige gesundheitliche Beeinträchti-gungen betrifft, auffallend krankheitsfrei gewesen; und wenn einer zuvor an irgendetwas gelitten hatte, so verschwand es und schlug in diese Erkrankung um. (2) Über die anderen aber kamen ohne jede Vor-ankündigung, sondern bei voller Gesundheit ganz plötzlich zuerst heftige Hitzewallungen des Kopfes sowie Rötung und Entzündung der Augen, und die inneren Bereiche, Rachen und Zunge, waren auf ein-mal blutig und verströmten einen so nie wahrgenom-menen und übel riechenden Atem; (3) dann folgten auf diese Symptome Niesen und Heiserkeit, und in gar nicht langer Zeit stieg das Leiden in die Brust hi-nab, starken Husten auslösend; und sobald es sich im Magen festgesetzt hatte, stülpte es diesen um, und es erfolgten sämtliche Arten des Erbrechens von Galle, die von den Ärzten terminologisch erfasst sind, und zwar unter schlimmen Schmerzen. (4) Auch überkam die meisten ein mit heftigen Krämpfen verbundene s , ergebnislose s Würgen , die einen gleich nach dem Nachlassen des Erbrechens, andere erst viel später. (5) Und die Oberfläche des Körpers fühlte sich gar nicht besonders heiß an und war auch nicht blass, son-dern leicht gerötet, blutunterlaufen, und zeigte einen Ausschlag von kleinen Bläschen und Geschwüren; innerlich jedoch wurde ein so starkes Brennen emp-funden, dass die Kranken nicht einmal die ganz dün-nen Kleidungsstücke und feinsten Gewebe anziehen
48
σινδόνων τὰς ἐπιβολὰς μηδ’ ἄλλο τιἢ γυμνοὶ ἀνέχεσθαι, ἥδιστά τε ἂν ἐς
ὕδωρ ψυχρὸν σφᾶς αὐτοὺς ῥίπτειν.
καὶ πολλοὶ τοῦτο τῶν ἠμελημένων
ἀνθρώπων καὶ ἔδρασαν ἐς φρέατα,
τῇ δίψῃ ἀπαύστῳ ξυνεχόμενοι· καὶ ἐν
τῷ ὁμοίῳ καθειστήκει τό τε πλέον καὶ
ἔλασσον ποτόν. (6) καὶ ἡ ἀπορία τοῦ μὴ
ἡσυχάζειν καὶ ἡ ἀγρυπνία ἐπέκειτο διὰ
παντός. καὶ τὸ σῶμα, ὅσονπερ χρόνον
καὶ ἡ νόσος ἀκμάζοι, οὐκ ἐμαραίνετο,
ἀλλ’ ἀντεῖχε παρὰ δόξαν τῇ ταλαιπωρίᾳ,
ὥστε ἢ διεφθείροντο οἱ πλεῖστοι
ἐναταῖοι καὶ ἑβδομαῖοι ὑπὸ τοῦ ἐντὸς
καύματος, ἔτι ἔχοντές τι δυνάμεως,
ἢ εἰ διαφύγοιεν, ἐπικατιόντος τοῦ
νοσήματος ἐς τὴν κοιλίαν καὶ ἑλκώσεώς
τε αὐτῇ ἰσχυρᾶς ἐγγιγνομένης καὶ
διαρροίας ἅμα ἀκράτου ἐπιπιπτούσης
οἱ πολλοὶ ὕστερον δι’ αὐτὴν ἀσθενείᾳ
διεφθείροντο. (7) διεξῄει γὰρ διὰ παντὸς
τοῦ σώματος ἄνωθεν ἀρξάμενον τὸ
ἐν τῇ κεφαλῇ πρῶτον ἱδρυθὲν κακόν,
καὶ εἴ τις ἐκ τῶν μεγίστων περιγένοιτο,
τῶν γε ἀκρωτηρίων ἀντίληψις αὐτοῦ
ἐπεσήμαινεν. (8) κατέσκηπτε γὰρ ἐς
αἰδοῖα καὶ ἐς ἄκρας χεῖρας καὶ πόδας,
καὶ πολλοὶ στερισκόμενοι τούτων
διέφευγον, εἰσὶ δ’ οἳ καὶ τῶν ὀφθαλμῶν.
τοὺς δὲ καὶ λήθη ἐλάμβανε παραυτίκα
ἀναστάντας τῶν πάντων ὁμοίως, καὶ
ἠγνόησαν σφᾶς τε αὐτοὺς καὶ τοὺς
ἐπιτηδείους.wollten und es überhaupt nur nackt aushielten, ja, am liebsten in kaltes Wasser gesprungen wären. Und viele der Menschen, um die sich niemand kümmer-te, taten das auch wirklich, nämlich in die Zisternen, von einem Durst, der nicht aufhörte, geplagt; und es bedeutete keinerlei Unterschied, ob sie mehr oder we-niger zu trinken hatten. (6) Dabei machte ihnen auch die ganze Zeit hindurch die Unfähigkeit, zur Ruhe zu kommen, sowie Schlaflosigkeit zu schaffen. Und der Körper unterlag, solange die Erkrankung auf ihrem Höhepunkt verharrte, keinem Auszehrungsprozess, sondern widerstand verblüffenderweise der Tor-tur, so dass die meisten entweder am neunten bzw. am siebten Tag, wenngleich noch einigermaßen bei Kräften, an dem innerlichen Feuer zugrundegingen, oder aber, wenn sie davonkamen, nach einem Über-greifen der Krankheit auf die Bauchhöhle und deren starker Vereiterung sowie gleichzeitig auftretendem unvermischten 147 Durchfall an diesem durch Ent-kräftung später starben. (7) Denn durch den ganzen Körper, von oben angefangen, hindurch ging das Leiden, das sich zuerst im Kopf festgesetzt hatte, und wenn einer das Schlimmste überstanden hatte, so wurde er durch den Befall der Extremitäten gezeich-net: (8) Denn es drang auch zu den Geschlechtsteilen sowie Fingern und Zehen vor, und viele überlebten unter Verlust dieser Körperteile, manche auch der Augen. Andere überkam, sofort nach der Genesung, vollständiger Schwund des Gedächtnisses, und sie wussten nicht, wer sie waren, und er kannten ihre An-gehörigen nicht.
147 Vgl. zur Begründung von ἀκράτου als ‚unvermischt‘ Gal. Aph. 7,6 (= 18/1, 107 K.): ἀκράτους δ’ ὑποχωρήσεις εἴρηκε τὰς ἀμίκτους ὑδατώδους ὑγρότητος αὐτοῦ τοῦ κενουμένου χυμοῦ μόνου διαχωροῦντος, εἴτε πικρόχολος εἴτε μελαγχολικὸς εἴτε πρασοειδὴς εἴτε ὁ τῆς ἰώδους λεγομένης
1.5 Der Begründer des Motivs: Die Pest von Athen bei Thukydides
49
50 γενόμενον γὰρ κρεῖσσον λόγου τὸ εἶδοςτῆς νόσου τά τε ἄλλα χαλεπωτέρως ἢ
κατὰ τὴν ἀνθρωπείαν φύσιν προσέπιπτεν
ἑκάστῳ καὶ ἐν τῷδε ἐδήλωσε μάλιστα
ἄλλο τι ὂν ἢ τῶν ξυντρόφων τι· τὰ γὰρ
ὄρνεα καὶ τετράποδα ὅσα ἀνθρώπων
ἅπτεται, πολλῶν ἀτάφων γιγνομένων
ἢ οὐ προσῄει ἢ γευσάμενα διεφθείρετο.
(2) τεκμήριον δέ· τῶν μὲν τοιούτων
ὀρνίθων ἐπίλειψις σαφὴς ἐγένετο, καὶ
οὐχ ἑωρῶντο οὔτε ἄλλως οὔτε περὶ
τοιοῦτον οὐδέν· οἱ δὲ κύνες μᾶλλον
αἴσθησιν παρεῖχον τοῦ ἀποβαίνοντος
διὰ τὸ ξυνδιαιτᾶσθαι.
(1) Denn diese Krankheit, in ihrer Eigentümlichkeit jede Beschreibung mit Worten übertreffend, wütete grausamer, als die Natur des Menschen ertragen kann, gegen jeden in jeglicher Hinsicht und offenbarte be-sonders in diesem einen Punkt, dass sie etwas anderes war als Erkrankungen, mit denen man lebte: Vögel und vierfüßige Tiere, die an Leichen gehen, hielten sich trotz de r vielen unbegrabenen Toten entweder ganz fern oder verendeten nach wenigen Bissen. (2) Beweis: Es kam zu einem deutlich wahrnehmbaren Schwinden solcher Vögel, und man sah keine mehr, weder sonst irgendwo noch in der Nähe von Leichen; die Hunde jedoch vermittelten eher ein Bild des Geschehens we-gen ihres Zusammenlebens mit den Menschen.
51 Τὸ μὲν οὖν νόσημα, πολλὰ καὶ ἄλλα
παραλιπόντι ἀτοπίας, ὡς ἑκάστῳ
ἐτύγχανέ τι διαφερόντως ἑτέρῳ πρὸς
ἕτερον γιγνόμενον, τοιοῦτον ἦν ἐπὶ
πᾶν τὴν ἰδέαν. καὶ ἄλλο παρελύπει
κατ’ ἐκεῖνον τὸν χρόνον οὐδὲν τῶν
εἰωθότων· ὃ δὲ καὶ γένοιτο, ἐς τοῦτο
ἐτελεύτα. (2) ἔθνῃσκον δὲ οἱ μὲν
ἀμελείᾳ, οἱ δὲ καὶ πάνυ θεραπευόμενοι.
ἕν τε οὐδὲ ἓν κατέστη ἴαμα ὡς εἰπεῖν ὅτι
χρῆν προσφέροντας ὠφελεῖν· τὸ γάρ
τῳ ξυνενεγκὸν ἄλλον τοῦτο ἔβλαπτεν.
(3) σῶμά τε αὔταρκες ὂν οὐδὲν διεφάνη
πρὸς αὐτὸ ἰσχύος πέρι ἢ ἀσθενείας,
ἀλλὰ πάντα ξυνῄρει καὶ τὰ πάσῃ
διαίτῃ θεραπευόμενα. (4) δεινότατον
δὲ παντὸς ἦν τοῦ κακοῦ ἥ τε ἀθυμία
ὁπότε τις αἴσθοιτο κάμνων (πρὸς γὰρ τὸ
ἀνέλπιστον εὐθὺς τραπόμενοι τῇ γνώμῃ
(1) Die Epidemie also bot, wenn man viel anderes an nie Erlebtem übergeht – denn tatsächlich erging es je-dem im Vergleich zum anderen in mancher Einzelheit verschieden – aufs Ganze dieses Erscheinungsbild. Und kein anderes der gewohnten Leiden machte in dieser Zeit neben ihr Kummer; trat aber doch etwas auf, so nahm es ein Ende und ging in sie über. (2) Es wurde gestorben teils infolge mangelnder Pflege, teils auch trotz bester Betreuung. Nicht ein und, um es so zu auszudrücken, überhaupt kein einziges Heilmittel wollte sich finden lassen, dessen Anwendung sichere Hilfe versprochen hätte: Denn was dem einen gut ge-tan hatte, schadete dem anderen. (3) Und kein Körper erwies sich dieser Krankheit als gewachsen, weder in Hinsicht auf robuste oder schwächliche Konstitution, sondern sie rieb allesamt auf , auch die durch beste Lebensführung Abgehärteten. (4) Das Schrecklichs-te an der ganzen Misere war aber die Verzweiflung, sobald einer spürte, dass er krank war (denn da sieὑπάρχει χολῆς, ἐνδείκνυνται γὰρ αἱ τοιαῦται διαχωρήσεις ἐκπεφρύχθαι τὴν κατὰ φύσιν ὑγρότητα πᾶσαν ὑπὸ τῆς πυρετώδους θερμασίας.
50
πολλῷ μᾶλλον προΐεντο σφᾶς αὐτοὺς
καὶ οὐκ ἀντεῖχον), καὶ ὅτι ἕτερος ἀφ’
ἑτέρου θεραπείας ἀναπιμπλάμενοι
ὥσπερ τὰ πρόβατα ἔθνῃσκον· καὶ τὸν
πλεῖστον φθόρον τοῦτο ἐνεποίει. (5)
εἴτε γὰρ μὴ θέλοιεν δεδιότες ἀλλήλοις
προσιέναι, ἀπώλλυντο ἐρῆμοι, καὶ
οἰκίαι πολλαὶ ἐκενώθησαν ἀπορίᾳ
τοῦ θεραπεύσοντος· εἴτε προσίοιεν,
διεφθείροντο, καὶ μάλιστα οἱ ἀρετῆς
τι μεταποιούμενοι· αἰσχύνῃ γὰρ
ἠφείδουν σφῶν αὐτῶν ἐσιόντες παρὰ
τοὺς φίλους, ἐπεὶ καὶ τὰς ὀλοφύρσεις
τῶν ἀπογιγνομένων τελευτῶντες καὶ
οἱ οἰκεῖοι ἐξέκαμνον ὑπὸ τοῦ πολλοῦ
κακοῦ νικώμενοι. (6) ἐπὶ πλέον δ’ ὅμως
οἱ διαπεφευγότες τόν τε θνῄσκοντα
καὶ τὸν πονούμενον ᾠκτίζοντο διὰ
τὸ προειδέναι τε καὶ αὐτοὶ ἤδη ἐν τῷ
θαρσαλέῳ εἶναι· δὶς γὰρ τὸν αὐτόν,
ὥστε καὶ κτείνειν, οὐκ ἐπελάμβανεν.
καὶ ἐμακαρίζοντό τε ὑπὸ τῶν ἄλλων,
καὶ αὐτοὶ τῷ παραχρῆμα περιχαρεῖ καὶ
ἐς τὸν ἔπειτα χρόνον ἐλπίδος τι εἶχον
κούφης μηδ’ ἂν ὑπ’ ἄλλου νοσήματός
ποτε ἔτι διαφθαρῆναι.innerlich sofort jede Hoffnung verloren, gaben sie sich umso mehr auf und hatten der Krankheit nichts entgegenzusetzen), sowie die Tatsache, dass sie, der eine infolge der Pflege des anderen angesteckt, wie das Herdenvieh dahinstarben; das war Hauptursa-che für die hohe Zahl der Toten. (5) Entweder näm-lich man unterließ es aus Angst lieber, zu einander zu gehen, so starben die Menschen eben alleine, und viele Häuser leerten sich mangels eines zur Pflege be-reiten Helfers; oder aber man ging hin, so holte man sich dort den Tod, und besonders diejenigen, denen an Anstand und Ehre gelegen war; denn ohne Rücksicht auf sich selbst besuchten sie ihre Freunde – sie hätten sich sonst geschämt – während am Ende selbst die Verwandten, zerbrochen an all dem Leid und Elend, nicht mehr die Kraft hatten, auch nur die Beklagung der Dahingeschiedenen ordentlich auszuführen. (6) Deutlich mehr Mitleid mit dem Sterbenden und dem Leidenden zeigten dagegen die Davongekommenen, weil sie alles schon kannten und jetzt außer Gefahr waren; denn zweimal über denselben fiel die Krank-heit nicht her, jedenfalls nicht mit tödlichem Ausgang. Glücklich gepriesen wurden sie von den anderen, und selbst hatten sie in der Hochstimmung des Augen-blicks für die Zukunft ein Stück eitler Hoffnung, wohl nie und nimmer mehr an irgendeiner anderen Krank-heit zu sterben.
52 ᾿Επίεσε δ’ αὐτοὺς μᾶλλον πρὸς τῷ
ὑπάρχοντι πόνῳ καὶ ἡ ξυγκομιδὴ ἐκ
τῶν ἀγρῶν ἐς τὸ ἄστυ, καὶ οὐχ ἧσσον
τοὺς ἐπελθόντας. (2) οἰκιῶν γὰρ
οὐχ ὑπαρχουσῶν, ἀλλ’ ἐν καλύβαις
πνιγηραῖς ὥρᾳ ἔτους διαιτωμένων
ὁ φθόρος ἐγίγνετο οὐδενὶ κόσμῳ,
ἀλλὰ καὶ νεκροὶ ἐπ’ ἀλλήλοις
(1) Zusätzlich zum bereits bestehenden Elend brach-te sie die Evakuierung der ländlichen Gebiete in Be-drängnis, und besonders diejenigen, die neu in die Stadt dazu gekommen waren. (2) Da es nämlich für sie keine Wohnhäuser gab, man stattdessen in sti-ckigen Baracken in der Sommerhitze das Leben fris-ten musste, vollzog sich das Sterben unter chaoti-schen Umständen: Leichen lagen übereinander und
1.5 Der Begründer des Motivs: Die Pest von Athen bei Thukydides
51
ἀποθνῄσκοντες <τε>148 ἔκειντο καὶἐν ταῖς ὁδοῖς ἐκαλινδοῦντο καὶ περὶ
τὰς κρήνας ἁπάσας ἡμιθνῆτες τοῦ
ὕδατος ἐπιθυμίᾳ. (3) τά τε ἱερὰ ἐν οἷς
ἐσκήνηντο νεκρῶν πλέα ἦν, αὐτοῦ
ἐναποθνῃσκόντων· ὑπερβιαζομένου
γὰρ τοῦ κακοῦ οἱ ἄνθρωποι, οὐκ ἔχοντες
ὅτι γένωνται, ἐς ὀλιγωρίαν ἐτράποντο
καὶ ἱερῶν καὶ ὁσίων ὁμοίως. (4) νόμοι
τε πάντες ξυνεταράχθησαν οἷς ἐχρῶντο
πρότερον περὶ τὰς ταφάς, ἔθαπτον
δὲ ὡς ἕκαστος ἐδύνατο. καὶ πολλοὶ ἐς
ἀναισχύντους θήκας ἐτράποντο σπάνει
τῶν ἐπιτηδείων διὰ τὸ συχνοὺς ἤδη
προτεθνάναι σφίσιν· ἐπὶ πυρὰς γὰρ
ἀλλοτρίας φθάσαντες τοὺς νήσαντας
οἱ μὲν ἐπιθέντες τὸν ἑαυτῶν νεκρὸν
ὑφῆπτον, οἱ δὲ καιομένου ἄλλου
ἐπιβαλόντες ἄνωθεν ὃν φέροιεν ἀπῇσαν.
Sterbende, und auf den Straßen und um alle Fließ-wasserquellen wälzten sich halbtote Menschen in ihrer Gier nach Wasser. (3) Und die heiligen Bezir-ke, in denen sie kampierten, waren voll von Leichen, da auch dort drin gestorben wurde; denn angesichts der übermächtigen Gewalt der Katastrophe griff bei den Menschen, die nicht mehr aus noch ein wussten, Gleichgültigkeit um sich gegenüber göttlichem Gebot ebenso wie gegenüber menschlichem. (4) Und alle Re-geln im Zusammenhang mit Bestattungen, die man früher eingehalten hatte, wurden in dem allgemeinen Durcheinander hinweggefegt, und jeder bestattete, wie er konnte. Viele verlegten sich auf sittenwidri- ge Begräbnisse aus Mangel an allem Notwendigen, weil schon so viele ihnen vorher gestorben waren: Auf Scheiterhaufen anderer Leute legt en die einen den eigenen Toten und entfachte n Feuer, wenn sie es schaffte n , denen, die ihn aufgeschichtet hatten, zuvor-zukommen, andere warfen, während eine andere Lei-che schon brannte, den Toten, den sie trugen, einfach oben drauf und gingen weg.
53 Πρῶτόν τε ἦρξε καὶ ἐς τἆλλα τῇ πόλει
ἐπὶ πλέον ἀνομίας τὸ νόσημα. ῥᾷον γὰρ
ἐτόλμα τις ἃ πρότερον ἀπεκρύπτετο μὴ
καθ’ ἡδονὴν ποιεῖν, ἀγχίστροφον τὴν
μεταβολὴν ὁρῶντες τῶν τε εὐδαιμόνων
καὶ αἰφνιδίως θνῃσκόντων καὶ τῶν
οὐδὲν πρότερον κεκτημένων, εὐθὺς δὲ
τἀκείνων ἐχόντων. (2) ὥστε ταχείας τὰς
ἐπαυρέσεις καὶ πρὸς τὸ τερπνὸν ἠξίουν
ποιεῖσθαι, ἐφήμερα τά τε σώματα καὶ τὰ
χρήματα ὁμοίως ἡγούμενοι. (3) καὶ τὸ μὲν
(1) Auch anderweitig war diese Krankheit für die Stadt der Anfang einer zunehmenden Auflösung von Brauch und Gesetz. Leichter wagte nämlich jetzt so mancher, nach Lust und Laune zu machen, was er vorher geheim zu halten versucht hatte, da man ja sah, wie die Dinge abrupt umschlugen: Hier die Be-güterten und plötzlich Sterbenden, da Leute, die vor-her nichts gehabt hatten und nun auf einmal deren Reichtum besaßen. (2) Deshalb erhob man Anspruch darauf, sich schnellen Genuss zu verschaffen und sei-nen Spaß zu haben, da man als Eintagsfliegen Leib
148 Weißenberger übersetzt zwar gemäß der Emendation von Steup (oder Gomme), nimmt jedoch keine Änderung im griech. Text vor. Das Bild von Leichen und Sterbenden, die auf einem Haufen liegen (vgl. Gomme 1956, 158), könnte jedoch eine Entsprechung in Lucan. 6,101f. gefunden haben und wäre damit zumindest vor Onckens Transposition des ἀποθνῄσκοντες vor ἐν ταῖς ὁδοῖς geschützt.
52
προσταλαιπωρεῖν τῷ δόξαντι καλῷοὐδεὶς πρόθυμος ἦν, ἄδηλον νομίζων
εἰ πρὶν ἐπ’ αὐτὸ ἐλθεῖν διαφθαρήσεται·
ὅτι δὲ ἤδη τε ἡδὺ πανταχόθεν τε ἐς
αὐτὸ κερδαλέον, τοῦτο καὶ καλὸν καὶ
χρήσιμον κατέστη. (4) θεῶν δὲ φόβος ἢ
ἀνθρώπων νόμος οὐδεὶς ἀπεῖργε, τὸ μὲν
κρίνοντες ἐν ὁμοίῳ καὶ σέβειν καὶ μὴ ἐκ
τοῦ πάντας ὁρᾶν ἐν ἴσῳ ἀπολλυμένους,
τῶν δὲ ἁμαρτημάτων οὐδεὶς ἐλπίζων
μέχρι τοῦ δίκην γενέσθαι βιοὺς ἂν
τὴν τιμωρίαν ἀντιδοῦναι, πολὺ δὲ
μείζω τὴν ἤδη κατεψηφισμένην σφῶν
ἐπικρεμασθῆναι, ἣν πρὶν ἐμπεσεῖν εἰκὸς
εἶναι τοῦ βίου τι ἀπολαῦσαι.und Leben ebenso wie Hab und Gut einschätzte. (3) Und im Voraus sich anzustrengen für das als schön er-achtete Ziel war keiner bereit, da für allzu ungewiss ge-halten wurde, ob man nicht vor dessen Erreichung tot sein werde; was auf der Stelle Freude bereitete und von überall her zu diesem Zweck Fortschritt versprach, das war auf einmal gleichbedeutend mit ›gut‹ ebenso wie mit ›nützlich‹. (4) Gottesfurcht oder irgendein von Menschen gemachtes Gesetz konnte sie nicht aufhal-ten, da man beim ersten aus der Beobachtung, dass alle ohne Unterschied dahingerafft wurden, den Schluss zog, fromm erwiesene oder auch unterlassene Vereh-rung laufe auf dasselbe hinaus, hinsichtlich von Geset-zesverstößen aber niemand damit rechnete, noch zu Lebzeiten eine rechtliche Ahndung zu erfahren und somit für sein Tun eine Bestrafung auf sich zu ziehen, wohingegen viel bedrohlicher die bereits verhängte über ihnen schwebe, vor deren Herabstürzen es doch nur recht und billig sei, noch ein wenig vom Leben zu haben.
54 Τοιούτῳ μὲν πάθει οἱ Ἀθηναῖοι
περιπεσόντες ἐπιέζοντο, ἀνθρώπων
τ’ ἔνδον θνῃσκόντων καὶ γῆς ἔξω
δῃουμένης. (2) ἐν δὲ τῷ κακῷ οἷα
εἰκὸς ἀνεμνήσθησαν καὶ τοῦδε τοῦ
ἔπους, φάσκοντες οἱ πρεσβύτεροι
πάλαι ᾄδεσθαι ‘ἥξει Δωριακὸς πόλεμος
καὶ λοιμὸς ἅμ’ αὐτῷ.’ (3) ἐγένετο μὲν
οὖν ἔρις τοῖς ἀνθρώποις μὴ λοιμὸν
ὠνομάσθαι ἐν τῷ ἔπει ὑπὸ τῶν
παλαιῶν, ἀλλὰ λιμόν, ἐνίκησε δὲ ἐπὶ
τοῦ παρόντος εἰκότως λοιμὸν εἰρῆσθαι·
οἱ γὰρ ἄνθρωποι πρὸς ἃ ἔπασχον τὴν
μνήμην ἐποιοῦντο. ἢν δέ γε οἶμαί ποτε
ἄλλος πόλεμος καταλάβῃ Δωρικὸς
τοῦδε ὕστερος καὶ ξυμβῇ γενέσθαι
λιμόν, κατὰ τὸ εἰκὸς οὕτως ᾄσονται.
(1) Eine solche Katastrophe war über die Athener ge-kommen, und sie standen unter doppeltem Druck, da drin die Menschen starben und draußen das Land verwüstet wurde. (2) Während dieser Heimsuchung erinnerte man sich natürlicherweise auch des folgen-den Verses, von dem die Älteren behaupteten, dass er schon seit alter Zeit zitiert werde: ›Kommen wird einst der dorische Krieg und mit ihm die Seuche.‹ (3) Es gab nun zwar unter den Menschen auch Wider-spruch, dass nämlich in diesem Vers von den Alten nicht das Wort ›loimos‹ (Seuche), sondern ›limos‹ (Hunger) gesagt worden sei, doch setzte sich unter den gegebenen Umständen, wie zu erwarten, die Ver-sion mit loimos durch; denn die Menschen passten ihre Erinnerung an das an, was sie erleben mussten. Falls aber, denke ich, irgendwann einmal nach diesem ein weiterer Krieg gegen Dorer hereinbricht und es
1.5 Der Begründer des Motivs: Die Pest von Athen bei Thukydides
53
(4) μνήμη δὲ ἐγένετο καὶ τοῦΛακεδαιμονίων χρηστηρίου τοῖς
εἰδόσιν, ὅτε ἐπερωτῶσιν αὐτοῖς τὸν
θεὸν εἰ χρὴ πολεμεῖν ἀνεῖλε κατὰ κράτος
πολεμοῦσι νίκην ἔσεσθαι, καὶ αὐτὸς
ἔφη ξυλλήψεσθαι. (5) περὶ μὲν οὖν
τοῦ χρηστηρίου τὰ γιγνόμενα ᾔκαζον
ὁμοῖα εἶναι· ἐσβεβληκότων δὲ τῶν
Πελοποννησίων ἡ νόσος ἤρξατο εὐθύς,
καὶ ἐς μὲν Πελοπόννησον οὐκ ἐσῆλθεν,
ὅτι καὶ ἄξιον εἰπεῖν, ἐπενείματο δὲ
Ἀθήνας μὲν μάλιστα, ἔπειτα δὲ καὶ τῶν
ἄλλων χωρίων τὰ πολυανθρωπότατα.
ταῦτα μὲν τὰ κατὰ τὴν νόσον γενόμενα.sich trifft, dass eine Hungersnot eintritt, wird man selbstverständlich diese Version zitieren. (4) Man er-innerte sich auch, soweit man darüber Bescheid wuss-te, an das den Lakedaimoniern erteilte Orakel, in dem der Gott ihnen auf die Frage, ob Krieg geführt werden solle, die Antwort gab, bei einer Führung des Krieges mit aller Kraft werde der Sieg auf ihrer Seite sein, und auch selbst zusagte mit anzufassen. (5) Im Hinblick auf diesen Orakelspruch kam ihnen also das, was sich ereignete, ganz entsprechend vor; die Peloponnesier waren kaum eingefallen, da hatte sofort die Krankheit angefangen, und auf die Peloponnes griff sie in nen-nenswertem Umfang nicht über, suchte vielmehr am schlimmsten Athen heim, sodann auch von den an-deren Regionen die mit den meisten Menschen. Das waren die Geschehnisse im Zusammenhang mit die-ser Krankheit. 1.5.2 Thukydides, ‚Hippokrates‘149 und die retrospektive Diagnose Bereits in Kapitel 1.2 wurde für die lateinischen Seuchenbeschreibungen erörtert, inwiefern die präzise Darstellung medizinischer Gegenstände in ihrer Abhängigkeit von medizinischen Fachschriften Teil der Untersuchung sein kann. Zu diesem Zweck wurde die Entwicklung der medizinischen Profession in Rom bis zur Zeit der Autoren geschildert, um mögliche Bezugs- und Rezeptionsquellen zu benennen. Dabei wurde ersichtlich, dass für alle hier behandelten lateinischen Autoren Medizin entweder ohnehin Grundbestandteil des Bildungskanons gewe- sen ist oder zumindest ein temporär erhöhtes Interesse für medizinische Inhalte zu verzeich- nen war. Die Rolle, die Celsus dabei für die Autoren des ersten nachchristlichen Jahrhunderts spielte, nehmen für Thukydides die früheren Schriften des Corpus Hippocraticum ein. Um den
149 Durch die einfachen Anführungszeichen wird auf die Problematik verwiesen, die bis zur Untersu-chung von Weidauer (1954) selten problematisiert wurde und noch heute zu lesen ist, nämlich dass trotz der Vielfalt des Corpus Hippocraticum zumeist von einem Einfluss ‚des Hippokrates‘ die Rede war. Der unzulässigen Eingrenzung auf medizinische Einflüsse (die sicher auch der medizinhisto-risch-philologischen Zusammenarbeit und dem Interesse der retrospektiven Diagnose entsprang) ist die Vielfalt der Einflüsse einer ‚sophistic generation‘ des fünften Jahrhunderts entgegenzuhalten, vgl. Thomas (2017), 567.
54
Einfluss hippokratischer Schriften auf die Geschichtsschreibung des Thukydides zu belegen, spielte in der Forschung die Beschreibung der Pest in Athen lange Zeit eine besondere Rolle:150 In diesem Zusammenhang wurde, wie sich herausstellen sollte, vorschnell und bisweilen ten- denziös von Aussagen über die Beeinflussung der einzelnen Stelle auf die des Gesamtwerks ge- schlossen. Insbesondere Forscher, die eine retrospektive Diagnose vornehmen wollten, mach- ten einen hippokratischen Einfluss wahrscheinlich, um durch die vermeintliche Rationalität der Quelle (vgl. Anm. 154, S. 54) die Verlässlichkeit der Beschreibung zu sichern.151 Deshalb wird im Folgenden ein Überblick über die Forschungsgeschichte der Seuchenbeschreibung vor dem Hintergrund der Diskussion um einen potenziellen Einfluss durch das Corpus Hip- pocraticum gegeben, bevor in einem zweiten Schritt eine Skizze der sich daraus entwickelnden Ansätze retrospektiver Diagnose erfolgt. Die Rezeptionsgeschichte der Historiae hat viele Interpretationsansätze und mit ihnen das Streben nach eindeutigen Etikettierungen des Autors hervorgebracht, wie etwa die Zu- ordnungsversuche des Historikers entweder zur Wissenschaft oder zur Kunst bezeugen:152 Wissenschaftsgeschichtlich sind dabei zwei Positionen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, nämlich von Francis Cornford und Charles Cochrane, zu unterscheiden. Betonte Cornford in seinem Thucydides Mythistoricus vor allem das künstlerische Moment des Werks,153 galt das Geschichtsgebäude des Thukydides für Cochrane auf hippokratischem und damit wissen-150 Nach King/Brown (2015), 455 ist es gerade die Seuchenbeschreibung, welche die eindeutige Tren-nung, die einst zwischen Herodot und Thukydides vorgenommen wurde (Geschichtenerzähler gegenüber wissenschaftlichem Historiker), aufgeweicht und einen vielfältigen Forschungsdiskurs angestoßen hat. Damit gewinnt das Seuchenmotiv auch in wissenschaftsgeschichtlicher Hinsicht an Bedeutung.
151 Dieses Vorgehen steht im Zusammenhang mit dem Bemühen, Thukydides als eine Art Vorreiter naturwissenschaftlich-medizinischer Beobachtung zu etablieren, da er als einer der ersten das Phä-nomen der Ansteckung und der Immunität benannt hatte, was etwa von Holladay/Poole (1979, 295) als wahre Errungenschaft des Historikers angesehen wurde; jedoch muss mit Longrigg (1998, 126) dagegengehalten werden, dass die Beschreibung einer Sache nicht mit deren Verständnis gleichzu-setzen ist: Leven (1991, 134) trifft mit der Ansteckung als „Erfahrungstatsache“ genau den Punkt. Ponchon (2017, 196) hingegen geht zu weit, wenn er in der Ansteckung ein „principe anti-hippocra-tique“ sehen will.
152 Die Erkenntnis, dass eine schlichte Etikettierung des Autors nicht möglich ist, muss als Errungen-schaft der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts angesehen werden. Umfangreich erörtert wurde die Thematik in den vielfältigen Beiträgen in Tsakmakis/Tamiolaki (2013) und Forsdyke (2017). Zusätz-lich zur Kunst trat auch die Idee des Philosophen Thukydides, vgl. zuletzt Ponchon (2017).
153 Bspw. mit Blick auf dessen Entlehnungen aus der Tragödie des Aischylos (vgl. Cornford 1907, 129–152). Mit dieser Position trat zu der dreifachen Aufteilung, die Ebstein (1899, 17, 37, 38f.) für die Forschungsthesen seiner Zeit entwickelt hatte, noch eine vierte Position hinzu: Diejenige, welche die Krankheit als eine Mischung fiktiver und realer Elemente betrachtete, womit eine retrospektive Diagnose per se hinfällig wurde.
1.5 Der Begründer des Motivs: Die Pest von Athen bei Thukydides
55
schaftlich-rationalem154 Fundament erbaut. Diese Idee führte er so weit, dass der Historiker nicht nur während der Seuchenbeschreibung methodisch vom Vater der Medizin zehre (s. u. zu Page), sondern dessen gesamtes Vorgehen Spuren der medizinischen Tradition aufweise.155 Ausgehend von dieser Tradition haben sich viele Forschungsbeiträge angeschlossen, von de- nen im Folgenden zunächst diejenigen in den Blick genommen werden, die ihren Schwerpunkt auf die Seuchenbeschreibung selbst und ihren medizinischen Gehalt gelegt haben.156 Hier sind zuerst Denys Page und Adam Parry zu nennen, da sie zum einen die soeben skizzierten Posi- tionen in ihren lexikalischen Analysen fortführen, zum anderen von großer Bedeutung für die Diskussion der retrospektiven Diagnose sind.157 In seinem vielzitierten Aufsatz aus dem Jahr 1953 setzte sich Page das Ziel, sprachliche Pa- rallelen zwischen der Beschreibung des Thukydides und den Werken des Hippokrates aufzu- zeigen. Dabei schloss er direkt an die Beobachtungen von Cochrane an, der im Beginn der Seuchenbeschreibung eine κατάστασις ( katástasis ), also die Schilderung der sonstigen äußeren Einflüsse auf die Gesundheit der Betroffenen, sah.158 Darüber hinaus wurden die Anleihen hinsichtlich des Konzepts der Krise und die nüchterne Beschreibung der Symptome, wie man sie etwa in den Epidemien finde, hervorgehoben.159 Auf Basis dieser Grundannahme folgte im ersten Teil des Aufsatzes die sprachliche Untersuchung, um im zweiten Teil für Masern154 Zur langen Forschungstradition einer Rationalisierung der hippokratischen Medizin und deren kritischer Wertung in der Moderne vgl. van der Eijk (2011), 23f., zur Übertragung auf Thukydides Rechenauer (1991), 2 Anm. 3 mit Literaturverweisen. Dass Thukydides gerade als Inbegriff wissen-schaftlicher Geschichtsschreibung etabliert werden sollte, sieht Martín (2013) gar als wissenschafts-geschichtliche Ursache für die Verbindung von Thukydides und Hippokrates. Vgl. dazu auch die Wertung von Ebstein (1899), 15, es sei augenscheinlich, „dass seine [sc. des Thukydides] Beschrei-bung eine durchaus objective ist, welche entsprechend dem damaligen Zustande der medicinischen Wissenschaft so sachgemäss ist, dass sie auch ein Arzt jener Zeit nicht hätte besser machen können.“ Im tendenziösen Spiel der Rationalisierung wurde die Komplexität der Quellen demnach unzulässig reduziert.
155 Vgl. Cochrane (1929), 16–34. Dies tut Cochrane jedoch auf in vielerlei Hinsicht unsicherem Funda-ment; dessen Grundidee wird jedoch von Rechenauer (1991) aufgegriffen und mithilfe fundierter terminologisch-funktionaler Vergleiche erwiesen.
156 Bezüglich der Übernahme der Grundthesen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vgl. Connor (1977).
157 Von Vertretern der retrospektiven Diagnose weniger rezipiert, jedoch in seinen Ergebnissen wesent-lich umfangreicher ist Lichtenthaeler (1965), insbes. seine Konkordanz der Epidemien I und III, des Prognostikon und der Seuchenbeschreibung auf den Seiten 34–72. Zum Verhältnis der Epidemien I und III und Thukydides vgl. außerdem Lane Fox (2020), 273–282.
158 Eine Widerlegung dieses Gedankens findet sich bei Parry (1969), 107 und später bei Rechenauer (1991), 15f.
159 Vgl. Page (1953), 98f.
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als Ursache des Massensterbens zu plädieren.160 Parry stellte 16 Jahre später fest, dass von der Forschung gerade der erste Teil des Aufsatzes frequent zitiert wurde, wohingegen der zwei- te nach seiner Widerlegung im Folgejahr beinahe in Vergessenheit geriet,161 und schrieb nun seinerseits eine Widerlegung der Hauptthese: Das methodische Problem bestehe nach Parry darin, dass die aufgezeigten lexikalischen Überschneidungen nicht von einem Fachvokabular in Thukydides zeugten, sondern von einer Schnittmenge von Alltags- und Fachsprache, da sich Letztere noch nicht ausgebildet hatte.162 Dagegen argumentierte wiederum Simon Swain, indem er von einem verknappten Vergleich mit den Epidemien abriet und werkübergreifend Untersuchungen über den Einfluss der hippokratischen Medizin auf Thukydides vornahm.163 Eine solche Ausweitung164 unternahm bereits Georg Rechenauer drei Jahre zuvor und mach- te auf tieferliegende methodische Unzulänglichkeiten der Forschungsdiskussion aufmerksam: So sei zum einen das Konzept ‚Einfluss‘ als reziproker Akt gestalterischer Kreativität nicht ausreichend reflektiert worden (s. Anm. 47, S. 22); zum anderen sei eine Einengung der Be- trachtung auf die Seuchenbeschreibung (auch aufgrund der bereits genannten Einwände) kei- neswegs hinreichend, um zu einem aussagekräftigen Ergebnis über die Beziehung zwischen Thukydides und dem Corpus Hippocraticum zu gelangen.165 Stattdessen müsse ermittelt wer-160 Mit dieser Aufteilung ist der Aufsatz zugleich paradigmatisch für die enge Verflechtung philologi-scher Bemühungen zur sprachlichen Klärung und der retrospektiven Diagnose, s. auch im Folgen-den.
161 Vgl. Parry (1969), 111.
162 Vgl. dazu van der Eijk (1997). Auch die ausschließlich von Thukydides und den Autoren des Corpus Hippocraticum verwendeten Begriffe werden als verständlich ausgewiesen, da sie von alltäglichen Begriffen abgeleitet werden konnten (vgl. Parry 1969, 112f.). Thomas Morgans Suche mit dem TLG im Jahr 1994, die den Gegenbeweis liefern will, ist aufgrund nicht genannter Suchkriterien nur bedingt verlässlich (vgl. Morgan 1994, 199) – eine solche Suche muss jedoch nicht weiter verfolgt werden, um eine hippokratische Einflussnahme nachzuweisen, vgl. im Folgenden zu Rechenauer. Wohl zu weit geht Thomas (2006), 103f., die aufgrund der nur bei Thukydides belegten Begriffe annimmt, der Historiker schreibe seine eigene medizinische Theorie anhand neuer Begriffsprägun-gen; Hypothesen dieser Art klammern den ohnehin stark selektiven Charakter der Überlieferung aus. Argumentativ unzufriedenstellend ist auch die Erklärung, Thukydides habe besondere Begriffe genutzt, da es sich eben um ein außergewöhnliches Ereignis handelte, so Šimon (1999).
163 Vgl. Swain (1994), 309 gegen Parry. Swain blickt ebenso wie vor ihm Rechenauer auf die ἀνθρωπεία φύσις ( anthr ō peía ph ý sis ), ohne jedoch die Tiefe von dessen Untersuchung zu erreichen.
164 Nach Ponchon (2017, 191), der seinerseits in der Tradition von Cornford für eine stärkere Verbin-dung von Tragödie und Thukydides argumentiert, stellt selbst diese Ausweitung eine Form der Ein-engung dar. Jedoch grenzt Ponchons Argumentation (S. 197) gegen einen hippokratischen Einfluss an Polemik, wenn er in der vermeintlichen Nutzlosigkeit der Medizin einen Gegenbeweis sehen will.
165 Vgl. Rechenauer (1991), 35–37. Als Erklärung für die Schwerpunktsetzung auf der Pest kann die programmatische Verbindung der Episode mit dem zweiten Buch sowie mit dem Gesamtwerk an-geführt werden, welche die Schilderung bisweilen als Historiae in nuce hat erscheinen lassen, vgl. Longrigg (2000), 57: „His descriptions of the symptoms of the plague epitomises both his general
1.5 Der Begründer des Motivs: Die Pest von Athen bei Thukydides
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den, inwiefern bewusst übernommene Konzepte aus dem Bereich der Medizin (πρόφασις [ pró- phasis ] und ἀνθρωπεία φύσις [ anthrōpeía phýsis ]) das Geschichtsmodell des Thukydides be- einflusst haben. Rechenauers detaillierte Untersuchung einer Applikation des medizinischen Denkens in funktional bedeutsamer Hinsicht geht entsprechend weit über den Rahmen der Seuchenbeschreibung und damit über unsere Belange hinaus166 – seine Ergebnisse hinsicht- lich der vergleichbaren Vorgehensweise von Arzt und Historiker und dem zugrundeliegenden Menschen- und Weltbild stellen jedoch eine wichtige Grundlage dafür dar, um die Anzie- hungskraft des Thukydides auf Lukrez nachzuvollziehen.167 Schließlich waren mit der Frage nach einem Einfluss der hippokratischen Schriften auf die Seuchenbeschreibung und der (vermeintlich) daraus resultierenden wissenschaftlichen Ob- jektivität eng die Beiträge zur retrospektiven Diagnose verbunden. Dabei wurde in der Regel auf den Aufsatz von Page verwiesen, um die Wissenschaftlichkeit des Autors zu betonen, der von Parry wurde jedoch häufig ausgeklammert.168 Eine Übersicht über die mittlerweile mehr als 30 verschiedenen Diagnosen zu geben, ist hier weder möglich noch zielführend, er- scheint nach der methodischen Positionierung dieser Ausarbeitung auch nicht notwendig.169 Wohl sei auf die Entwicklungen dieses Jahrhunderts hingewiesen, die nach dem Fund eines Massengrabes im Jahr 2001 in Athen und der danach folgenden DNA-Untersuchung dreier Skelette stattgefunden haben: Der Untersuchungsleiter Manolis Papagrigorakis vermutet eine antike Form des Typhus, die sich jedoch entweder stark von der heutigen Form unterschei- de oder in Verbindung mit einer anderen Krankheit aufgetreten sei.170Der jüngste Versuch erfolgte 2015 durch Powel Kazanjian, der (auch auf der Grundlage selektiver Betrachtung) Parallelen zu Ebola zog.171 Diese nicht unumstrittenen Thesen reihen sich (trotz neuester Me- historiographical methodology and his historical purpose. His theme is the desintegration of Greek society.“166 Gleiches gilt für die Betrachtungen von Thomas (2017), 575f., nach denen die ἀκρίβεια ( akríbeia ) des Thukydides eine methodische Schnittmenge mit einigen hippokratischen Schriften aufweist.
167 So fügt Rechenauers abschließende Betrachtung auf Seite 366, der Fokus des Thukydides auf die Krisen des Krieges lege die Deutung nah, dass „Thukydides in dem Ereignis des peloponnesischen Krieges einen pathologischen Prozeß erblickt, der den Organismus der griechischen Staatenwelt stört“, den Historiker in seiner Tendenz sehr gut in das sechste Buch des De rerum natura ein (und präfiguriert Gardner 2019).
168 Vgl. zuletzt Papagrigorakis et al. (2008).
169 Sehr treffend formulierte Leven (1991, 131), die Symptome seien ein „Kaleidoskop. Unter verschiede-nen Aspekten ergeben sich einander widersprechende Interpretationen.“
170 Zur These, Diskussion und Kritik vgl. Papagrigorakis et al. (2006a+b), Shapiro et al. (2006), Papag-rigorakis et al. (2008) und Littman (2009), weiterhin zur Problematik der Verallgemeinerung von Einzelfunden Wahl/Zink (2013), 66–68.
171 Zu dieser problematischen Vorgehensweise kommt hinzu, dass der Autor offensichtlich annimmt, in
Ovids Beschreibung werde die Pest von Athen behandelt, und den Dichter als ergänzende Quelle für
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thoden) in die bisherigen Erkenntnisse ein und geben Anlass zur Wiederholung von Levens Zwischenfazit aus dem Jahr 1991: „Es ist indes deutlich geworden, daß keine der Hypothesen eine hinreichende Übereinstimmung mit dem Quellenzeugnis aufweist.“172 Ob dies den noch unzureichenden Erhebungsinstrumenten oder doch eher der spezifischen Beschaffenheit des Quellentextes zuzuschreiben ist, kann unser Vorhaben mit gutem Gewissen übergehen und in gespannter Erwartung künftigen Forschungsarbeiten überlassen. Gerade weil der Quellen- text in der römischen Tradition aufgrund seines literarischen Wertes geschätzt, aufgegriffen und in fiktionale Beschreibungen umgesetzt wurde, kann der potenzielle ereignisgeschicht- liche Hintergrund ausgeblendet werden: Für Lukrez dürfte sich die Frage nach der Diagnose nie gestellt haben. Folgendes kann mit Blick auf die Beziehung zwischen Thukydides und dem Corpus Hip- pocraticum festgehalten werden: Von Rechenauer ist hippokratischer Einfluss auf das Ge- schichtswerk des Thukydides festgestellt worden, der über rein lexikalische Parallelen weit hi- nausreicht. Die Seuchenbeschreibung selbst ist dabei lediglich eine akzidentelle Beeinflussung, die keine programmatische Funktion im Gesamtwerk einnimmt – die lexikalischen Parallelen sind in ihrer Gesamtheit nicht eindeutig als Einflüsse der zeitgenössischen Fachliteratur aus- zumachen. Unter Berücksichtigung der Beiträge von Thomas könnte es sich bei der Seuchen- beschreibung um eine intellektuelle Auseinandersetzung des Thukydides mit den Medizinern seiner Zeit zu handeln, zu deren Zweck sich der Autor einer ‚medizinischen Schablone‘ be- dient – diese ist es, die im Folgenden erarbeitet wird. 1.5.3 Thukydides’ Krankheitskonzept Die hier durchgeführte Vorarbeit für den medizinhistorischen Teil setzt sich zum Ziel, neben dem in Kapitel 1.5.4 erarbeiteten Schema eine Vergleichsbasis für die lateinische Tradition zu liefern, und beginnt bei der Vorstellung von der Herkunft der Krankheit, d. h. der Ätiologie. Die Suche gestaltet sich bei Thukydides leicht, wenngleich auf den ersten Blick nicht unbedingt ergiebig: Unmittelbar vor dem Symptomkatalog (2,49) überlässt der Historiker es anderen, über die Ursache der Pest zu sprechen:173 die Ereignisgeschichte bemüht (vgl. Kazanjian 2015, 964). Eine Antwort formulierte Berger (2015) mit der Deutung der Influenza. Es bleibt abzuwarten, ob in Anbetracht der antiken Miasmentheorie gar noch Parallelen zur gegenwärtigen Pandemie gezogen werden.172 Leven (1991), 144.
173 Thuc. 2,48,3. Text und Übersetzung nach Weißenberger (2017), 368f.
1.5 Der Begründer des Motivs: Die Pest von Athen bei Thukydides
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λεγέτω μὲν οὖν περὶ αὐτοῦ ὡς ἕκαστοςγιγνώσκει καὶ ἰατρὸς καὶ ἰδιώτης, ἀφ’ ὅτου
εἰκὸς ἦν γενέσθαι αὐτό, καὶ τὰς αἰτίας
ἅστινας νομίζει τοσαύτης μεταβολῆς ἱκανὰς
εἶναι δύναμιν ἐς τὸ μεταστῆσαι σχεῖν· ἐγὼ
δὲ οἷόν τε ἐγίγνετο λέξω, καὶ ἀφ’ ὧν ἄν τις
σκοπῶν, εἴ ποτε καὶ αὖθις ἐπιπέσοι, μάλιστ’
ἂν ἔχοι τι προειδὼς μὴ ἀγνοεῖν, ταῦτα
δηλώσω αὐτός τε νοσήσας καὶ αὐτὸς ἰδὼν
ἄλλους πάσχοντας.
So soll denn über diese Seuche jeder, Arzt wie Laie, seine Meinung äußern, woraus sie wahrscheinlich entstanden ist und welche Ursachen er für wirkungsmächtig genug hält, einen derart radikalen Umschwung auszulösen; ich will beschreiben, wie sie verlief, und die Symptome, von deren Untersuchung ausgehend man, falls sie noch ein-mal hereinbrechen sollte, am besten durch Vorwissen vor Ahnungslosigkeit gefeit sein kann, die will ich darstellen, der ich selbst die Krankheit durchgemacht und andere leiden gesehen habe. Dabei reiht sich die Tatsache, dass Thukydides die Ursachensuche Ärzten und Laien gleicher- maßen zugesteht, in die bereits in 2,47,4 festgestellte Machtlosigkeit der Medizin ein, die in 2,51,2–3 noch weiter ausgeführt wird und als Kritik an der zeitgenössischen Heilkunde gelesen werden kann.174 Der Historiker erteilt Fragen nach der Ursache von vorne herein eine Absage, die womöglich auch aus einem Verdruss über die Diskussion unter den Zeitgenossen resultier- te.175 Der Zusatz in 2,49,1 ὡς ὡμολογεῖτο ἐκ πάντων (‚darin waren sich alle einig‘) kann näm- lich auch dahingehend gedeutet werden, dass die Interpretationen bei allen anderen Aspekten der Krankheit weit auseinandergingen.176 Eine solche Diskussion ist angesichts der vielfältigen physiologischen Theorien, wie sie im Corpus Hippocraticum überliefert sind,177 unter Ärzten gut vorstellbar – dass auch die betroffenen Laien subjektive Theorien aufstellten und selbst nach Lösungen suchten, erscheint selbstverständlich.178 Folglich beschränkte sich der Histo- riker auf eine ‚rein deskriptive Vorgehensweise‘, um (nach eigener Angabe) die Nachwelt auf ein erneutes Auftreten der Krankheit vorzubereiten. Doch wurde die Aussage des Historikers
174 Vgl. Thomas (2017), 570f. Horstmanshoff (1989, 205) sieht den Verzicht auf die Ursachensuche als Re-sultat der in Thuc. 1,22 dargelegten historiographischen Methode und arbeitet die paradigmatische Funktion der Seuchenbeschreibung heraus; vgl. auch Proc. Pers. 2,22,5.
175 Foster (2011, 90 Anm. 7) weist auf den Kontrast zu Lukrezens Ätiologie hin, s. u. Kapitel 3.1.1. Be-merkenswert ist auch die differenzierte Auslegung des Thukydides durch Galen, vgl. Jouanna (2012), 129–135.
176 Vgl. Gomme (1956), 148. In Kapitel 1.2 wurde die empirische Tradition in Rom vorgestellt, die auf die Ursachensuche zugunsten pragmatischer Lösungen verzichtete. Ein wichtiges Argument war dabei die Uneinigkeit der sog. Dogmatiker im Hinblick auf die Ätiologie. Möglicherweise findet sich in Thukydides ein Vorläufer dieses Gedankens wieder.
177 Vgl. Schöner (1964) und die hilfreiche Übersicht bei Golder (2007), 136.
178 Dabei beruhte die Annahme, die Peloponnesier hätten die Brunnen vergiftet, immerhin auf einer tatsächlich vorliegenden Kriegssituation und denkbaren strategischen Maßnahmen (vgl. Horst-manshoff 1989, 156f. und Leven 1997, 28) – ob damit ein Akt des Bioterrorismus vorliegt, wie Papa-grigorakis et al. (2013) meinen, bleibt dahingestellt.
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jüngst in Zweifel gezogen und es wurden Vorschläge für eine subtilere Nennung der Ursache unterbreitet, deren zwei im Folgenden vorgestellt werden. Zum einen führte Paul Demont (zuerst im Jahr 1983, zuletzt in einem Aufsatz 2013) für die Suche nach der Ursache die Pathemata-Liste in 1,23,3 an, in dem der Historiker zahlreiche Begleiterscheinungen des Krieges aufzählt und ihn damit gleichsam in einen kosmischen Auf- ruhr einbettet:179τά τε πρότερον ἀκοῇ μὲν λεγόμενα, ἔργῳ δὲ σπανιώτερον βεβαιούμενα οὐκ ἄπιστα κατέστη, σεισμῶν τε πέρι, οἳ ἐπὶ πλεῖστον ἅμα μέρος γῆς καὶ ἰσχυρότατοι οἱ αὐτοὶ ἐπέσχον, ἡλίου τε ἐκλείψεις, αἳ πυκνότεραι παρὰ τὰ ἐκ τοῦ πρὶν χρόνου μνημονευόμενα ξυνέβησαν, αὐχμοί τε ἔστι παρ᾽ οἷς μεγάλοι καὶ ἀπ᾽ αὐτῶν καὶ λιμοὶ καὶ ἡ οὐχ ἥκιστα βλάψασα καὶ μέρος τι φθείρασα ἡ λοιμώδης νόσος· ταῦτα γὰρ πάντα μετὰ τοῦδε τοῦ πολέμου ἅμα ξυνεπέθετο. Dieser Katalog sei bislang dahingehend falsch aufgefasst worden, dass man vor dem letzten Glied der Aufzählung, der Pest, interpungierte und sie somit von der Dürre losgelöst auffass- te. Demont argumentiert dafür, dass beide Glieder, Hungersnöte und Pest,180 als Resultat der Dürre aufzufassen sind. Entsprechend wäre zu übersetzen: Dasjenige, von dem man vormals auf Grundlage von Gehörtem erzählt hatte, was in Wirklichkeit aber ziemlich selten bestätigt worden war, stellte sich nun als Tatsache her-aus: Erzählungen über Erdbeben, die auf einen Schlag den Großteil eines Landstrichs und das mit äußerster Stärke betrafen; Sonnenfinsternisse, die dichter aufeinanderfolgten, als es die Tradition festhielt; Dürren, unter ihnen manche in großem Ausmaß, von denen sowohl Hungersnöte herrührten als auch die, die nicht am geringsten Schaden anrichtete und einen Gutteil vernichtete: die Pest. Denn dies alles fiel mit diesem Krieg zusammen.181 Gestützt werden soll die These durch Vergleichsstellen in Herodot und Hesiod und durch den Anfang der Pest in Äthiopien (2,48,1), was den Zusammenhang von Hitze und Pest nahelege.182 179 Vgl. Meier (2005a) und zu Parallelen in der Motivtradition Kapitel 3.2.3.
180 Die besondere Art und Weise, in der beide Begriffe in einen Zusammenhang gebracht werden, haben für die griechische Literatur Jouanna (2006), Bruzzone (2017) und Michelakis (2019, 397–400) he-rausgearbeitet. Harper (2017) und Preiser-Kapeller (2021) haben in ihren Studien (mit unterschied-lichem Schwerpunkt) die Beziehung zwischen Klima, dessen Konsequenzen auf die Getreideversor-gung und Pandemien auf antike Großreiche untersucht.
181 Vgl. Bruzzone (2017), 898 und ebenso Weißenberger (2017), 131.
182 Vgl. Demont (2013), 79–81. Zur Rolle des Thukydides bei der Etablierung der südlichen Gebiete als Brutstätte für Seuchen vgl. Flemming (2010), 31f.
1.5 Der Begründer des Motivs: Die Pest von Athen bei Thukydides
61
Demzufolge gebe Thukydides sehr wohl eine Ursache an – sie sei für ihn eine physikalisch er- klärbare Urgewalt. Die Weigerung in 2,48,3 sei damit zu erklären, dass der Historiker keine Aussage über den Grund dafür machen wolle, dass die Pest einen so großen Schaden aus- schließlich in Athen angerichtet habe (Betonung auf dem τοσαύτης μεταβολῆς).183 Problema- tisch an dieser Deutung ist, dass die Syntax in 2,48,3 in schlichter Zweigliedrigkeit sowohl die Frage nach dem Schadenspotenzial als auch nach der Ursache Ärzten und Laien überlässt. Eine einseitige Betonung des zweiten Gliedes wird durch die bloße Konjunktion καί nicht nahege- legt. Bestätigung hingegen erhält Demonts These auch von der römischen Tradition, die (wie noch zu sehen sein wird) eindeutig einen Zusammenhang zwischen Hitze und Pest herstellt.184 Zum anderen schlug Lisa Kallet, wohl auf Basis der religious silences 185 im Geschichtswerk, vor, dass Thukydides eine Einwirkung Apolls nahelege und damit eine göttliche Verursachung annehme. Hierfür baut Kallet ein komplexes Verweisnetz zwischen Thuc. 1,23,3; 1,118,3; 2,17 und 2,54,3 auf. So sei in 1,23,3 der Ausdruck λοιμώδης νόσος ( loimōdes nósos ) ein Hinweis auf göttlichen Einfluss,186 die Deutungen der Orakelsprüche in 2,17 und 2,54,3 sprächen für eine affirmative Tendenz in Thukydides’ Beschreibung und in 1,118,3 werde durch das Einholen des Orakelspruchs in Delphi durch die Spartaner eindeutig festgestellt, dass Apoll jenen beistehen wolle.187 Die Verknüpfung der Pest mit den Peloponnesiern werde sowohl durch den Beginn der Pest (2,47,1) als auch durch die Expeditionen von Hagnon und Perikles (2,55–57) nahe- gelegt. Insbesondere für den Abschnitt 2,55–56,3 will Kallet in der chronologischen und geo- graphischen Textkohärenz ein Indiz für diese Verbindung mit den Peloponnesiern sehen.188 Als Begründung für diese äußerst komplexe Art, den Verursacher der Pest gleichsam in Ver- satzstücken zu offenbaren, nennt Kallet die programmatische Notwendigkeit: „The belief that the plague resulted from divine intervention could not be fitted into the secular empiricism 183 Vgl. Demont (2013), 77.184 Vor diesem Hintergrund ist Demonts Deutung nicht per se „unsinnig“ (Leven 1991, 153 Anm. 173), sondern liegt durchaus im Rahmen des Vorstellbaren – was bleibt, sind die Bedenken bezüglich der tendenziösen Auslegung der Syntax.
185 D. h. die absichtliche Ausblendung der religiösen Dimensionen des Beschreibungsgegenstands, vgl. Hornblower (1992) und mit aktualisierter Literatur zur Rolle der Religion bei Thukydides id. (2011), 25–53.
186 Nur bedingt überzeugender Demont (1983), 349 Anm. 22, der die Umschreibung damit begründet, dass nicht bereits an dieser Stelle die Begriffsverwandtschaft aus 2,54 vorweggenommen werden soll. Michelakis (2019, 394) sieht mit Verweis auf Parry in der Periphrase eine Hervorhebung des zerstö-rerischen Potenzials der Krankheit.
187 Vgl. nach ausführlicher Vorarbeit zur Ausführung des Arguments Kallet (2013), 370–374. Mit Ro-berts (2017, 86) ist an den jeweiligen Stellen womöglich die Perspektive von Thukydides’ Zeitgenos-sen zu sehen.
188 Vgl. Kallet (2013), 365.
62
underpinning Thucydides’ causal framework. A different approach was required.“189 Deshalb habe sich der Historiker für diese sequenzielle Vorgehensweise entschieden. Zunächst ist anzumerken, dass eine derartige Verschlüsselungstechnik von Überzeugungen, die der eigenen Programmatik widersprechen, selbst für den antiken gebildeten Rezipienten nicht unbedingt leicht nachvollziehbar gewesen sein dürfte. Damit ist vor dem Hintergrund unserer Erarbeitung einer Krankheitsvorstellung die vermeintliche Autorenintention von nur bedingter Relevanz. Es ist jedoch erneut auf die Aussagen des Thukydides hinzuweisen, in denen dieser sich eindeutig von Orakeldeutungen und Aberglauben distanziert; damit ist m. E. auch sein Ver- zicht auf eine Ursachenangabe ernster zu nehmen als von Kallet geschehen.190Aufschlussreich ist weiterhin die provokante Gegenfrage, ob der Beschreibung durch die fehlende Festlegung des Thukydides überhaupt etwas fehlt, oder ob Ausgangspunkt der Zweifel nicht eher moderne, nor- mative Vorstellungen vollständiger Krankheitsschilderungen sind: Liest man die Beschreibung als medizinischen Bericht mit dem (vom Autor selbst genannten) Zweck des Wiedererkennens der Krankheit, ist die Verursachung nicht von Interesse, die Enthaltung ein Gebot der Klugheit. Dies gilt ebenso für eine Deutung als soziologische Betrachtung und mit Blick auf die literarische Funktion, nämlich die Inszenierung eines Wendepunktes im Peloponnesischen Krieg. Kurz: Die Angabe der Krankheitsursache ist für Thukydides aus keiner Perspektive notwendig. Anhand der neueren Ansätze von Kallet und Demont wird jedoch ersichtlich, dass sich in der Darstellung des Thukydides Spuren sowohl metaphysischer (sei es nur in Form von Kritik) als auch rein physikalischer Ätiologie ausmachen lassen, die nicht nur ein Abbild der griechischen Vorstellungen zur Krankheitsentstehung sind, sondern kulturübergreifende Extreme der Deu- tung widerspiegeln. Was die Wirkweise der Krankheit im Körper der Erkrankten anbelangt, d. h. zur Pathophysiologie, finden sich wenige Informationen, die sich auf die Flussrichtung der Krankheit von Kopf bis Fuß und ein inneres Feuer beschränken. Diese Vorstellung sowie eine Betrachtung der Symptomatik werden in Kapitel 3.1.3 im Vergleich mit Lukrez ausführ- licher vorgenommen. Auffällig ist, dass Thukydides bei der Beschreibung der Symptome sehr kleinteilig vorgeht und sich eines präzisen Vokabulars bedient.191189 Ibid., 372. Vgl. ebenso Horstmanshoffs (1989, 249) Begründung: „De belangrijkste reden voor het selectieve karakter van Thucydides’ pestbeschrijving moet zijn dat veel aandacht voor religieuze ver-schijnselen en voor wat wij ‚mentaliteitsgeschiedenis‘ zouden noemen niet in overeenstemming is met de conceptie van zijn geschiedwerk.“
190 Vgl. Horstmanshoff (1989), 228f.
191 Vgl. Levens (1991, 137) schöne Zusammenfassung: „Die von Thukydides geschilderte Infektion hat kurz gefaßt folgende Merkmale: Sie beginnt akut im Kopf, ist von Fieber begleitet, verursacht respira-torische sowie gastrointestinale Symptome und bewirkt einen Hautausschlag. Die Kranken sterben am 7. oder 9. Tag, ‚ohne ganz entkräftet zu sein‘ (II,49,6). Komplikationen sind Gangräne der Akren, Erblindung und Gedächtnisverlust. Die Krankheit ist ansteckend und verleiht Immunität. Hunde sterben während der Seuche. Die Mortalität unter jungen Erwachsenen beträgt etwa 25 % (II,58,3).“
1.5 Der Begründer des Motivs: Die Pest von Athen bei Thukydides
63
Von großem Interesse für die Medizingeschichte und die Entwicklung des Motivs in Rom ist die Vorstellung von Ansteckung, die sowohl aus der Perspektive des Erzählers als auch anhand der Reaktionen der Athener ersichtlich wird.192 Für das Ansteckungskonzept ist der folgende Abschnitt entscheidend:193 51,4f. δεινότατον δὲ παντὸς ἦν τοῦ κακοῦἥ τε θυμία ὁπότε τις αἴσθοιτο
κάμνων (πρὸς γὰρ τὸ νέλπιστον
εὐθὺς τραπόμενοι τῇ γνώμῃ πολλῷ
μᾶλλον προΐεντο σφᾶς αὐτοὺς καὶ οὐκ
ἀντεῖχον), καὶ ὅτι ἕτερος ἀφ’ ἑτέρου
θεραπείας ἀναπιμπλάμενοι ὥσπερ τὰ
πρόβατα ἔθνῃσκον· καὶ τὸν πλεῖστον
φθόρον τοῦτο ἐνεποίει. (5) εἴτε
γὰρ μὴ θέλοιεν δεδιότες ἀλλήλοις
προσιέναι, ἀπώλλυντο ἐρῆμοι, καὶ
οἰκίαι πολλαὶ ἐκενώθησαν ἀπορίᾳ
τοῦ θεραπεύσοντος· εἴτε προσίοιεν,
διεφθείροντο, καὶ μάλιστα οἱ ἀρετῆς
τι μεταποιούμενοι·
Das Schrecklichste an der ganzen Misere war aber die Verzweiflung, sobald einer spürte, dass er krank war (denn da sie innerlich sofort jede Hoffnung verloren, gaben sie sich umso mehr auf und hatten der Krankheit nichts entgegenzusetzen), sowie die Tatsache, dass sie, der eine infolge der Pflege des anderen angesteckt , wie das Herdenvieh dahinstarben; das war Hauptursache für die hohe Zahl der Toten. (5) Entweder nämlich man unterließ es aus Angst lieber, zu einander zu gehen , so starben die Menschen eben alleine, und viele Häuser leerten sich mangels eines zur Pflege bereiten Helfers; oder aber man ging hin, so holte man sich dort den Tod, und besonders diejenigen, denen an Anstand und Ehre gelegen war. Mit dem Verb ἀναπιμπλάμενοι ( anapimplámenoi ,‚vollgefüllt‘) scheint der Prozess der An- steckung wiedergegeben worden zu sein. Womit die Menschen sich vollfüllten, ist an dieser Stelle jedoch (noch) nicht erwähnt. Ergänzend kann eine Stelle in den pseudo-aristotelischen Problemata hinzugezogen werden,194 die nicht nur vom Vollfüllen spricht, sondern auch von einem ‚Zündstoff‘ (ὑπέκκαυμα, hypékkauma ), der die Erkrankung verursacht. Durch den Be- griff wird der Ursprung der Krankheit bereits konzeptuell mit Feuer in Verbindung gebracht, was die Quelle mit einigen Beschreibungen der römischen Motivtradition verbindet. Bei Thu- kydides hingegen findet sich keine Integration des Feuers in eine Ansteckungsvorstellung, das Vollfüllen legt vielmehr das Konzept einer Krankheitsflüssigkeit nah.195 Neben dem konkreten
192 Basis für die folgenden Ausführungen sind Pigeaud (1981), 211–223, Grmek (1984), 56–58 und Leven (1991, 1992 sowie 1997, 21–29). Für spätere Ansteckungskonzepte in griechischer und lateinischer Sprache vgl. außerdem Nutton (2000).
193 Text und Übersetzung nach Weißenberger (2017), 372f.
194 Vgl. [Arist.] Pr. I 7, 859 b 15–20.
195 Vgl. LSJ s.v. πίμπλημι I–III, 1405.
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Verbreitungsvorgang durch das Vollfüllen aus der Perspektive des Erzählers findet sich im selben Abschnitt auch ein Hinweis darauf, dass die Ansteckung durch die Pest für die Athener eine Erfahrungstatsache gewesen ist: Diejenigen, die ihre Angehörigen pflegten, starben im Gegensatz zu denen, die diese im Stich ließen.196 Dieses Orientierungswissen hinsichtlich der Krankheitsverbreitung wird von nahezu allen späteren Seuchenbeschreibungen in vergleich- barer Weise widergespiegelt und an manchen Stellen weiter konkretisiert. Die bisherige Untersuchung hat ergeben, dass die Beschreibung des Thukydides mittels des Verzichts auf die Ätiologie ihren Schwerpunkt auf die Schilderung der Symptomatik und der Auswirkungen auf die Gesellschaft legt. Dabei entspricht die Präzision des Symptomkatalogs der genannten Zielsetzung, die Krankheit für die Nachwelt festzuhalten und bei einem er- neuten Auftreten erkennbar zu machen. Um die Entwicklung der lateinischen Motivtradition mit Blick auf ihren Ursprung nachverfolgen zu können, wird die Seuchenbeschreibung des Historikers im Folgenden schematisiert.196 Eine Ausnahme bildeten diejenigen, welche die Krankheit überlebten (Thuc. 2,51,6), da sie sich gegen die Krankheit immun zeigten. Der Aspekt der Immunität wird von der lateinischen Tradition nicht aufgegriffen.
1.5 Der Begründer des Motivs: Die Pest von Athen bei Thukydides
65
1.5.4 Die Pest von Athen – Ein Grundschema Für die Aufstellung des Schemas werden die Abschnitte 2,47,3–54 zugrundegelegt, da Ab- schnitt 54 die Beschreibung mit ταῦτα μὲν τὰ κατὰ τὴν νόσον γενόμενα (‚dies waren die Er- eignisse um die Krankheit‘) beschließt. 1) Prolog: Einbruch der Krankheit: 2,47,3–2,48 I. Ankündigung: Scheitern kultureller Errungenschaften A. Medizin B. Kult ( Ritualität , vgl. Kapitel 1.6) II. Ursprung der Krankheit im Süden III. Plötzlicher Einfall der Krankheit (Rapidität, vgl. Kapitel 1.6) IV. Subj. Theorie der Athener: Brunnenvergiftung 2) Hauptteil a) Ansteckung und Symptombeschreibung a capite ad calcem (2,49, vgl. Kapitel 3.1.3) I. Krankheitsfreiheit des übrigen Jahres II. Symptombeschreibung b) Widernatürlichkeit der Krankheit 1 (2,50) I. Beutetiere rühren die Toten nicht an oder sterben kurz nach Kontakt II. Schwund an Raubvögeln III. Gehäuftes Sterben der Hunde aufgrund ihrer Nähe zum Menschen c) Widernatürlichkeit der Krankheit 2 (2,51,1) I. Variabilität der Symptome II. Pest als Endpunkt jeder anderen Erkrankung d) Krankheit und Pflege/Medizin (2,51,2–6) I. Tod unabhängig von Pflege oder Vernachlässigung II. Des einen Heilmittel, des anderen Gift III. Krankheit befällt alle, unabhängig von der körperlichen Konstitution IV. Das Schlimmste an der Krankheit: A. Verzweiflung nach Feststellung der Erkrankung B. Ansteckung und damit verbunden Morbidität und Letalität66
V. Entscheidung der Angehörigen A. Selbstsucht: Angehörige sterben einsam B. Aufopferung: Pflegende und Angehörige sterben gemeinsam VI. Immunität der Überlebenden (Mitleid mit den Erkrankten) e) Massensterben, Abfall von göttlichem Recht (2,52) I. Enge in der Stadt aufgrund der Evakuierung der Landbevölkerung II. Tote auf den Straßen III. Tote an den Wasserstellen (Gier nach Wasser) IV. Tote in den Heiligtümern (Relativierung Weltliches/Göttliches) V. Bestattungstradition nicht berücksichtigt A. Verbrennen der Leiche auf dem Scheiterhaufen der anderen B. Verbrennen der Leiche auf einer anderen f) Abfall von weltlichem Recht (2,53) I. Umkehrung materieller Verhältnisse II. Relativierung der Zukunftsplanung, Streben nach schnellem Lustgewinn III. Neubesetzung werthaften Handelns: Hedonismus 3) Epilog: Geschichtliche Einordnung und Orakeldeutung (2,54) I. Historische Kontextualisierung: doppelter Druck, Zerstörung außen, Tod im Innern II. Nennung, Deutung und Einordnung mehrerer Orakelsprüche 1.5 Der Begründer des Motivs: Die Pest von Athen bei Thukydides1.6 Exkurs: Das Seuchenmotiv als Vorläufer moderner Katastrophenbetrachtung197
Der moderne Begriff ‚Katastrophe‘,198 mag er auch im griechischen Gewand erscheinen (καταστρέφω, katastréphō ), besitzt in seiner heutigen Verwendungsweise keine direkte Pa- rallele in der griechischen oder lateinischen Sprache.199 Doch selbst heute lassen sich mit Blick auf die Forschungsliteratur zahlreiche und sehr verschiedene Definitionsvorschläge ausmachen, sodass eine Begriffsverwirrung droht und ein eindeutiger Gebrauch in weite Ferne rückt. Die nachfolgenden Überlegungen nehmen deswegen ihren Ausgang bei einer Begriffsklärung, bevor im Anschluss die mediale Darstellung von Katastrophen zunächst mit Holm in größeren Deutungsrahmen, danach mit Horn in einer ihrer Grundfunktionen beleuchtet wird. Aus soziologischer Perspektive hat Lars Clausen als Grundlage für sein makrosoziologisches Katastrophenmodell die drei Dimensionen der Ritualität, Rapidität und Radikalität unter- schieden:200 197 Den Anstoß für die nachfolgenden Überlegungen lieferte François Walters (2010, 75) Bemerkung, es handle sich bei der Seuchenbeschreibung des Lukrez um einen der Prätexte moderner Katastro-phenbeschreibungen, und Galzeranos (2019, 238–243) und Nethercuts (2020) Untersuchungen zum kataklystischen Charakter des sechsten Buchschlusses. Angesichts der strukturellen und teilweise inhaltlichen Überschneidungen dieses Genres mit den antiken Quellen kann die Frage gestellt wer-den, ob möglicherweise auch eine Parallele in der Auffassung dieser Art von Literatur auf Seiten der Autoren und Rezipienten vorlag.
198 Hier und im Folgenden wird der Ausdruck der Naturkatastrophe gemieden, den Deeg (2019, 18f. mit Verweisen) diskutiert hat, der sich schließlich für den neueren Terminus der Umweltkatastrophe ( environmental disaster ) entscheidet. Damit werde zum einen keine Personifikation der Natur, zum anderen keine Ausklammerung der anthropogenen Katastrophen vorgenommen. Da die hier behan-delten Quellen eine solche Personifikation jedoch nicht selten vornehmen, erscheint eine Ersetzung nicht wünschenswert – unter Berücksichtigung von Deegs Einwänden wird deshalb lediglich von Katastrophen die Rede sein.
199 Vgl. Meier (2007), 47–49. Für die bislang ausführlichste Erörterung der wechselhaften Begriffsge-schichte vgl. Briese/Günther (2009). Trotz eines ersten Ansatzes bei Keitel (2010, 331f.; aufgegriffen von Toner 2013, 7) bleibt eine eigene Untersuchung der lateinischen Terminologie der Katastrophe ein Forschungsdesiderat. Erste Recherchen zur Benennung von Seuchen (als Teilmenge der Katas-trophen) haben jedoch ergeben, dass neben den konkreten Begriffen wie lues, morbus, pestis, tabes wie im Griechischen eine Vielzahl von allgemeinen Bezeichnungen verwendet wird ( calamitas [Suet. Cal. 31], clades [Liv. 4,25,4; 6,20,15], malum/mala [Liv. 3,32,2], pernicies [Liv. 5,13,5], sors humana [Plin. nat. 7,147]).
200 Vgl. Clausen (1983), 50–52. Die Auswahl eines soziologischen Modells trägt dem Umstand Rech-nung, dass Katastrophen erst durch ein wechselseitiges Verhältnis zwischen Ereignis und wahrneh-mendem Subjekt bzw. der Gesellschaft hervorgebracht werden (vgl. dazu auch im Folgenden).
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1.6 Exkurs: Das Seuchenmotiv als Vorläufer moderner Katastrophenbetrachtung • Ritualität bezeichnet den Umstand, dass die Betroffenen nach metaphysischen Gründen für die Katastrophe suchen und entsprechende Kultpraktiken vornehmen, um die Ursache (etwa religiöse Befleckung) und mit ihr das Unheil zu beseitigen. • Rapidität bezeichnet das Außerkraftsetzen gewohnter zeitlicher Abläufe, die aufgrund der Katastrophe entweder zu schnell oder zu langsam vonstatten gehen. • Radikalität bezeichnet in Abhängigkeit vom Vernetzungsgrad einer Gesellschaft die Not- wendigkeit der Akzeptanz von Lösungen durch alle Beteiligten. Ein erster Blick auf unsere Quellen offenbart, dass die ersten beiden Dimensionen von beson- derem Interesse sind, da Ritualität Gegenstand der Kritik sein (Lukrez) oder die übliche Art des Umgangs (Grattius, Vergil, Ovid, Seneca, Silius Italicus) mit Seuchen widerspiegeln kann. Die Rapidität trat bereits im letzten Kapitel bei der Behandlung des Thukydides auf, der den zeitlichen Aspekt der Pest wiederholt betont, und wird auch von der römischen Motivtradition immer wieder aufgegriffen werden. Die Radikalität hingegen fände zwar vermutlich in den meisten Fällen eine Entsprechung in der Realität, jedoch nicht in ihrer poetischen Umsetzung, die in der Regel keine Lösungsansätze für die Katastrophe enthält oder sie zumindest weder in ihrer Genese noch in ihrer gesellschaftlichen Umsetzung und Akzeptanz beleuchtet (s. Ka- pitel 3.2). Aufbauend auf diesem soziologischen Modell hat Meier folgende Definition für den Begriff der Katastrophe formuliert: Damit erscheint die Katastrophe als ein Ereignis, das aufgrund seines extrem tiefgrei-fenden (=radikalen) und überraschenden (=rapiden) Charakters zu grundlegenden Ver-
änderungen im sozialen Handeln der Betroffenen führt und dabei metaphysische (=ritu-elle) Deutungsmuster (wie z. B. den Zorn Gottes, das Wirken eines Dämons oder Fluchs usw.) evoziert.201 Ihr liegt die Prämisse zugrunde, dass eine Katastrophe nicht losgelöst von Mensch und Gesell- schaft existiert; vielmehr stellt sie erst das Ergebnis des menschlichen Umgangs mit einem bio- physischen Ereignis dar und ist ein zutiefst soziales Phänomen.202 Aus den Reaktionen auf eine Katastrophe lassen sich folglich sowohl Schlüsse über die Gesellschaft und ihre Institutionen
201 Meier (2003), 32f. Neben dieser Definition, die vor allem von außen auf das Subjekt blickt, ist ergän-zend auch eine aus der Innenperspektive denkbar, nach der die Katastrophe „den bisherigen Sinn zerstört und keine Chance läßt, in einen neuen Sinnhorizont einzutreten“ (Flaig 2007, 38). Diese subjektive Sicht ist insbesondere von Bedeutung, wenn durch die Beschreibungen bestehende Werte-systeme in Frage gestellt werden.
202 Holm (2012, 16) unterscheidet zwischen dem natürlichen Ereignis ( hazard ) und der menschlichen Reaktionsfähigkeit ( vulnerability ), vgl. auch Toner (2013), 12–16.
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als auch über die Menschen selbst anhand der kulturellen Prägung ihres Verhaltens und ihrer Wahrnehmung ziehen.203 Zusätzlich zu der für die Antike nur schwer zu ermittelnden (und in der vorliegenden Ab- handlung vermutlich nur mittelbar greifbaren) tatsächlichen Reaktion der Menschen steht diejenige, die von den Dichtern in ihren Beschreibungen imaginiert wird. Diese Imagination stellt mit ihrer medialen Darstellung und den sich daraus entwickelnden sowie auf sie selbst zurückwirkenden Deutungsmustern durchaus eine eigene Bezugsgröße innerhalb der Genese von Katastrophen dar.204 Isak Holm hat beobachtet, dass die Interpretation eines Ereignisses in seinen Dimensionen Ritualität, Rapidität und Radikalität (ebenso wie ihre schriftliche Ab- bildung und/oder Imagination) in der Moderne regelmäßigen Deutungsmustern folgt, die er als kognitive Schemata (s. Tabelle 1) bezeichnete.205203 Diese kulturelle Prägung im Umgang mit Katastrophen findet sich bereits in Arno Borsts (1981) einflussreichem Aufsatz (vgl. dazu Borsch 2018, 6 mit Anm. 16f.). Für Rom ist die vermeintliche Häufung von bestimmten Katastrophen (=„kaiserlicher Katastrophenhorizont“) unter den ‚guten Kaisern‘ ( boni principes ) bemerkenswert, die Klinkott (2017, 293) herausgearbeitet hat; diese liegt u. a. darin begründet, dass Katastrophen seit Augustus das Potenzial der Notfallhilfe eröffnen, der Princeps sich folglich durch sie beweisen kann, was Caligula sogar zur Klage bewegt, unter seiner Herrschaft seien zu wenig Katastrophen eingetreten (Suet. Cal. 31). Für eine Untersuchung der kai-serlichen Hilfsmaßnahmen vgl. Meier (2012) und Deeg (2019), für ‚Katastrophencluster‘ in der grie-chischen Literatur Bruzzone (2017), 888–895 und zur kulturgeschichtlichen Verbindung von Autori-täten und Seuchen (Seuchen als Gradmesser staatlicher Leistungsfähigkeit) in der Moderne Thießen (2015), 16–18.
204 Vgl. Holm (2012), 22: „[C]rises live a double cultural life as both man-made and media-borne, i.e. humans create disasters and they create images of disasters.“
205 Damit beschreibt Holm (2012, 20) „the mental models allowing us to think about disasters and to deal with them pragmatically.“ Ebendort führt Holm eine Vielzahl anderer Begriffe auf, die seiner Meinung nach stets dasselbe bezeichnen wollen, nämlich eine Form kultureller Prägung, welche die Interpretation einer Katastrophe bestimmt.
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1.6 Exkurs: Das Seuchenmotiv als Vorläufer moderner Katastrophenbetrachtung Kategorie 206 Erläuterung 1) Das ErhabeneBetrachter der Katastrophe wird überwältigt dargestellt, Mi- schung aus Schmerz und Vergnügen 2) TraumaSchwerpunkt auf dem Individuum und den psychischen Konse- quenzen der Erlebnisse 3) ErnstfallKatastrophe löst Normen und Gesetze auf, Freilegung einer tiefe- ren sozialen Ebene207 4) RisikoAusrechnung der Wahrscheinlichkeit der Katastrophe und der Konsequenzen 5) UngleichgewichtFehlendes Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur (bspw. im Rahmen von ökologischer Kritik) 6) Apokalypse‚Ende der Welt, wie wir sie kennen‘ 7) Glück im Unglück208Erweiterung von 6), Ende der Welt dient der Reinigung 8) TheodizeeGottheit als Ursache der Katastrophe Tabelle 1: Kognitive Schemata nach Holm (2012), 24–27. Es wird sich zeigen, dass sich der Großteil von ihnen in den Seuchenbeschreibungen der römi- schen Tradition angelegt findet.209 Eine der größten Übereinstimmungen besteht darin, dass die Katastrophe (d. h. für unser Anliegen die Pest) überwiegend als unbeherrschbares Übel dargestellt wird (1–3, 5–8).210 Die Zeichnung einer solchen Überwältigung des Menschen und der Konsequenzen für die Gesellschaft ist modernen Rezipienten durch zahlreiche Katastro- phenszenarien aus Literatur und Film geläufig, ja erscheint geradezu als notwendige Bedin-
206 Die Reihenfolge bei Holm entspricht einer Betrachtung von Individuum über Gesellschaft hin zum Kosmos.
207 Diese Dynamik beschrieb u. a. Horstmanshoff (1989, 20–22) mit dem soziologischen Begriff der Anomie. Thome (32014, 22) differenziert zwischen Anomie, der Störung der kollektiven Ordnung, und der Anomia, der normativen und kognitiven Desorientierung als psychischer Folge dieser Stö-rung.
208 Die Möglichkeit der Deutung antiker Seuchenbeschreibung vor dem Hintergrund von Schema 6 und 7 nennt bereits Julia Nelson Hawkins (2010, 294f.) in ihrem Artikel zur Seuche in der antiken Literatur.
209 Diese Beobachtung wird auch in der Liste von Horst und Ingrid Daemmrich (1987, 90f., aufgegriffen von Lupton 32012, 52) über Funktionen von Krankheiten in der Literatur bestätigt. Lediglich das Schema ‚Risiko‘ entfällt, da es auf einer statistischen Betrachtung der Katastrophe basiert, vgl. Holm (2012), 25.
210 Dass es bei Grattius, Lucan, Seneca und Silius Italicus letztlich eine Überwindung der Krankheit gibt (wobei die Heilung auf unterschiedliche Arten erfolgt) widerspricht nicht dem Eindruck, den der Sprecher zum Zeitpunkt der noch grassierenden Pest vermittelt.
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gung des Genres. Die Theodizee findet sich beinahe in sämtlichen Beschreibungen, da in der griechisch-römischen Antike eine göttliche Verursachung im Falle einer unbehandelbaren Krankheit nahelag. Umsetzungen des Erhabenen, des Traumas, des Ernstfalls und des Un- gleichgewichts finden sich in einzelnen Beschreibungen. Die große Schnittmenge zwischen der Art, wie Katastrophen in der Moderne und in der Antike imaginiert und interpretiert wor- den sind, spricht für eine konstante Verarbeitungsform menschlicher Erfahrung,211 die sich an kulturellen Erzeugnissen aufzeigen lässt. Im Anschluss an die Erläuterung von Holms kognitiven Schemata stellt sich die Frage, wieso sowohl antike als auch moderne Quellen eine derartige Faszination für die Überwältigung von Mensch und Gesellschaft durch eine Katastrophe bezeugen. Um (zusätzlich zu den Über- legungen in Kapitel 1.1) eine Antwort zu finden, wird im Folgenden auf die komparativen Studien der Literaturwissenschaftlerin Eva Horn zurückgegriffen, die sich in ihrer Forschung mit Katastrophendarstellungen ab der Neuzeit auseinandersetzt und einen Vergleich von an- derer Seite ermöglicht. Horn hat eine Grundfunktion dieses Genres erarbeitet, die eine zufrie- denstellende Begründung für die Frage nach der Faszination menschlichen Scheiterns liefert. Nach Horn wendet [Katastrophen-]Literatur den Blick auf genau das, was Wissenschaft nicht in den Blick nehmen kann: die Frage nach der Belastbarkeit sozialer Bindungen in der Krise, nach der Stärke oder Schwäche des Einzelnen, nach den ethischen Ent-scheidungen, die im Ernstfall getroffen werden, nach den Praktiken und den Dingen, die dem Menschen nach dem Ende der Natur noch bleiben. Fiktion ermöglicht so einen Innenblick auf die Katastrophe, den kein wissenschaftliches Szenario entwer-fen kann, ein Blick auf die Anthropologie des Desasters – und die Bedingungen ihrerErkenntnis.212
211 Vgl. Anm. 22, S. 16. Für den Umgang mit Seuchen erwägt Grimm (1965, 11), ob es „unabhängig von historischen und lokalen Differenzierungen, möglicherweise eine sich im wesentlichen gleich-bleibende Urschicht menschlichen Erlebens gibt und also auch ein Verhalten gegenüber der Wirk-lichkeit, das sich unter gleichen Bedingungen in identischen oder doch wenigstens vergleichbaren Reaktionen äußert.“
212 Horn (2014), 32. Ähnlich auch Cypr. Demetr. 10 zum Verhalten der Heiden während der nach ihm benannten Pest im dritten nachchristlichen Jahrhundert: pestem et luem criminaris, cum peste ipsa et lue vel detecta sint vel aucta crimina singulorum , dum nec infirmis exhibetur misericordia et defunctis avaritia inhiat ac rapina . (‚Du machst Pest und Zerfall verantwortlich, obwohl gerade durch sie die Verbrechen Einzelner entweder aufgedeckt oder verschlimmert worden sind , in-sofern man einerseits den Kranken kein Mitleid entgegenbringt, andererseits den Toten in Raffgier auflauert.‘)
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1.6 Exkurs: Das Seuchenmotiv als Vorläufer moderner Katastrophenbetrachtung Es ist diese Anthropologie der Katastrophe,213 die antike und moderne Katastrophenbe- trachtungen miteinander teilen. Mit Horns Begriff des ‚Experimentalraums‘214 lässt sich um- schreiben, wie die hier behandelten ebenso wie die von ihr untersuchten Quellen anhand der Konfrontation von Mensch und Gesellschaft mit der Katastrophe im literarischen Raum Schlaglichter auf bestimmte Eigenschaften derselben werfen wollen.215 Dabei ist zu betonen, dass diese Art der Beleuchtung nicht ausschließlich erkenntnistheoretischen, sondern auch dramaturgischen und rezeptionsästhetischen Zwecken dient. Denn die geschilderte Reaktion der beschriebenen Personen und Institutionen trifft die Rezipienten nicht im luftleeren Raum, sondern steht in einem bestimmten (Spannungs)Verhältnis zu ihren eigenen (normativen) Er- wartungen und hat ihrerseits eine Reaktion zur Folge.216 Im direkten Vergleich dieser Experimentalräume fällt eine Diskrepanz in der erzählten Zeit ins Auge: In moderner Darstellung erfolgt die Betrachtung der Gesellschaft zumeist zukunfts- bezogen, unabhängig davon, ob die darin verarbeitete Furcht auf atomare Selbstvernichtung oder Epidemien gründete.217 Die hier untersuchten Dichtungen der Antike beziehen sich je- doch durchgehend auf die (myth)historische Vergangenheit, die freilich stets so viele Züge der Gegenwart trägt, dass eine Identifikation auf räumlicher und personeller Ebene erfolgen kann. Die Projektion in die Vergangenheit schafft neben der nötigen Distanz zum Geschehen auch
213 Horn nimmt hier (ebenso Deeg 2019) keine Unterscheidung von Katastrophe und Desaster vor, die jedoch von Asholt (2014, 77) vor allem mit Blick auf die Übersetzbarkeit als notwendig aufgezeigt worden ist. Es wird deshalb im Folgenden von einer ‚Anthropologie der Katastrophe‘ gesprochen.
214 Vgl. Horn (2012), 32.
215 So wurde bspw. in mehreren Untersuchungen die Seuchenbeschreibung des Thukydides (auch auf-grund seiner historischen Programmatik) als Studie überzeitlicher und allgemeingültiger Verhal-tensmuster gedeutet, vgl. Swain (1994), 303 und Graf (2001), 110. Bei Lukrezens Beschreibung spricht Fuhrmann (1968, 29) von einer „Demaskierung“ des Menschen. Im Verlauf der Untersuchung wird sich zeigen, dass es sich hier um einen Grundzug der meisten Umsetzungen des Motivs handelt.
216 Beispielsweise Normen der sozialen Vorstellungswelt ( social imaginary , vgl. Taylor 2004, 23). Neben der Darstellung, wie sich die Menschen zueinander verhalten, spielt jedoch auch das Verhältnis von Mensch und (natürlicher) Umwelt eine große Rolle, das sich für den antiken Rezipienten als reziprok abbildet. Dies zeigt sich durch die häufige Beseelung der Natur und sympathetisches Naturempfin-den (vgl. Anm. 733, S. 267), sodass sich nicht nur der Mensch zur Natur, sondern auch die Natur zum Menschen auf eine bestimmte Art und Weise verhält.
217 Vgl. Horn (2014), passim . Einer der Gründe ist darin zu sehen, dass eine Verursachung durch den Menschen aufgrund technischen Fortschritts gezeichnet wird, um der Gegenwart mahnend den Spiegel vorzuhalten. Dieses technikethische Fundament geht den Katastrophenbeschreibungen der Antike gänzlich ab. Der zugrundeliegende Fortschrittspessimismus, der seinen Ausdruck in zahl-reichen Dystopien findet, hat höchstens eine Parallele in der moralisierenden Kulturkritik der grie-chisch-römischen Antike, die in das vergangene Goldene Zeitalter ein Dasein projiziert, in dem die Menschen noch im Einklang mit der Natur (und damit der göttlichen Ordnung) lebten, vgl. Bury (1920), 8–20 und Stroh (2016).
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die Gewissheit, dass diese Katastrophe die eigene Gesellschaft nicht heimsuchen wird – eine Gewissheit, die insbesondere vor dem Hintergrund der oben herausgestellten Unbeherrsch- barkeit der Seuchen relevant ist. Zum Abschluss dieses Exkurses lässt sich festhalten, dass die Texte der Motivtradition durchaus Ähnlichkeiten mit modernen Katastrophenbeschreibungen aufweisen. Dies hat sich nicht bloß in den größeren Deutungsrahmen von Holms kognitiven Schemata, sondern auch in einer ihrer Grundfunktionen, nämlich in der Konzeption einer Anthropologie der Kata- strophe gezeigt. Hierbei handelt es sich freilich nur um erste Überlegungen, die im besten Fall ein Fundament für weitere Untersuchungen bilden werden.2 Die philologische und motivgeschichtliche Betrachtung der Quellen
Im ersten Teil dieses Kapitels werden unsere Quellen in einer zweisprachigen Ausgabe ge- liefert. Die hier gebotenen Prosaübersetzungen haben nur an wenigen Stellen den Anspruch, eine Verbesserung im Vergleich zu den bereits veröffentlichten zu erreichen. Ihre Berechti- gung erhalten die Übersetzungen darin, die Motivtradition an einer Stelle zu versammeln und damit für weitere Forschung, bspw. für die Komparatistik oder (insbesondere) die Me- dizingeschichte, zugänglich zu machen. Den Übersetzungen vorgeschaltet sind kleine Ein- führungen, die grundlegende Informationen liefern, um die Beschreibungen im jeweiligen Werkzusammenhang zu sehen. Zusätzlich werden die Fußnoten an dieser Stelle dazu genutzt, in solche Fragestellungen einzuführen und ggf. zu ihnen Stellung zu beziehen, deren aus- führliche Behandlung im Hauptteil nicht zielführend, die zu übergehen jedoch ebensowenig angemessen erschien. An die Texte und Übersetzungen schließt sich in Kapitel 2.2 der Zei- lenkommentar an. Da die Originale der Motivtradition im Laufe ihrer Überlieferung immer wieder Eingriffen von außen (bspw. durch Interpolatoren) ausgesetzt waren, wird auch die Textkonstitution diskutiert. Für sachliche Erläuterungen zu Persönlichkeiten und Orten wird auf Appendix D verwiesen. Wenn im Folgenden der Versuch unternommen wird, die Prin- zipien der Übersetzungstätigkeit darzulegen und damit Transparenz zu schaffen, wird damit der Forderung u. a. von Nina Mindt nach einer Methodenreflexion und transparenten Ziel- setzung in der Philologie entsprochen.1 Gleichwohl geschieht dies in vollem Bewusstsein des Verfassers, dass in der Regel eine Diskrepanz zwischen theoretischer Grundlegung und der 1 Vgl. Mindt (2020) passim , insbes. S. 16 mit einer treffenden Benennung des Problems: „Zum anderen kommt dem Übersetzen aus dem Lateinischen in der Wissenschaft eine immer größere Bedeutung zu: Nicht mehr bei allen möglichen Rezipienten von Studien, die im Rahmen der Klassischen Philo-logie und verwandter Fächer entstehen, kann die Fähigkeit, das Lateinische selbst flüssig zu lesen, vorausgesetzt werden. […] Dieser herausragenden Bedeutung und Aktualität des Übersetzens steht eine unterentwickelte wissenschaftliche Reflexion und Theorie des Vorgangs selbst in der Klassi-schen Philologie gegenüber, sowohl was das ‚didaktische Übersetzen‘ auf der einen Seite als auch das ‚literarische und/oder vermittelnde Übersetzen‘ auf der anderen Seite betrifft, wie man das Über-setzen in den beiden eben genannten Felder[n] bezeichnen könnte.“
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übersetzerischen Praxis besteht.2 Trotz dieser systematisch inhärenten Unzulänglichkeit soll hier nicht das (in Humboldts Tradition bisweilen schwärmerisch beschworene) Grab der Un- übersetzbarkeit ausgehoben, sondern erneut ein Versuch des Brückenschlags gewagt werden. Als Ausgangspunkt der Überlegungen dienen zum einen die drei Maximen Wolfgang Schadewaldts, zum anderen Franziska Münzbergs Organon-Modell der Übersetzung. Neben anderen Stellen legte Schadewaldt seine Übersetzungsprinzipien im Nachwort zu seiner Über- setzung der sophokleischen Elektra dar:3Erstens: im Übersetzen das wiederzugeben, was dasteht und so wie es dasteht, näm-lich vollständig, ohne Verkürzungen, Hinzufügungen. Zweitens: die originalen Vorstel-lungen, Begriffe wie Bilder, in ihrer griechischen Eigenart unverändert ohne moderne
Übermalungen auch im deutschen Wortlaut zu bewahren. Und drittens: die Folge dieser
Vorstellungen, ihre „Syntax“ – als Abfolge, wie die Dinge und Kräfte der Welt im Nach-einander dem Dichter vor die Augen kommen – bis zur Stellung des einzelnen Wortes in
Satz und Vers, soweit irgend möglich, auch im Deutschen einzuhalten. Die drei Maximen können unter den Überschriften der (1) Vollständigkeit, (2) Beachtung kul- tureller Idiomatik und (3) Informationsverteilung zusammengefasst werden.4 Mehrfach wurde festgestellt, dass diese Grundsätze nicht hinreichend sind, was freilich nichts an ihrer beding- ten Gültigkeit ändert. So habe ich mich entsprechend der dritten Maxime um eine Wortfolgen- treue bemüht, wo immer es die reduzierende Transposition eines poetischen Textes in Prosa zuließ. Dies findet neben dem Eigenwert der vergleichbaren Informationsverteilung seinen Grund darin, dass eine größtmögliche Entsprechung der Wortfolge den Nutzern der Überset- zung das Verfolgen des Originaltextes auch dann ermöglicht, wenn nur geringe Sprachkennt- nisse des Lateinischen vorhanden sind.5 Zur Einordnung des Stellenwerts der zweiten Maxime für die hier übersetzten Quellen ist ein Blick auf Franziska Münzbergs Adaptation des Bühlerschen Organon-Modells hilfreich:
2 Vgl. Poiss/Kitzbichler/Fantino (2016), 386 mit Anm. 90. Die Ergebnisse dieses maßgeblichen Ar-tikels werden im Folgenden in reduzierter Form nachvollzogen und für unser Vorhaben nutzbar gemacht.
3 Schadewaldt (1964), 77.
4 Vgl. Poiss/Kitzbichler/Fantino (2016), 368.
5 Aus diesem Grund wird auch die Formatierung des lateinischen Textes an der deutschen Überset-zung ausgerichtet.
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2 Die philologische und motivgeschichtliche Betrachtung der Quellen Abbildung 3: Organon-Modell der Übersetzung nach Münzberg (2003), 69; ZT = Zieltext, AT = Ausgangstext Mit Münzberg (im Anschluss an Reiß/Vermeer) wird die Übersetzung als ein Informations- angebot über das Informationsangebot des Ausgangstextes verstanden, in dem der Über- setzer seine Interpretation des Ausgangstextes im Hinblick auf die sprachlichen Funktionen von Darstellung, Ausdruck und Appell protokolliert.6 Dabei wird neben den oben genannten Grundsätzen von Vollständigkeit und Wortfolgentreue ein besonderer Schwerpunkt auf der zweiten Maxime und damit auf der Darstellung liegen:7 Da sich die Ausarbeitung neben dem motivgeschichtlichen auch einem vorstellungsgeschichtlichen Ziel verschrieben hat (s. o. Ka-
6 Vgl. zur Terminologie Münzberg (2003), 60: „Als Darstellung soll alles Begriffliche gelten – gleich ob damit ein direkter, vorkonventioneller Bezug auf außersprachliche Gegenstände und Sachverhalte gemeint ist oder ein von Konventionen geprägter. Als Symptom [~Ausdruck] soll alles gelten, was zeichenhaft auf den Autor (AT-Autor oder Übersetzer = ZT-Autor) bezogen werden kann, entweder auf den Autor als Individuum (Gefühle, Ausdruck ästhetischer Empfindungen, Visionen, Lebens-geschichte) oder auf den Autor als Mitglied einer Kulturgemeinschaft (zeitlich und/oder räumlich und/oder als Sprachgemeinschaft definiert) oder auf den Autor als Mitglied einer sozialen Gruppe innerhalb einer größeren Kulturgemeinschaft. […] Als Appell soll alles gelten, was zeichenhaft auf den Leser (AT-Leser oder ZT-Leser als Mitglieder einer Kulturgemeinschaft oder einer kleineren sozialen Gruppe) bezogen werden kann. Dazu gehören bspw. ästhetische, pädagogische und persua-sive Wirkungen von Texten und Textteilen, die wiederum absichtlich oder unbewusst erzeugt und wahrgenommen werden können.“
7 Zur Schwerpunktsetzung vgl. Poiss/Kitzbichler/Fantino (2016), 373, zu Modellen darstellungsorien-tierten Übersetzens Münzberg (2003), 76–85.
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pitel 1.3 und 1.4), besitzt die Übertragung der originalen Vorstellungen hohe Priorität.8 Diese ergibt sich auch durch die Berücksichtigung der intendierten Nutzer der Übersetzung (ZT- Leser), vornehmlich Medizinhistoriker, die sich gerade nicht mit einer modernisierten Text- fassung zum Zweck bzw. als Ergebnis einer retrospektiven Diagnose zufriedengeben können.9 Vielmehr besteht der berechtigte Anspruch, dass ein möglichst unverfälschter Eindruck der Pest vor dem antiken Vorstellungshintergrund vermittelt wird. Dies impliziert auch, dass nicht vorschnell heutige Theorien und Termini in Form einer Modernisierung in den antiken Text projiziert werden,10 bspw. wenn das Würgen ( singultus ) als Würgereizübersetzt wird, der eine Erkenntnis der Neuzeit darstellt.11 Wollte man die Übersetzung in ein Raster einordnen, so wäre sie hinsichtlich der sprachlichen Formulierung modernisierend-assimilierend, hinsicht- lich der kulturellen Idiomatik archaisierend-distanzierend.122.1 Text und Übersetzung
2.1.1 Lukrez (Lucr. 6,1138–1286)13 1138–1144Ursprung und Einfall der Krankheit (T II + III; s. Kapitel 1.5.4)
1145–11551145–1150Krankheitssymptome am Kopf (T V)
1151–1155Wanderung der Krankheit über Hals und Brust ins Herz (T V)
1156–1162Schwäche, Psychische Begleiterscheinungen, Schlaflosigkeit (T V)
1163–11711163–1167Lauwarme Körpertemperatur, Ausschlag (T V)
1168–1171Brennende Hitze im Innern (T V)
8 Dies mag an einem Beispiel verdeutlicht werden: In der Seuchenbeschreibung des Lukrez findet sich der Vers (6,1147f.): sudabant etiam fauces intrinsecus atrae | sanguine , der in der Übersetzung wie folgt wiedergegeben wird (vgl. auch den Kommentar zur Stelle): „Es schwitzten sogar ihre Kehlen im Innern, schwarz vor Blut“.
9 Ebenso Stolberg (2012), 225: „Historische Analysen zielen meist auf die Rekonstruktion zeitgenössi-scher Erfahrungen, Deutungen und Praktiken. Sie wollen vergangene Wirklichkeiten wieder leben-dig werden lassen, das Erleben und Handeln der Zeitgenossen begreifbar machen. Gerade dies leistet eine Übersetzung in moderne medizinische Begriffe nicht. Sie vermittelt ein falsches Bild.“
10 Zum Begriff vgl. Poiss/Kitzbichler/Fantino (2016), 389.
11 Vgl. Oehler-Klein/Wenzel (2007), 1230f.
12 Vgl. Poiss/Kitzbichler/Fantino (2016), 387.
13 Der Text folgt Deufert (2019), Abweichungen werden in den Anmerkungen in Kapitel 2.2.1 begrün-det. Die Verszählung auf der linken Seite des lateinischen Textes ist durchgehend und wird im Kom-mentar verwendet. Zahlen in eckigen Klammern verweisen auf die ursprünglichen Verszahlen.
78
2.1 Text und Übersetzung1172–11811172–1177Versuch der Selbsthilfe: Sprung in die Brunnen (T XIX)
1178–1181Scheitern der Fremdhilfe: Ohnmacht der Medizin (T XI)
1182–11961182–1189Zeichen des bevorstehenden Todes
1190–1196Zeichen des unmittelbar bevorstehenden Todes
1197–1214
1197–1204Symptome nach der Krise: Kopf (T V)
1205–1212Symptome nach der Krise: Akren und Genitalien (T V)
1213–1214Symptome nach der Krise: Gedächtnisverlust (T V)
1215–1224Unnatürliches Verhalten wilder Tiere (T VI + VII)
1225–1228Ausbleiben eines verlässlichen Heilmittels (T XII)
1229–1237Selbstaufgabe und Ansteckung (T XV)
1238–1245Pflegeverweigerer/Pflegende: Willkür der Krankheit (T XI, XV)
1246–12571246–1252Sterben auf dem Land
1253–1257Landflucht, Verschlimmerung der Situation in der Stadt (T XVII)
1258–1265Massensterben auf den Straßen (T XVIII, XIX)
1266–1271Leichenberge in den Tempeln, Scheitern der religio (T XX)
1272–1286Verfall des Totenkults, fehlendes Geleit, Streit um Scheiterhaufen
T (XXI) Der Dichter Lukrez verfasst in der ersten Hälfte des ersten vorchristlichen Jahrhunderts das epi- kureische Lehrgedicht De rerum natura in sechs Büchern, in dem der Aufbau unserer Welt vom Mikro- bis zum Makrokosmos auf Grundlage einer atomistischen Lehre erklärt wird. 14 Hauptziel des Werks ist die Befreiung des Rezipienten von der Furcht vor dem Tod und vor den Göttern mithilfe epikureischer Erkenntnis. 15 Das hier behandelte sechste Buch beschäftigt sich mit be- sonderen physikalischen Ereignissen, wie etwa dem Blitz, dem Vulkanismus (am Beispiel des Aetna) oder dem Magnetismus. 16 Im Anschluss an seine atomistische Krankheitstheorie (s. u.
14 Mit seiner „konkret-lehrhaften, einschichtigen Direktheit“ (Effe 1977, 66), wobei Letztere nicht im Sinne philosophischer oder gar künstlerischer Oberflächlichkeit aufzufassen ist, schließt Lukrez an die alte Tradition des philosophischen Lehrgedichts an, die mit den Namen Parmenides und Empe-dokles verbunden ist.
15 Vgl. exemplarisch Butterfield (2018). Gegen die Tendenz, Lukrez u. a. aufgrund dieser Programmatik als ‚Proto-Modernen‘ zu verstehen, hat Joseph Farrell (2016) argumentiert.
16 Ein Großteil der Naturphänomene konnte von Zeitgenossen als übles Vorzeichen ( prodigium ) ge-deutet werden, sodass sich auch das sechste Buch vollständig in die Gesamtprogrammatik einglie-dert (vgl. Kany-Turpin 1996, 228). Hervorzuheben ist Pigeauds (1981, 211ff.) Beobachtung einer Ein-gliederung der Pest in eine Pathologie des Universums, die in der Folge mehrfach aufgegriffen (oder durch Wiederholung bestätigt) wurde, vgl. Galzerano (2019), 241f., Kazantzidis (2021), 99–108 und Rover (2021), 36.
79
Kapitel 3.1) beschließt Lukrez das Werk mit der Pest, der „größte[n] Probe der Sinnlosigkeit, die nur der starke Geist intakt besteht“. 17Haec ratio quondam morborum et mortifer aestus finibus in Cecropis funestos reddidit agros
1140 vastavitque vias, exhausit civibus urbem. nam penitus veniens Aegypti finibus ortus, aëra permensus multum camposque natantis, incubuit tandem populo Pandionis omni: inde catervatim morbo mortique dabantur.
Einst machten eine solche Krankheit und ihr todbringender Pesthauch im Reich des Ke-krops Felder zu Friedhöfen, 1140 verwüsteten die Wege, saugten die Bürger aus der Stadt. Denn sie kam, tief in Ägypten entsprungen, durchmaß eine weite Strecke durch die Luft und über die wogenden Fluren und legte sich schließlich auf das gesamte Volk des Pandion: Dann wurden sie scharenweise Krankheit und Tod anheim gegeben.
1145 Principio caput incensum fervore gerebant et duplicis oculos suffusa luce rubentes. sudabant etiam fauces intrinsecus atrae sanguine et ulceribus vocis via saepta coibat atque animi interpres manabat lingua cruore
1150 debilitata malis, motu gravis, aspera tactu. inde ubi per fauces pectus complerat et ipsum morbida vis in cor maestum confluxerat aegris, omnia tum vero vitai claustra lababant. spiritus ore foras taetrum volvebat odorem,
1155 rancida quo perolent proiecta cadavera ritu.
1145 Zu Beginn wiesen sie einen glühend heißen Kopf auf, beide Augen leuchteten tiefrot. Es schwitzten sogar ihre Kehlen im Innern, schwarz vor Blut, und aufgrund von Geschwüren verengte sich der einge-friedete Weg ihrer Stimme; die Vermittle-rin des Geistes, ihre Zunge, triefte vor Blut und 1150 war entkräftet von dem Übel, ließ sich schwer bewegen und fühlte sich rau an. Als dann der Krankheitsstrom durch ihre Kehlen hindurch die Brust angefüllt hatte und den Kranken mitten ins betrüb-te Herz geflossen war, da nun geriet alles, was sie an ihr Leben band, ins Wanken. Ihr Atem wälzte aus dem Mund einen wider-lichen Geruch hinaus, 1155 vergleichbar mit Gestank, wie ihn hingeworfene Kadaver verbreiten.
17 Büchner (1957), 71. Mit dieser Formulierung hat Büchner bereits die Deutung der Pest als didakti-sches Mittel vorgenommen, die zumeist auf einen Beitrag von Diskin Clay (1976, 222f.) zurückge-führt wird. Vgl. mit Literaturverweisen Volk (2002), 82 Anm. 37, Johncock (2016), 233 Anm. 727 und Geller-Goad (2020), 181f.
80
2.1 Text und Übersetzung Atque animi prorsum vires totius <et> omne languebat corpus leti iam limine in ipso: intolerabilibusque malis erat anxius angor adsidue comes et gemitu commixta querella,
1160 singultusque frequens noctem per saepe diemque corripere adsidue nervos et membra coactans dissolvebat eos, defessos ante, fatigans.
Ihre Geisteskraft und ihr ganzer Körper ermatteten vollständig, da sie sich bereits auf der Schwelle zum Tod befanden: Zu den unerträglichen Übeln gesellten sich beständig bange Beklemmung und stöh-nendes Klagen; 1160 unablässiges Würgen ließ oft bei Nacht und bei Tage ständig ihre Sehnen und Glieder zusammenzucken, zersetzte sie, die schon vorher erschöpft waren, indem es sie zermürbte.
Nec nimio cuiquam posses ardore tueri corporis in summo summam fervescere partem,
1165 sed potius tepidum manibus proponere tactum et simul ulceribus quasi inustis omne rubere corpus, ut est, per membra sacer cum diditur ignis. intima pars hominum vero flagrabat ad ossa, flagrabat stomacho flamma ut fornacibus intus.
1170 nil adeo posses cuiquam leve tenueque membris vertere in utilitatem, at ventum et frigora semper. in fluvios partim gelidos ardentia morbo membra dabant nudum iacientes corpus in undas.
[1178] multi praecipites nymphis putealibus alte
1175 inciderunt ipso venientes ore patente: [1174]
[1175] insedabiliter sitis arida corpora mersans aequabat multum parvis umoribus imbrem.
Und nicht hättest du bei irgendjemandem sehen können, dass die Hautoberfläche vor großer Hitze erglühte, 1165 nein vielmehr hätte sie sich für deine prüfende Hand lau-warm angefühlt; und doch hättest du se-hen können, dass, so als wären Geschwü-re in ihn gebrannt, der ganze Körper zur gleichen Zeit gerötet war, wie es die Regel ist, wenn das Heilige Feuer sich über Glie-der ausbreitet. Das Innere der Menschen jedoch brannte bis auf die Knochen, im Magen loderte eine Flamme wie im Innern von Schmelzöfen. 1170 Im Grunde hättest du niemandem etwas Leichtes und Dünnes mit Nutzen auf seine Glieder legen kön-nen, es blieb nur stetiger kühlender Wind. Ein Teil der Kranken übergab die Glieder, welche die Krankheit verbrannte, den eis-kalten Flüssen, sie warfen sich nackt ins Wasser. 1175 Viele fielen kopfüber tief in den Brunnen und kamen gar noch mit offe-nem Mund am Wasser an: ihr unstillbarer Durst ließ ihre ausgetrockneten Körper untergehen und einen reichen Schauer wie ein kleines Rinnsal erscheinen.
81
Nec requies erat ulla mali: defessa iacebant corpora. mussabat tacito medicina timore,
1180 quippe patentia cum totiens ardentia morbis lumina versarent oculorum expertia somno. multaque praeterea mortis tum signa dabantur: perturbata animi mens in maerore metuque, triste supercilium, furiosus voltus et acer,
1185 sollicitae porro plenaeque sonoribus aures, creber spiritus aut ingens raroque coortus, sudorisque madens per collum splendidus umor, tenuia sputa minuta, croci contacta colore salsaque per fauces rauca vix edita tussi.
1190 in manibus vero nervi trahere et tremere artus a pedibusque minutatim succedere frigus non dubitabat. item ad supremum denique tempus conpressae nares, nasi primoris acumen tenue, cavati oculi, cava tempora, frigida pellis
1195 duraque, molle patens rictum, frons tenta minebat . nec nimio rigida post artus morte iacebant.
Keine Ruhepause gab es von dem Übel: er-mattet lagen die Körper da. Die Medizin murmelte und verschwieg ihre Furcht darü-ber, 1180 dass sie ihre Augen, die offenstanden und so oft aufgrund der Krankheit brann-ten, schlaflos nach oben verdrehten. Viele Todeszeichen zeigten sie darüber hinaus: Den Verstand wirbelten ihnen Trauer und Furcht durcheinander, die Stimmung war getrübt, die Miene in hitziger Raserei, 1185 ferner ein beunruhigendes, lautes Ohren-sausen, schnelle oder sehr tiefe, dafür aber seltene Atemzüge, ein schweißnasser, glän-zender Hals, wenig dünner Speichel, gelb gefärbt, der salzig schmeckte und über den Hals kaum durch den heiseren Husten ab-gegeben werden konnte. 1190 An den Händen zogen sich die Sehnen unvermittelt zu-sammen, die Glieder begannen zu zittern und von den Füßen stieg allmählich Kälte hinauf. Ebenso folgende Zeichen, kurz vor dem letzten Augenblick: Verengte Nasen-löcher, eine dünn zulaufende Nasenspitze, tief in den Höhlen liegende Augen, eingefal-lene Schläfen, kalte und 1195 harte Haut, ein schlaffer, offenstehender Mund, die Stirn ragte mit gespannter Haut hervor. Nicht viel später lagen die Glieder in Totenstarre da. Octavoque fere candenti lumine solis aut etiam nona reddebant lampade vitam. quorum siquis, ut est, vitarat funera leti,
1200 ulceribus taetris et nigra proluvie alvi posterius tamen hunc tabes letumque manebat, aut etiam multus capitis cum saepe dolore corruptus sanguis expletis naribus ibat: huc hominis totae vires corpusque fluebat.
In der Regel ließen sie ihr Leben beim strah-lenden Leuchten des achten Tages oder so-gar beim neunten Licht. Wenn einer von ihnen – und die gab es – dem Tod entronnen war, 1200 erwarteten ihn mit widerlichen Ge-schwüren und einem schwarzen Magenaus-fluss später dennoch Auszehrung und Tod; oder es kam, häufig begleitet von Schmerzen im Kopf, eine Menge verdorbenes Blut
82
2.1 Text und Übersetzungaus der verstopften Nase: Hierhin floss die ganze Kraft des menschlichen Körpers.
1205 Profluvium porro qui taetri sanguinis acre exierat, tamen in nervos huic morbus et artus ibat et in partis genitalis corporis ipsas. et graviter partim metuentes limina leti vivebant ferro privati parte virili,
1210 et manibus sine nonnulli pedibusque manebant in vita tamen et perdebant lumina partim: usque adeo mortis metus iis incesserat acer. atque etiam quosdam cepere oblivia rerum cunctarum, neque se possent cognoscere ut ipsi.
1205 Wer ferner dem beißenden Ausfluss widerlichen Blutes entgangen war, dem schlug die Krankheit dennoch auf die Sehnen, die Glieder und selbst auf die Ge-nitalien. Ein Teil der Kranken, der sich von der Furcht vor der Schwelle des To-des überwältigen ließ, lebte fortan durch das Messer des männlichen Glieds be-raubt, 1210 und einige blieben ohne Hän-de und Füße zumindest am Leben, einTeil nahm sich das Augenlicht. Eine der-art nagende Angst vor dem Tod hatte sie befallen. Ja manche packte sogar ein voll-ständiges Vergessen, sodass sie sich nicht einmal selbst erkennen konnten.
1215 multaque humi cum inhumata iacerent corpora supra corporibus, tamen alituum genus atque ferarum aut procul absiliebat, ut acrem exiret odorem, aut, ubi gustarat, languebat morte propinqua. nec tamen omnino temere illis solibus ulla
1220 comparebat avis, nec tristia saecla ferarum exibant silvis. languebant pleraque morbo et moriebantur. cum primis fida canum vis strata viis animam ponebat in omnibus aegre; extorquebat enim vitam vis morbida membris.
1215 Und obwohl auf dem Boden in großer Zahl unbestattet Leichen über Leichen la-gen, sprangen dennoch Vögel und Wildtie-re entweder weit fort, um den beißenden Gestank zu umgehen, oder, wenn sie einen Bissen genommen hatten, sie ermatteten und starben nahebei. 1220 Dennoch erschien in jenen Tagen ohne einen Grund über-haupt kein Vogel, nicht verließen die be-trübten Wildtiere ihre Wälder. Die meis-ten siechten in der Krankheit dahin und starben. Vor allem die treue Hundeseele ließ, überall auf den Wegen verteilt, ihr Le-ben auf grausame Weise; denn die Krank-heit presste das Leben aus ihren Gliedern.1225 Nec ratio remedii communis certa dabatur; nam quod ali dederat vitalis aëris auras volvere in ore licere et caeli templa tueri, hoc aliis erat exitio letumque parabat.
1225 Es gab keine Heilmethode, die allen ge-holfen hätte; denn was den einen in Stand setzte, gesunde Luft im Mund zu halten und die Himmelsgefilde zu erblicken, das scha-dete anderen und brachte ihnen den Tod.
83
Illud in his rebus miserandum magnopere unum1230 aerumnabile erat, quod ubi se quisque videbat implicitum morbo, morti damnatus ut esset, deficiens animo maesto cum corde iacebat, funera respectans animam amittebat ibidem. quippe etenim nullo cessabant tempore apisci
1235 ex aliis alios avidi contagia morbi,
[1245] lanigeras tam quam pecudes et bucera saecla, idque vel in primis cumulabat funere funus.
Jenes war in dieser Lage der größte Jammer, dass ein jeder, 1230 sobald man sich in die Krankheit verstrickt sah, als wäre man zum Tode verurteilt worden, den Mut verlor und mit Trauer im Herzen dalag, nur noch den Tod erwartete und an genau dieser Stelle seine Seele aushauchte. 1235 Denn zu keinem Zeitpunkt hörte die Ansteckung der gierigen Krankheit auf, sich einen nach dem anderen zu greifen, so wie bei wolligen Schafen und gehörnten Rindern, und wohl insbesondere dieser Umstand reihte Tod an Tod.
Nam quicumque suos fugitabant visere ad aegros, vitai nimium cupidos mortisque timentis
1240 poenibat paulo post turpi morte malaque, desertos, opis expertis, incuria mactans. qui fuerant autem praesto, contagibus ibant atque labore, pudor quem tum cogebat obire blandaque lassorum vox mixta voce querellae:
1245 optimus hoc leti genus ergo quisque subibat.
Denn alle diejenigen, die es vermieden, ihre kranken Angehörigen zu besuchen, weil sie allzu gierig waren nach ihrem Le-ben und sich vor dem Tod ängstigten, 1240 bestrafte wenig später mit einem schmäh-lichen und schlimmen Tod die Vernach-lässigung, schlachtete sie, verlassen und hilflos, hin. Diejenigen aber, die geblieben waren, setzten sich der Ansteckung und der Mühsal aus, die zu übernehmen sie in dem Moment ihr Schamgefühl und das einnehmende Wort der Ermüdeten zwan-gen, das sich unter deren Klage mischte: 1245Gerade die Besten nahmen infolgedessen diesen Tod auf sich.
Praeterea iam pastor et armentarius omnis et robustus item curvi moderator aratri languebat, penitusque casa contrusa iacebant corpora paupertate et morbo, dedita morti.
1250 exanimis pueris super exanimata parentum corpora non numquam posses retroque videre matribus et patribus natos super edere vitam.
Außerdem ermattete bald jeder Hirte, Viehtreiber und ebenso jeder rüstige Len-ker des gebogenen Pfluges; im Innern ihrer Hütten lagen die Körper in Armut und Krankheit zusammengedrängt, dem Tod anheimgegeben. 1250 Leblose Körper von El-tern über den Leichen ihrer Kinder hättest du nicht selten sehen können – und anders-herum ließen die Kinder über ihren Müt-tern und Vätern ihr Leben.
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2.1 Text und Übersetzung Nec minimam partem ex agris is maeror in urbem confluxit, languens quem contulit agricolarum
1255 copia conveniens ex omni morbida parte. omnia conplebant loca tectaque: quo magis aestu confertos ita acervatim mors accumulabat. multa siti prostrata viam per proque voluta corpora silanos ad aquarum strata iacebant
1260 interclusa anima nimia ab dulcedine aquarum, multaque per populi passim loca prompta viasque languida semanimo cum corpore membra videres horrida paedore et pannis cooperta perire, corporis inluvie, pelli super ossibus una,
1265 ulceribus taetris, prope iam sordeque sepulta.
Zu einem nicht geringen Teil strömte von den Äckern dieses Trauerspiel in der Stadt zusammen, das die siechende Bauernschar 1255 krank aus jedem Winkel durch ihre Zu-sammenkunft zusammentrug. Alle Orte und Häuser füllten sie: Umso höher häuf-te der Tod die mit dem Pesthauch vollge-stopften Kranken. Viele Körper waren vom Durst niedergestreckt worden, wälzten sich auf den Straßen, viele lagen verteilt bei den Springbrunnen, 1260 ihr Lebenshauch abge-schnitten von der allzu großen Verlockung des Wassers; an vielen Orten und Wegen überall, wo sich das Volk häufig aufhielt, hättest du ausgezehrte Glieder und halb-tote Körper zugrundegehen sehen kön-nen, starrend vor Schmutz, nur mit Tuch-fetzen bedeckt, im Unrat ihres Körpers, nur noch Haut und Knochen, 1265 übersät mit widerlichen Geschwüren und beinahe schon unter Dreck begraben.
Omnia denique sancta deum delubra replerat corporibus mors exanimis onerataque passim cuncta cadaveribus caelestum templa manebant, hospitibus loca quae complerant aedituentes.
1270 nec iam religio divom nec numina magni pendebantur enim: praesens dolor exsuperabat.
Zuletzt hatte der Tod alle geweihten Götter-hallen mit leblosen Körpern gefüllt und alle Tempel der Himmlischen verblieben über und über beladen mit Leichen – Orte, die einst die Tempelhüter mit Gästen gefüllt hatten. 1270 Nichts mehr galt die Furcht vor den Göttern, nichts mehr nämlich das gött-liche Walten: der Schmerz der Gegenwart obsiegte.
[1225] Incomitata rapi certabant funera vasta nec mos ille sepulturae remanebat in urbe, quo prius hic populus semper consuerat humari;
1275 perturbatus enim totus trepidabat et unus quisque suum pro re, < pro tempore > maestus humabat.
Einsame Leichenzüge, die niemand mehr begleiten wollte, führten einen Wettkampf um ihre rasche Durchführung und nicht blieb der althergebrachte Bestattungs-brauch in der Stadt, nach dem dieses Volk vorher stets die Toten zu begraben pflegte; 1275 ganz durcheinander nämlich erzitterte
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multaque < mors > subita et paupertas horrida suasit: namque suos consanguineos aliena rogorum insuper extructa ingenti clamore locabant1280 subdebantque faces, multo cum sanguine saepe rixantes, potius quam corpora desererentur,
[1247] inque aliis alium, populum sepelire suorum certantes; lacrimis lassi luctuque redibant. inde bonam partem in lectum maerore dabantur. ein jeder und beerdigte seinen Angehöri-gen traurig den Umständen entsprechend. Vieles rieten der plötzliche Tod und die grausige Armut: Denn sie legten ihre Blutsverwandten auf Scheiterhaufen, die Andere aufgeschichtet hatten, mit großem Geschrei und 1280 hielten ihre Fackeln da-runter; häufig stritten sie eher mit großem Blutvergießen, als dass sie die Körper ganz aufgäben, und wetteiferten, die Menge ih-rer Angehörigen, einen auf dem anderen, zu bestatten; müde von Tränen und Trauer kehrten sie heim. Dort begab sich ein Gut-teil von ihnen wehmütig ins Bett:
1285 nec poterat quisquam reperiri, quem neque morbus nec mors nec luctus temptaret tempore tali.
1285 Nicht ein Einziger war auffindbar, den nicht Krankheit, Tod und Trauer in dieser Zeit heimsuchten. 2.1.2 Vergil (Georg. 3,470–566)18 Das Lehrgedicht Georgica in vier Büchern ist Vergils zweites (erhaltenes) Werk, wird im Jahr 29 v. Chr. veröffentlicht und thematisiert Land- und Weinbau, Nutztier- und Bienenhaltung im Rahmen einer Subsistenzwirtschaft. 19 Dabei handelt es sich nicht um ein Handbuch für an- gehende Bauern: 20 Unter der Oberfläche verbirgt sich eine vielschichtige Auseinandersetzung mit literarischen Vorbildern, der Philosophie und dem Zeitgeschehen, die sich in die Tradition helle-
18 Der Text folgt Conte (2013), Abweichungen werden in den Anmerkungen in Kapitel 2.2.2 begründet. Die Übersetzung erfolgt ab 3,478 in der Vergangenheit. Sämtliche Formen im Präsens (mit Ausnah-me der Verse 525–530 als allgemeiner Reflexion) werden als historisches Präsens (vgl. LHS II, 306f.) gedeutet.
19 Nelson (1998, 82) hat herausgearbeitet, dass Vergil das beschauliche Landgut aus Hesiods Erga in ein Rom transplantiert, das zu diesem Zeitpunkt mit Landwirtschaft vor allem die Massenproduktion auf den Latifundien verbindet.
20 Zu diesem Zweck wäre es aufgrund seiner hohen Selektivität ohnehin nicht geeignet. Entsprechend stellte bereits Seneca (epist. 86,15) nach einem Georgicazitat fest: ut ait Vergilius noster, qui non quid verissime sed quid decentissime diceretur aspexit, nec agricolas docere voluit sed legentes delectare. („Wie unser Landsmann Vergil sagte, der nicht auf eine möglichst wahre, sondern möglichst an-schauliche Darstellung abzielte und keine Bauern belehren , sondern seine Leser erfreuen wollte .“)
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2.1 Text und Übersetzung nistischer Lehrdichtung einordnet und sie zugleich transzendiert. 21 Das Massensterben der Norischen Viehseuche steht am Ende des dritten Buchs. Hervorgehoben werden muss der besondere Charakter des Buches, das Lukrez auffällig intensiv rezipiert, während es Grundfragen der condicio humana (Liebe und Tod) behandelt. 22 Die Nutztiere fungieren als Spiegel der menschlichen Existenz. 470–473Übergang: Durchseuchung
474–477Ort der Krankheit, Nachwirkung
478–481Ätiologie und allgemeine Charakterisierung der Krankheit
482–485Pathophysiologie
486–493Szene 1: Opfertier, Misslingen der Kultpraxis
494–497Ausbreitung auf andere Nutztiere (Kälber, Hunde, Schweine)
498–503Szene 2: Sturz des Pferdes ( facies Hippocratica primis diebus )
504–508Symptome des alternativen Krankheitsverlaufs ( processus )
509–514Versuch und Scheitern der Behandlung, Suizid der Pferde
515–519Szene 3a: Tod des ersten Stiers, gemeinsame Trauer
520–524Szene 3b: Wandeln des überlebenden Stiers, Tod des zweiten Stiers
525–530Klage über Ungerechtigkeit und gestörten Tun-Ergehen-Zusammenhang
531–533Misslingen der Orthopraxie
534–536Vertierung des Menschen
537–547Travestie des Goldenen Zeitalters ( saeculum aureum )
548–555Scheitern der Medizin (pharmakologisch/religiös), Klimax des Sterbens
556–558Aufhäufen der Leichen und Lernprozess der Menschen
559–562Unbrauchbarkeit natürlicher Ressourcen
563–566Ansteckung des Menschen
21 Vgl. Effe (1977), 80–84, dazu 85: „Die innere Anteilnahme an dem Lehrstoff gründet nicht so sehr auf diesem als solchem, d. h. auf dem praktischen Nutzen und der konkreten Funktion der Landwirtschaft für die Befriedigung elementarer menschlicher Bedürfnisse […], als vielmehr auf dem Bewußtsein von der das unmittelbar Praktische weit übersteigenden umfassenden Bedeutsamkeit des Gegenstandes im Hinblick auf die Wiedergewinnung individuellen wie staatlichen Glücks.“ Eine gute Übersicht über die Vielfalt an Gesamtinterpretationen liefern Volk (2002), 120–122 und Zanker (2011).
22 Vgl. Liebeschuetz (1965), 75 und Gale (2000), 45: „The book as a whole is structured as a kind of DRN [ De rerum natura ] in miniature“ und in der Folge Henderson (2001, 17), der von einer „syn-thetic decoction“ spricht. Die Positionen bezüglich des spezifischen Verhältnisses zwischen Lukrez und Vergil hat Farrell (1991, 169) gegenübergestellt und zu Recht darauf hingewiesen, dass jeweils im Einzelfall geprüft werden müsse, ob Übereinstimmungen tatsächliche Reminiszenzen oder gar Widerlegungen darstellen. Eine besondere Form der Auseinandersetzung mit dem Vorgänger sieht Freer (2019) hinsichtlich der epikureischen Poetik.
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470 Non tam creber agens hiemem ruit aequore turbo quam multae pecudum pestes. nec singula morbi corpora corripiunt, sed tota aestiva repente, spemque gregemque simul cunctamque ab origine gentem. tum sciat, aërias Alpis et Norica si quis
475 castella in tumulis et Iapydis arva Timavi nunc quoque post tanto videat desertaque regna pastorum et longe saltus lateque vacantis.
470 Nicht toben in so dichter Abfolge Winde auf dem Meer, die einen Sturm herantra-gen, wie zahlreich Viehseuchen auftreten. Aber Krankheiten befallen nicht einzelne Leiber, sondern ganze Sommerlager auf einen Schlag, sie raffen mit der Herde zu-gleich die Hoffnung hinweg und reißen die gesamte Linie mitsamt der Wurzel aus. Die-ser Tatsache dürfte man sich dann bewusst werden, wenn man die Alpen in luftiger Höhe, 475 die norischen Siedlungen auf den Hügeln und die Fluren um den japydischen Timavus auch jetzt noch, nach so langer Zeit, sieht: verlassene Königreiche der Hir-ten und weit und breit leerstehende Weiden. Hic quondam morbo caeli miseranda coorta est tempestas totoque autumni incanduit aestu
480 et genus omne neci pecudum dedit, omne ferarum, corrupitque lacus, infecit pabula tabo. nec via mortis erat simplex, sed ubi ignea venis omnibus acta sitis miseros adduxerat artus, rursus abundabat fluidus liquor omniaque in se
485 ossa minutatim morbo conlapsa trahebat.
Hier entstand einst aufgrund einer Erkran-kung des Himmels ein unheilbergendes Klima, erglühte in der für einen Herbst größtmöglichen Hitze 480 und raffte jede Art von Vieh, jede Art von Wildtieren hinweg und vergiftete deren Wasserstellen, verdarb deren Futter mit Fäulnis. Und nicht kam der Tod nur auf einem Wege, sondern ge-rade hatte ein brennender Durst die Venen zur Gänze durchzogen und die Glieder der Elenden verschrumpeln lassen, da quoll immer wieder schwallartig Flüssigkeit auf 485 und verflüssigte vollständig die Knochen, indem sie diese im Laufe der Krankheit allmählich in sich zusammenfallen ließ. Saepe in honore deum medio stans hostia ad aram, lanea dum nivea circumdatur infula vitta, inter cunctantis cecidit moribunda ministros; aut si quam ferro mactaverat ante sacerdos,
Mehrmals stand mitten in der Opfer-handlung zu Ehren der Götter ein Opfer-tier am Altar, als ihm gerade das Woll-tuch und die Binden aus schneeweißem Leinen angelegt wurden, und sackte ster-bend zwischen den zögernden Dienern zusammen; oder wenn es mit dem Messer
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2.1 Text und Übersetzung490 inde neque impositis ardent altaria fibris, nec responsa potest consultus reddere vates, ac vix suppositi tinguntur sanguine cultri summaque ieiuna sanie infuscatur harena. hinc laetis vituli vulgo moriuntur in herbis
495 et dulcis animas plena ad praesepia reddunt; hinc canibus blandis rabies venit, et quatit aegros tussis anhela sues ac faucibus angit obesis. vorher ein Priester geschlachtet hatte, 490brannten weder Altäre, auf die man die Eingeweide gelegt, noch konnte der Se-her Antworten erteilen, den man um Rat gebeten hatte; kaum wurden die Messer unter den Opfern von Blut benetzt – nur die Oberfläche des Sandes schwärzte sich von einer mageren Menge Eiter. Von da an starben Kälber überall im dichten Gras 495 und hauchten ihre jungen Seelen an der vollen Futterstelle aus; von da an überkam liebenswürdige Hunde die Ra-serei, ein Husten ließ erkrankte Schweine keuchend erzittern und schnürte ihnen die geschwollenen Hälse zu.
Labitur infelix studiorum atque immemor herbae victor equus fontisque avertitur et pede terram
500 crebra ferit; demissae aures, incertus ibidem sudor et ille quidem morituris frigidus; aret pellis et ad tactum tractanti dura resistit. haec ante exitium primis dant signa diebus.
Es strauchelte ohne Erfolg bei seinen Bemühungen das preisgekrönte Pferd, wandte sich ab – nicht dachte es daran, zu fressen und zu trinken – 500 und schlug ständig mit dem Huf auf den Boden; he-rab hingen die Ohren, um diese herum brach unregelmäßig Schweiß aus, und zwar jener kalte, der bei Lebewesen auf-tritt, die bald sterben; trocken war die Haut und erwies sich bei Überprüfung als hart und unnachgiebig. Diese Anzei-chen zeigten die Tiere vor ihrem Tod in den ersten Tagen der Krankheit. sin in processu coepit crudescere morbus,
505 tum vero ardentes oculi atque attractus ab alto spiritus, interdum gemitu gravis, imaque longo ilia singultu tendunt, it naribus ater sanguis, et obsessas fauces premit aspera lingua.
Wenn hingegen erst im Fortschreiten die Krankheit zu erstarken begann, 505 dann brannten die Augen und die Atemzüge wurden tief, bisweilen unterbrochen von lautem Stöhnen, und die Eingeweide im Innern spannten sie durch andauerndes Würgen, aus den Nüstern floss schwar-zes Blut und den ohnehin schon ange-schwollenen Rachen verschloss die raue
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profuit inserto latices infundere cornu510 Lenaeos: ea visa salus morientibus una; mox erat hoc ipsum exitio, furiisque refecti ardebant ipsique suos iam morte sub aegra
(di meliora piis, erroremque hostibus illum!) discissos nudis laniabant dentibus artus.
Zunge. Es half, mittels eines Hornes Wein einzuflößen; 510 dieser schien die einzige Rettung für die Sterbenden. Bald war ge-rade er ihr Untergang: einmal erstarkt, entbrannten sie im Wahn, krank und dem Tode nah rissen sie selbst (mögen die Götter den Treuen ein besseres Los, jene Irrung aber den Feinden zukommen las-sen!) mit bloßen Zähnen ihre Glieder in Fetzen.
515 Ecce autem duro fumans sub vomere taurus concidit et mixtum spumis vomit ore cruorem extremosque ciet gemitus. it tristis arator maerentem abiungens fraterna morte iuvencum atque opere in medio defixa reliquit aratra.
520 non umbrae altorum nemorum, non mollia possunt prata movere animum, non qui per saxa volutus purior electro campum petit amnis; at ima solvuntur latera, atque oculos stupor urget inertis, ad terramque fluit devexo pondere cervix.
525 quid labor aut benefacta iuvant? quid vomere terras invertisse gravis? atqui non Massica Bacchi munera, non illis epulae nocuere repostae: frondibus et victu pascuntur simplicis herbae, pocula sunt fontes liquidi atque exercita cursu
530 flumina, nec somnos abrumpit cura salubris.
515 Aber schau dort: Unter dem harten Pflug brach der Stier dampfend zusam-men, spuckte blutigen Speichel und gab einen letzten Seufzer von sich. Da ging der Bauer betrübt hin, band das Jungtier, das um den Tod seines Bruders trauerte, ab und ließ den Pflug unvollendeter Din-ge in der Erde stecken. 520 Nicht konnten die Schatten hochgewachsener Haine, nicht weiche Wiesen sein Gemüt anrüh-ren, nicht der Strom, der glitzernder als Bernstein über Felsen sich ergoss und in die Ebene strömte; stattdessen erschlaff-te seine Flanke am Boden, in den müden Augen verbreitete sich Leere und der Hals sank durch das Gewicht des Kopfes auf die Erde nieder. 525 Was nützen Mühe und Wohltaten? Was nützt es, mit dem Pflug die schwere Erde umgewälzt zu haben? Dabei schadeten ihnen doch nicht die massischen Gaben des Bacchus, auch nicht mehrgängige Mahle: Von Gräsern und schlichter Kräuterkost ernähren sie sich, zum Trank dienen ihnen das Nass der Quellen und die schnellströmenden Bäche, 530 nicht unterbricht Sorge ihren gesunden Schlaf.
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2.1 Text und Übersetzung Tempore non alio dicunt regionibus illis quaesitas ad sacra boves Iunonis et uris imparibus ductos alta ad donaria currus. ergo aegre rastris terram rimantur et ipsis
535 unguibus infodiunt fruges, montisque per altos contenta cervice trahunt stridentia plaustra. non lupus insidias explorat ovilia circum nec gregibus nocturnus obambulat: acrior illum cura domat; timidi dammae cervique fugaces
540 nunc interque canes et circum tecta vagantur. iam maris immensi prolem et genus omne natantum litore in extremo ceu naufraga corpora fluctus proluit; insolitae fugiunt in flumina phocae. interit et curvis frustra defensa latebris
545 vipera et attoniti squamis astantibus hydri. ipsis est aër avibus non aequus, et illae praecipites alta vitam sub nube relinquunt.
Zu keinem anderen Zeitpunkt, so sagt man, seien in jenen Gegenden für das Heiligtum der Iuno Kühe gesucht und die Wagen von einem ungleichen Paar von Auerochsen zu den Tempelanlagen in den Bergen gezogen worden. Infolgedessen riss man die Erde mühevoll mit Hacken auf, 535 grub mit bloßen Händen die Saat ein und zog die knarzenden Wagen mit der An-strengung des eigenen Nackens durch die hohen Gebirgszüge. Nicht kundschaftete der Wolf das Gebiet rund um das Schaf-gehege nach einem Hinterhalt aus, nicht umschlich er nachts die Herden: eine är-gere Sorge zähmte ihn. Die furchtsamen Gämsen und schnellläufigen Hirsche 540 schweiften nun zwischen Hunden und Häusern umher. Daraufhin spülte die Strömung das Volk des unermesslichen Meeres und jede Art schwimmender We-sen an den Rand der Küste wie die Körper von Schiffbrüchigen; wider ihre Lebens-art flohen die Robben in die Flüsse. Auch starb die Viper, die vergeblich der Schatten ihrer Höhle verteidigte, 545 und erstarrt lagen mit aufgestellten Schuppen die Was-serschlangen da. Gerade für Vögel war die Luft schädlich und sie stürzten ab – ihr Le-ben ließen sie hoch in den Wolken zurück. Praeterea iam nec mutari pabula refert, quaesitaeque nocent artes: cessere magistri,
550 Phillyrides Chiron Amythaoniusque Melampus. saevit et in lucem Stygiis emissa tenebris pallida Tisiphone Morbos agit ante Metumque, inque dies avidum surgens caput altius effert:
Ferner nützte es nicht mehr, andere Futtergründe aufzusuchen, und die er-suchten Heilkünste schadeten nur: Die Gelehrten zogen sich zurück, 550 der Phillyride Chiron und des Amythaonius Sohn Melampus. Jetzt tobte Tisiphone, die, bleich aus dem stygischen Dunkel ins Licht entlassen, Krankheiten und Furcht
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balatu pecorum et crebris mugitibus amnes555 arentesque sonant ripae collesque supini; iamque catervatim dat stragem atque aggerat ipsis in stabulis turpi dilapsa cadavera tabo, donec humo tegere ac foveis abscondere discunt. vor sich hertrieb, und erhob das Haupt in ihrer Gier Tag um Tag höher. Vom Blöken der Schafe und dem lauten Muhen der Kühe hallten die Ströme, 555 ausgetrock-neten Ufer und die sich neigenden Hügel. Schon tötete sie scharenweise und schich-tete in den Ställen die durch die Fäulnis entstellten, eingefallenen Kadaver auf, solange bis man lernte, diese mit Erde zu bedecken und in Löchern zu verscharren. nam neque erat coriis usus, nec viscera quisquam
560 aut undis abolere potest aut vincere flamma; ne tondere quidem morbo inluvieque peresa vellera nec telas possunt attingere putris; verum etiam invisos si quis temptarat amictus, ardentes papulae atque immundus olentia sudor
565 membra sequebatur, nec longo deinde moranti tempore contactos artus sacer ignis edebat.
Denn weder waren die Häute brauch-bar noch konnte man die Krankheit im Fleisch 560 mit Wasser vernichten oder mit Feuer bezwingen; man konnte nicht einmal die Wolle, die von der Krankheit und der Fäulnis zerfressen war, absche-ren oder gar die fauligen Fäden anrühren. Wenn jedoch einer die krankmachenden Mäntel trug, zogen sich brennende Bläs-chen und stinkender Schweiß über die schmutzigen Glieder 565 und nicht viel später zerfraß an den berührten Stellen das heilige Feuer die Glieder. 2.1.3 Grattius (Gratt. 366–380)23 Die Cynegetica des Grattius sind ein nur teilweise (in ~541 Versen) überliefertes Lehrgedicht über die Jagd, 24 das vor 8 n. Chr. verfasst wurde. Dass in ihm Lukrezens De rerum natura und
23 Der Text folgt Enk (1918), Abweichungen werden in den Anmerkungen in Kapitel 2.2.3 begründet.24 Wie Carin Green in ihrem vielzitierten Aufsatz von 1996 zeigen konnte, war die Jagd nicht nur seit der Spätrepublik, sondern bereits (als etruskisches Erbe) von der Gründungszeit an eine beliebte Be-tätigung der Römer. Die von Grattius beschriebenen Wissensbestände gehörten in ihrer Detailtiefe vermutlich nicht zum unmittelbaren Tätigkeitsfeld der Rezipienten, welche die Jagd nicht aus Not-wendigkeit, sondern als Sport betrieben; zur Differenzierung der Jagdformen (Notwendigkeit, Sport, ‚Teambuilding‘) vgl. Green (1996), 226. Grattius hebt hingegen den zivilisatorischen Beitrag der Jagd hervor, die den Menschen erst kulturelle Entwicklungen ermöglichte, vgl. Effe (1977), 155f.
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2.1 Text und Übersetzung Vergils Georgica eine intensive Rezeption erfahren, 25 schafft die Berechtigung, das Gedicht an dieser Stelle der Arbeit zwischen Vergil und Ovid aufzuführen. 26 Neben der Ausrüstung für die Jagd und die Hundezucht handelt ein bedeutender Teil des Gedichtes von inneren Krankheiten, deren Behandlung die Pest mahnend vorangestellt ist. Aufgrund der Unbekanntheit des Autors und des geringen Umfangs der Beschreibung wird einer tabellarischen Gliederung eine kurze ausformulierte Einführung vorgezogen.27 Mit Blick auf die Stellung im Gesamtwerk ist zu bemerken, dass die Beschreibung nicht am Ende eines Buches, sondern inmitten eines Lehrvortrags steht. Kurz zuvor wurden leichte- re innere und äußere Verletzungen von Hunden, im Anschluss werden einzelne, schwerere Krankheiten ( rabies , scabies , robur , s. auch Kapitel 3.1.3) beschrieben. Es handelt sich bei der Seuchenbeschreibung nicht um die Schilderung einer bestimmten Krankheit, sondern um ein drohendes Potenzial aller im Folgenden genannten Krankheiten, das sich dann aktuali- siert, wenn nicht unmittelbar gehandelt wird bzw. werden kann.28 Die Beschreibung hat folg- lich expositorischen Charakter und erfüllt eine Scharnierfunktion zwischen leichteren und schwereren Krankheiten. Es ist auffällig, dass sich sämtliche Symptome erst auf die sich an- schließenden Krankheitsbeschreibungen verteilen und sich die Auseinandersetzung mit den
25 Für eine Gegenüberstellung vgl. Formicola (1988), 28. Die Rezeption findet insbesondere auf der ästhetischen Ebene statt, gegenüber der Bernd Effe (1977, 157) die Sachebene für Grattius als aus-schlaggebend hervorgehoben hat: „Grattius kommt es auf eine sachlich adäquate und bis in techni-sche Details genaue und zutreffende Entfaltung seines Lehrgegenstandes an. […] Der Autor strebt tatsächlich praktische Belehrung an, und er versäumt nicht, wiederholt auf den konkreten Nutzen seiner Ausführungen hinzuweisen“. Ob von der Detailtiefe auf eine „personale ed appassionata espe-rienza venatoria“ (Sestili 2011, 24) geschlossen werden kann, ist zumindest in Frage zu stellen (s. Anm. 48, S. 22).
26 Verdière (1963), 32–44 hat versucht, eine Abhängigkeit von der Aeneis nachzuweisen, während Kayachev (2018) zwar eine gegenseitige Beeinflussung in den Parallelen von Jagd und Krieg an-nimmt, sich jedoch nicht auf eine Chronologie der Autoren festlegen will. Angesichts dieser (m. E. angebrachten) Vorsicht ist es umso verwunderlicher, dass einige Kommentatoren eine Abhängig-keit von Ovids Metamorphosen für ihre Erklärungen vorauszusetzen scheinen, die beinahe zwei Jahrzehnte später erschienen sind; vgl. bspw. Formicola (1988), 180 zu Vers 366 altior illis : „Ma, oltretutto, Grattio qui ri produce una clausola ovidiana, Met . XI 513“ (Hervorhebung FN).
27 Auch in der dritten Neuauflage seiner Literaturgeschichte hat Michael v. Albrecht keine Ausfüh-rungen zu Grattius hinzugefügt – eine Lücke, die der Sammelband von Green (2018) zu schließen versucht. Dass die Beschreibung des Grattius weder von Vallillee noch von Grimm berücksichtigt wurde, daneben in den Kommentaren zu den anderen Seuchenbeschreibungen kaum einen Verweis erhielt, ist zum einen der genannten Unbekanntheit geschuldet (vgl. zum Problem Henderson 2001 [bemüht komisch] und in Greens Sammelband kürzlich Gale 2018, 94f.); zum anderen wird sich zeigen, dass die Beschreibung der Cynegetica auf vielfältige Weise mit der Tradition bricht und dem-entsprechend leichter zu übersehen ist als etwa die in Ovids Metamorphosen .
28 Der Überschrift bei Green (2018, 12) „canine diseases“ ist daher völlig zuzustimmen.
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Vorgängern hier auf die Ursachensuche beschränkt. Mit Lucan, Seneca und Silius Italicus verbindet den Dichter, dass es im Gegensatz zu Lukrez und Vergil eine Überwindung der Pest geben kann.29 Grob gliedert sich die Schilderung in zwei fast gleich große Teile (366–372 und 373–381), wobei der erste die Pest im Allgemeinen (366–368, drei Verse wie bei Lucr. 6,1138–1140) und ihre Wirkung (369–372), der zweite die Ätiologie (373–376) und ihre Be- handlung (377–380) zum Inhalt hat.Illa gravis labes et curis altior u llis, cum vitium causae totis egere latentes corporibus seraque aperitur noxia summa. inde emissa lues et per contagia morbi
370 venere in volgum iuxtaque exercitus ingens aequali sub labe ruit, nec viribus ullis aut merito veniast aut spes exire precanti.
Jenes ist ein schweres Leiden und geht tiefer als alle Bemühungen, wann immer die Ursachen eine Krankheit zunächst im Verborgenen vollständig in die Körper treiben und sich erst zu spät der Schaden, am Höhepunkt, zeigt. Dann ist die Pest schon entfesselt und über Berührung 370 sind die Krankheiten auf deine Meute übergegangen, kurz darauf bricht das gewaltige Heer unter dem glei-chen Leiden zusammen: Weder Körperkraft noch Verdienst verschaffen Gnade, kein Flehen lässt ein Entkommen erhoffen. quod sive a Stygia letum Proserpina nocte extulit et Furiis commissam ulciscitur iram,
375 seu vitium ex alto spiratque vaporibus aether pestiferis, seu terra suos populatur honores: fontem averte mali. trans altas ducere calles admoneo latumque fuga superabitis amnem. hoc primum effugium leti: tunc ficta valebunt
380 auxilia et nostra quidam redit usus ab arte.
Sei es, dass aus dem stygischen Dunkel Proserpina das Sterben an die Erdoberfläche gebracht und die Rache ihres Zorns den Furien überantwortet hat; 375 oder dass die Krankheit aus der Höhe stammt und der Aether seuchenbringende Dämpfe aus-dünstet, oder dass die Erde ihre eigenen Gaben zugrundegehen lässt: wende dich ab von der Quel-le des Übels. Ich mahne dazu, deine Hunde über hohe Gebirgspfade hinüberzuführen, einen breiten Strom sollt ihr bei der Flucht überqueren. Dies ist der erste Schritt, dem Tod zu entrinnen: Dann erst werden die von uns erdachten 380 Hilfsmaßnahmen wirken und überhaupt ein Nutzen von unserer Kunst herrühren.
29 Contra Barton (2000, 208), die in der spätantiken Dichtung des Endelechius das erste Zeugnis einer solchen Überwindung sehen möchte.
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2.1 Text und Übersetzung 2.1.4 Ovid (Met. 7,517–613)30 Die Metamorphosen Ovids, ein Epos in 15 Büchern, 31 veröffentlicht gegen Ende der ersten Deka- de des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, beschreiben den Lauf der Weltgeschichte von ihren Anfängen über die mythische bis zur Zeitgeschichte anhand kunstvoll ineinander greifender Ver- wandlungsgeschichten. Im siebten Buch rüstet sich König Minos zum Krieg gegen Athen und er- hofft sich Hilfe von Aeacus, König von Aegina. 32 Seine Hoffnung wird enttäuscht. Die athenische Delegation unter Kephalos erscheint kurz darauf bei Aeacus und wundert sich über die merk- würdig gleichaltrige Schar seiner Untertanen – der König legt in der Folge das Schicksal seines Reiches dar. 33 517–522Einleitende Klage des Aeacus
523–527Ursprung der Pest
Scheitern der Medizin (allgemein, T I A; s. Kapitel 1.5.4)
528–535528–532Verpestung der Umwelt (Luft, Erde, Wasser)
533–535
536–551
536–546Sterben der Nutz- und Wildtiere
Unnatürliches Verhalten der Tiere (T VI–VII), Weitere Verpestung der
Luft
547–551
30 Der Text folgt Anderson (1982), Abweichungen werden in den Anmerkungen in Kapitel 2.2.4 be-gründet.
31 Obwohl Vergil im dritten Buch seiner Aeneis eine kleine Seuchenbeschreibung in die Gattung des Epos übertrug (s. u. Komm. zu Oed. 49–51), ist mit Lausberg (1990, 182) Ovids besondere Rolle zu betonen, da er die Elemente der Motivtradition fast vollständig für die Gattung nutzbar machte. Dabei scheute er auch nicht vor Elementen zurück, die dem Epos eigentlich abgingen (vgl. Delcourt 1938, 23; zu Gattungsgrenzen allgemein s. Anm. 101, S. 32). Ovids Stellung in der epischen Tradition hat Sharrock (2019) skizziert.
32 Hutchinson (2013, 210) sieht die Pest beinahe auf der Werkhälfte und damit in einer prominenten Position.
33 Ovid bedient sich hierbei „der im Epos seit Homer etablierten Technik, vergangenes Geschehen mit-tels menschlicher Erinnerung in die dargestellte Haupthandlung durch Vergleiche, Exkurse aber auch Erzählungen aus der Figurenperspektive zu implementieren. […] Der Erzähler lässt damit eine weitere menschliche Stimme zu, die innerhalb der Haupthandlung eine Geschichte entwickelt, die einen historischen Raum, eben Geschichte hinter der Geschichte, eröffnet und für das Verständnis des Hauptstrangs der Erzählung bedeutsam ist“ (Eigler 2010, 228, zu Lucan).
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552–581
552–560Sterben in der Stadt: Ansteckung, Symptomkatalog (T V)
561–571Sterben in der Stadt: Scheitern der Medizin (konkret, T XV B),
Versuch der Selbsthilfe, Leichen im Wasser
572–581Sterben in der Stadt: Bettflucht,
Leichen auf den Straßen (T XVIII)
582–586Resignierende Reflexion und Todeswunsch des Aeacus
587–605
587–595Sterben am Altar (Mensch, T XX)
596–601Sterben am Altar (Rind), Misslingen der Kultpraxis
602–605Selbstmord vor den Tempeln
606–613Scheitern des Totenkults (T XXI)
Aeacus ingemuit tristique ita voce locutus:
‚flebile principium melior fortuna secuta est: hanc utinam possem vobis memorare sine illo!
520 ordine nunc repetam, neu longa ambage morer vos: ossa cinisque iacent, memori quos mente requiris; et quota pars illi rerum periere mearum!
Aeacus seufzte und sagte Folgendes mit bedrückter Stimme: „Auf einen bekla-genswerten Anfang folgte ein glückliche-res Schicksal meines Volkes; könnte ich euch doch allein dieses schildern, ohne jenes zu erwähnen! 520 Der Reihe nach will ich mich nun erinnern, und damit ich euch nicht mit langen Ausschweifungen aufhalte: Knochen und Asche derer ru-hen, nach denen ihr nach gutem Gedächt-nis forscht. Und welch kleinen Teil meines Reiches machten sie in ihrem Untergang aus!
Dira lues ira populis Iunonis iniquae incidit exosae dictas a paelice terras.
525 dum visum mortale malum tantaeque latebat causa nocens cladis, pugnatum est arte medendi; exitium superabat opem, quae victa iacebat.
Eine unheilvolle Pest befiel mein Volk aufgrund des Zorns der ungerechten Iuno, die dieses Land hasste, weil es nach ihrer Nebenbuhlerin benannt worden ist. 525 Solange das Übel menschlich schien und die böswillige Ursache des derart großen Unheils verborgen blieb, kämpfte man mit der Heilkunst; der Tod überwäl-tigte jedoch ihr Heer, das besiegt darnie-derlag.
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2.1 Text und Übersetzung Principio caelum spissa caligine terras pressit et ignavos inclusit nubibus aestus,
530 dumque quater iunctis explevit cornibus orbem luna, quater plenum tenuata retexuit orbem, letiferis calidi spirarunt aestibus austri. constat et in fontes vitium venisse lacusque, miliaque incultos serpentum multa per agros
535 errasse atque suis fluvios temerasse venenis.
528 Zu Beginn hüllte der Himmel die Erde in dichte Finsternis und schloss in den Wolken den träge machenden Krank-heitsstrom ein; 530 und während der Mond vier Mal seinen Kreis füllte, in-dem er seine Sichelspitzen vereinte, vier Mal seinen vollen Kreis auflöste, indem er sich verschmälerte, wehten die hei-ßen Südwinde mit ihrem todbringenden Strom. Es ist bekannt, dass die Krank-heit auch in Quellen und Seen wanderte und dass viele Tausend Schlangen über die unbestellbaren Felder 535 wimmelten und das Flusswasser mit ihrem Gift ver-darben.
Strage canum primo volucrumque oviumque boumque inque feris subiti deprensa potentia morbi. concidere infelix validos miratur arator inter opus tauros medioque recumbere sulco;
Zuerst wurde an Leichenhaufen der Hunde, Vögel, Schafe, Rinder und an wilden Tieren die Wirkmacht der plötz-lich auftretenden Krankheit ersicht-lich: Der unglückliche Bauer wunderte540 lanigeris gregibus balatus dantibus aegros sponte sua lanaeque cadunt et corpora tabent; acer equus quondam magnaeque in pulvere famae degenerat palmas veterumque oblitus honorum ad praesepe gemit leto moriturus inerti.
545 non aper irasci meminit, non fidere cursu cerva nec armentis incurrere fortibus ursi. sich, dass die starken Stiere während der Arbeit zusammenbrachen und inmitten der Ackerfurche liegen blieben; 540 wäh-rend die Schafherden ein kränkliches Blöken von sich gaben, fiel ihre Wolle von allein und ihre Körper magerten ab; das Pferd, einst mutig und ruhmreich im Staub der Arena, wurde seiner Siegesprei-se nicht gerecht, vergaß die Ehren von ehedem und stöhnte bei seiner Futterkrip-pe, einem trägen Tode geweiht. 545 Nicht gedachte der Eber zu zürnen, nicht auf ihre Schnelligkeit zu bauen die Hirsch-kuh, nicht auf das kräftige Weidevieh los-zugehen die Bären.
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Omnia languor habet: silvisque agrisque viisque corpora foeda iacent, vitiantur odoribus aurae. mira loquar: non illa canes avidaeque volucres,
550 non cani tetigere lupi; dilapsa liquescunt adflatuque nocent et agunt contagia late.
Alles hielt Schwäche im Bann. In Wäldern, Feldern und Straßen lagen entstellte Kada-ver, die Luft wurde von deren Gestank ver-pestet. Wundersames kann ich berichten: Nicht rührten sie Hunde und Raubvögel an, 550 nicht die grauen Wölfe; sie zerfielen und schmolzen, schadeten durch ihre Ausdüns-tung und trugen die Ansteckung in die Ferne. Pervenit ad miseros damno graviore colonos pestis et in magnae dominatur moenibus urbis. viscera torrentur primo, flammaeque latentis
555 indicium rubor est et ductus anhelitus igni. aspera lingua tumet, tepidisque arentia ventis ora patent, auraeque graves captantur hiatu. non stratum, non ulla pati velamina possunt, dura sed in terra ponunt praecordia, nec fit
560 corpus humo gelidum, sed humus de corpore fervet.
So gelangte die Pest zu den armen Bauern, richtete noch schwereren Schaden an und herrschte in den Mauern meiner großen Stadt. Die Eingeweide brannten zuerst, 555 Anzeichen des versteckten Feuers waren eine Rötung und heißes Keuchen; rau und geschwollen war die Zunge, ihre durch die warmen Winde trockenen Münder standen offen und die krankmachende Luft wurde gierig eingesogen; keine Decke, keine Art von Verhüllung konnten die Erkrankten ertragen, sondern legten ihren verhärteten Bauch auf die Erde – 560 aber nicht wurde ihr Körper durch den Boden gekühlt, son-dern der Boden glühte von ihren Körpern. Nec moderator adest, inque ipsos saeva medentes erumpit clades, obsuntque auctoribus artes: quo propior quisque est servitque fidelius aegro, in partem leti citius venit, utque salutis
565 spes abiit finemque vident in funere morbi, indulgent animis et nulla, quid utile, cura est: utile enim nihil est. passim positoque pudore fontibus et fluviis puteisque capacibus haerent,
Keiner war da, der Einhalt gebot, insbe-sondere gegen die Heiler brach das Wüten der Katastrophe los und die Heilkünste schadeten ihren Herren: Denn je näher ein jeder einem Kranken war und je treuer er ihn pflegte, desto schneller trat er auf die Seite des Todes; und sobald 565 die Hoff-nung auf Rettung vergangen war und die Kranken das Ende der Krankheit in ihrem Tod erkannten, ergaben sie sich ihren Be-gierden und keiner kümmerte sich mehr darum, was von Nutzen sein könnte: Nütz-lich war nämlich nichts. Ihr Schamgefühl einmal abgelegt, hingen sie überall an
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2.1 Text und Übersetzung inde graves multi nequeunt consurgere et ipsis
570 inmoriuntur aquis; aliquis tamen haurit et illas:
[569] nec sitis est exstincta prius quam vita bibendo.
Quellen, Flüssen und Brunnen mit ihren reichen Wassern; davon beschwert konn-ten viele nicht aufstehen und 570 starben di-rekt im Wasser; trotzdem trank mancher selbst jenes: Und nicht erlosch ihr Durst durch das Trinken eher als ihr Leben.
Tantaque sunt miseris invisi taedia lecti: prosiliunt aut, si prohibent consistere vires, corpora devolvunt in humum fugiuntque penates
575 quisque suos, sua cuique domus funesta videtur, et, quia causa latet, locus est in crimine parvus. semianimes errare viis, dum stare valebant, aspiceres, flentes alios terraque iacentes lassaque versantes supremo lumina motu,
580 [membraque pendentis tendunt ad sidera caeli] hic illic, ubi mors deprenderat, exhalantes.
So großer Ekel erfasste die Elenden vor ih-rem verhassten Lager: Sie sprangen davon auf oder, wenn ihre Kräfte ihnen das Aufste-hen versagten, wälzten ihre Körper auf den Boden und flüchteten alle vor ihren eigenen Hausgöttern, 575 einem jeden erschien sein eigenes Haus als Grab, und weil der Grund (für die Krankheit) unklar war, wurde die Enge des Raumes beschuldigt. Halbtote hät-test du, solange sie zu stehen vermochten, auf den Straßen umherirren, andere weinen, auf der Erde liegen und ihre müden Augen in einer letzten Regung nach oben verdrehen 581 und hier und dort, wo der Tod eben über sie kam, ihre Seele aushauchen gesehen.
,Quid mihi tunc animi fuit? an, quod debuit esse: ut vitam odissem et cuperem pars esse meorum? quo se cumque acies oculorum flexerat, illic
585 vulgus erat stratum, veluti cum putria motis poma cadunt ramis agitataque ilice glandes.
Wie fühlte ich mich damals? Nicht etwa so, wie es sein musste, nämlich dass ich das Le-ben hasste und Teil meines Volkes sein woll-te? Wohin meine Augen sich auch wandten,585 lag mein Volk niedergestreckt, wie wenn faule Äpfel von bewegten Zweigen fallen und von der geschüttelten Eiche die Eicheln. templa vides contra gradibus sublimia longis
(Iuppiter illa tenet): quis non altaribus illis inrita tura dedit? quotiens pro coniuge coniunx,
590 pro gnato genitor, dum verba precantia dicit, non exoratis animam finivit in aris, inque manu turis pars inconsumpta reperta est!
Siehst du die erhabene Tempelanlage gegenüber mit ihren breiten Treppenstu-fen? Jupiter hat dort seinen Sitz. Wer bot nicht an jenen Altären Weihrauch dar, der doch keinen Unterschied machte? Wie oft hauchte eine Ehefrau, während sie für ihren Gatten, 590 wie oft ein Vater, während er für seinen Sohn Bittgesuche sprach, an
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admoti quotiens templis, dum vota sacerdos concipit et fundit purum inter cornua vinum,595 haud exspectato ceciderunt vulnere tauri! den Altären seine Seele aus, die ihren Ge-beten kein Gehör schenkten, und wie oft fand man in ihrer Hand einen Teil des Weihrauchs noch unverbraucht! Wie oft fielen in den Tempeln, während der Pries-ter feierlich das Gebet sprach und reinen Wein zwischen den Hörnern ausgoss, 595 herbeigebrachte Stiere, die ihre Verwun-dung nicht abwarteten!
Ipse ego sacra Iovi pro me patriaque tribusque cum facerem natis, mugitus victima diros edidit et subito conlapsa sine ictibus ullis exiguo tinxit subiectos sanguine cultros.
600 exta quoque aegra notas veri monitusque deorum perdiderant: tristes penetrant ad viscera morbi. ante sacros vidi proiecta cadavera postes; ante ipsas, quo mors foret invidiosior, aras pars animam laqueo claudunt mortisque timorem
Als ich selbst Jupiter ein Opfer für mich, mein Vaterland und meine drei Söhne darbringen wollte, gab das Opfertier ein grauenerregendes Brüllen von sich, sack-te plötzlich ohne irgendeinen Hieb zu-sammen und besudelte die Klinge, die ich darunter gehalten hatte, mit einer dürfti-gen Menge Blut. 600 Auch die erkrankten Eingeweide hatten die Zeichen der Wahr-heit und die Mahnung der Götter verlo-ren: Denn solch grausame Krankheiten dringen bis zu den Eingeweiden vor. Vor
605 morte fugant ultroque vocant venientia fata. den heiligen Pforten sah ich Kadaver auf-geschichtet; direkt vor den Altären ver-schloss, nur damit ihr Tod den Göttern zu noch größerer Schande gereichte, ein Teil meines Volks seinen Lebenshauch mit dem Strick, 605 schlug die Todesfurcht durch den Tod in die Flucht und rief von sich aus das herannahende Schicksal herbei.
Corpora missa neci nullis de more feruntur funeribus: neque enim capiebant funera portae; aut inhumata premunt terras aut dantur in altos indotata rogos. et iam reverentia nulla est:
Die toten Körper wurden nicht dem Brauch gemäß in Leichenzügen herausgetragen: Nicht nämlich haben die Stadttore dem standgehalten. Entweder bedeckten sie un-bestattet die Erde oder sie wurden ohne Totengeschenke hoch auf Scheiterhaufen aufgetürmt. Keine Ehrfurcht gab es mehr:
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2.1 Text und Übersetzung610 deque rogis pugnant, alienisque ignibus ardent. qui lacriment, desunt, indefletaeque vagantur natorumque virumque animae iuvenumque senumque: nec locus in tumulos, nec sufficit arbor in ignes.
610 Die Menschen kämpften um die Scheiter-haufen – und schon brannten sie selbst in ge-stohlenen Flammen. Es fehlte an Menschen, die Toten zu beweinen, unbetrauert streiften die Seelen von Söhnen und Ehemännern, von Jung und Alt umher: Weder reichte der Platz für Gräber noch das Holz für Feuer.“ 2.1.5 Manilius (Manil. 1,874–895)34 Die Astronomica 35 sind ein astrologisches Lehrgedicht in fünf Büchern, womöglich noch unter Kai- ser Augustus, spätestens unter Tiberius veröffentlicht. 36 Der Dichter verfolgt den Anspruch, Mikro- und Makrokosmos (in bewusster Antithese zu Lukrez) auf Grundlage eines astrologisch-religiösen Determinismus zu erklären. Es handelt sich auch bei diesem Lehrgedicht nicht um ein Handbuch für angehende Astrologen, wenngleich die Erhabenheit und die Komplexität des Gegenstands (anders als in Vergils Georgica ) eine solche Vorstellung nicht abwegig erscheinen lässt. 37 Das erste Buch bildet als abgeschlossene Einheit eine Einführung in das deterministische Weltbild anhand des Sphären- modells, der Sterne und des Zodiacus. Das Ende des Buchs handelt von der Erklärung der Kometen. Aufgrund des geringen Umfangs wird auch bei Manilius auf eine Gliederung in tabellarischer Form verzichtet.38 Der Passus zur Pest steht am Schluss des ersten Buches der Astronomica im Zusammenhang einer Doxographie zur Entstehung von Kometen, in der als dritte und letzte 34 Der Text folgt Goold (1998), Abweichungen werden in den Anmerkungen in Kapitel 2.2.5 begründet.35 In der griechisch-römischen Antike wurde die moderne begriffliche Unterscheidung zwischen As-tronomie und Astrologie nicht vorgenommen. Eine Trennung der Disziplinen in der Sache nimmt bereits Claudius Ptolemaeus im 2. Jahrhundert n. Chr. vor, im Wort vollzieht Isidor von Sevilla eine erste Differenzierung (vgl. Hübner 1989, 27). Für Manilius diente die Beobachtung des Himmels dazu, das Schicksal ( fatum ) aus den Sternen zu lesen, vgl. Volk (2009), 14–17.
36 Die Frage der Datierung bleibt umstritten. Zuletzt hat Volk (2009, 137–161) für eine Datierung unter Augustus argumentiert (vgl. dazu Hübner 2010b, 416f.); v. Albrecht (32012), 821 nimmt eine Entste-hung unter beiden Herrschern an, Green (2014), 11 Anm. 2 trifft keine Entscheidung.
37 Die Komplexität des Gegenstands macht das Werk des Manilius nur für einen ausgewählten Rezipien-tenkreis verständlich, die Erhabenheit erfordert die dichterische Umsetzung, vgl. Effe (1977), 112–115.
38 Es war nicht zuletzt der Umfang der Beschreibung, der Vallillee (1960, 7 Anm. 1) dazu veranlasste, sich mit einem Verweis auf die Kommentare von Breiter und von Wageningen zufriedenzugeben. Grimms Untersuchung (1965, 69–71) besteht zum größten Teil aus der Schilderung des Zusammen-hangs, dem kritischen Vergleich mit den Vorgängern der Motivtradition und der Bemängelung der Inkonsistenz des Buchschlusses. So fällt denn auch das Gesamturteil negativ aus (71): „[Wir] können
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Erläuterung der Wille der stoischen Gottheit angegeben wird, die jene als Hinweis auf den Men- schen bevorstehendes Unheil sendet.39 Der Dichter nutzt die Prodigienfunktion der Kometen als expositorisches Element für den sich anschließenden Exkurs: Als Beispiele werden die (in Kapitel 1.5.2 bereits bei Thukydides beobachteten)40 Geißeln der Menschheit, Dürre (als Folge: Hunger), Krankheit und Krieg, ausgewählt, wobei der Umfang der Abschnitte zunimmt (Dürre: drei Verse, Krankheit: 16 Verse, Krieg: 26 Verse).41 Die Einbindung der Pest in eine Aufzählung bildet unabhängig von der Frage ihrer Gewichtung eine Neuheit in der Tradition, knüpft jedoch hinsichtlich der Verwendung des Themas an Lukrez und Vergil an: Dienten diesen die Pest in Athen und die Norische Viehseuche als erläuternde Beispiele für die massenhafte Erkrankung von Mensch und Tier und der Reflexion über das Sterben, nutzt Manilius die Pest für den Be- weis der Vorhersagekraft der Kometen, die wiederum Ausdruck göttlicher Vorsehung ist.42 Die Seuchenbeschreibung gliedert sich ausgewogen in jeweils vier Verse einer allgemeinen Rahmung (880–883, 892–895) und acht Verse konkreter historischer Erzählung (884–891).43 Die Aufteilung wird bereits an der Wahl des Tempus ersichtlich (Präsens in der Rahmung, […] die kurze Beschreibung der Pest nicht anders als flach und unbedeutend bezeichnen.“ Für eine Sammlung heftiger Kritik an der Beschreibung des Manilius vgl. Hübner (1984), 251 Anm. 382.39 Den Aufbau des gesamten ersten Buches beleuchtet ausführlich Romano (1979), 21–36. Der erste An-satz (817–866) sieht den Ursprung der Kometen in trockener Luft, die von der Erde ausgestoßen und von der Sonne erhitzt wird, der zweite (867–873) beschreibt sie als Sterne, die von der Sonne ange-zogen und wieder abgestoßen werden. Mit der dritten Erklärung verlässt Manilius den Bereich rein physikalischer Begründungen und betritt den der Metaphysik, vgl. Reeh (1973), 68 und 137 Anm. 1.
40 Vgl. exemplarisch vor Thukydides Hes. op. 242f. und Grimm (1965), 43f. Die Wechselwirkung von Hunger und Seuchen speziell für die spätrömische und frühbyzantinische Zeit hat Stathakopoulos (2004) untersucht, vgl. auch Anm. 180, S. 59.
41 Wenn dieses Wachstum der Aufzählungselemente eine Entsprechung auf der Sachebene findet, wie Lühr (1969, 60) annimmt, sodass Manilius mittels der quantitativen Steigerung der Phänomene auch eine der Schrecklichkeit nahelegt, besteht ein Unterschied zu Lukrez und Vergil, die das jeweilige Buch mit der Pest beschlossen. Zum Verhältnis von Manilius und Vergil in der Darstellung von Seuche und Krieg zeigte Hübner (1984), 251: „Vergil hat die Schlüsse der dunklen Georgikabücher 1 (Prodigien mit Krieg) und 3 (Pest) polar aufeinander bezogen. Was Vergil auseinanderlegt, kom-biniert Manilius: Er subsumiert die Pest unter die Wirkungen der Kometen.“ Schließlich führt der Dichter in seiner Darstellung des Krieges eine weitere Differenzierung ein, nämlich zwischen äuße-ren (896–903) und inneren, d. h. Bürgerkriegen (904–921).
42 Damit wird der Astrologe zum Interpreten des göttlichen Willens und zugleich Prognostiker im medizinischen Sinne; zum Verhältnis von antiker Medizin und Astrologie vgl. Hübner (2016).
43 Zum Aufbau vgl. auch Lühr (1973), 124 Anm. 62. Auf ebendieser Seite wendet sich Lühr gegen Grimms Urteil (s. Anm. 38, S. 99) und spricht sich für eine genauere Betrachtung aus – in der Verbindung von Dürre, Seuche und Krieg sehe man Manilius’ Bemühen um Innovation. Im Folgenden wird sich zeigen, dass die Verknüpfung der Phänomene nicht nur ihre Basis im Weltgeschehen findet (bereits mehrmals ist auf den Zusammenhang von Krieg, Hunger und Krankheit in antiker Literatur hingewiesen wor-den), sondern auch von einer stimmigen Komposition zeugt ( contra Härke 1936, 67f.).
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2.1 Text und Übersetzung Imperfekt/Plusquamperfekt in der Erzählung). Die Häufung des Imperfekts ist für Manilius einmalig und könnte eine Reminiszenz an Lukrez darstellen (s. auch Kommentar zu Ov. met. 7,525–527).44 Wie der Dichter neben den Bezügen auf Lukrez ein Mosaik aus Anspielungen auf seine anderen Vorgänger anfertigt, hat Lühr aufgezeigt.45 Diese Anspielungen stehen im Zeichen seines Wunsches nach Originalität, wie Daryn Lehoux treffend beschrieb: He is clearly eager to establish the novelty of his project and so he needs to turn away from what he calls the trampled paths of other poets, but given the highly poetic lan-guage in which he summarizes their works, he is simultaneously showing us that he could , if he wanted to, play their game too. That he chooses not to do so should not be seen as a condemnation of what the greats among his forebears have achieved […] so much as a confident assertion of his own originality and his courage in taking on such an apparently unpromising subject for versification.46
Seu deus instantis fati miseratus in orbem
875 signa per affectus caelique incendia mittit. numquam futtilibus excanduit ignibus aether: squalidaque elusi deplorant arva coloni, et sterilis inter sulcos defessus arator ad iuga maerentis cogit frustrata iuvencos.
Oder unser Gott erbarmt sich angesichts eines dro-henden Unheils und gibt der Welt 875 Zeichen an-hand von Erscheinungen und Feuern am Himmel. Niemals erglühte mit seinen Lichtern der Aet-her, ohne dass es etwas bedeutete: Sondern in ihren Hoffnungen getäuscht beklagen Bauern die wüsten Fluren und inmitten fruchtloser Furchen
44 Eine solche liegt auch aufgrund der (ebenso außerhalb der Seuchenbeschreibung) anerkannten inten-siven Bezugnahme von Manilius auf Lukrez nah, vgl. Rösch (1911, noch immer ein hilfreicher Aus-gangspunkt) und Volk (2009), 192 mit Anm. 35 mit Literaturverweisen; v. Albrecht (32012), 822 spricht von einer „Wahlverwandtschaft mit Lukrez“. Exemplarisch seien Manil. 1,25–32 und Lucr. 5,1–13 herausgegriffen: Diese Konterkarierung von Lukrezens Loblied auf Epikur (anders: Lühr 1969, 74) lässt die Bezeichnung als ‚Antilukrez‘ für Manilius auf den ersten Blick verständlich erscheinen – an-gesichts der wiederholten Etikettierung von Autoren als solche und der nur selten greifbaren direkten Kritik ist jedoch Vorsicht geboten (vgl. Hübner 1984, 233–236 und ebenso die dahingehend skeptische Untersuchung von Abry 1999). Die ebendort (S.122) vorgenommene Reduktion der Bezugnahme des Manilius auf Lukrez ist der Themenstellung des Sammelbands geschuldet und darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass jener an dieser Stelle auch auf Vergil und Ovid verweist.
45 So formulierte Lühr (1969, 62) nach Kroll: „Die Eigenleistung und das Besondere seiner Exkurstech-nik bestehen doch gerade darin, ein Mosaik in seiner Sprache, mit seinen spezifischen Imitationsver-fahren und in seiner Empfindungswelt zusammenzusetzen.“ Für seine erste Gegenüberstellung vgl. Lühr (1973), 121 Anm. 49, ergänzt durch Gale (2011), 213f. Anm. 26.
46 Lehoux (2011), 49, ähnlich Lühr (1973), 120: „Manilius will unter Verwendung bekannter Klauseln und Einfügung neuer Iunkturen eine seinem Stil und seinem Vorhaben entsprechende Fassung geben.“
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zwingt der erschöpfte Pflüger seine betrübten Jungstiere unter das nutzlose Joch.880 aut gravibus morbis et lenta corpora tabe corripit exustis letalis flamma medullis labentisque rapit populos, totasque per urbes publica succensis peraguntur fata sepulcris.
880 Oder mit schwerer Krankheit und schleichen-der Zersetzung brennt sich eine tödliche Flamme bis ins Mark und nimmt die Körper in Besitz, reißt Völker in den Abgrund und in ganzen Städ-ten erfüllt sich das Schicksal der Menschenge-meinschaft auf brennenden Scheiterhaufen. qualis Erectheos pestis populata colonos
885 extulit antiquas per funera pacis Athenas, alter in alterius labens cum fata ruebant, nec locus artis erat medicae nec vota valebant; cesserat officium morbis, et funera derant mortibus et lacrimae; lassus defecerat ignis
890 et coacervatis ardebant corpora membris, ac tanto quondam populo vix contigit heres.
Wie die Pest, welche die erechthëischen Bauern verheerte und 885 das altehrwürdige Athen durch Leichenzüge im Frieden zu seinem Grab geleitete; als die Menschen einer auf den anderen in den Tod stürzten, es keinen Platz für die Heilkunst gab und die Gebete nichts halfen. Das Pflichtgefühl wich der Krankheit: Weder Bestattungen wurden den Toten zuteil noch Tränen. Müde schwand das Feuer dahin, 890 aufgehäuft brannten die Leichen, Glied auf Glied, und das einst so große Volk fand kaum einen Erben. talia significant lucentes saepe cometae: funera cum facibus veniunt, terrisque minantur ardentis sine fine rogos, cum mundus et ipsa
895 aegrotet natura novum sortita sepulcrum.
Dergleichen zeigt häufig das Leuchten der Ko-meten: Leichenfeuer folgen auf Himmelsfackeln; der Erde stellen sie drohend die Scheiterhaufen vor Augen, die nie zu brennen aufhören, da ja die Welt und 895 die Natur selbst krank sind, nachdem ihnen erneut ihr Grab zugelost wurde. 2.1.6 Seneca (Oed. 1–201)47 Der Oedipus des jüngeren Seneca (Datierung unsicher, wohl vor Lucans Bellum civile 48 ) behan- delt als einzige erhaltene lateinische Tragödie den berühmten Sagenstoff des thebanischen Kö-
47 Der Text folgt Zwierlein (1986), Abweichungen werden in den Anmerkungen in Kapitel 2.2.6 be-gründet.
48 Vgl. Vallillee (1960), 132f. Boyle (2011, xix) plädiert mit Verweis auf den Versuch einer relativen Datierung durch Fitch (1981) für eine frühe Abfassung, womöglich während der Herrschaft des Claudius, dagegen Töchterle (1994, 46 und erneut 2014, 483). Abhängig von der Datierung ist auch, inwiefern die Tragödie Zeitbezüge enthält (z. B. die Ehe zwischen Claudius und Agrippina oder das unterstellte Verhältnis zwischen Agrippina und Nero, vgl. Marshall 2014, 38f. und Braund 2016, 26).
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2.1 Text und Übersetzung nigssohnes Oedipus. Dieser wird von seinem Vater Laios, dem vorausgesagt wurde, er werde von seinem Sohn getötet werden, ausgesetzt und von Polybos und Merope in Korinth aufgezogen. Als Oedipus, nun herangewachsen, geweissagt wird, er werde seinen Vater töten und seine Mutter heiraten, flieht er aus Korinth und gelangt nach Theben, wo er unwissentlich sein Schicksal ( fa- tum 49 ) erfüllt: Er tötet Laios, besiegt die Sphinx, die Theben heimsuchte, und gewinnt damit die Hand seiner Mutter Iokaste, mit der er mehrere Kinder zeugt. Nun wird die Stadt von einer Pest heimgesucht, deren Beschreibung einen Großteil des ersten Aktes einnimmt, die Suche nach dem Mörder des Laios motiviert und damit die eigentliche Handlung der Tragödie beginnen lässt. 50
49 Die stoische Konzeption des Schicksals begegnete im Rahmen dieser Ausarbeitung zuerst in der Aus-einandersetzung mit Manilius, wo es anhand der Kometenerscheinungen eine gewisse Voraussagbar-keit (jedoch niemals Veränderbarkeit) gewann. Nun führt die Frage nach der Bedeutung des fatum in Senecas Tragödien zu einer sehr alten Diskussion über das Verhältnis zwischen dem Dichter und dem Philosophen. Wie es bei vermeintlich disjunktiven Streitfragen notwendig der Fall ist, teilen sich die Diskussionsteilnehmer zunächst in zwei Extreme auf, bis Vermittler hinzutreten, die auf unterschied-lichen Wegen Brücken zwischen den Extremen zu bauen versuchen. Entsprechend steht die Idee, die Tragödien seien rein literarisch, gegen die, sie seien stoische Lehrstücke; eine Sonderposition nimmt Dingel (1974) ein, der in den Tragödien sogar eine Negation der philosophischen Lehre sieht – und dafür teils heftigen Widerspruch erntete (vgl. für einen Überblick Fischer 2008, 1f. mit Anm. 5 für Rezensionen). Dingel behielt jedoch dahingehend Recht, dass im Oedipus Elemente verarbeitet sind, die mit der Idee stoischer providentia (s. Komm. zu Manil. 1,874 mit Anm. 662, S. 252) schlicht unver-einbar sind (vgl. auch Schotes 1969, 115–122 zu Lucan): Das Schicksal des Oedipus sieht seine Verbre-chen vor, sodass die stoische Maxime, der Mensch müsse sein Schicksal akzeptieren und könne nur dadurch gut handeln, ad absurdum geführt wird. Fischers (2008, 261–266) Versuch einer interpretatio Stoica beleuchtet die Tragödie lediglich unter einem Gesichtspunkt, nämlich der Unabänderlichkeit der Ursachenkette des fatum (vgl. auch Schetter 1972, 404 und Cordes 2009, 444), während die Unver-einbarkeit mit der providentia dei als Konfliktpunkt belassen wird. Hieran lässt sich exemplarisch zei-gen, dass absolute Aussagen sowohl über das gesamte Tragödiencorpus als auch über einzelne Stücke nicht zielführend sind, da sie die Komplexität der Tragödien am drastischsten reduzieren und ihnen somit am wenigsten gerecht werden. Dingels (1974, 76f.) Plädoyer dafür, nicht einfach Einzelbestand-teile herauszugreifen, um bestimmte Positionen zu belegen, und dabei andere hinunterzuspielen, ist vor diesem Hintergrund zu unterstreichen. Die Studien der Vermittler (vgl. z. B. Schmitz 1993, 7–13, Hine 2004, 208f. und für einen Gesamtüberblick Liebermann 2004) können dazu dienen, die Argu-mente der extremen Parteien zu nuancieren und damit das Bild von Senecas Tragödien zu bereichern, ohne jedoch den Anspruch zu erheben, die unaufhebbaren Widersprüche zwischen stoischer Doktrin und tragischer Dichtung aufzulösen. Für den Hauptgegenstand dieser Ausarbeitung, die Pest, ge-staltet sich die Situation zunächst eindeutig: Der Krankheit kann aus stoischer Perspektive nichts Positives abgewonnen werden, weder für den Verursacher noch für die Leidtragenden; bei der Masse der Erkrankten kann auch die Interpretation des Leids als Test nicht greifen, zumal die Ursache dafür im Vergehen eines anderen offenbart wird. Nichtsdestoweniger wird an einzelnen Stellen deutlich werden, dass eine Verquickung dieser paradoxen Grundspannung von providentia und fatum durch eine bisweilen angedeutete Umsetzung stoischer Maximen zu grotesken Ergebnissen führt. In dieser Hinsicht kann man fast von einem literarischen Spiel mit der philosophischen Haltung sprechen.
50 Für eine Übersicht über die Diskussion um das Verhältnis von Prolog und Stück vgl. Schmitz (1993),
29 Anm. 67. Insbesondere im Vergleich mit der griechischen Vorlage des Sophokles ist die Behand-
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1–271–5Düsterer Sonnenaufgang über dem verseuchten Theben
6–11Reflexion über die Unbeständigkeit der Monarchie
12–27Delphisches Orakel, Flucht aus Korinth, Furcht des Königs
28–70
28–36Oedipus als Angeklagter Apolls, Apoll als Verursacher der Pest
37–40Ätiologie: Hitze
41–51Auswirkung der Pest auf die Natur
52–55Auswirkung auf die Menschen, Gleichheit vor dem Tod
56–61Versiegen der Tränen, Bestattungsversuche
62–68Scheitern der Versuche, Abfall vom Bestattungsbrauch (T XXI, s. Kapi-tel 1.5.4)
69–70Scheitern von Kult und Medizin (T I)
71–8671–81Todeswunsch des Oedipus, Fluchterwägung
81–86Zurechtweisung durch Iokaste
87–10987–105Verteidigung des Selbstbilds: Heldenhafter Sieg über die Sphinx
106–109Die Sphinx als Verursacherin der Pest
110–112Eröffnung des Chors
113–123Errungenschaften der thebanischen Soldaten
124–132Massensterben, nicht endende Begräbniszüge
133–153133–148Sterben der Nutztiere
149–153Wesensveränderung und Tod der Wildtiere (T VI–VII)
154–159Erkrankung der Natur
160–170Ausbruch der Unterwelt, Erschöpfung des Charon
171–179Gerüchte um Prodigien
180–192a +
187b,188a
Symptomkatalog (T V)
192b–196Streben zu den Wasserstellen (T XVIII)
197–201Gebete mit Todeswunsch, Suizid an den Altären (T XX)lung der Pest bemerkenswert, vgl. Thummer (1972, 153), contra Grimm (1965, 30 und 72), der Se-necas Adaptation keiner eingehenden Untersuchung für würdig zu erachten scheint. Dessen Ände-rungen sind nicht nur mit dem Zeitgeschmack oder einer persönlichen Vorliebe für physiologische Grausamkeiten zu erklären (so Braund 2016, 52–57): Ein gewichtiger Grund ist sicherlich auch das Streben nach literarischer aemulatio , wie es auch bei seinen Vorgängern ersichtlich wurde, vgl. Pisi (1989), 68.
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2.1 Text und Übersetzung Oedipus: Iam nocte Titan dubius expulsa redit et nube maestum squalida exoritur iubar, lumenque flamma triste luctifica gerens prospiciet avida peste solatas domos,
5 stragemque quam nox fecit ostendet dies.
Schon kehrt Titan zögerlich zurück, nachdem die Nacht vertrieben, und aus den trüben Wol-ken hebt sich fahl das Morgenlicht: Nun wird er, während er das bedrückende Licht mit seiner trauerbringenden Flamme mit sich trägt, auf die Häuser blicken, welche die gierige Pest geleert hat, 5 und das Tageslicht wird uns das Gemetzel vor Augen führen, das die Nacht vollbrachte.
Quisquamne regno gaudet? o fallax bonum, quantum malorum fronte quam blanda tegis! ut alta ventos semper excipiunt iuga rupemque saxis vasta dirimentem freta
10 quamvis quieti verberat fluctus maris, imperia sic excelsa Fortunae obiacent.
Quam bene parentis sceptra Polybi fugeram! curis solutus exul, intrepidus vagans
(caelum deosque testor) in regnum incidi;
15 infanda timeo: ne mea genitor manu perimatur; hoc me Delphicae laurus monent, aliudque nobis maius indicunt scelus. est maius aliquod patre mactato nefas? pro misera pietas (eloqui fatum pudet),
20 thalamos parentis Phoebus et diros toros gnato minatur impia incestos face. hic me paternis expulit regnis timor, hoc ego penates profugus excessi meos: parum ipse fidens mihimet in tuto tua,
Wer sollte sich an seiner Herrschaft erfreuen? Du trügerisches Gut, wie viele Übel verhüllst du unter solch lieblichem Antlitz! Wie hohe Berg-kämme stets die Winde abfangen, wie die Flut des Meeres, 10 mag es auch ruhen, gegen die Klip-pe schlägt, die das weite Meer mit ihren Felsen spaltet, so sind der Fortuna Reiche an der Spit-ze ausgesetzt. Wie geglückt war die Flucht vor dem Szepter meines Vaters Polybus! Sorgenfrei im Exil, furchtlos umherschweifend geriet ich (Himmel und Götter rufe ich als Zeugen) zufäl-lig an die Herrschaft. 15 Unsägliches fürchte ich: dass mein Vater durch meine eigene Hand getötet wird; davor warnt mich der delphische Lorbeer, und ein anderes, noch größeres Verbrechen sagt er mir voraus. Gibt es schlimmeren Frevel als den Vatermord? O elende Kindsliebe (ich schä-me mich, den Spruch zu offenbaren): 20 Mit dem Schlafgemach des Vaters droht Phoebus dem25 natura, posui iura. cum magna horreas, quod posse fieri non putes metuas tamen: cuncta expavesco meque non credo mihi.
Sohn und einem unheilvollen Lager, befleckt von frevlerischer Eheschließung. Diese Furcht vertrieb mich aus des Vaters Reich, deshalb ließ ich flüchtend meine Hausgötter zurück: Weil ich mir zu wenig traute, habe ich die Erfüllung deines Gesetzes, Natur, sichergestellt. 25 Wenn Schlimmes einen schaudern lässt, mag man auch glauben, es könne nicht geschehen – so fürchtet man sich dennoch: Alles versetzt mich in Schre-cken, ich traue mir selbst nicht über den Weg.
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Iam iam aliquid in nos fata moliri parant. nam quid rear quod ista Cadmeae lues30 infesta genti strage tam late edita mihi parcit uni? cui reservamur malo? inter ruinas urbis et semper novis deflenda lacrimis funera ac populi struem incolumis asto – scilicet Phoebi reus!
Jetzt noch planen die Schicksalssprüche ir-gendetwas gegen mich. Denn was sonst soll ich denken, 30 da diese Pest, die das Geschlecht des Cadmus bedroht, weithin Verheerungen an-richtet – und mich als einzigen verschont? Für welches Übel werde ich aufgespart? Inmitten der Trümmer meiner Stadt, inmitten von Bestattun-gen, die stets aufs Neue meine Tränen verlangen, am Scheiterhaufen meines Volks stehe ich unver-sehrt – augenfällig ein Angeklagter des Phoebus! 35 Sperare poteras sceleribus tantis dari regnum salubre? fecimus caelum nocens:
Non aura gelido lenis afflatu fovet anhela flammis corda, non Zephyri leves spirant, sed ignes auget aestiferi canis
40 Titan, leonis terga Nemeaei premens. deseruit amnes umor atque herbas color aretque Dirce, tenuis Ismenos fluit et tinguit inopi nuda vix unda vada. obscura caelo labitur Phoebi soror,
45 tristisque mundus nubilo pallet die. nullum serenis noctibus sidus micat, sed gravis et ater incubat terris vapor: obtexit arces caelitum ac summas domos inferna facies. denegat fructum Ceres
50 adulta, et altis flava cum spicis tremat, arente culmo sterilis emoritur seges.
35 Konnte in dir die Hoffnung bestehen, dass der-art schlimmer Untat ein prosperierendes Reich beigegeben würde? Wir haben den Himmel zum Täter gemacht: Kein sanfter Luftzug lässt mit seinem kühlen Hauch ihre Brust aufatmen, die unter den Flammen keucht, nicht wehen die leichten Zephyrwinde, 40 sondern Titan ver-mehrt noch die Flammen des glühenden Hunds-sterns, während er dem Rücken des Nemäischen Löwen nahesteht. Das Wasser verließ die Ströme, die Farbe das Gras, Dirke ist vertrocknet, schmal fließt der Ismenos und kaum benetzt er die tro-ckengelegten Untiefen mit seinen dürftigen Wassern. Dunkel gleitet am Nachthimmel des Phoebus Schwester dahin, 45 fahl ist die Welt und bedrückend unter trübem Tageslicht. Kein Stern funkelt trotz klarer Nacht, sondern ein schwerer, schwarzer Dampf legt sich auf die Erde: Ein-gehüllt sind die Burgen und hohen Häuser der Götter in die Gestalt der Hölle. 50 Ceres versagt ihre Frucht trotz Reife und, obwohl ihre goldgel-ben Ähren in der Höhe schwanken, vertrocknet der Halm, die Saat stirbt ohne Ertrag.
Nec ulla pars immunis exitio vacat, sed omnis aetas pariter et sexus ruit, iuvenesque senibus iungit et gnatis patres
Kein Teil der Gesellschaft bleibt vom Tode unver-sehrt, sondern jedes Alter und Geschlecht geht gleichermaßen zugrunde; Jung und Alt, Vater
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2.1 Text und Übersetzung55 funesta pestis, una fax thalamos cremat. fletuque acerbo funera et questu carent. quin ipsa tanti pervicax clades mali siccavit oculos, quodque in extremis solet, periere lacrimae. portat hunc aeger parens
60 supremum ad ignem, mater hunc amens gerit properatque ut alium repetat in eundem rogum. und Sohn verbindet die tödliche Pest, 55 und eine gemeinsame Fackel verbrennt Ehepaare. Bitteres Weinen und Klage fehlen bei den Bestattungen: Ja, gerade das anhaltende Leid dieses so großen Übels trocknete unsere Augen aus und, was in größter Not zu geschehen pflegt, unsere Tränen versiegten. Hier trägt ein Vater seinen Sohn, selbst erkrankt, 60 zur letzten Feuerstätte, dort trägt eine Mutter von Sinnen den ihren und eilt, um einen weiteren für denselben Scheiterhaufen zu holen. quin luctu in ipso luctus exoritur novus, suaeque circa funus exequiae cadunt. tum propria flammis corpora alienis cremant;
65 diripitur ignis: nullus est miseris pudor. non ossa tumuli sancta discreti tegunt: arsisse satis est—pars quota in cineres abit? dest terra tumulis, iam rogos silvae negant. non vota, non ars ulla correptos levat:
70 cadunt medentes, morbus auxilium trahit.
Sogar noch in der Trauer entsteht neue Trauer, denn bei der Bestattung bricht das Grabgeleit zusammen. Dann verbrennen sie die Körper ihrer Angehörigen mit dem Feuer anderer; 65 man stiehlt sich das Feuer: kein Schamgefühl gibt es in ihrem Unglück. Keine gesonderten Grabhügel bedecken die heiligen Gebeine: dass ein Toter gebrannt hat, reicht aus – wie wenige werden zu Asche? Für Grabhügel fehlt Erde, bald versagen uns unsere Wälder die Scheiterhaufen. Keine Gebete, keine Heilkunst verschaffen den Erkrankten Linderung: 70 Zugrunde gehen die Heiler, mit ihnen zieht die Krankheit die Hilfe in den Abgrund.
Adfusus aris supplices tendo manus matura poscens fata, praecurram ut prior patriam ruentem neve post omnis cadam fiamque regni funus extremum mei.
75 o saeva nimium numina, o fatum grave! negatur uni nempe in hoc populo mihi mors tam parata? sperne letali manu contacta regna, linque lacrimas, funera, tabifica caeli vitia quae tecum invehis
80 infaustus hospes, profuge iamdudum ocius— vel ad parentes.
Hier liege ich am Altar, strecke flehentlich die Hände aus und fordere mein längst fälliges Schicksal ein, auf dass ich meiner zerfallenden Heimat zuvorkomme, nicht nach allen zugrunde gehe und zur letzten Bestattung meines Reiches werde. 75 Weh, ihr allzu wütenden Götter, weh du schlimmes Schicksal! Wird wirklich als einzi-gem aus diesem Volk mir der Tod verwehrt, der doch vor der Tür steht? Lass ab von dem Reich, das mit tödlicher Hand du berührtest, lass zu-rück die Tränen, Bestattungen und zersetzende Verpestung des Himmels, die du mit dir trägst, 80
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unheilvoller Gast, mache dich möglichst schnell fort – und sei es zu deinen Eltern!Iocasta: Quid iuvat, coniunx, mala gravare questu? regium hoc ipsum reor: adversa capere, quoque sit dubius magis status et cadentis imperi moles labet,
85 hoc stare certo pressius fortem gradu: haud est virile terga Fortunae dare.
Iokaste : Was hilft es, mein Gatte, Übel durch Klagen noch zu verschlimmern? Dies doch ist, wie ich meine, das Verhalten eines Königs: Wid-rigkeiten anzunehmen und je unsicherer die Lage, je mehr die Stärke des untergehenden Rei-ches wankt, 85 mit umso bestimmterem Schritt sich tapfer zu zeigen: Es ist unmännlich, Fortuna den Rücken zuzukehren.
Oedipus: Abest pavoris crimen ac probrum procul, virtusque nostra nescit ignavos metus: si tela contra stricta, si vis horrida
90 Mavortis in me rueret—adversus feros audax Gigantas obvias ferrem manus. nec Sphinga caecis verba nectentem modis fugi: cruentos vatis infandae tuli rictus et albens ossibus sparsis solum;
95 cumque e superna rupe iam praedae imminens aptaret alas, verbera et caudae movens saevi leonis more concieret minas , carmen poposci: sonuit horrendum insuper, crepuere malae, saxaque impatiens morae
Oedipus : Fern liegt der schmähliche Vorwurf der Angst, meine Tatkraft kennt keine lähmende Furcht: Wenn mein Gegenüber die Waffe zöge, 90 wenn die eiserne Gewalt des Krieges auf mich einstürzte – wagemutig würde ich gar gegen die wilden Giganten meine Hände erheben. Nicht floh ich vor der Sphinx, die der Worte Sinn in undurchsichtige Gewänder hüllte: Ich ertrug den blutdürstigen Rachen der abscheulichen Seherin und den Boden, weiß vor Knochen, die ihn übersäten; 95 als sie von einem höher gelege-nen Felsvorsprung bereits ihrer Beute auflauerte, ihre Flügel ausbreitete und, indem sie mit ihrem100 revulsit unguis viscera expectans mea; nodosa sortis verba et implexos dolos ac triste carmen alitis solvi ferae.
Schwanz nach Art eines wilden Löwen peitschte, ihre Drohungen weiter anstachelte, forderte ich ihr Rätsel: Grauenerregende Geräusche machte sie von oben, ihre Kiefer knirschten und un-willig, Verzögerung hinzunehmen, 100 riss ihre Klaue in Erwartung meiner Eingeweide Felsen heraus; doch ich löste den verknoteten Loss-pruch, das listige Wortgeflecht, das niederdrü-ckende Rätsel der geflügelten Bestie.
Quid sera mortis vota nunc demens facis? licuit perire. laudis hoc pretium tibi
Was äußerst du nun verspätete Todeswünsche, Wahnsinniger? Es stand dir frei zu sterben. Als
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2.1 Text und Übersetzung105 sceptrum et peremptae Sphingis haec merces datur. ille, ille dirus callidi monstri cinis in nos rebellat, illa nunc Thebas lues perempta perdit. Una iam superest salus, si quam salutis Phoebus ostendat viam.
Preis für deine rühmliche Tat wurde dir die-se Herrschaft, 105 für den Tod der Sphinx dieser Lohn übergeben. Jene, ja jene unheilvolle Asche des verschlagenen Ungeheuers nimmt erneut den Kampf gegen mich auf, jene Pest richtet, obgleich ich sie beseitigt habe, Theben nun zu-grunde. Eine einzige Rettung bleibt uns jetzt, falls Phoebus uns irgendeinen Weg zeigen sollte.110 Chorus: Occidis, Cadmi generosa proles, urbe cum tota; viduas colonis respicis terras, miseranda Thebe. carpitur leto tuus ille, Bacche, miles, extremos comes usque ad Indos,
115 ausus Eois equitare campis figere et mundo tua signa primo: cinnami silvis Arabas beatos vidit et versas equitis sagittas, terga fallacis metuenda Parthi;
120 litus intravit pelagi rubentis: promit hinc ortus aperitque lucem
Phoebus et flamma propiore nudos inficit Indos.
Chor : 110 Du stürzt, edles Geschlecht des Cad-mus, gemeinsam mit der gesamten Stadt! Ent-völkert von Bauern erblickst du deine Länderei-en, bejammernswertes Theben. Gepflückt wird vom Tode, Bacchus, dein berühmter Soldat, dein Begleiter bis zum fernen Indien, 115 der es wagte auf den Feldern im Morgenland zu reiten und der Welt deine Banner zum ersten Mal anzuheften: Die Araber sah er, reich an Zimtwäldern, lernte die Pfeile des fliehenden Reiters, die Rücken des tückischen Parthers zu fürchten; 120 die Küste des roten Meeres betrat er: Von hier nimmt Phoebus seinen Aufgang, breitet sein Licht aus und färbt die nackten Inder dadurch, dass seine Flamme ihnen näher ist.
Stirpis invictae genus interimus,
125 labimur saevo rapiente fato; ducitur semper nova pompa Morti: longus ad manes properatur ordo agminis maesti, seriesque tristis haeret et turbae tumulos petenti
130 non satis septem patuere portae. stat gravis strages premiturque iuncto funere funus.
Wir, ein Geschlecht unbesiegbaren Ursprungs, gehen zugrunde, 125 wir fallen durch das grau-sam dahinraffende Schicksal; stets aufs Neue zieht der Triumphzug des Todes: In langer Kette eilt ein trauriges Heer zu den Manen, die trau-rige Reihe kommt nur stockend vorwärts, denn der gräbersuchenden Menge 130 reichen selbst die sieben offenstehenden Tore nicht aus. Hoch türmt sich der Leichenhaufen und Bestattung reiht sich dicht an Bestattung.
Prima vis tardas tetigit bidentes: laniger pingues male carpsit herbas;
Zuerst befiel die Krankheit Schafe, machte sie lahm: das Schaf kaute kaum das sattgrüne Gras;
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135 colla tacturus steterat sacerdos: dum manus certum parat alta vulnus, aureo taurus rutilante cornu labitur segnis; patuit sub ictu ponderis vasti resoluta cervix:140 nec cruor, ferrum maculavit atra turpis e plaga sanies profusa. segnior cursu sonipes in ipso concidit gyro dominumque prono prodidit armo.
135 da stand ein Priester, der den Hals eines Op-fertiers angehen wollte: während noch seine hochgehaltene Hand zum sicheren Streich aus-holte, sackte der Stier mit seinem golden fun-kelnden Horn müde zusammen; der erschlaffte Nacken klaffte auf durch die enorme Wucht des Stichs: 140 doch nicht Blut, sondern grässlicher Eiter strömte aus der schwarzen Wunde und besudelte das Messer. Das Pferd verlangsamte seinen Galopp, sackte mitten in der Bahn zu-sammen, beugte seinen Hals und übte Verrat an seinem Herrn.
145 Incubant agris pecudes relictae; taurus armento pereunte marcet: deficit pastor grege deminuto tabidos inter moriens iuvencos.
145 Auf den Feldern liegt das Kleinvieh zurück-gelassen; der Stier ermattet, das Großvieh geht zugrunde: der Hirte resigniert angesichts der schwindenden Herde und stirbt zwischen den verwesenden Jungstieren. non lupos cervi metuunt rapaces,
150 cessat irati fremitus leonis, nulla villosis feritas in ursis; perdidit pestem latebrosa serpens: aret et sicco moritur veneno.
Nicht fürchten Hirsche die reißenden Wölfe, 150 es verstummt das Brüllen des zornigen Lö-wen, nicht sieht man den zotteligen Bären ihre Wildheit an; verloren hat ihre Bedrohlichkeit im Schatten ihrer Höhle die Schlange: sie vertrock-net und stirbt, ihr Gift versiegt.
Non silva sua decorata coma
155 fundit opacis montibus umbras, non rura virent ubere glebae, non plena suo vitis Iaccho bracchia curvat: omnia nostrum sensere malum.
Nicht übergießt der Wald mit seiner Blätter Zier 155 die Berge mit dunklem Schatten, nicht grü-nen die Felder durch den Reichtum der Scholle, nicht krümmt der Weinstock die Äste, die voll sind mit seinem Wein: Alles hat dasselbe Übel zu spüren bekommen wie wir.
160 Rupere Erebi claustra profundi turba sororum face Tartarea
Phlegethonque sua motam ripa miscuit undis Styga Sidoniis.
Mors atra avidos oris hiatus
165 pandit et omnis explicat alas; quique capaci turbida cumba flumina servat
160 Es brach auf die Riegel der Tiefen des Erebos die Schwesternschar mit der Fackel des Tartarus, der Phlegethon mischte die Styx, die über ihre Ufer getreten war, mit den sidonischen Wassern. Jetzt öffnet die schwarze Mors ihren gierigen Schlund 165 und breitet ihre Flügel vollständig aus; und er, der in seinem geräumigen Kahn die trüben Gewässer behütet, der hartgesottene
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2.1 Text und Übersetzung durus senio navita crudo, vix assiduo bracchia conto lassata refert,
170 fessus turbam vectare novam.
Fährmann, kann trotz seines noch rüstigen Al-ters kaum mehr einen Zug mit seinen Armen tun, die das beständige Rudern entkräftet hat – 170 er ist es müde, stets aufs Neue eine Schar hin-überzufahren.
Quin Taenarii vincula ferri rupisse canem fama et nostris errare locis, mugisse solum, vaga per lucos <volitare sacros> 51
175 simulacra virum maiora viris, bis Cadmeum nive discussa tremuisse nemus, bis turbatam sanguine Dircen, nocte silenti <circum muros>
Amphionios ululasse canes.
Dass sogar die Eisenfesseln am Tainaron der Höllenhund aufgebrochen habe, sagt das Ge-rücht, und in unserem Land umherirre; der Boden habe ein Dröhnen von sich gegeben, in den heiligen Hainen sollen 175 Abbilder von Hel-den umherschweifen, die größer seien als Men-schen, zweimal habe der cadmische Hain nach der Schneeschmelze gebebt, zweimal sei Dirke durch Blut getrübt worden, in stiller Nacht hät-ten Hunde rund um die von Amphion erbauten Mauern geheult.
180 O dira novi facies leti gravior leto: piger ignavos alligat artus languor, et aegro rubor in vultu, maculaeque cutem sparsere leves.
185 tum vapor ipsam corporis arcem flammeus urit multoque genas sanguine tendit, oculique rigent, resonant aures [187a,188b] stillatque niger naris aduncae [189]
190 cruor et venas rumpit hiantes; intima creber viscera quassat gemitus stridens [192a] et sacer ignis pascitur artus. [187b,188a]
180 Welch grässliches, neuartiges Antlitz des Todes, das noch schlimmer ist als der Tod selbst: ermattende Trägheit hält die Glieder in ihrer Untätigkeit fest, eine Rötung zeigt sich auf dem Gesicht der Kranken, kleine Flecken haben ihre Haut übersät. 185 Dann lässt bren-nende Hitze sogar die Burg des Körpers erglü-hen, dehnt die Augen mit einer großen Menge Blut, der Blick ist starr, in ihren Ohren dröhnt es, schwarzes Blut tropft aus der spitzen Nase 190 und bricht die rissigen Venen weit auf. Die Eingeweide im Innern erschüttert häufig ein zischendes Seufzen und das heilige Feuer nährt sich an ihren Gliedmaßen.
51 Zwierleins (1986, 231f., nach Leo und Richter) Ergänzungen in den Versen 174 und 178 wurden zu-gunsten der Les- und Übersetzbarkeit (vgl. Poiss/Kitzbichler/Fantino 2016, 390 [7]) in den Text über-nommen.
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Iamque amplexu frigida presso [192b,193a] saxa fatigant; [193b] quos liberior domus elato
195 custode sinit, petitis fontes aliturque sitis latice ingesto.
Prostrata iacet turba per aras oratque mori: solum hoc faciles tribuere dei. delubra petunt, haut ut voto
200 numina placent, sed iuvat ipsos satiare deos.
Bald umschlingen sie unablässig kalte Steine; ihr, die euch euer zu unbewachtes Haus gewäh-ren lässt, 195 nachdem der Wächter zu Grabe ge-tragen, rennt zu den Quellen, doch die gierig eingesogene Flüssigkeit mehrt nur den Durst. Hingestreckt liegt eine Menge an den Altären und betete um den Tod: Ihn allein haben die Götter ihnen leichten Herzens zuteilwerden las-sen. Sie eilen zu den Tempeln, 200 nicht um den göttlichen Willen mit einem Gebet zu besänfti-gen, sondern es sagt ihnen zu die Götter selbst zu sättigen. 2.1.7 Lucan (Lucan. 6,78–117)52 Das historische Epos Bellum civile , 53 Lucans unvollendetes Werk in zehn Büchern, beschreibt den Bürgerkrieg, der durch den Konflikt zwischen Caesar und Pompeius ausbricht, sowie die sich an die Ermordung des Pompeius anschließenden Ereignisse in Ägypten. Das Werk sollte wahrscheinlich mit Catos Suizid nach der Schlacht bei Thapsus enden, 54 Lucans Verurteilung im Zusammenhang der Pisonischen Verschwörung (65 n. Chr.) kam einer Vollendung jedoch ver- mutlich zuvor. Der Dichter bricht in vielfältiger Weise mit Gattungskonventionen und gestaltet sein Werk in intensiver Auseinandersetzung mit Vergils Aeneis . 55 Das sechste Buch handelt vom
52 Der Text folgt Shackleton Bailey (1988), Abweichungen werden in den Anmerkungen in Kapitel 2.2.7 begründet.
53 Zur Untergruppe des historischen Epos vgl. Siepe (2019), 10f. mit Anm. 41 für eine Literaturüber-sicht.
54 So mittlerweile die opinio communis , vgl. bereits Genthe (1859), 70 mit Verweis auf die Scharnier-funktion der Schlacht bei Pharsalos.
55 Vgl. zur Abgrenzung von seinen Vorgängern, insbesondere Vergil, v. Albrecht (1970), 281: „Lucan will keinen geschichtsbegründenden Mythos schaffen, sondern eine historische Wirklichkeit, die in ihrer Grösse jeden Mythos in den Schatten stellt, in episch verbindlicher, mit Vergil konkurrierender Form vermitteln und deuten.“ Die wohl markanteste Änderung ist die Abschaffung des epischen Götterapparats, d. h. einer separaten Handlungsebene der Götter, die auf vielfältige Weise den pri-mären Handlungsstrang beeinflusst. Nach v. Albrecht (1965, 1103) hat Lucan diesen „in großartig antiklassischer Gebärde verworfen“, vgl. zum Götterbild allgemein Baier (2010). Als Grund für die Änderung wurden neben dem Streben nach Originalität u. a. eine Notwendigkeit des Stoffs (vgl. z. B. Friedrich 1938, 391–394), eine Beeinflussung durch die Historiographie und die stoische Philosophie (vgl. Radicke 2004, 92f.) sowie ein innerliterarischer Diskurs (vgl. Wiener 2006, 190–193) angeführt.
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2.1 Text und Übersetzung Kriegsgeschehen in Illyrien und Ereignissen in Thessalien, insbesondere vom Hilfegesuch des Sex- tus an die Hexe Erichtho und die sich anschließende Totenbeschwörung. Wie auch bei der Einleitung zu Grattius und Manilius bietet sich für Lucan aufgrund seines besonderen Umgangs mit der Tradition eine ausformulierte Gliederung an. Zunächst zum Kontext: Das sechste Buch gliedert sich in zwei Teile, deren erster (1–332) die Belagerung bei Dyrrhachium,56 der zweite (333–830) das Geschehen in Thessalien als Vorbereitung für die Schlacht von Pharsalos behandelt. Der erste Teil lässt sich wiederum in Vorbereitungen auf die kriegerische Auseinandersetzung (1–117) und die tatsächliche Konfrontation (118–332) teilen. Ähnlich wie bei Manilius ist die Beschreibung der Pest mit der einer Hungersnot kombiniert, die Ereignisse werden auf die beiden Heere verteilt.57 Die Pest setzt bei Vers 78 an einem Punkt ein, an dem Pompeius den Belagerungsring Caesars bemerkt und eine Gegeninitiative begon- nen hat, indem er sein Heer vom Plateau Petra58 hinabführt und auf mehrere Hügel verteilt. Die Kontrahenten stehen sich mit ihren Heeren gegenüber; Lucan spricht in 6,63 von einer Arena, sodass der Rezipient nun das Aufeinandertreffen der Soldaten annimmt – was durch die Pest verhindert wird: Die Beschreibung erfüllt damit eine retardierende Funktion.59 Im Vergleich mit den kürzeren epischen Vorbildern (Aen. 3,135–142 [s. Komm. zu Oed. 49–51] und Ov. met. 15,626–636) ist die eigentliche Schilderung der Pest (6,84–105) mit 22 Versen deut- lich umfangreicher.60 Nach der Erläuterung der Pestursache, die in verwesenden Kadavern von verhungerten Pferden nahegelegt wird (6,84–92), geht die Krankheit letztlich über verschmutz- tes Wasser auf die Menschen über (6,93f.); im Anschluss (6,95–97) werden kurz die Symptome
56 Der Topothesie zu Beginn des Buches kommt eine Funktion zu, nämlich die Präfiguration des na-henden Konfliktes zwischen Caesar und Pompeius sowie der Belagerung in Form der Hügelkette und der Landzunge, die in das anbrandende Meer ragt, vgl. König (1957), 42, Schönberger (1960), 88f., Saylor (1978), 244–247 und Müller (1995), 371. Dass Lucan auch bei der Beschreibung von Orten in einen Dialog mit seinen Vorgängern tritt, hat Barrière (2013) mit Blick auf den locus amoenus ge-zeigt.
57 Der enge Zusammenhang zwischen Hunger und Seuche in Kriegszeiten wurde bereits bei Thukydi-des (2,54) herausgestellt, s. auch Anm. 180, S. 59.Da die Hungersnot für die Deutung der Funktion beider Beschreibungen elementar ist, wird diese sowohl in Übersetzung geliefert als auch kommen-tiert.
58 Zu Lucans vereinfachender Topographie an dieser Stelle, nach der er Petra in die Nähe der Stadt ver-legt, während das Plateau tatsächlich 7 km entfernt ist, vgl. Radicke (2004), 351.
59 Vgl. König (1957), 47, contra Grimm (1965), 75, der sie als funktionslos beschreibt. Gardner (2019, 204) schwenkt möglicherweise ins andere Extrem, wenn sie in ihr als Abbild des Bürgerkriegs die gesamte Programmatik des Werks widergespiegelt sieht.
60 Scaligers (1561, 265) Aussage, Lucan habe sich damit begnügt, lediglich eine rasche Zusammen-fassung des Motivs zu geben, ist daher nur im Vergleich mit den längeren Beschreibungen der Lehr-gedichte zuzustimmen.
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genannt. In einer raschen Steigerung führt die Erkrankung zum unmittelbaren Tod, die Leichen werden außerhalb der Zelte entsorgt und die Grenzen zwischen Lebenden und Toten verschwim- men (6,98–103a). Mit einem plötzlichen61 Adversativsatz werden Faktoren angeführt, welche die Not linderten, nämlich das Meer,62 die Nordwinde, die Küste und der Warentransport (6,103b– 105) – ob diese zu einer Heilung führen, wird nicht explizit gesagt (s. jedoch unten den Komm. zur Stelle); stattdessen wird zur Hungersnot auf der gegnerischen Seite übergeleitet. Bereits bei einer ersten Betrachtung wird ersichtlich, dass Lucan trotz seiner ausführliche- ren Behandlung viele Elemente der Motivtradition nicht aufgegriffen hat. Die Besprechung im Kommentar wird an mehreren Stellen die direkte Nutzung von Ovid und Seneca aufzeigen, sodass die Reduktion eine bewusste Entscheidung widerspiegeln dürfte.63 Handelte es sich dabei um eine notwendige Anpassung an die Gattungskonventionen? Ganz so einfach ist es nicht: Abgesehen davon, dass wohl Lucan der letzte Dichter wäre, für den man eine solche Konzession annehmen wollte, hat Vallillee herausgearbeitet, dass er an mehreren Stellen des Epos Elemente der Motivtradition verarbeitet.64 Diese Umsetzungen hat Vallillee ebendort als „quasi-plague descriptions“ betitelt, was dahingehend mit Vorsicht zu verwenden ist, dass die Bezeichnung höchstens aus der Dichterperspektive zutrifft, da nicht ermittelt werden kann, ob die Rezipien- ten die Versatzstücke ihrem Ursprungskontext zuordnen konnten bzw. dies auch taten. Statt- dessen ist Lucans künstlerische Originalität zu betonen, da er das Motiv in dessen einzelne Elemente aufbricht und sich dieser in zwar vergleichbaren, aber erzähltechnisch doch verschie- denen Passus bedient.65 Die nachfolgende Liste enthält sowohl Vallillees (V), Gardners (G) als auch eigene Beobachtungen und kann als Grundlage für weitere Untersuchungen dienen:6661 Radicke (2004, 101) sieht die Rückkehr zur historischen Tradition nach einer Übertreibung in der poe-tischen Umsetzung als „unvermittelt und ästhetisch anstößig“. Im Dialog mit der poetischen Tradition jedoch erfährt die Katastrophe durch die unerwartete Wendung eine bemerkenswerte Relativierung, die auch eine Absage an die Vorgänger ausdrücken kann; in Anbetracht der Motivtradition braucht auch die Hinzufügung der Nordwinde keine Verwunderung (vgl. ibid., 356) mehr hervorzurufen.
62 Zu Meer und Wasser als Gegner Caesars im Bellum civile vgl. Schönberger (1960), 82f.
63 Die Pest, die Rom im Jahr 65 n. Chr. heimsuchte (vgl. Tac. ann. 16,13), hätte zu einer fehlenden Dis-tanz der Rezipienten zum Gegenstand führen und damit eine Reduktion notwendig machen können (vgl. Anm. 24, S. 16), ist aber als Erklärung aufgrund der Chronologie auszuschließen.
64 Vgl. Vallillee (1960), 150–156, aufgegriffen von Gardner (2019), 200–206.
65 Im Kommentar werden mehrere Ursachen für diese Verschiebung erwogen; in jedem Fall beweist der Dichter durch die Reduktion an der vorliegenden Stelle sein großes kompositorisches Geschick, da eine zu ausführliche Darstellung nicht nur die Retardierung überstrapaziert, sondern auch einen Kontrapost zum eigentlichen Hauptteil in Thessalien gebildet hätte.
66 Ergänzend kann der Beitrag von Michael Pope (2020) zur Rezeption des Lukrez in Lucans Beschrei-bung von Leichenhaufen hinzugezogen werden, der einen Teil der aufgeführten Stellen in den Blick nimmt.
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2.1 Text und Übersetzung Stelle Inhalt Verarbeitete Elemente
1,608–615 (V) Opferszene des Arruns67Widerwillige Opferung, Schleim ( virus ) anstelle von Blut2,103–206 (G) Wüten des Bürgerkriegs unter Sulla68
Leichenhaufen, Massensterben ohne Berücksichtigung des Alters
3,16–19Schilderung Iulias über die
Unterweltpausenloses Arbeiten in der Unterwelt, Charon bereitet sich auf die Massen an Toten vor
3,399–425Hain vor MassiliaFernbleiben von wilden Tieren, kein Wind weht
3,756–761 (V) Streit um die verstümmel-ten Leichen
Streit bei den Scheiterhaufen
4,324–329 (V) Auswirkung des Durstes69Symptome, inneres Feuer
4,365–372
Strömen der Pompeianer zum unbewachten ( incus- toditus ) Fluss, unstillbarer
Durst
Strömen der Kranken zu öffentlichen Wasserstellen, un-stillbarer Durst, Fehlen des custos
4,749ff. (V)Erschöpfung der PferdeSymptome der Norischen Viehseuche
7,803–808 (V) Bitte um Bestattung auf einem Scheiterhaufen70
Kritik der Verbrennung auf einem Scheiterhaufen
9,767–774 (V) Symptome beim Biss der
Seps
Symptome, Verflüssigung Tabelle 2: Verteilung der Motivelemente in Lucans Bellum civile
67 Ebenso Narducci (2002), 56f., der neben der eigentlichen Seuchenbeschreibung auch die Opferszene des Oedipus vergleicht.
68 Diese Parallele ist insbesondere vor dem Hintergrund der Tetradenstruktur des Bellum civile (vgl. Radicke 2004, 50 mit einer Übersicht) von Interesse.
69 Der gesamte Passus (Lucan. 4,267–336), in dem das Heer des Pompeius durch Caesars Belagerung Durstqualen erleidet, bildet eine bemerkenswerte Parallele zum Hungern der Caesarianer. Im vier-ten Buch wird jedoch dem Bemühen der Pompeianer um Alternativen mithilfe von Technik wesent-lich mehr Platz eingeräumt, bevor sie sich in Pfützen stürzen.
70 Die Bitte im Anschluss an die Schlacht von Pharsalos gewinnt durch einen Vergleich mit der Motiv-tradition besonderes Pathos, indem dasjenige, was bei Seuchenbeschreibungen Charakteristikum des Werteverfalls ist – nämlich die Bestattung mehrerer Menschen auf einem Scheiterhaufen – hier zum kollektiven Wunsch wird.
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Classica nulla sonant iniussaque tela vagantur et fit saepe nefas iaculum temptante lacerto.
80 maior cura duces miscendis abstrahit armis:
Keine Trompeten ertönen, nur ohne Befehl flie-gen Geschosse umher und oft geschieht eine Freveltat, bloß weil ein Arm sich im Umgang mit dem Wurfspeer übt. 80 Größere Sorge hält die Feldherren davon ab, die Klingen zu kreuzen:
Pompeium exhaustae praebenda ad gramina terrae; quas currens obtrivit eques gradibusque citatis ungula frondentem discussit cornea campum. belliger attonsis sonipes defessus in arvis,
85 advectos cum plena ferant praesepia culmos, ore novas poscens moribundus labitur herbas et tremulo medios abrumpit poplite gyros. corpora dum solvit tabes et digerit artus, traxit iners caelum fluvidae contagia pestis
90 obscuram in nubem. tali spiramine Nesis emittit Stygium nebulosis aera saxis antraque letiferi rabiem Typhonis anhelant.
Pompeius die abgenutzten Landstriche, unfä-hig, Gras zu spenden; sie haben die Reiter im Schnellschritt niedergetrampelt und in eilen-dem Galopp hat der hörnerne Huf das grünen-de Feld zerlegt. Das Kriegsross ermattet auf den abgefressenen Fluren und 85 obwohl ihm die gefüllten Futterkrippen herbeigeschifftes Heu bieten, fordert es todgeweiht mit dem Maul frisches Gras und stürzt, es bricht seine Trai-ningsrunden in der Mitte mit zitterndem Knie ab. Während nun Fäulnis ihre Körper auflöste und ihre Glieder zersetzte, zog die stehende Himmelsluft den Krankheitsstoff dieses flüssi-gen Unheils in eine dunkle Wolke zusammen. 90 Mit solchem Hauch lässt Nesis die Luft der Styx aus ihren nebelbedeckten Felsen aufstei-gen und atmen ihre Grotten die Raserei des todbringenden Typhon aus.
Inde labant populi, caeloque paratior unda omne pati virus duravit viscera caeno.
95 iam riget arta cutis distentaque lumina rumpit, igneaque in vultus et sacro fervida morbo pestis abit, fessumque caput se ferre recusat. iam magis atque magis praeceps agit omnia fatum, nec medii dirimunt morbi vitamque necemque,
100 sed languor cum morte venit; turbaque cadentum aucta lues, dum mixta iacent incondita vivis corpora; nam miseros ultra tentoria cives spargere funus erat. tamen hos minuere labores a tergo pelagus pulsusque Aquilonibus aer
Dann beginnt der Massen Fall und das Wasser, geeigneter noch als die Luft, jede Art von Krank-heit in sich eindringen zu lassen, härtete ihre Eingeweide durch Schmutz. 95 Schon erstarrt die gespannte Haut und lässt die aufgedunsenen Au-gen platzen; die Pest steigt feurig lodernd mit der heiligen Krankheit ins Gesicht, das müde Haupt verweigert, sich selbst zu tragen. Schon treibt das Schicksal alles mehr und mehr in den Abgrund und nicht mehr treten Krankheiten zwischen Leben und Tod, 100 sondern Schwächegefühl und Tod fallen ineins. Mit der Menge an Toten erstarkt die Pest, weil die unbestatteten Körper mit den Lebenden vermischt liegen: Denn ihre
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2.1 Text und Übersetzung
105 litoraque et plenae peregrina messe carinae. beklagenswerten Mitbürger außerhalb der Zelte zu verteilen war deren Bestattung. Dennoch lin-derten diese Leiden das Meer in deren Rücken, die Nordwinde, welche die Luft in Bewegung brachten, 105 die Küste und Schiffe, die voll bela-den waren mit der Ernte aus der Ferne.
At liber terrae spatiosis collibus hostis aere non pigro nec inertibus angitur undis, sed patitur saevam, veluti circumdatus arta obsidione, famem. nondum turgentibus altam
110 in segetem culmis cernit miserabile volgus in pecudum cecidisse cibos et carpere dumos et foliis spoliare nemus letumque minantis vellere ab ignotis dubias radicibus herbas. quae mollire queunt flamma, quae frangere morsu,
115 quaeque per abrasas utero demittere fauces, plurimaque humanis ante hoc incognita mensis diripiens miles saturum tamen obsidet hostem.
Aber der Feind, uneingeschränkt auf den weit-läufigen Hügelketten dieses Landstrichs, wird weder von drückender Luft noch von stehenden Gewässern in Atem gehalten, sondern leidet an wahnsinnigem Hunger, als wäre er selbst von einem engen Belagerungsring eingeschlossen. 110 Da die Halme an der Spitze des Feldes noch nicht zur Frucht angeschwollen sind, sieht Cae-sar, wie der jämmerliche Haufen zur Speise des Viehs auf die Knie geht und Gestrüpp abfrisst, den Wald seiner Blätter beraubt und sich von unbekannten Wurzeln Kräuter abzupft, die in ihrer ungewissen Wirkung lebensgefährlich sind. Was sie mit Feuer weichmachen, was sie durch Kauen zerkleinern können, 115 was sie durch die aufgerissenen Hälse in den Magen herunterbekommen – der Großteil war auf denTischen der Menschen bis zu diesem Zeitpunkt unbekannt – reißen die Soldaten an sich; und sie belagern einen Feind, der dennoch satt ist. 2.1.8 Silius Italicus (Sil. 14,580–626)71 Die Punica sind mit ihren 17 Büchern über den Zweiten Punischen Krieg (218–202 v. Chr.) das umfangreichste uns überlieferte lateinische Epos. Sie wurden wohl unter der Herrschaft Do- mitians (81–96 n. Chr.) veröffentlicht. 72 Als Hauptquelle der historischen Darlegung ist Livius
71 Der Text folgt Delz (1987), Abweichungen werden in den Anmerkungen in Kapitel 2.2.8 begründet.72 Das elogium principis in Sil. 3,594–629 mit seiner Anspielung auf den Kaiser Domitian (nicht unum-stritten, vgl. Ripoll 1998, 461 Anm. 176) führte gemeinsam mit dem Nachruf des Plinius (epist. 3,7)
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erkannt, 73 das Verhältnis wurde von Werner Schubert treffend als „komplementär“ bezeich- net. 74 Gattungsinternes Vorbild waren vor allem Vergils Aeneis (wobei die Punica auf mehreren Ebenen als eine Art Fortsetzung angesehen werden können) sowie Homer, Ennius und Lucan. 75 Das (bemerkenswert in sich geschlossene) 76 vierzehnte Buch handelt von den Kriegshandlungen des Marcellus auf Sizilien, von einer Seeschlacht vor Syrakus und der Einnahme der Stadt. Die Pest steht zwischen einem Kurzkatalog der erhaltenen Schiffe nach der Seeschlacht (353–579) 77 zu einer Einordnung von Autor und Werk unter das literaturgeschichtliche Etikett der flavischen Epiker (vgl. m. Literaturverweisen Augoustakis 2010, 3–23); Wilson (2013) hat zu bedenken gegeben, dass die Punica keineswegs eindeutig ein Alterswerk des Silius darstellen müssen, wie häufig be-hauptet (vgl. bspw. v. Albrecht 32012, 809 Anm. 6), sondern bereits ein Erzeugnis neronischer Zeit sein könnten. Die Panegyrik des Silius sei dergestalt, dass sie auch zu einem späten Zeitpunkt des Schaffungsprozesses hinzugefügt worden sein könne (man vergleiche etwa mit Leberl 2004 die des Statius und des Martial). Wilson erläuterte, inwiefern eine Überbetonung der Umstände der Ver-öffentlichung über die zentralen Einflussfaktoren auf den Schaffensprozess hinwegtäuschen kann. Für unser Vorhaben ist entscheidend, dass Silius (mindestens zum Teil) nach Lucan schreibt, als letzter Dichter der Motivtradition im ersten nachchristlichen Jahrhundert zu behandeln ist und so-mit (positiv gedeutet) auf die gesamte Tradition zurückgreifen und sich souverän einordnen konnte (vgl. Pomeroy 1990 und Manuwald 2007, 89f.). Bedauerlicherweise weniger offen Grimm (1965, 76), der die Beschreibung (vermutlich in Anlehnung an das Urteil älterer Literaturgeschichte) als „ein Erzeugnis kraftlosen Epigonentums“ bezeichnet (vgl. dazu Anm. 15, S. 14 und Schubert 2007, 157). Positiver (gleichwohl kritisch) äußert sich Vallillee (1960), 174, der bei Silius neben zahlreichen Imi-tationen auch einen Drang zur Innovation beobachtet.73 Vgl. Nesselrath (1986). Dementsprechend wird auch die Seuchenbeschreibung in Liv. 25,26,7–15 als Vergleichspunkt hinzugezogen ( contra Burck 1984, 46). Da auch diese zahlreiche Elemente der Tra-dition verarbeitet (was einer eigenen Untersuchung bedürfte), wird eine eindeutige Festlegung auf bestimmte Autoren bei der Allusion erschwert und nicht selten unmöglich gemacht, vgl. Vallillee (1960), 173: „The fact that the verbal resemblances now are common to so many authors makes the definite identification of the primary source conjectural.“ Gleiches gilt für eine Festlegung auf einen primären Einfluss, wie es Bruère (1959, 239) und Wilson (2004, 231) vorgenommen haben.
74 Schubert (2007), 166: „Es ist evident, dass Silius sich an Livius nicht in dem Sinne orientiert, parallele Proportionen des Handlungsgeschehens vorzunehmen; aber er ignoriert die livianische Disposition auch nicht. Seine Architektur ist vielmehr als komplementär oder ‚gegengleich‘ zu verstehen.“
75 Dabei ist für die Rezeption von Homer und auch von hellenistischer Dichtung charakteristisch, dass Silius sie durch ein Prisma der Werke Vergils sieht, vgl. v. Albrecht (32012), 812 und Juhnke (1972), 185–226.
76 Stocks (2014) bezeichnet es als ein Epyllion. Braun (1993, 176) sieht in der Einzelstellung das fünfte,
Stürner (2011, 155) das siebte Buch aufgegriffen, jeweils in Abhängigkeit vom gewählten Schwerpunkt.
77 Mit der Beschreibung der Seeschlacht weicht Silius von der historischen Darstellung ab (vgl. dazu generell Ripoll 1998, 453–455). In Liv. 25,27 (nach der Seuche) sieht eine karthagische Flotte unter der Leitung des Bomilkar von einer direkten Auseinandersetzung mit den Römern ab, vgl. Bauer (1883), 35. Marks (2018) hat erneut aufgezeigt, dass die Ausgestaltung der Seeschlacht von einer en-gen literarischen Auseinandersetzung mit Silius’ Vorgänger Lucan zeugt (vgl. in detaillierter Gegen-überstellung bereits Wezel 1873, 92–95 und Burck 1984, 32–44).
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2.1 Text und Übersetzung und der Einnahme der Stadt (627–688), die sie durch den Befall beider Kriegsparteien hinaus- zögert. 78 580–584Pest als retardierendes Element, Ätiologie (Missgunst der Götter und Wasser)
585–589Ätiologie (Luft)
590–593Ätiologie (Erde)
594–597Ansteckung von Tier und Mensch
598–605Symptomkatalog
606–608Tod eines Kriegshelden, Unwert der Kriegsbeute
609–612Scheitern der Medizin, ausbleibende Bestattung (T I A, T XVII; s. Kapitel 1.5.4)
613–617Erneute Ausbreitung, gleiches Wüten auf beiden Seiten
618–626Überwindung der Krankheit
580 Nec mora quin trepidos hac clade inrumpere muros signaque ferre deum templis iamiamque fuisset, ni subito importuna lues inimicaque pestis, invidia divum pelagique labore parata, polluto miseris rapuisset gaudia caelo.
580 Unverzüglich hätte Marcellus die Mauern, die nach dieser Niederlage schon erzitterten, durch-brochen und hätte schon bald die Feldzeichen in die Tempel der Götter getragen, wenn nicht plötzlich zur Unzeit eine Pest, eine schädliche Krankheit, die aufgrund der Missgunst der Göt-ter und dem Treiben des Meeres entstand, den Elenden durch ein vergiftetes Klima diese Freu-den entrissen hätte.
585 criniger aestiferis Titan fervoribus auras et patulam Cyanen lateque palustribus undis stagnantem Stygio Cocyti opplevit odore temporaque autumni laetis florentia donis foedavit rapidoque accendit fulminis igni.
590 fumabat crassus nebulis caliginis aer, squalebat tellus vitiato fervida dorso nec victum dabat aut ullas languentibus umbras,
585 Der langhaarige Titan erfüllte die Luft mit Sommerhitze und hüllte Cyane, die sich unter freiem Himmel erstreckt und mit versumpftem Wellenschlag austritt, in den infernalischen Gestank des Cocytus; er entstellte die Jahreszeit des Herbstes, der sonst mit fruchtbaren Gaben erblüht, und steckte ihn mit Feuer in Brand, so schnell wie ein Blitz. 590 Die Luft war dun-kel durch dichte Nebelschwaden; die glühende Erde bekam auf ihrem erkrankten Rücken Ris-se und gab den Siechenden weder irgendeine
78 Den im Vergleich zu Livius veränderten Charakter der Retardierung (bei Livius trat die Seuche nach der Plünderung der Stadt ein) hat Vallillee (1960, 160) pointiert formuliert: „The disease, which had stopped the fighting in Livy, becomes an impediment to Roman victory in Silius.“
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atque ater picea vapor expirabat in aethra. Nahrung noch irgendeinen Schatten; schwar-zer Dampf entwich im pechschwarzen Äther. vim primi sensere canes. mox nubibus atris595 fluxit deficiens penna labente volucris. inde ferae silvis sterni. tum serpere labes
Tartarea atque haustis populari castra maniplis.
Ihre Macht spürten als erste die Hunde. 595 Bald fielen die Vögel aus den schwarzen Wolken, weil ihre Flügel entkräftet niedersanken. Dar-aufhin gingen die wilden Tiere in den Wäldern nieder. Dann kroch das Unterweltsübel weiter, verwüstete das Feldlager und lichtete die Rei-hen der Manipel. arebat lingua, et gelidus per viscera sudor corpore manabat tremulo. descendere fauces
600 abnuerant siccae iussorum alimenta ciborum. aspera pulmonem tussis quatit, et per anhela igneus efflatur sitientum spiritus ora. lumina ferre gravem vix sufficientia lucem unca nare iacent, saniesque immixta cruore
605 expuitur, membrisque cutis tegit ossa peresis.
Trocken war die Zunge und eiskalter Schweiß strömte aus dem Innern des Körpers über die zitternden Glieder. 600 Die trockenen Hälse ver-weigerten den verschriebenen Speisen den Ab-stieg. Ein rauer Husten erschütterte die Lunge und der Atem der Dürstenden trat wie Feuer mit einem Keuchen aus ihrem Mund. Die Au-gen waren kaum in der Lage das als unange-nehm empfundene Tageslicht zu ertragen und lagen über einer gekrümmten Nase, blutiger Eiter 605 wurde ausgespuckt und an den zerfres-senen Gliedmaßen bedeckte die Haut nur noch Knochen. heu dolor! insignis notis bellator in armis ignavo rapitur leto. iactantur in ignem dona superba virum multo Mavorte parata. succubuit medicina malis. cumulantur acervo
Weh, welch Schmerz! Den ausgezeich-neten Krieger, wenngleich von seiner be-rühmten Rüstung geschützt, raffte der Tod in Untätigkeit dahin. Ins Feuer geschleu-dert wurden die Abzeichender Männer, die mit Stolz in zahlreichen Kriegen erworben wurden. Die Medizin ging vor dem Übel610 labentum et magno cineres sese aggere tollunt. passim etiam deserta iacent inhumataque late corpora pestiferos tetigisse timentibus artus. in die Knie. 610 Hoch häuften sich die Toten und zu einem hohen Hügel türmte sich die Asche. Weit und breit verteilt lagen Körper herum, im Stich gelassen und unbestattet, weil die Men-schen sich fürchteten, die Glieder anzurühren, welche die Krankheit übertrugen.
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2.1 Text und Übersetzung serpit pascendo crescens Acherusia pestis nec leviore quatit Trinacria moenia luctu
615 Poenorumque parem castris fert atra laborem. aequato par exitio et communis ubique ira deum atque eadem leti versatur imago.
Das Unheil des Acheron kroch weiter und wuchs mit seiner Nahrung, erschütterte die Mauern von Syrakus mit nicht geringerer Trauer 615 und brachte unheilvoll dem Lager der Punier das gleiche Leiden. Mit gleich hohem Verlust wütete der Zorn der Götter überall auf gleiche Weise und zeigte dasselbe Antlitz des Todes.
Nulla tamen Latios fregit vis dura malorum incolumi ductore viros, clademque rependit
620 unum inter strages tutum caput. ut gravis ergo primum letiferos repressit Sirius aestus, et minuere avidae mortis contagia pestes, ceu, sidente Noto cum se maria alta reponunt, propulsa invadit piscator caerula cumba,
625 sic tandem ereptam morbis grassantibus armat
Marcellus pubem lustratis rite maniplis .
Dennoch bricht kein noch so schlimmes und hartes Übel die Männer Latiums, solange ihr Anführer unversehrt ist, 620 und ein einziges unversehrtes Haupt inmitten der Vernichtung bietet ein Gegengewicht zur Katastrophe. So-bald also das Sinken des Sirius die todbringen-de Hitze zurückdrängte, wurde auch die nach Tod gierende Pest weniger ansteckend, und wie der Fischer, der, wenn sich der Südwind legt und die hohe See sich beruhigt, den Kahn in Bewegung setzt und das Meeresblau angreift, 625 so bewaffnete schließlich Marcellus die der tobenden Krankheit entrissene Jugendschar, nachdem er die Manipel dem Brauch gemäß gereinigt hatte.
2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung
Der Zeilenkommentar verfolgt vier Ziele: 1) Begründung der Konstitution des lateinischen Textes (lateinisches Lemma)
2) Sicherung des Textverständnisses unter Berücksichtigung des Werkzusammenhangs
3) Vergleich der Beschreibungen zur Erarbeitung der Motiventwicklung
4) Kommentierung mit Schwerpunkt auf der Vorstellung von der Krankheit, ihrer Wirk-weise im Körper der Erkrankten und der gesellschaftlichen Reaktion Damit dient er der Bearbeitung des ersten sowie der Vorbereitung des zweiten Forschungsziels (s. Kapitel 1.4). Die Verbindung der lateinischen Autoren untereinander wird in den Anmer- kungen selbst untersucht, wohingegen die Rezeption des Thukydides durch Lukrez aufgrund seiner besonderen Rolle für die Tradition in einer gesonderten Einleitung (auch in wissen- schaftshistorischer Hinsicht) beleuchtet wird.79 2.2.1 Lukrez Bereits früh erkannten Lukrezkommentatoren die Parallelen und Unterschiede der lukrezi- schen Seuchenbeschreibung zu derjenigen des Thukydides.80 Einen ersten systematischen Ver- gleich unternahm Hans Schröder, der zu Beginn die Zweifel Jan Woltjers anführt, ob Lukrez sich tatsächlich des thukydideischen Werkes als Quelle bedient habe, und dessen Äußerung
79 Für eine Darstellung der Thukydidesrezeption in Rom vgl. generell Canfora (2006), dort S. 730f. zu Lukrez.
80 Die früheste und ausführlichste Auseinandersetzung aus medizinischer Perspektive findet man im Kommentar des Florentiner Arztes Giovanni Nardi, der das Gedicht insbesondere mithilfe von Hip-pokrates und Galen humoralpathologisch auslegt und eine eigene Monographie verdiente. Nardi (1647, 571) umschreibt das Verhältnis von Lukrez zu seiner Vorlage durch eine Jagd ohne sklavische Abhängigkeit: „Postremo dum Lucretius nimia sagacitate symptomata Atheniensis Pestis venatur, de[s]ciscit dubio procul a suo antesignano Thucydide“ und kritisiert jegliche Zweifel an Lukrezens Leistung als nefas (‚Frevel‘; ibid., 583). Die Verwendung des Thukydides durch Lukrez ist heute opi- nio communis , die sich u. a. in der Akzeptanz der Transposition des Verses 1245 von Richard Bentley äußert, die ihre Begründung in der Ausgabe von Wakefield im Aufbau des Thukydidestextes findet (1797, 383): „Vir doctissimus [sc. Bentleius] provocat, ut par est, ad Thucydidis verba , modo posita, quae transpositionem extra fines controversiae locant“ (Hervorhebung FN).
124
2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung damit einen hohen Rang zugesteht;81 Woltjer geht davon aus, es sei eine Darstellung bei Epi- kur (der seinerseits Thukydides übernahm) selbst vorhanden gewesen, die Lukrez zur Vorlage diente.82 Schröder hingegen nimmt eine direkte Bezugnahme an und hat zugleich eine Erklä- rung für die von ihm beobachteten Abweichungen: Lukrez habe bei seiner Übersetzung des Thukydides Fehler begangen, die ob der Schwierigkeit des Originals und der von Lukrez selbst häufig beklagten Spracharmut des Lateinischen ( patrii sermonis egestas ) kaum verwunderlich seien.83 Dieses Erklärungsmodell des ‚fehlerhaften Übersetzers‘ fand bis in Cyril Baileys Kom- mentar in der Mitte des 20. Jahrhunderts Verwendung.84 Doch eine solche Begründung musste verwundern. Wie ist die defizitäre Kenntnis des Grie- chischen damit vereinbar, dass direkte sprachliche Einflüsse des Empedokles aufzuzeigen sind?85 Wie lassen sich das Ende des vierten Buches und das dortige Spiel mit griechischen Kosenamen erklären, deren Verwendung vermutlich auf Platon und Theokrit zurückgeht?86 Außerdem nutzte der Dichter Epikur als Hauptquelle und an vielen Stellen moderner Kom- mentare ist von engen Bezugnahmen auf Homer zu lesen. Aus all diesen Beobachtungen haben Forscher wie Martin Ferguson Smith für Lukrez gefolgert: „[E]vidently a master of Greek, as well as of Latin, he had a broad and deep knowledge of the literature of both languages“.87
81 Vgl. Schröder (1898), 4. Noch 40 Jahre später wandte sich der Philologe Benno von Hagen (1938, 121) gegen ein solches Vorgehen, wobei erneut die bereits behandelte Trennung von Wissenschaft und Kunst (vgl. oben Kapitel 1.5.2) deutlich wird: „Es heißt dem klassischen Werte des Thukydides einen schlechten Dienst erweisen, wenn man immer wieder neben seine exakte, auf Autopsie und eigenem Leiden beru-hende, von genauester Kenntnis der ärztlichen Literatur seiner Zeit zeugende Darstellung die rein poe-tische – 3½ Jahrhunderte später entstandene – in lateinischer Sprache gegebene sog. ‚Pest‘beschreibung des Lukrez stellt, als ob bei solchem Vergleich etwas anderes herauskäme als im günstigsten Falle die An-erkennung, daß Lukrez die thukydideische Krankheitsgeschichte in den epischen Stil übertragen habe“.
82 Woltjer (1877), 160. Zum Verhältnis von Epikur zur medizinischen Disziplin vgl. Tielemann (2018), insbes. 261–263.
83 Vgl. Schröder (1898), 15 und 24f. Zum Topos der Spracharmut, den der Dichter maßgeblich geprägt hat, vgl. Fögen (2000), 61–76 und Krenkel (2003), 16–23.
84 Vgl. Bailey (1947), 1723. Daneben taucht dieses Erklärungsmodell auch vereinzelt in jüngeren Auf-sätzen auf, vgl. etwa Morgan (1994), 203 (in Abhängigkeit von Bailey) zur vermeintlich fehlerhaften Übertragung des ferro … privati (Lucr. 6,1209).
85 Für die Beziehung zwischen Lukrez und Empedokles, die durchaus Gegenstand kontroverser Dis-kussion war und ist, vgl. u. a. Jobst (1907), Furley (1970), Sedley (1998) und Nethercut (2017). Gene-rell ist bei allen Parallelen Vorsicht vor einem ‚ Empedoclean bias ‘ angeraten, wie etwa im Falle des Musenanrufs an Calliope (Lucr. 6,92–95), der oft als Rekurrenz auf DK B 131 verstanden wurde: Waszink (1954, 13) sieht in diesem Fall vielmehr Ennius als Vorlage und warnt vor allzu schnellen Rückschlüssen auf Empedokles.
86 Lucr. 4,1160–9, vgl. dazu Brown (1987), 128–132.
87 Rouse/Smith (21975), XIV und damit gegen Munro (41886), 398, der die Fähigkeit des Lukrez auf das zeitgenössische Griechisch beschränkt sieht. Stoddard (1996, 124) geht noch über die reine Sprach-kenntnis hinaus und sieht bei Lukrez „expertise and deep understanding of the Thucydidean text“.
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Einem logischen Disjunkt folgend blieb neben der Möglichkeit des versehentlichen Überset- zungsfehlers nur noch die willentliche Änderung des Ursprungstextes.88 Ausgehend von dieser Prämisse wurden viele wertvolle Einsichten gewonnen, wie etwa Lukrezens verstärkte Aus- einandersetzung mit der Psyche der Erkrankten (s. Komm. zu Lucr. 6,1158f.). Hinsichtlich der Gesamtinterpretation schließen sich die folgenden Überlegungen an diejenigen Forschungs- beiträge an, welche die Pest als tatsächlich intendierten Schluss des Werkes ansehen und ihr (allgemein formuliert) einen primär ethisch-didaktischen Zweck zuschreiben.89 Lucr. 6,1138 Einst/ quondam: Mithilfe des quondam rückt Lukrez die Pest in eine unbestimmte Vergangenheit. Lukrezens Verwendung des Wortes variiert: Von den sechs anderen Einträgen in Wachts Konkordanz bezie- hen sich zwei auf einen mythologischen Kontext (Lucr. 2,634 und 5,411), drei auf Geschehnisse um historische Persönlichkeiten (3,1029; 6,2 und 6) und eines auf eine Gepflogenheit in unbestimmter Vergangenheit (6,109).90 Timothy Stover argumentierte auf Basis einer näheren Betrachtung der jeweiligen Passus gegen Gales mythologische Deutung.91 Dabei ist zu unterstreichen, dass sich dessen Argumentation nicht gegen die Enthebung der Pest aus dem historischen Zusammenhang richtet, sondern lediglich die vermeintliche Mythologisierung angreift. Jene Loslösung ermöglicht es dem Dichter, der Erzählung einen paradigmatischen Charakter zu verleihen.9288 Das Disjunkt selbst hat jüngst Kazantzidis (2018, 92–94 und 2021, 142–147) erneut in Frage gestellt, indem er Parallelen zum Demeterhymnos des Kallimachos aufgezeigt hat. Als Hauptbeleg dient da-bei Lucr. 6,1264 pelli super ossibus una (zu Call. Cer. 6,93 δειλαίῳ ἶνές τε καὶ ὀστέα μῶνον ἔλειφθεν ‚Nur Sehnen und Knochen wurden vom Armen zurückgelassen.‘), das jedoch sprichwörtlich ist (vgl. mit Otto 1890, 260 u. a. Plaut. Aulul. 564 Quia ossa ac pellis totus est ‚Weil er nur aus Haut und Knochen besteht.‘), sodass die Bezugnahme (und damit in Teilen auch die Argumentation für die ‚antiphrastische Allusion‘ [Kazantzidis 2021, 147]) zumindest zu überdenken ist.
89 Vgl. Anm. 17, S. 78 mit Literaturverweisen, zu ergänzen durch Blößner (2004, 123–133), der sich mit wichtigen Beobachtungen gegen eine eng formulierte Testhypothese ausspricht. Für die Haupt-argumente der Gegenposition, welche die Pest nicht als Schluss des Gedichtes ansieht, vgl. Bignone (1945), 318–322. Bislang ist m. E. unbemerkt geblieben, dass die häufig bemerkte Spannung zwischen Anfang und Schluss des Gedichtes (Venusprozession und Pest, vgl. Minadeo 1969, 11, Schiesaro 1994, 91f., Gale 1994, 226 und Asmis 2015, 42–45) auch eine Entsprechung in der Figur der Venus be-sitzt, die sich eben nicht nur für den Beginn des Lebens, sondern als Venus Libitina auch für dessen Ende verantwortlich zeigt (zur Verbindung vgl. Köves-Zulauf 2004). Dass die Libitina im Kontext von Seuchen keine fernliegende Assoziation ist, zeigen Liv. 40,19,3 und Obseq. 10.
90 Vgl. Wacht (1991), 613.
91 Vgl. Gale (1994), 112f., Stover (1999), 71–74 und vor diesem Hintergrund auch Kazantzidis (2018), 94f. und (2021), 148; eine vergleichbar entrückende Funktion erfüllt das quondam in Verg. georg. 3,478.
92 Ebenso Foster (2011), 93: „Together, the Roman narrator and the Roman Epicurean pupil replace Thucydides, and the Athenians become the examples of an Epicurean lesson.“
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Lucr. 6,1138 eine solche Krankheit / haec ratio … morborum: Lukrez nimmt auf seine atomistische Krankheitstheorie Bezug, die der Seuchenbeschreibung vorangegangen ist, vgl. Lucr. 6,1090ff. Nunc ratio quae sit morbis … expediam und Kapitel 3.1.1. Lucr. 6,1138 todbringender Pesthauch /mortifer aestus: Mit dem Begriff aestus (eig. ‚Woge‘, ‚Hitze‘) wird an dieser Stelle der sich durch die Luft bewegende Strom an Krankheitsatomen bezeichnet. Die Auffassung von aestus als Atom- strom findet sich bei Lukrez u. a. in den Abschnitten zum Avernersee und Magnetstein, die auf der Argumentationsebene des sechsten Buches eindeutig eine Vorbereitung der Krankheitstheorie darstellen.93 Im Lauf der Motivtradition wird aestus auf unterschied- liche Weise aufgegriffen und bildet fortan eine Markierung für die gegenseitige literarische Bezugnahme.94 Lucr. 6,1139–1143 des Kekrops … des Pandion : Zweifelsfrei handelt es sich bei der Nennung der legendären attischen Könige um ein Ele- ment epischen Sprachregisters.95 Wohl ist es möglich, dass die Bezeichnung bei den zeitge- nössischen Rezipienten darüber hinaus bestimmte Assoziationen geweckt hat; für Pandion scheint zwar neben dem Lokalbezug und seiner Nennung in den attischen Königslisten keine solche ermittelbar. Kekrops jedoch stand im Ruf des ‚Kulturstifters‘ (εὑρετής, heuretés ) und war den Römern unter anderem für seine Erfindungen im Städtebau und Bestattungsritus be- kannt.96 Der Ruf des Königs als εὑρετής könnte die in der Forschung anerkannte Dekonstruk- tion ergänzen, die der Dichter vom Ende des fünften Buches (Entwicklung der menschlichen Kultur bis zum cacumen [‚Gipfel‘]) über den Anfang des sechsten (Athen als cacumen ) bis hin
93 Vgl. mit Munro (41886, 392) Lucr. 6,830, 1049, 1051, 1056, dazu Barigazzi (1974), 195, Clay (1983), 261 und Johncock (2016), 211f.; lesenswert ist auch die animadversio bei Nardi (1647, 536) zum Thema.
94 Vgl. mit Schmitz (1993, 42f. Anm. 100) Verg. georg. 3,479 autumni incanduit aestu , Gratt. 421 (Um-deutung) duc magis, ut nudis incumbunt vallibus aestus, Ov. met. 7,529 ignavos inclusit nubibus aes- tus , Manil. 1,869 rapido Titanius aestu , Sen. Oed. 39f. ignes auget aesti feri canis | Titan , Lucan. 6,63 aestu at angusta rabies civilis harena , Sil. 14,585 criniger aesti feris Titan fervoribus auras , sogar noch nachwirkend in Paul. Diac. Hist. 2,4 parentes obliti pietatis viscera natos relinquebant aestu antes und Scal. Roch. 61 et obrupta cute, putri Solis ab aestu . Interessant ist die Frage, welche Emotion im Re-zipienten bei der erkannten Wiederaufnahme des Motivs hervorgerufen wurde: Möglicherweise ent-stand eine Mischform aus Erwartungsangst und Erscheinungsschrecken (vgl. Bohrer 1991, 377), da sich das Motiv häufig nicht langsam entwickelt, sondern rasch zu Bildern des Schreckens übergeht.
95 Vgl. z. B. Catull. 64,79, Verg. Aen. 6,21 und Godwin (1991), 173: „ The boundaries of Cecrops is an epic-sounding way to allude to Athens by the name of its first recorded king“.
96 Vgl. mit Immisch (1890), 1018 bspw. Cic. leg. 2,63 und Plin. nat. 7,194.
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zum Ende desselben gespannt hat.97 Auf einen vergleichbaren Bezug zum Beginn des ersten Buches in Form der Aeneaden hat Foster hingewiesen.98 Lucr. 6,1139–1140 Felder … Wege … Stadt : Der Blick des Dichters folgt in der Beschreibung dem Weg der Pest (vom Land über Wege hin zur Stadt), wenngleich sich die Krankheit selbst durch die Luft bewegt (1142 aëra permensus multum ). Es fällt ins Auge, dass der Erzählschwerpunkt auf der Stadt liegt, da selbst die Kurz- beschreibung des Sterbens auf dem Land (Verse 1246–1252) lediglich als Exkurs zur darauf- folgenden Verschlimmerung der Situation innerhalb der Stadt dient. Mit diesem Schwerpunkt entspricht Lukrez u. a. den Erzählgewohnheiten historischer Quellen, die zwar zumeist das Land mit benennen ( urbs agrique erscheint beinahe als feststehende Wendung), ihre Erzäh- lung jedoch in der Stadt platzieren.99 Diese Gewohnheit erhält ihre Begründung in der Epide- miologie, schafften doch gerade die räumliche Enge und die Hitze innerhalb einer belagerten Stadt sehr günstige Rahmenbedingungen für den Ausbruch einer Epidemie.100 Lucr. 6,1140 saugten die Bürger aus der Stadt : Das lateinische Verbum exhaurire beschreibt das Aussaugen/Ausschöpfen einer Flüssig- keit.101 Die Konzeptionalisierung von Menschenmassen als Flüssigkeit findet sich später erneut (6,1254) und wird im Deutschen ähnlich vorgenommen, z. B. durch den Menschen strom , der sich über einen Platz ergießt .97 Vgl. Minadeo (1965), 458, Segal (1990), 230f. und Nethercut (2020), 115f. Mit dieser Kontrastierung tritt außerdem eine weitere Nachbildung des Thukydides zu Tage, dessen Pestschilderung eine ähn-liche Funktion in Opposition zur Leichenrede des Perikles darstellt (vgl. Anm. 140, S. 43). Diente die Überhöhung der Stadt bei Thukydides noch rhetorischen Zwecken in der historischen Situation (vgl. Connor 1984, 68), fungiert sie demnach bei Lukrez als Illustration von Werden und Vergehen – ein Gedanke, der sich wiederum in Perikles’ letzter Rede (2,64,3f.) findet; für die Rezeption dieser Grundstruktur in Vergils Georgica vgl. Liebeschuetz (1967/68), 32–36.
98 Vgl. Foster (2011), 92 Anm. 11.
99 Vgl. mit Wazer (2016) bspw. Liv. 3,6,2; 27,23,6; 40,19,3 und D. H. 9,67,1.
100 Vgl. generell Hope/Marshall (2000) und Kosak (2000), plastisch auch Harper (2017, 17): „The city crawled with rats and teemed with flies; small animals squawked in alleys and courtyards. There was no germ theory, little hand washing, and food could not be kept from contamination. The ancient city was an insalubrious home.“ Thießen (2015, 14–16) liefert auch kulturgeschichtliche Gründe für die Beliebtheit dieses Topos.
101 Vgl. Wackernagel, TLL V,2 (1939), s.v. exhaurio , 1406, 29ff. Als Parallele ist Sen. nat. 6,1,7 hervorzu-heben: pestilens caelum exhausit urbes , non abstulit. (‚Das Seuchenwetter saugte die Städte leer , ließ sie selbst aber intakt.‘)
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Lucr. 6,1141–1144 Denn sie kam … anheim gegeben : Der erste Abschnitt ist für die Beziehung von Krankheit und Erkrankten äußerst aussage- kräftig: Wird die Bewegung des Pesthauchs ( veniens, permensus ) sowie dessen Wirkung auf die Menschen und deren Lebensraum ( reddidit, vastavit, incubuit ) stets im Aktiv (bzw. durch ein Deponens) ausgedrückt, wird die Verbalhandlung der Erkrankten ins Passiv gesetzt ( da- bantur ).102 Gerade im Hinblick auf die entsprechende Stelle bei Thukydides (2,47,3+4), in der die Erkrankten aktiv nach Lösungen (Medizin/Pflege, Kult) suchen – diese Suche wird von Lukrez bewusst nach hinten verschoben – erscheinen die Menschen bei Lukrez von Beginn an nicht nur machtlos, sondern apathisch.103 Dies wird nicht zuletzt durch die Schilderung der langsam eindringenden und sich von oben hinabsenkenden ( incubuit ) Krankheit erreicht.104 Im Vergleich zu Thukydides (aber auch zur späteren Rezeption) ist anzumerken, dass die Seu- chenbeschreibung des Lukrez bisweilen eine starke Betonung der Masse von Toten aufweist.105 Lucr. 6,1147 Es schwitzten sogar ihre Kehlen : Bei Thukydides steht an dieser Stelle (2,49,2) τὰ ἐντός, ἥ τε φάρυγξ καὶ ἡ γλῶσσα, εὐθὺς αἱματώδη ἦν (‚die inneren Bereiche, Rachen und Zunge, waren auf einmal blutig‘). Folglich hat Lukrez (abgesehen vom größeren Detailreichtum106) die bloße Beobachtung des Thukydides mit einer Erklärung versehen, indem er den physiologischen Vorgang des Schwitzens ( suda-
102 Zur potenziellen Rahmung der Seuchenbeschreibung durch die Verse 1144 und 1284 s. unten. Zum Wechsel ins Imperfekt, das in der Motivtradition als eines von Lukrezens Markenzeichen bezeichnet werden kann, vgl. Sallmann (1968), 85f. mit Anm. 31 sowie Appendix C). Sallmann spricht bei der Wirkung der Tempusgebung von der „Unterkühltheit des imperfektischen Chronikstils“ (ibid., 86), die sich vom Einzelereignis hin zu allgemeiner Bedeutsamkeit loslöst.
103 Peta Fowler spricht von einem Kollaps im Zustand der Passivität (vgl. 1997, 123). Der von Müller (1978, 220) verwendete Ausdruck „die rücksichtslose Grausamkeit der Pest und die dumpfe Ratlosig-keit der Menschen“ erscheint in dieser Hinsicht sehr passend. Ob diese Passivität der Betroffenen tat-sächlich den tragischen Charakter des Geschehens aufhebt (so Klepl 1940, 69), ist in Frage zu stellen.
104 Hierbei knüpft Lukrez an Vorstellungen an, die sich bereits bei Homer finden: So hat Michelakis (2019, 389) auf die zahlreichen Implikationen des Vergleichs zwischen Apoll und der Nacht in der Seuchenbeschreibung der Ilias (1,47)aufmerksam gemacht. Kazantzidis (2021, 148f.) sieht im incu- buit einen Rückgriff auch auf andere homerische Götterdarstellungen. Schließlich senkt sich der Tod bei Homer häufig wie eine Wolke auf die Augen der Sterbenden, vgl. Lange (1956), 12–14 mit einer Stellenübersicht.
105 Dies wird besonders bei der Klimax der Schilderung, in den Versen 1266–1271 (1266 omnia , replerat 1267 onerataque passim , 1268 cuncta ) ersichtlich. Daneben findet sich auch eine regelmäßige Her-vorhebung der Quantität durch 1144 catervatim , 1174 multi , 1215 multa , 1257 acervatim , 1261 multa , wohingegen die späteren Dichter die Menge der Toten häufig in einem Bild zusammenfassen.
106 Blößner (2004, 125) betont die Drastik der lukrezischen Darstellung im Vergleich mit der Vorlage.
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bant ) als Analogie heranzog.107 Die Analogie besteht darin, dass die Blutung nicht durch eine (mechanische) Einwirkung von außen, sondern von innen stattfindet.108 Deshalb sind Ver- suche, den vorliegenden Vers mit Lucr. 5,1129 in Verbindung zu bringen, nicht unproblema- tisch:109 Dort wird in der Kritik an der ambitio die Befleckung mit Blut im Rahmen des cursus honorum ausgemalt, die notwendigerweise von außen (durch die Opfer) erfolgen muss. Damit erweist sich Lucr. 5,1129 zwar durchaus als Parallele zum Enniusvers der Hectoris Lytra (165 Jocelyn): aes sonit, franguntur hastae, terra sudat sanguine (‚Erz erklingt, es zerbrechen die Lanzen, die Erde badet im Blut.‘). Jedoch ist Jocelyns Zuordnung zu Lucr. 6,1147 nur schwer nachzuvollziehen, da es sich hier wie gezeigt um den Ausstoß des Blutes von innen handelt. Geeigneter wäre die Gegenüberstellung von Lucr. 4,624, wo der Gaumen (im Zusammenhang der Speichelproduktion) mit dem Ausdruck sudantia templa (‚schwitzende Gefilde‘) bezeich- net wird.110 Falls das Schwitzen von Blut nicht als im Rachen unüblicher physiologischer Vor- gang erschöpfend erklärt ist, kann es sich noch um eine Anspielung auf bekannte Prodigien111 handeln – solche Anspielungen lassen sich auch bei Lukrezens Nachfolgern beobachten (vgl. bspw. Komm. zu Verg. georg. 3,486). Lucr. 6,1148f. eingefriedete Weg … Vermittlerin des Geistes : Während Thukydides die Plötzlichkeit der beschriebenen Symptome hervorhebt und sich der Schrecken der Krankheit demnach gerade durch die Schnelligkeit (Rapidität, vgl. Ka- pitel 1.6) vervielfacht,112 basiert das Pathos bei Lukrez auf der speziellen Beschreibung des 107 Zum Analogieschluss als wichtigem Erkenntniswerkzeug im De rerum natura vgl. Schrijvers (1978) und Taub (2012), 54–58. In medizinischen Fachschriften findet sich der Ausdruck sanguinem sudare (‚Blut schwitzen‘) erst in Cael. Aur. chron. 3,63 bei blutendem Zahnfleisch wieder; bei Celsus (2,7,10) liest man die Formulierung fauces sanguine replentur (‚Der Rachen füllt sich mit Blut‘).108 Man findet in Theophrasts Schrift über den Schweiß die These, es gebe unterschiedliche Arten von Schweiß – neben dem ‚normalen‘ einen dickflüssigeren und dunkleren, der die Farbe von Blut an-nehmen könne. Ursache für diese Konsistenz sei ein Zusammenziehen unverdauter Flüssigkeit aus den Adern (vgl. Thph. Sud. 11,74–12,77 [Fortenbaugh] und Liatsi 2005, 785f. mit Literaturangaben). Ob es sich hierbei um eine frühe Beobachtung des Blutschwitzens (Hämatohydrosis) handelt, lässt sich nicht mehr rekonstruieren.
109 proinde sine in cassum defessi sanguine sudent, | angustum per iter luctantes ambitionis . (‚Deshalb lass sie nur, zwecklos ermüdet, in Blut baden, während sie sich auf dem schmalen Grat des Ehrgeizes abmühen.‘). Vgl. Gardner (2019), 99f., angeregt von Harry Jocelyn (1967, 300f.), dessen These im Folgenden besprochen wird.
110 Vgl. bereits zur Stelle Schröder (1898), 11.
111 Für Blut aus Schilden vgl. Liv. 22,1,8 et scuta duo sanguine sudasse (‚… und zwei Schilde hätten Blut geschwitzt‘) und das Schwitzen von Statuen Obseq. 45, 52, 54, 63 sowie Verg. georg. 1,480.
112 Vgl. Horstmanshoff (1989), 19 und Thuc. 2,49,2: ἀπ᾽ οὐδεμιᾶς προφάσεως, ἀλλ᾽ ἐξαίφνης, (‚… ohne jedes Vorzeichen, sondern ganz plötzlich‘), weiterhin zur Rolle der Plötzlichkeit im Verlauf der Handlung 2,61,3 in der letzten Rede des Perikles, wonach es gerade die fehlende Vorbereitung sei,
130
2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Krankheitsverlaufs: Der Rachen wird als vocis via saepta 113 und die Zunge als interpres animi umschrieben, wobei Letztere durch die Hinzufügung des Verses 1150 besondere Hinwendung erfährt;114 Kate Stoddard sieht in diesen Epitheta eine für Lukrezens Darstellung typische Ver- knüpfung von Physis und Psyche.115 Neben dieser psychischen Komponente tritt m. E. auch die soziale Bedeutung der Krankheit deutlich hervor. Bei dem Epitheton interpres liegt nämlich die Frage nahe, an wen die Zunge den Geist eigentlich vermittelt: offensichtlich die Außenwelt. Zusammen mit Zunge und Hals entfällt demnach die Basis einer Verständigung zwischen In- nen und Außen, der Mensch wird im frühesten Stadium der Krankheit isoliert.116 Shane Butler hat in diesem Zusammenhang auf die Sprache als kulturelle Errungenschaft hingewiesen, so- dass sich auch hieran der Niedergang Athens (s. Anm. 97, S. 126) zeigte.117 Lucr. 6,1152 mitten ins betrübte Herz / cor maestum: Die Diskussion um die Bedeutung des Begriffs καρδία ( kardía ) nahm ihren Anfang in der Beschreibung des Thukydides (2,49,3): Dort wandert der Schmerz zunächst in die Brust, dann in die καρδία und führt im Anschluss zu unterschiedlichem Galleauswurf, dessen konkrete die den Menschen ihren Mut nehme (dazu Michelakis 2019, 395–397). Auch im Zusammenhang von medizinischen Krankheitsbeschreibungen ist Plötzlichkeit ein schlechtes Zeichen, sowohl am Beginn als auch (interessanterweise) am Ende (Hp. Epid. 2,3,18 [= 5,120 L.] Κακοηθέστερα τὰ ἀφανιζόμενα ἐξαίφνης [‚Ziemlich schlecht ist es, wenn die Symptome plötzlich verschwinden.‘]).
113 Mit saepire werden verschiedene Arten der Grenzziehung bezeichnet (vgl. OLD s.v. 1677), sodass hier auch ein Kontrast zwischen der Befestigung und dem implizierten Eindringen der Krankheit gesehen werden kann (zur personifizierten Vorstellung der Krankheit s. Kapitel 3.1.2). Vgl. daneben Abraham Holland (1626) V.235f. in Totaro (2012, 161): „Our throat is like that vast breach, which doth bring | In like the Trojan Horse, dire surfeiting.“ Zur Metaphorik der Architektur bei Beschrei-bungen des Körpers vgl. Lupton (32012), 57.
114 Die Sonderrolle der Zunge als Spiegel des Körpers für die hippokratische Diagnostik nennt Golder (2007, 171), vgl. daneben Rover (2021, 38) mit Verweis auf Lucr. 3,152–160.
115 Vgl. Stoddard (1996), 111. So auch Herta Klepl (1940, 57), die in den Epitheta den Versuch sieht, „den unpersönlichen Vorgang durch eine gewisse seelische Bedeutsamkeit zu vertiefen.“ Eine Reduktion auf das Grausame und Ekelhafte (so Raabe 1974, 40) scheint hier gerade nicht angebracht.
116 Auffällig ist, dass die poetische Auskleidung von fauces und lingua in den vergleichenden Ausarbei-tungen keine echte Berücksichtigung erfahren hat. Eine Erklärung wie die des französischen Philo-sophen Henri Bergson (1884, 150) zur cor -καρδία-Problematik (vgl. im Folgenden) scheint angesichts der Ausgereiftheit des Gedankengangs nicht zufriedenstellend: „Peut-être Lucrèce a-t-il simplement voulu rendre sa description plus poétique.“ Barigazzi (1974, 196) sieht es schlicht als eine Gewohnheit des Lukrez, „com’è sua abitudine“.
117 Vgl. Butler (2011), 51: „Paralysis of the tongue is more than just a nasty symptom. For Lucretius, theorist of the origins and workings of language, the loss of the animi interpres reduces the victim to a speechlessness that is not only that of infants but also that of our early human ancestors, whose passage into language has been described in the preceding book“.
131
Benennung Thukydides den Ärzten überlässt (2,49,3 ὅσαι ὑπὸ ἰατρῶν ὠνομασμέναι εἰσὶν).118 Auf Basis der Aussage des Galen sowie der zeitlichen Abfolge des Durcheinanderbringens der καρδία und des Galleauswurfs wurde auf eine Ursache-Wirkungsrelation geschlossen, sodass καρδία in der Bedeutung ‚herzförmige Magenöffnung‘ aufgefasst worden ist.119 Eine Relati- vierung erfolgte durch Denys Page, der 1953 aufzeigte, dass die Deutung als ‚Magen‘ sowohl in den hippokratischen Schriften als auch bei Thukydides keineswegs zwingend ist und einer belastbaren Begründung bedarf, die bis heute aussteht; das liegt nicht zuletzt daran, dass für beide Deutungen gewichtige Argumente angeführt wurden. Entsprechend gehen die Meinun- gen der Kommentatoren auseinander und καρδία wird mal als Magenöffnung, mal als Herz übersetzt.120 Je nach Verständnis der καρδία änderte sich auch die Deutung des cor maestum bei Lukrez:121 Stellte es sich anfangs als Fehlübersetzung dar, wurde es nach der Entdeckung von Lukrezens Eigenständigkeit als intendierte Änderung aufgefasst,122 und verlor vor dem Hintergrund der Ausarbeitung von Page seine Besonderheit. Schließlich wies Edith Foster da- rauf hin, dass selbst wenn Lukrez an dieser Stelle lediglich eine Übersetzung angefertigt habe, das Herz in der Gesamtdarstellung dennoch eine andere Funktion als bei Thukydides einneh- me.123 Dieses Beispiel illustriert, wie es dem Dichter gelingt, selbst durch kleine Änderungen der Vorlage eine eigenständige Erzählung zu schaffen. Lucr. 6,1154f. widerlichen Geruch … verbreiten : Den stinkenden Mundgeruch der Erkrankten hat Lukrez von der ursprünglichen Position der Vorlage (2,49,2 πνεῦμα ἄτοπον καὶ δυσῶδες) bewusst an diese Stelle versetzt und ihn durch den Vergleich mit verwesenden Leichen noch gesteigert.124 Bei genauerer Betrachtung zeigt118 Page (1953), 99 leitet unter anderem von dieser Stelle ab, dass Thukydides die Terminologie der hip-pokratischen Schriften geläufig gewesen sein muss (die Semantik dort bespricht Langholf 1990, 42 mit Anm. 25). Zur Frage nach der Verwendung der hippokratischen Schriften s. o. Kapitel 1.5.2.
119 Vgl. mit Jouanna (2011, 1447–1451) Gal. PHP 108 (= 5,275 K.) und LSJ s.v. II, 877. Diese Deutung findet sich sowohl in Kommentaren zu Thukydides (vgl. u. a. Classen/Steup 51914, 134; Rusten 1989, 184 und Craik 2001, 106f.) als auch in der Interpretation der Lukrezstelle bei Bailey (1947, 1728).
120 Vgl. für die Übersetzung als ‚Herz‘ bereits Nardi (1647, 573 corde ), Page (1953, 100) und Hornblower (1991, 322 ad loc .), als ‚Magen‘ die vorangegangene Anmerkung.
121 Diese Junktur fand nach Lukrez keinen Anklang, Vergleichbares findet sich erst in Form eines Prä-positionalausdruckes cor in maestitia bei Ambrosius von Mailand (Ambr. in psalm. 1,28,6). Womög-lich handelt es sich kontextbedingt um eine (nosologische) Adaptation des geläufigeren Ausdrucks pectus maestum (wie z. B. in Catull. 64,202 und Ov. Fast. 4,454).
122 Vgl. zur Erklärung mit einer Fehlübersetzung im Einklang mit der Tradition noch Commager (1957), 105 und der Adaptation Bright (1971), 610, jüngst erneut ausgeführt von Rover (2021), 38f.
123 Vgl. Foster (2009), 392 Anm. 52 und den folgenden Kommentar.
124 Gasparotto (1967, 380) sieht hierin eine Grundlage für Liv. 25,26,11. Toner (2013, 119–121) nennt
Seuchen ein besonders gutes Beispiel für die Eindringlichkeit der Sinneseindrücke in Katastrophen-
132
2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung sich dieses Vorgehen jedoch nicht als rein künstlerisches Arrangement, sondern offenbart auch auf symptomatischer Ebene eine bestimmte Logik. Mit dem Strom der Krankheit ( mor- bida vis ) werden die ‚Lebensbänder‘ ( claustra vitae ) im Herzen gelöst und das Nahen des Todes wird anhand des Verwesungsgeruchs des Atems versinnbildlicht – durch die Verschiebung des πνεῦμα ἄτοπον καὶ δυσῶδες aus Thuc. 2,49,2 an das Ende dieses Abschnittes erhält somit der abstrakte Prozess des Lösens der claustra vitae im Innern des Körpers eine konkrete physio- logische Entsprechung, die auch von außen beobachtet werden kann.125 Lucr. 6,1158f. beständig bange Beklemmung : Zunächst ist auf die phänomenologische Komponente von anxius angor adsidue (comes) hin- zuweisen, das ein Gefühl des Erstickens zu umschreiben sucht.126 Der Ausdruck ist ein gutes Beispiel für die Erkenntnis der Lukrezkommentatoren, die in dessen Seuchenbeschreibung im Vergleich zu Thukydides eine stärkere Hinwendung zum Innenleben der Erkrankten, biswei- len bezeichnet als Psychologisierung, ausmachten.127 Wurde diese in der Folge stets als Beson- derheit der lukrezischen Beschreibung angenommen, hob Edith Foster hervor, dass bereits bei Thukydides (insbesondere in 2,51) eine Betrachtung der psychischen Folgen der Erkrankung vorliege, was von den Kommentatoren häufig übergangen bzw. übersehen werde.128 Nichts- destoweniger besteht ein großer Unterschied in der Intensität der psychischen Reaktion (vgl. beschreibungen, da neben den Gestank der Leichen auch das Geschrei der Erkrankten (6,1159) und Streitparteien (6,1279) trete. Zur Bedeutung des Geruchs für die antike Medizin vgl. Totelin (2014).
125 Vgl. ebenso Deufert (2018), 466–468 mit seiner Argumentation gegen Creechs und Barigazzis Umstel-lung der Verse. Leonard/Smith (1942, 858) verweisen auf eine sprachliche Parallele zu Lucr. 3,396, aus der Stoddard (1996, 110f.) folgert, dass durch die claustra vitae eine Verbindung zwischen animus und cor als Gefühlssitz hergestellt wird. Ob es sich hier um eine intendierte oder argumentativ bedingte Parallele handelt, ist schwer zu entscheiden; der inhaltlichen Verbindung ist jedoch zuzustimmen. Zum cor als Sitz des animus , s. Lucr. 3,140–142: idque [sc. consilium ] situm media regione in pectoris haeret. | hic exsultat enim pavor ac metus, haec loca circum | laetitiae mulcent; hic ergo mens animus- quest. (‚Und dieser Verstand sitzt im mittleren Bereich unserer Brust. Hier nämlich entspringen Angst und Furcht, in dieser Gegend erfüllt uns Freude; hier also wohnen Sinn und Verstand.‘)
126 Ebenso Beagon (2005), 108 Anm. 57: „Death as a whole can be depicted in terms of a physical suffo-cation.“
127 Vgl. insbesondere Commager (1957), 105 und Bright (1971), 615. Etwas vorsichtiger Smith (1966), 81f.: „It is possible that the continual movement from the physical to the psychological is not always fully conscious; but for the most part there is, I feel, a clear, preconceived purpose behind his adap-tation and exploitation of Thucydides’ version.“ Kazantzidis (2021, 67–74) hat jüngst dafür argumen-tiert, dass bei Lukrez (auch) ein Schwerpunkt auf dem Leiden des Körpers liegt.
128 Vgl. Foster (2009), 382f., ähnlich bereits Horstmanshoff (1989), 206. Zu psychischen Folgen nach Katastrophen vgl. auch Toner (2013), 153–170.
133
etwa die Amputation der Genitalien in 6,1209), nicht zuletzt, weil der Schwerpunkt für Lukrez auf der Verurteilung der Todesfurcht liegt und es bei ihm keine Überlebenden der Pest gibt.129 Lucr. 6,1160 unablässiges Würgen / singultus frequens: Das Symptom des singultus frequens entspricht der λύγξ κενή ( lynx kené ) in der Beschrei- bung des Thukydides (Thuc. 2,49,4), deren Bedeutung Šimon nach einer Gegenüberstellung von Übersetzungen bis in seine Zeit in einer Mischung aus Schlucken und Brechreiz festmachte, bei dem jedoch das Erbrechen selbst ausblieb.130 Das Symptom des singultus kann bei Lukrez ähnlich der Vorlage verstanden werden, wohingegen Langslow von „the convulsive catching of the bre- ath of the dying“131 spricht. Geht man über die von Langslow genannten Parallelen des frequens singultus (Cels. 2,7,17 und 3,24,2) hinaus, wird singultus bspw. durch Cels. 2,8,34 in einer Auf- zählung unmittelbar nach vomitus (‚Erbrechen‘) genannt. Die hier vertretene Auffassung eines unablässigen Würgens fügt sich womöglich besser in die geschilderte Kontraktion der Muskeln ( corripere … nervos, membra coactans ) und die daraus resultierende Ermüdung ( defessos ante fa- tigans ). Schließlich ergäbe sich nach Langslows Verständnis mit Blick auf den Vers 1186, der sich zur Gänze der unregelmäßigen Atmung widmet, eine unnötige Dopplung. Deshalb wird unter singultus nicht das Schnappen nach Luft, sondern mit Šimon ein Würgen verstanden. Lucr. 6,1163–1165 Und nicht hättest du … für deine prüfende Hand lauwarm angefühlt : Der Dichter versetzt den Rezipienten in die konkrete Situation und lässt ihn mit den eigenen Sinnen ( tueri [Optik], manus [Haptik]) am Geschehen teilhaben, indem er die Beschaffenheit der erkrankten Körper untersucht.132Bei Celsus spielt weniger die Temperatur der Haut als vielmehr deren Oberflächenstruktur und Farbe eine große Rolle bei der Identifikation gefähr- licher bzw. tödlicher Krankheiten.133 Eine Ausnahme bildet die Krankheitseinheit des Brenn- fiebers (καῦσος [ kaûsos ], febris ardens ), von deren Leitsymptomen hier eines aufgegriffen wird: Es besteht eine Diskrepanz zwischen dem ersten äußeren Eindruck (die Rötung durch die ulce-129 Vgl. Blößner (2004), 129–131.
130 Vgl. Šimon (1999), 36 und als Parallele Hp. Epid. 3,2,6 (= 3,50–53 L.) mit Lichtenthaeler (1994), 114.131 Langslow (1999), 212.
132 Diese Sinne nennt Lukrez neben den Ohren als entscheidend für den Erkenntnisprozess (Lucr. 5,101–103, bei der Betrachtung der Endlichkeit des Universums): nec tamen hanc possis oculorum subdere visu | nec iacere indu manus , via qua munita fidei | proxima fert humanum in pectus tem- plaque mentis. (‚… und dennoch kannst du dieses Thema nicht dem Blick deiner Augen unterziehen, nicht deine Hände darauf legen – die Methode, die aufgrund ihrer Unmittelbarkeit die festeste Über-zeugung in Herz und Verstand der Menschen trägt.‘)
133 Vgl. bspw. Cels. 1,9,4 summam cutem facit pallidam, aridam, duram, nigram (‚Sie [sc. die Kälte] macht die Hautoberfläche bleich, trocken, hart und schwarz‘) und 2,6,1 cutis circa frontem dura et intenta (‚… die Haut um die Stirn herum hart und angespannt‘).
134
2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung ra legt eine Erhitzung der Haut nahe), dem inneren Befinden der Erkrankten (innere Hitze und Durst) und dem haptischen Eindruck auf Seiten der Angehörigen, Pfleger und Ärzte.134 Für Celsus gilt (in der Tradition des Hippokrates) eine solche Krankheit als unbehandelbar und wird entsprechend in einer Auflistung von indicia mortis , Symptomen des bevorstehenden Todes, genannt, s. auch unten den Kommentar zu Lucr. 6,1182–1192a.135 Lucr. 6,1166 als wären Geschwüre in ihn gebrannt : Das Verbum inurere (‚hineinbrennen‘) wird bei Lukrez lediglich ein Mal in 6,220 von Blitz- malen gebraucht, das an dieser Stelle als Parallele ungeeignet erscheint. Die Wortwahl wirkt angesichts der Vorstellung der Krankheit und ihrer Wirkweise (Feuer/Hitze) sehr gelungen; Godwin wies jedoch in einer Seitenbemerkung auf einen möglichen weiteren Aspekt von in- urere hin:136 Die sog. notae inustae dienten zur Kenntlichmachung von Sklaven in Rom, zur Fluchtprophylaxe und Anzeige von Straftaten.137 Womöglich ist durch das ‚Einbrennen‘ der Geschwüre – durch das quasi wird im Lateinischen markiert, dass ein sprachliches Bild ver- wendet wird – ebenfalls die soziale Komponente der Erkrankung in den Blick genommen wor- den.138 Damit würde eine gesellschaftliche Reaktion auf die Erkrankung angedeutet, die expli-
134 Vgl. (mit Stamatu 2005a, 174f.) Hp. aff. 11 und 14 (= 6,218–223 L.), Morb. 1,29 (= 6,198 L.) und Cels. 3,7,2, ebenso bereits in mesopotamischen Quellen (vgl. Stol 2007, 27–29 zu BAM 2 146). Eigen-heiten des Brennfiebers werden, womöglich auch zur Abgrenzung von gewöhnlichen Fiebererkran-kungen, im Verlauf der Motivtradition immer wieder aufgegriffen (vgl. noch Proc. Pers. 2,22,16). Lichtenthaeler (1994, 68f.) bietet eine Auflistung: „[D]ie Kopfschwere und die Kopfschmerzen, die Dreiergruppe Kältezeichen-Fieber-Schweißausbruch, die Schläfrigkeit, die Zweiergruppe trockene Zungenoberfläche-übermäßiger Durst, das Nasenbluten und das Erbrechen gelber Galle, die Zweier-gruppe Schlaflosigkeit-Geistestrübung und die Störungen bei Stuhl und Harn.“
135 Cels. 2,6,7 [ Neque is servari potest ] , cui febre non quiescente exterior pars friget, interior sic calet, ut etiam sitim faciat . (‚Nicht kann derjenige gerettet werden, dessen Äußeres trotz unnachgiebigem Fieber kalt ist, dessen Inneres jedoch so heiß ist, dass es ihn sogar durstig macht.‘)
136 Vgl. Godwin (1991), 175.
137 Vgl. Schiemann (2001), 540. Die Brandmarkung hatte in der Kaiserzeit eine nachweisbare Deklas-sierung innerhalb der Sklavenhierarchie und damit einhergehend niedere Tätigkeiten zur Folge (vgl. Bellen 1971, 23–27). Zu Lukrezens Lebzeiten wird die Praxis bspw. in Ciceros Rede gegen Catilina im übertragenden Sinne gebraucht (Cat. 1,13): quae nota domesticae turpitudinis non inusta vitae tuae est ? (‚Welcher Stempel häuslicher Schmach ist deinem Leben nicht eingebrannt ?‘) Darüber hinaus ist eine Formulierung in der Bitte des C. Claudius bei Livius bemerkenswert (Liv. 3,58,2), seiner Gens nicht die Laster seines Neffen anzulasten: orabatque, ne Claudiae genti eam inustam maculam vel- lent . (‚… und er bat darum, dass sie der claudischen Gens diesen Makel nicht einbrennen wollten.‘). Gerade das Liviuszitat kann die soziale Deutung der Stigmatisierung, die in der Folge vorgeschlagen wird, stützen.
138 Eine vergleichbare Deutung wurde oben bei der Zunge als animi interpres vertreten, sodass neben der näheren Betrachtung der Psyche auch die soziale Dimension von Krankheit als hervorstechendes Merkmal von Lukrezens Seuchenbeschreibung bezeichnet werden kann.
135
zit erst in späteren Seuchenbeschreibungen in Form von Maßnahmen wie etwa der Isolation in Senecas Oedipus hervortreten. Lucr. 6,1167 das Heilige Feuer / sacer … ignis: Nach der ersten nachweisbaren Nennung der Krankheitseinheit in 6,660139 wird der sacer ignis in der Seuchenbeschreibung lediglich als Vergleichspunkt für die Erscheinungen auf der Haut der Erkrankten genannt; damit wird die (wohl als bekannt vorausgesetzte) Krankheit zur Illustration der Pest verwendet. Mirko Grmek bezeichnet den sacer ignis als dichterische Fiktion und will ihn von den später bei Celsus und Plinius beschriebenen Krankheitseinhei- ten unterschieden wissen.140 Dabei scheint Grmek anzunehmen, dass eine Fachsprache zur Zeit des De rerum natura noch nicht vorhanden war, was jedoch anhand der Ergebnisse von Langslow plausibel gemacht wurde (vgl. Kapitel 1.2). Mit Blick auf 6,660 und die vorliegende Stelle ist ein Bezug zur Haut eindeutig, wobei durch das Bild des Feuers und des Verbums serpens eine rasche und unkontrollierte Ausbreitung der Rötung nahegelegt wird.141 Gerade letzterer Aspekt der Unkontrollierbarkeit scheint für das Verständnis der zugrundeliegenden Vorstellung wesentlich. Lucr. 6,1169 wie im Innern von Schmelzöfen : Durch den Vergleich des Brennens im Magen mit dem Feuer von Schmelzöfen steigert Lu- krez die Beschreibung seines Vorgängers Thukydides (2,49,5). Nach ihm findet sich das Bild nicht mehr in der Motivtradition, was nicht zuletzt an der fehlenden Spezifikation des Bren- nens im Innern liegt.142 In De rerum natura ist festzustellen, dass fornaces (‚Schmelzöfen‘) ausschließlich im sechsten Buch genannt sind.143 Dabei dienen die fornaces primär der Er- läuterung der Genese von Blitzen, die auf unterschiedliche Weise Hitzeatome an sich binden und dann als Blitz zur Erde fahren; in 6,681 wird der Aetna mit den fornaces in Verbindung gebracht. Dass durch den Vergleich eine Verbindung zwischen diesen natürlichen Prozessen139 Vgl. für Parallelen Langslow (1999), 212 und Eitel (2003), 13 sowie zur Krankheitsgeschichte Foscati (2013).
140 Vgl. mit Grmek (1991, 203) Cels. 5,28,4 und Plin. nat. 26,121; Kazantzidis (2017, 162 Anm. 79 und 2021, 63 Anm. 92) führt Grmek in dieser Sache zur Stütze der gegenteiligen Behauptung an. Pisi (1989, 65 Anm. 58) will in den medizinischen Fachschriften unterschiedliche (moderne) Krankheits-einheiten ausgedrückt sehen. Für die Tradition besser gedeutet hat den sacer ignis Kersten (2018, 166) als „allgemeine[n], über irgendeine exakte pathologische Bestimmung hinausgehende[n] Ausdruck unausweichlicher Vernichtung“.
141 Eine kriechende/schlängelnde Bewegung der Krankheit findet sich auch in späteren Beschreibungen wieder, vgl. Komm. zu Sil. 14,613 und Kapitel 3.1.2.
142 Vgl. dennoch zur Rolle des Feuers als Schlüsselelement der Seuchenbeschreibungen Finnegan (1999), 31.143 Lucr. 6,148; 202; 278; 681 und 1169.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung und der Krankheit hergestellt werden sollte, ist kaum vorstellbar.144 Vor dem Hintergrund antiker Krankheitstheorie erscheint das Bild des Schmelzofens für den Magen freilich sehr geeignet: Dem Rezipienten dürfte das Konzept der ‚Kochung‘ (πέψις [ pépsis ] , concoctio ) wohl- bekannt gewesen sein, sodass die gewohnte Tätigkeit des Magens an dieser Stelle krankhaft übersteigert wirkt.145 Lucr. 6,1170f. Im Grunde … es blieb nur stetiger kühlender Wind : Durch die Formulierungen nihil … leve tenueque und in utilitatem vertere bleibt der be- schriebene Vorgang sehr abstrakt. Fowler verwies auf die Parallele bei Thukydides (2,49,5) und auf das Corpus Hippocraticum .146 Die Kühlung des Patienten wird auch bei Brennfieber in der medizinischen Fachliteratur als einzige Behandlungsmethode genannt.147 Wenn ven- tum et frigora als Hendiadyoin aufgefasst werden,148 mögen Lukrez die Nordwinde vorge- schwebt haben, deren heilsame Wirkung (im Gegensatz zu den Südwinden) auch in der The- rapie Verwendung fanden, etwa durch einen Ortswechsel.149 Nichtsdestoweniger erscheint die ärztliche Praxis angesichts eines fehlenden Heilmittels äußerst dürftig (s. Kapitel 3.2.1), sodass die Erkrankten sich im Folgenden selbst zu helfen suchen. In der Empfehlung des kühlenden Windes besteht ein Unterschied zu Lukrezens Nachfolgern, welche die Krankheit in den meisten Fällen mit der Miasmentheorie150 verbinden: Eine solch lindernde Wirkung der Winde ist in der späteren Motivtradition (mit Ausnahme von Lucan) nicht zu finden, ganz im Gegenteil – bei Ovid (Met. 7,557) ist es gerade die eingeatmete Luft, die den Zustand der Erkrankten noch verschlimmert. Lukrez scheint demnach nicht von einer ständigen All- gegenwart des aestus auszugehen.
144 Vgl. jedoch Kazantzidis (2021), 154: „Overall, and compared to Thucydides, the victims of the plague in Lucretius have been made larger: their disease is not presented simply as an obliterating force but allows them to function as images of phenomena — such as lightnings, thunderbolts and volcanic eruptions — which transcend the narrow limits of the human body and, crucially, inspire through-out the poem feelings of awe and admiration.“
145 Vgl. Langholf (1990), 88f. und Holmes (2018), 84.
146 Vgl. Fowler (1983), 418.
147 Vgl. Hp. aff. 11 (= 6,218 L.; mit dem caveat , kein Frösteln hervorzurufen) und Cels. 3,7,2.
148 So bspw. Barigazzi (1974), 200, zur attributiven Übersetzung des semper vgl. Schröder (1898), 7.
149 Vgl. Cels. 2,1,3: optimique hieme qui omni vento vacant, aestate quibus favonii perflant. Si genus aliud ventorum est, salubriores septentrionales quam subsolani vel austri sunt (‚Die besten [sc. Tage] sind im Winter die, an denen kein Wind weht, im Sommer die, an denen Westwinde wehen. Wenn ein an-derer Wind weht, sind die Nordwinde [bei Lederer 2016, 61 irrtümlicherweise mit „westlichen“ wie-dergegeben] gesünder als die Ost- oder Südwinde‘) und in der Motivtradition Lucan. 6,104. Fowler (1983, 419) hebt das unnatürliche Verhalten der Menschen hervor, Wind und Kälte zu suchen.
150 Vgl. speziell zum Miasma in der antiken Medizin Leven (1992) und Jouanna (2012) sowie noch im-mer als Standardwerk Parker (1983).
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Lucr. 6,1172f. Ein Teil der Kranken … sie warfen sich nackt ins Wasser : Das Eilen der Kranken zu Wasserstellen zum Zweck der Kühlung ist Thukydides (2,49,5) entnommen. Die Nacktheit, die ihre Ursache in der inneren Hitze hat, ist zugleich Sinnbild der sich auflösenden Ordnung.151 Zur Entwicklung des Motivelements vgl. Komm. zu Ov. met. 7,567b und Sen. Oed. 194–196. Lucr. 6,1176f. ihr unstillbarer Durst … wie ein kleines Rinnsal erscheinen : Insbesondere der unstillbare Durst der Erkrankten provoziert eine moralische Deutung der Krankheit,152 indem sprachliche Parallelen zum Proöm des sechsten Buches gesetzt wer- den, das Epikur als Heiler der menschlichen Laster preist.153 Die Unersättlichkeit, die sich im Proömium noch auf Luxusgüter bezogen hatte, spiegelt sich hier im unstillbaren Durst wider und lässt die Erkrankten selbst riesige Mengen an Wasser nicht wertschätzen;154 darin zeigen sie eine Parallele zu den im dritten Buch kritisierten Menschen, deren ständiges Stre- ben nach Lust der Dichter im Bild des löchrigen Kruges ausdrückte, und zum unerfüllten Verlangen im vierten Buch.155 Ungenügsamkeit, d. h. die Unzufriedenheit über das Alte und daraus resultierend das Streben nach dem Neuen, wird den Erkrankten in Form des nicht vorhandenen Universalheilmittels zum Verhängnis – wie gerne blieben die Ärzte bei ein und demselben Mittel, wenn es nur der Heilung diente! Somit findet erneut eine Spiegelung151 Es ist bemerkenswert, dass nach Borsch (2018, 331) ein vergleichbares Motiv bei Erdbebenbeschrei-bungen ab der Renaissance vorliegt, nicht jedoch in den antiken Schilderungen. Dort ist die Nackt-heit durch den überhasteten Aufbruch aus den eigenen vier Wänden bedingt. Bei Proc. Pers. 2,23,20 ist nicht die Nacktheit, sondern die nicht mehr getragene Chlamys ein Symbol der zerfallenden Ord-nung zur Zeit der Justinianischen Pest.
152 Moralische Integrität wurde bereits in der Antike gesunden Menschen zugesprochen (vgl. Wöhrle 2016). Entsprechend wurde Krankheit häufig mit moralischer Verkommenheit in Verbindung ge-bracht. Illustrativ ist dabei das Schicksal des Volanerius (Hor. serm. 2,7,15f.), der durch seine Würfel-spielsucht an ‚gerechter‘ ( iusta ) Gicht erkrankte und seitdem einen Gehilfen bezahlte, um für ihn das Würfeln zu übernehmen. Dieser Aspekt der Eigenverantwortung spielte auch eine nicht unbedeu-tende Rolle bei der Einordnung von Krankheit in teleologische Weltauffassungen, wie van der Eijk (2017, 239) gezeigt hat.
153 Vgl. Bailey (1947), 1553f. und Gale (1994), 224–228.Die Gründe für den Geiz, nämlich Angst und innere Verdorbenheit der Menschen, Unersättlichkeit und Ungenügsamkeit (6,20–23), finden in der Seuchenbeschreibung (6,1170–1176 und 1225–1228) eine Entsprechung.
154 Durch die plastische Darstellung der Erkrankten, die sich vor Durst in die Brunnen stürzten, zeigt Lukrez dem Rezipienten zugleich die Einfachheit des Wohlstandserwerbs im gesunden Zustand auf, wie sie von Epikur im 15. Satz der Κύριαι Δόξαι dargelegt wird: Ὁ τῆς φύσεως πλοῦτος καὶ ὥρισται καὶ εὐπόριστός ἐστιν· ὁ δὲ τῶν κενῶν δοξῶν εἰς ἄπειρον ἐκπίπτει. (‚Reichtum, der in Einklang mit unserer Natur steht, ist klar begrenzt und leicht zu beschaffen: derjenige aber, der auf falschen Mei-nungen gründet, wächst ins Unermessliche.‘)
155 Vgl. Lucr. 3,935f. und zur Besprechung Wöhrle (1997), zum vierten Buch Kazantzidis (2021), 62f.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung des inneren Zustandes durch die Physis statt, wie sie oben bereits im Zusammenhang der claustra vitae festgestellt worden ist.156 Möglicherweise findet sich auch an dieser Stelle eine Gegenposition zur medizinischen Tradition in Bezug auf das Brennfieber (s. o. Kommentar zu Lucr. 6,1163–1165): In Celsus wird bspw. zum Höhepunkt des Brennfiebers die Behand- lungsmethode empfohlen, den Erkrankten sehr viel kaltes Wasser trinken zu lassen – ent- weder über den Durst hinaus oder zumindest bis der Durst gelöscht ist.157 In Lukrezens Beschreibung muss diese Behandlung fehlschlagen, da die Erkrankten eher sterben, als dass ihr Durst gelöscht wird (Lucr. 6,1260). Lucr. 6,1179 Die Medizin murmelte und verschwieg ihre Furcht : Nach Phillips handelt es sich um „a stark, emphatic, disparaging declaration of the impoten- ce of the medical art“,158 die prägnant die in Thukydides verstreuten Aussagen über das Schei- tern der Medizin zusammenfasse. Im Vergleich zur Vorlage ist die Aufspaltung des Scheiterns von Medizin und Kult (Thuc. 2,47,4) auf die Passus 1178–1181 (Medizin) und 1272–77 (Kult) zu verzeichnen, wo ihnen jeweils ein spezifischer Zweck in der Erzählung zukommt. Das be- schämte Murmeln der personifizierten Medizin wird hier unmittelbar vor die Verse 1182–1196 gesetzt, sodass die (von Lukrez hinzugefügte) innere Reaktion eine tragischere Begründung erfährt; gerade auf dem Höhepunkt der Qualen versiegt die einzige Quelle der Hoffnung – da- mit wird implizit die hohe Erwartung der (antiken) Rezipienten an die Medizin in Zeiten der
156 Zu dieser Reziprozität siehe auch Godwin (1991), 10: „We all suffer from the inner plague of wea-riness, anxiety and thirst for contentment, and the plague thus has a symbolic and paradigmatic function far beyond the mere recital of gory symptoms.“ Ebendort zieht Godwin auch eine Parallele zum Finale des vierten Buches, in dem in Form der Behandlung der Liebe ebenfalls eine Krankheits-schilderung vorliegt.
157 Vgl. Cels. 3,7,2 Cum vero in summo incremento morbus est, utique non ante quartum diem, magna siti antecedente, frigida aqua copiose praestanda est, ut bibat etiam ultra satietatem. Cum iam venter et praecordia ultra modum repleta satisque refrigerata sunt, vomere debet. Quidam ne vomitum quidem exigunt, sed ipsa aqua frigida tantum ad satietatem data pro medicamento utuntur . (‚Wenn sich nun die Krankheit in ihrer stärksten Phase befindet [auf keinen Fall vor dem vierten Tag], muss man, wenn großer Durst vorangegangen ist, reichlich kaltes Wasser verabreichen, sodass der Patient sogar über seinen Durst hinaus trinkt. Wenn nun sein Magen und sein Oberbauch über das Maß gefüllt und aus-reichend gekühlt sind, muss er erbrechen. Manche fordern auch das Erbrechen nicht ein, sondern nut-zen das kalte Wasser allein, das sie lediglich bis zur Stillung des Durstes gereicht haben, anstelle eines Medikaments.‘). Den Versuch, inneres Feuer mit kaltem Wasser zu löschen, greift Longos in seinem Liebesroman des zweiten nachchristlichen Jahrhunderts auf (vgl. dazu Schauer 2018, 72) und bezeugt damit (erneut) die parallele Beschreibungsweise von Liebe und Krankheit, s. Anm. 681, S. 256.
158 Phillips (1982), 234. Diese Handlungsunfähigkeit wird von Lukrez jedoch nicht, anders als von Kazantzi-dis (2018, 90) postuliert, in ein Verhältnis zur Krankheitstheorie (Lucr. 6,1090–1137) gesetzt, sodass das vermeintliche Paradox zwischen Wissenszuwachs und Handlungsfähigkeit nicht im Text angelegt ist.
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Epidemie deutlich.159 Für Epikur hätte die Ratlosigkeit der Mediziner nach Tielemann keinen Verlust dargestellt: „When suffering physical pain and discomfort one should be concerned with one’s mental condition. […] In such circumstances, then, one should turn to philosophy not medicine.“160 Das Murmeln (und Diskutieren) der Mediziner sollte über die Antike hinaus bis in die Renaissance fester Bestandteil der Ärztekritik bleiben.161 Lucr. 6,1181 ihre Augen … nach oben verdrehten : Die Auswirkungen der Krankheit werden in ihrer Drastik mithilfe einer attributiven Über- bestimmung ( patentia, ardentia, expertia somno ) hervorgehoben.162 Mit Verweis auf Munro nimmt Deufert an, dass es sich beim Verdrehen der Augen ebenfalls um ein signum mortis handle.163 Munro bezeichnet jenes zwar als Symptom, das aus dem Corpus Hippocraticum ent- nommen sei, nennt jedoch keine Quelle.164 In den Katalogen der signa mortis des Celsus und Plinius (s. nächsten Kommentar) ist nicht das Verdrehen der Augen zu finden, sondern die ungesunde Färbung oder Vereiterung der Augen. Das Verdrehen der Augen wurde daher viel- leicht eher als Element pathetischer Erzählung denn als signum mortis im strengen medizini- schen Sinne aufgefasst.165159 Möglicherweise spiegeln sich hier das von Kollesch (1976, 273) für die hippokratischen Ärzte postu-lierte tiefergehende Vertrauensverhältnis und das von Steger (2021, 138f.) skizzierte Dilemma der Pa-tientenaufklärung. Gleichwohl betont Kany-Turpin (1996, 247) neben der Medizin zu Recht Formen religiösen Umgangs mit der Katastrophe, die insbesondere aus den historiographischen Zeugnissen hervortreten (vgl. Wazer 2016 passim und Cohn 2018, 31–47) und die von Lukrez (womöglich be-wusst) ausgespart werden.
160 Tielemann (2018), 262.
161 Vgl. mit Munro (41886, 394) Plin. epist. 7,1,5: Postea cum vicensimo valetudinis die balineo praepa- rarer, mussantesque medicos repente vidissem, causam requisivi . (‚Als ich dann am zwanzigsten Tag meiner Erkrankung für das Bad vorbereitet wurde und die Ärzte plötzlich murmeln sah, fragte ich nach dem Grund.‘). Zur Ärztekritik im Mittelalter, die sich auch der bereits bei Plinius genannten Klischees bedient, vgl. Bergdolt (1991).
162 Barigazzi (1974, 201) vergleicht treffend die Verse 1141–1143 mit den Partizipien veniens , ortus , per- mensus und sieht darin etwas typisch Lukrezisches.
163 Vgl. Deufert (2018), 469.
164 Peta Fowler (1983, 440) hingegen gibt einige Vergleichsstellen aus dem Corpus Hippocraticum an, die das Augenrollen lediglich als Ankündigung eines Deliriums, nicht des Todes deuten.
165 Vgl. dennoch Hp. Coac. 131 (= 5,610 L.) und Lichtenthaeler (1994), 78. Die Lemmatisierung des OLD s.v. verso (5), 2040 ist dahingehend etwas ungelenk, dass aufgrund des gleichen Objekts sowohl die Mimik kurz vor dem Tod als auch der bloße Richtungswechsel des Blicks gemeinsam aufgeführt werden. Das Element wurde von Vergil anscheinend nicht aufgegriffen, während Ovid nicht nur den Ausdruck, sondern auch die attributive Überbestimmung übernimmt (s. u. Komm. zu Ov. met. 7,580f.).
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Lucr. 6,1182–1192a Viele Todeszeichen … stieg allmählich Kälte hinauf : Die Verse 1182–1196 sind eine Hinzufügung des Lukrez, in denen er Symptome aufzählt, die den bevorstehenden Tod ankündigen sollten. Diesen anhand solcher indicia/signa mor- tis prognostizieren zu können, war elementarer Bestandteil hippokratischer Medizin – die korrekte Vorhersage des Todes konnte sogar zu einer Verbesserung der eigenen Reputation führen.166 Wie bereits von Giovanni Nardi festgestellt worden ist,167 bedient sich Lukrez an dieser Stelle einer Vielzahl von Symptomen, die auch im Corpus Hippocraticum als indicia mortis verzeichnet sind, wobei nicht davon auszugehen ist, dass jener sie mühsam einzeln aus Schriften exzerpieren musste. Ebenso wie Varro von Krankheitslisten für die Hirtenauf- seher sprach (vgl. Anm. 76, S. 28), sind auf Papyri Listen aus Chirurgie und Augenheilkunde bekannt, die das Vorhandensein ähnlicher Texte für alle Bereiche der Medizin nahelegen.168 Von der Kontinuität der Vorstellung zeugt das Kapitel 2,6 aus Celsus’ De medicina , in dem ein Großteil der im Corpus Hippocraticum auffindbaren indicia mortis ins Lateinische über- setzt wurden.169 Lucr. 6,1192b–1196 Ebenso folgende Zeichen … mit gespannter Haut hervor : Bei diesem zweiten Abschnitt der Hinzufügung durch Lukrez handelt es sich um eine Versifizierung der sog. Facies Hippocratica .170 Das Bündel an Symptomen dient dem Hippo- kratiker zur Prognostizierung des unmittelbar bevorstehenden Todes und reiht sich in der vorliegenden Erzählung als sinnvolles Ergebnis des Scheiterns der Medizin ein (6,1178). Im Vergleich zu der Beschreibung des Thukydides liefert der neue Passus dahingehend mehr 166 Vgl. Grmek (1987), 132 mit Anm. 15, van Hooff (2005), 868–870 und Leven (2018), 156.
167 Vgl. Nardi (1647), 558–569, Munro (41886), 394f., Bailey (1947), 1732f. sowie Kazantzidis (2017), 165f. und (2021), 65–67 mit Vergleichsstellen der hippokratischen Schriften. Munros Aussage auf Seite 394 „Lucr. indeed seems to forget for the time that he is describing the gradual progress of a di-sease in which some died and others recovered as is told farther on“ muss insofern in Frage gestellt werden, als Lukrez diese Änderung vermutlich bewusst vorgenommen hat; s. auch die Einleitung zu Kapitel 3.1.
168 Vgl. Nutton (2007), 7f. und Roselli (2018), 196.
169 Vgl. außerdem (weniger umfangreich als Celsus) Plin. nat. 7,171.
170 Für eine Gegenüberstellung vgl. Diels (1920), 14; die Bezeichnung als facies Hippocratica stammt aus dem 16. Jahrhundert (vgl. Leven 2005d, 291f. und Tosi 162007, 349). Die Vorstellung bestand bis ins 19. Jahrhundert und ist danach auf vielfältige Weise in Kunst und Literatur rezipiert wor-den.
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140 Information, dass der Erkrankte im Prozess des Sterbens171 dargestellt wird – und das mit überwältigender Nüchternheit.172 Abbildung 4: Ferdinand Hodler: Die sterbende Valentine Godé-Darel, 24. Januar 1915, Kunstmuseum Basel
171 Mit seiner Betrachtung des Sterbens unternimmt Lukrez eine der am seltensten greifbaren Problema-tisierungen des Epikureismus, der in seiner Heilung von der Todesfurcht das leidvolle Sterben häufig ausblendet (vgl. Segal 1990, 12f. und 32); eine Ausnahme bildet Epikurs Brief an Idomeneus (29 Erbì = 52 Arr. = 138 Us.), in dem er seine Schmerzen anhand glücklicher Erinnerungen relativiert. James Warren (2004, 4) unternimmt eine Kategorisierung der Todesfurcht in vier Arten: 1. Die Angst davor, tot zu sein. 2. Die Angst, dass man sterben wird (Bewusstsein der eigenen Sterblichkeit). 3. Die Angst vor einem frühzeitigen Tod. 4. Die Angst vor dem Prozess des Sterbens. Für die Beschreibung bei Lukrez ist primär die vierte Angst in den Blick zu nehmen, die hier als eine Ereigniskette a1
… an
… aT zu verstehen ist, wobei aT den Übergang vom lebenden in den toten Zustand beschreibt. Diese Ereigniskette wurde in Philodems De morte vor allem mit Blick auf aT behandelt (vgl. Tsouna 2007, 265f.). Die Ereignisse a1
… an
, die hinsichtlich ihres Schmerzpotenzials für den Epikureer von Interesse sind, sind aus dem Fragment nur vereinzelt greifbar (vgl. z. B. Phil. mort. 28,29–32 Henry). Diogenes von Oinoanda nutzt die Auszeh-rung durch Krankheit für seinen Beweis der Superiorität der Seele (fr. 37 col. II,2 Sm). So verweist auch Warren (2004, 12) in seiner Besprechung lediglich auf die Todesdarstellung Epikurs, die dem Epikureer als Leitlinie dienen soll: „The message is that while dying can be painful, it need not be.“ Einen Ausweg zeige Epikur darin, dass sich der Kranke Lustempfindungen der Vergangenheit in Erinnerung ruft und dass schlimmer Schmerz nur kurz andauert (vgl. Epic. sent. 4 und Men. 133; dazu Kassel 1958, 31). Zieht man jedoch die Länge der Leidensschilderung in Betracht und sieht in den Versen 1213f. (Gedächtnis-verlust) sogar die Negierung einer Möglichkeit, sich vergangene Lustempfindungen zum Trost vorzu-halten, verblasst die Wirkmacht der Philosophie im Angesicht des Leids. Sedley (2020, 13) sieht gerade im ausbleibenden Trost den Beleg dafür, dass das Gedicht noch eine Überarbeitung erfahren sollte.
172 Klaus Sallmann (1968, 85) sprach hierbei von „einer gewissen kalten Wissenschaftlichkeit […] in Gestalt eines bohrenden, quälerischen Realismus“.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Diese Neuerung ist für das Verständnis der lukrezischen Seuchenbeschreibung von großer Be- deutung: Gerade durch den Modellfall der Facies Hippocratica liefert der Dichter kein spezifi- sches Wissen über die Krankheit der Pest, sondern schließt an allgemeine Todesvorstellungen an, die auch dem gebildeten Rezipienten bekannt gewesen sein dürften.173 Dementsprechend scheint es für Lukrez nicht von besonderer Relevanz, die Pest qua Pest zu beschreiben, sondern die Wirkung einer zum Tode führenden Krankheit auf den Körper des Menschen und dessen Psyche; damit greift der Dichter unmittelbar auf eine Vorstellung von Krankheit zurück und prägt diese zugleich mit.174 Zu der beobachteten Enthebung des Geschehens aus dem histori- schen Kontext kommt folglich eine Ablösung von der für die historische Krankheit eigenen Symptomatik hinzu, sodass der Schablonencharakter eines leidvollen Sterbeprozesses und der Fokus auf die Reaktion der betroffenen Menschen hervortreten.175 Nach Lukrez ist Vergil der einzige Dichter der Motivtradition, der ebenfalls den Sterbeprozess beschreibt. Lucr. 6,1197f. des achten Tages oder sogar beim neunten Licht : Die Tagesangabe richtet sich bereits bei Thukydides nach der Angabe der kritischen176 Krankheitstage in den hippokratischen Schriften.177 Zu den Aufgaben des antiken Arztes ge- hörte nicht nur die Erfassung und Erklärung des Ist-Zustandes, sondern auch die möglichst genaue Bestimmung des weiteren Krankheitsverlaufs.178 Ludwig Edelstein hat in einem viel-
173 Nichtsdestoweniger gewinnen auch diese allgemeinen Vorstellungen vor dem Hintergrund epikurei-scher Epistemologie eine besondere Bedeutung: So wies Fowler (1983, 442) darauf hin, dass gerade der Ausfall von Seh- und Hörvermögen eine Abschottung des Erkrankten von der Außenwelt be-deuten musste – und sich damit in die oben getätigte Beobachtung über die Zunge als interpres animi einordnet.
174 Bright (1971, 616f.) skizziert den Nutzen dieses Passus wie folgt: „Mainly, to blur the exact picture of the disease which has been built up to his point. The reader finds himself confronted not by a partic-ular disease, but by Disease.“ Daher liegt eine Invertierung der thukydideischen Vorgehensweise vor, dem es gerade nicht um die Verallgemeinerung, sondern die Partikularität des Ereignisses geht, vgl. Michelakis (2019), 392f.
175 Zur Frage nach der Realitätsnähe der Symptome und einer möglichen Wirkung der Beschreibung auf den Rezipienten vgl. Foster (2009), 392: „They are not realistic and respond most directly to a reader who is able to understand that the symptoms of the plague are an illustration of the suffering of the unenlightened.“
176 Zum Begriff vgl. z. B. Hp. aff. 8 (= 6,216f. L.) und Gundert (2005a), 541: „K[rise], nach antiker Auf-fassung ein Terminus der Gerichtssprache […], bezeichnet den Zeitpunkt im Krankheitsverlauf, an dem eine Änderung zum Besseren o. Schlechteren eintritt bzw. der Patient genest o. stirbt“.
177 Vgl. Classen/Steup (51914), 136. Langholf (1990, 64f.) hat aufgezeigt, dass die Tagesangabe mit Ordi-nalzahl in nosologischen Schriften bisweilen nicht exklusiv den genannten Tag, sondern den gesam-ten Zeitraum mitbezeichnet.
178 Vgl. Hp. Epid. 1,5 (= 2,634 L.) und insbes. Hp. Prog. 1,1 (= 2,110 L.), alle drei Wissensbestände er-geben die Prognose.
143
zitierten Beitrag dargelegt, dass der hippokratische Arzt gerade an dem Erfolg seiner Prognose gemessen wurde.179 Lukrez knüpft mit der Angabe der Krise rund an die Facies Hippocratica an; dabei besteht im Vergleich zur Vorlage nicht nur eine Diskrepanz in der Zahlenangabe des Todestages,180 sondern auch in der Reihenfolge der Informationsverteilung. Diese Ände- rung ist auf den Umstand zurückzuführen, dass Thukydides zwar die physische Standhaf- tigkeit der Menschen über ein denkbares Maß hinaus erwähnt (2,49,6 ἀντεῖχε παρὰ δόξαν τῇ ταλαιπωρίᾳ), diese bei Lukrez jedoch ausgespart wird. Dies wiederum ist vermutlich der intendierten Darstellung hoffnungslosen Erliegens des Menschen geschuldet. Durch die Aus- sparung rückt die Tagesangabe an den Anfang des Abschnittes.181 Lucr. 6,1199–1201 Wenn einer … entronnen war … dennoch Auszehrung und Tod : Jüngst hat Gardner (mit Verweis auf Godwin) dafür argumentiert, tabes letumque als Hys- teron-Proteron zu interpretieren, da mit tabes die Verwesung bezeichnet werde und die Er- krankten schließlich erst sterben müssten, um zu verwesen.182 Die Auffassung des Begriffs tabes als Verwesung steht im Zeichen von einer der Hauptprämissen von Gardners Unter- suchung, dem Konzept der Verflüssigung in den Seuchenbeschreibungen; zwar wird unten im Zusammenhang von Verg. georg. 3,481 zu zeigen sein, dass in der Dichtung keine strenge Unterscheidung zwischen tabes und tabum vorgenommen wurde,183 jedoch ist es an dieser Stelle nicht notwendig, die Semantik von tabum anzunehmen, da ‚Auszehrung‘ ( tabes ) einen einwandfreien Sinn ergibt. In der Übersetzung wurde der Ausdruck nicht als Hendiadyoin gedeutet,184 um die Getrenntheit der Prozesse des Sterbens durch Auszehrung ( tabes ) und des Todes selbst ( letum ) auszudrücken.179 Vgl. Edelstein (1931), insbes. 65–67. Durch Edelsteins Übersetzung der Prognosis als ‚Vorherwissen‘ wird auch die (modernen Rezipienten womöglich merkwürdig anmutende) antike Übertragung der Prognose auf Vergangenheit und Gegenwart verständlich.
180 Diese Diskrepanz war bereits Gegenstand intensiver Diskussion (vgl. Munro 41886, 395f., Godwin 1991, 178, der mit Rusten 1989, 136 und 185 argumentiert). Es bleibt festzustellen, dass Thukydides mit dem Tod der Erkrankten am neunten oder siebten Tag (2,49,6) dem hippokratischen Prinzip ent-spricht, nach dem Fiebererkrankungen sich in regelmäßigen Abständen an geraden oder ungeraden Tagen verschlimmern, wodurch sich auch die Krise bestimmen lässt (Hp. Prog. 20 [= 2,168 L.]). Bei Lukrez hingegen tritt der Tod bei derselben Krankheit sozusagen unordentlicher an einem geraden oder ungeraden Tag ein.
181 Vgl. Bailey (1947), 1733, anders Godwin (1991), 84, der den Doppelvers noch zum Abschnitt zur Facies Hippocratica rechnen will.
182 Vgl. Gardner (2019), 90 und Godwin (1991), 178.
183 Die fehlende Unterscheidung verleitete Gardner (2019, 122 Anm. 15) wohl zur Fehlzitation tabum letumque .
184 Vgl. Leonard/Smith (1942), 861 „wasting death“ oder Barigazzi (1974), 204 „morte per consunzione“.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Lucr. 6,1200 einem schwarzen Magenausfluss : Schwarzer Magenausfluss in Verbindung mit Fieber findet sich häufig als sehr schlechtes Zei- chen in den Schriften des Corpus Hippocraticum .185 Lukrez ist der einzige der Dichter der Motiv- tradition, bei dem überhaupt Ausscheidungen der Erkrankten Erwähnung finden.186 Dies ist aus medizinhistorischer Perspektive dahingehend verwunderlich, dass die Uro- und Koproskopie im Kontext der Anamnese und Therapie (von der Antike bis in die Moderne) eine große Be- deutung einnahm und bereits im Corpus Hippocraticum eine Differenzierung von Konsistenz, Farbe und Geruch zum Zweck von Diagnose und Prognose vorlag.187 Angesichts der in der Mo- tivtradition stets knapp gehaltenen Schilderung des Scheiterns der Medizin ist es vielleicht nicht verwunderlich, dass auch bei Lukrez keine Diagnosemethoden beschrieben werden; nichtsdes- toweniger hätten gerade die Symptomkataloge ein großes Potenzial besessen, auch die Körper- ausscheidungen mit einzubeziehen. Eine Begründung dafür zu finden, dass diese dennoch in Schweigen gehüllt werden, fällt schwer: Vor dem Hintergrund der gattungsinternen Verände- rungen in zwei Jahrhunderten wäre es sicherlich zu kurz gegriffen, die Ausklammerung von Urin und Stuhl ausschließlich auf das literarische Genus zurückzuführen – was für Vergil galt, galt nicht mehr für Lucan (vgl. Anm. 55, S. 112). So bleibt lediglich die Feststellung, dass die Aus- scheidungen der Erkrankten scheinbar kein relevanter (oder gewünschter?) Bestandteil der Vor- stellung der hier untersuchten Krankeitseinheit gewesen sind. Eine mögliche Erklärung für die schwarze Farbe sieht Barigazzi darin, dass es sich um einen Ausfluss schwarzer Galle handelt.188 Lucr. 6,1202f. häufig begleitet von Schmerzen im Kopf … aus der verstopften Nase : In der Humoralpathologie wurde Blutfluss nicht grundsätzlich negativ bewertet, sondern galt vor dem Hintergrund einer biologischen Katharsis als notwendiger Ausstoß (Apostase) von überschüssiger Flüssigkeit bzw. der materia peccans .189 Diese wird hier durch den Aus-
185 Vgl. z. B. Hp. Aph. 4,21 (= 4,508f. L.) und noch deutlicher Hp. acut. spur. 9 (= 2,440 L.) ἡ μὲν μέλαινα διαχώρησις θάνατον σημαίνει. (‚Der schwarze Ausfluss aber bedeutet den Tod.‘)
186 Ein besonderer Kontrast besteht auch zur Vorlage des Thukydides (2,49,6): Dieser spricht von einem ‚unvermischtem Durchfall‘, der im Gegensatz zu Schleim- und Galleauswurf ein verhältnismäßig positives Zeichen darstellte, vgl. Stamatu (2005b), 237f. und Anm. 147, S. 47.
187 Vgl. mit Totelin (2014, 22f.) bspw. Hp. Prog. 12–24 (= 2,138ff. L.) und Coac. 564–640 (= 5,712ff. L.). Auch unter den signa mortis , deren große Schnittmenge mit den in den Seuchenbeschreibungen ge-schilderten Symptomen bereits oben angesprochen wurde, ist der Urin mit aufgezählt (Cels. 2,6,11 und Plin. nat. 7,171).
188 Vgl. Barigazzi (1974), 203f. Cels. 3,7,2 nennt den Magenausfluss ( profluvium alvi ) als Indikator für einen schlimmeren Fall des Brennfiebers.
189 Vgl. Langholf (1990), 87, Lorenz (1990), 281–283 und Leven (2005a). Neben Nasenbluten war auch die Monatsblutung als ein solch natürlicher Abfluss krankmachender Stoffe eingestuft worden, dessen Ausbleiben notwendigerweise ein Aufstauen an anderer Stelle nach sich ziehen musste.
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druck sanguis corruptus wiedergegeben, der bei Lukrez zum ersten Mal belegt ist; er bezeich- net zum einen das Krankmachende, zum anderen (vermutlich) die dunkle Farbe, die von seinen Nachfolgern bspw. in Form des Attributs ater aufgegriffen wird (s. Komm. zu Verg. georg. 3,507). Lukrez drückt mit der Konstruktion cum saepe dolore capitis aus, dass es sich bei dem Kopfschmerz zumindest um eine Begleiterscheinung des Nasenblutens handelte.190 Ob dieses als die Ursache für jenen aufgefasst wird, kann nicht eindeutig beantwortet wer- den, wenngleich die Aufstauung der (pathogenen) Flüssigkeit im Kopf, die zu deren Apostase führt, ein Druckempfinden und daraus resultierenden Schmerz humoralpathologisch plausi- bel erscheinen lässt.191 Wenn hier das oben erläuterte positive Verständnis des Nasenblutens als Entlastung des betroffenen Bereichs (oder des Körpers ingesamt) zugrundegelegt wird, hebt Lukrez möglicherweise erneut eine Besonderheit der Krankheit hervor:192 Eigentlich müsste das Nasenbluten zu einer Besserung des Zustandes führen; so liest man bei Celsus an einer Stelle, dass gerade das Aufhören von Nasenbluten zu Kopfschmerzen führen könne.193 Auf der anderen Seite sind Nasenbluten und Kopfschmerz als gemeinsame Symptome gut belegt, sodass Lukrez mit Rückgriff auf allgemeines Gedankengut an dieser Stelle gerade keine Be- sonderheit beschriebe.194 Lucr. 6,1207 selbst auf die Genitalien : Bailey verweist auf Lucr. 4,1044, wo (auf der Grundlage einer pangenetischen Theorie des Samens195) zunächst der Gang des Samens durch den Körper des Jugendlichen beschrieben und daraufhin die Schwellung des männlichen Glieds durch die Ansammlung des Samens erklärt wird. Die wörtliche Übereinstimmung ( ibat et in partis genitalis corporis ipsas ) kann durchaus eine intendierte Parallele sein – dem Fluss der Krankheitsatome vom Kopf nach190 Zur semantischen Differenzierung von Schmerz vgl. Wilson (2013).
191 Lichtenthaeler (1994, 87) spricht bei diesen Anstauungen von einem „Saugeffekt der Schädelkapsel“; derartige Beschreibungen finden sich vermehrt in hippokratischen Schriften und basieren auf der anatomischen Vorstellung von Hohlräumen im Körper und deren Funktion, vgl. Holmes (2018), 74.
192 Diese Deutung fiele eher zugunsten von Lukrezens Eigenanteil aus als die von Bailey (1947, 1734), der hier „the chief part of Lucr.‘s misrepresentation“ sieht.
193 Vgl. Cels. 2,7,7. Das Gegenargument, es handle sich bei der Nase generell nicht um eine ausreichende Abflussstelle (vgl. mit Golder 2007, 139 Hp. Epid. 4,26 [= 5,170 L.] zur Großzehe) ist angesichts der zahlreichen Stellen, denen zufolge ein solcher Abfluss geholfen hat, nicht haltbar.
194 Vgl. mit Fowler (1983, 474) Hp. Prog. 21 (= 2,172 L.) und Cels. 2,7,20. Irrtümlicherweise ordnet Fow-ler den siebten Abschnitt bei Celsus, der Kopfschmerz und Nasenbluten jedoch (wie soeben gesehen) in ein anderes Verhältnis setzt, neben diesen beiden Zeugnissen ein.
195 Vgl. Lesky (1951), 70–119. Zur Beeinflussung des vierten Buchschlusses auch durch Schriften des Corpus Hippocraticum vgl. Kazantzidis (2017), 156 und (2021), 55f.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung unten scheint eine vergleichbare Vorstellung zugrundezuliegen,196 der zumindest in seiner Be- wegungsrichtung ‚ a capite ad calcem ‘ bereits von Thukydides vorgegeben wurde. Dieser nennt die Geschlechtsorgane recht knapp vor Händen und Füßen (2,49,8). Durch den Zusatz privati parte virili (‚des männlichen Gliedes beraubt‘) erhalten die Genitalien bei Lukrez eine gewisse Hervorhebung.197 Lucr. 6,1209–1211 durch das Messer des männlichen Glieds beraubt … das Augenlicht : Im Vergleich mit Thukydides findet sich für den Verlust der Gliedmaßen eine andere Ursa- che: Handelt es sich bei Thukydides noch um ein Symptom, werden jene bei Lukrez durch eine Klinge ( ferrum ) abgetrennt.198 Ob die Amputation der Glieder bei Lukrez durch die Ärzte oder durch die Erkrankten selbst vorgenommen wird, ist nicht ausdrücklich gesagt;199 Letzteres passte jedoch eher in das gegebene Bild des aus epikureischer Sicht unmündigen Menschen: denn Ausgangs- und Endpunkt der Passage ist erneut die Furcht und fällt in die Verantwor- tung der Erkrankten selbst – die durch diese Veränderung erzielte Wirkung kann nicht genug hervorgehoben werden.200 Ist der Verlust der Gliedmaßen in der Beschreibung des Thukydides eine kausale Notwendigkeit innerhalb des Krankheitsverlaufes, lässt Lukrez die Menschen in selbstzerstörerische Angst vor dem Tod versinken, wodurch der Akt der Amputation nach epikureischem Verständnis ein Ausdruck der eigenen Machtlosigkeit hinsichtlich der Bewäl- tigung der Todesfurcht darstellt; stilistisch hebt Lukrez dies durch den epiphonematischen Charakter des Verses 1212 hervor.201
196 Dennoch liegt der Vers noch im biologischen Abschnitt des Finales; der kurz darauffolgende Angriff auf die Krankheit der Liebe (vgl. Caston 2006 und Schauer 2018) böte eine ansprechende Verbindung zur Pest.
197 Möglicherweise spiegelt sich in der Betonung des Verlusts der Genitalien unterschwellig eine „deep-seated fear about the loss of (societal and political) privilege and power and the idea that failed masculinity and/or femininity is transmissible (contagious) and dangerous“ (Gohr 2018, 161).
198 Auch Stoddard (1996, 119) betont die Auswirkung dieser marginalen Änderung für den Gesamtkontext. Für den Gebrauch von στερίσκεσθαι ( sterískesthai ) im medizinischen Kontext vgl. Page (1953), 105f.
199 Vgl. zur Ambiguität Godwin (1991), 179. Robin nimmt einen chirurgischen Akt an (1928, 357), Bai-ley (1947, 1734) versteht die Stelle als Selbstbeschneidung.
200 Vgl. Commager (1957), 107 und Grimm (1965), 49f. Zur Darstellung einer potenziellen Gefahr bei der Durchführung einer Amputation, die auch auf der Reaktion der Behandelten beruht, vgl. Hp. art. 69 (= 4,282–289 L.).
201 Vgl. zu Epiphonemata Lausberg (2008), 434: „Als abschließender Höhepunkt wird es [sc. das Epi-phonem] meistens mit Affekt oder jedenfalls mit gewollter Hervorhebung gesprochen […]. Manch-mal liegt der Haupteffekt in der affektisch-zusammenfassenden Abschlußwirkung.“ Dazu auch Quint. inst. 8,5,11: est enim epiphonema rei narratae vel probatae summa acclamatio: ‘tantae molis erat Romanam condere gentem‘! (‚Ein Epiphonem ist nämlich ein Ausruf, der eine Erzählung oder Beweisführung abschließt, z. B.: „Eine derart große Mühe war es, das römische Volk zu gründen!“‘)
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Lucr. 6,1213 vollständiges Vergessen : In der Aussage über die Amnesie der Erkrankten hält sich Lukrez eng an seine Vorlage, doch wird der bei Thukydides temporäre Gedächtnisschwund bei Lukrez zum Begleitsym- ptom, das bis zum Tod andauert.202 In Anm. 171, S. 140 wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Auflösung der personalen Identität aufgrund des Gedächtnisschwundes die Epikureer vor ein besonderes Problem stellen konnte,203 das von Lukrez an dieser Stelle scheinbar nicht als solches wahrgenommen oder zumindest nicht expliziert wird.204 Indem Epikur in seinem Brief an Idomeneus (s. Anm. 171, S. 140) erklärt hatte, dass sein Blasenleiden und die daraus resultierenden starken Schmerzen mit der Erinnerung an bessere Zeiten zu bewältigen seien, hatte er zumindest die Grundlage geschaffen für eine Antwort auf die Frage, wie sich der epi- kureische Weise im leidvollen Sterbeprozess verhalten solle. Indem Lukrez nun seiner Vorlage folgte, beraubte er die Menschen auch noch dieser Möglichkeit – gerade für die Vertreter der didaktischen Deutung der Pest stellt dieser Aspekt keine Kleinigkeit dar.205 Fowler verweist auf die Ironie, mit der Lukrez das im dritten Buch vom unentschlossenen Menschen erstrebte Vergessen nun (in anderer Form) durch die Krankheit wahr werden lässt.206 Lucr. 6,1215–1222a Leichen über Leichen … siechten dahin und starben : Der ausbleibende Leichenfraß durch Beutetiere wurde von Thukydides (2,50,1) als Beweis für die widernatürliche Kraft der Pest in Athen angeführt; mit ihr greift der Historiker zu- gleich eine der Urängste der homerischen Helden (und damit womöglich auch der Rezipien- ten) auf, nämlich die Entstellung der unbestatteten Leiche durch wilde Tiere.207 Diese ist eine der Ängste, gegen die Lukrez im dritten Buch mit seinen Beweisen für die Sterblichkeit der Zur besonderen Stellung des Verses vgl. bereits Bergson (1884), 153 und Geller-Goad (2020), 204, der den Abschnitt für seine satirische Deutung nutzt.202 Vgl. Barigazzi (1974), 205. Durch die Anlehnung an Thukydides ist die Stelle nur bedingt geeignet für die wichtige argumentative Funktion, die ihr Kazantzidis (2018), 89 und (2021), 63f. beimisst.
203 Dieses Problem hätte, selbst wenn man die Pest als „both a demonstration and a warning of a pre-Epicurean world“ (Segal 1990, 234) ansieht, Bestand.
204 Hätte eine solche Problematisierung stattgefunden, wäre John Penwills (1996, 162) Deutung der Pest als Kapitulation des Menschen vor der Allmacht der Natur durchaus zutreffend – angesichts der nicht erfolgten Ausschöpfung dieses Potenzials bleibt diese Interpretation jedoch mit Zweifeln be-haftet.
205 Vgl. Kazantzidis (2021), 70f., möglicherweise bereits nahegelegt von Volk (2002), 82 Anm. 38: „[E]ven if the Athenians had all been Epicureans and gone about dying in a calm and disciplined way, it would still have been a painful, and thus, from an Epicurean point of view, undesirable situation.“
206 Vgl. Fowler (1983), 490 mit Lucr. 3,1066f. aut abit in somnum gravis atque oblivia quaerit, | aut etiam properans urbem petit atque revisit . (‚Entweder er legt sich schwermütig schlafen und sucht das Ver-gessen oder er eilt immer wieder in die Stadt.‘)
207 Vgl. die Eröffnungsverse der homerischen Ilias und Segal (1971).
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Seele argumentierte.208 Eine andere ist die des Verwesens, die Lukrez im Gestank, der die wil- den Tiere zu großen Teilen abschreckt, aufgreift. Die Ungenießbarkeit des erkrankten Flei- sches209 wird in der Motivtradition lediglich von Vergil und Ovid aufgegriffen: Jener überträgt sie auf das Fleisch der Nutztiere (Georg. 3,559), das nicht gereinigt werden kann, wohingegen dieser näher an Lukrez und Thukydides wieder die Beutetiere in den Blick nimmt, die bei ihm jedoch gänzlich von den Kadavern fernbleiben (Met. 7,549f.). Die Beobachtung des Verhaltens der Tiere dient im Laufe der Tradition auch als Indikator für die kosmische Dimension der Seuchen (s. Kapitel 3.2.3). Lucr. 6,1222b–1224 die treue Hundeseele … presste das Leben aus ihren Gliedern : Der Vorlage entsprechend werden die Hunde als einzige Repräsentanten der Haus- und Nutztiere genannt, die aufgrund ihrer Treue in großer Zahl der Krankheit anheimfallen.210 Bereits seit Homers Ilias ist es fester Bestandteil von Seuchenbeschreibungen geworden, dass auch Hunde erkranken und sterben, jedoch wurde insbesondere für Lukrezens Text ein enges Verhältnis zu Hunden aufgezeigt.211 Bei Lukrez besteht eine starke Spannung zwischen der fides (‚Treue‘) der Hunde und der äußerst gewaltsamen Metaphorik des extorquere , die mög- licherweise Assoziationen der Folter wecken sollte.212 Die besondere Rolle der Hunde zieht sich
208 Vgl. insbes. Lucr. 3,870–893. Eine Argumentation gegen das Unbehagen über den Zustand des eige-nen Körpers nach dem Tod wurde neben den Epikureern u. a. auch von Kynikern und Stoikern vor-genommen, vgl. Heinze (1897), 169.
209 Mit Nardi (1647, 580) ist hervorzuheben, dass die Krankheit folglich nicht mit dem Tod endet, son-dern dem Körper weiterhin innewohnt: „Alterum quod observatione dignum […] est, quod non simul cum vita desinit Pestilens venenum, sed asservatur in cadavere“. Die im Anschluss von ihm dargelegte miasmatische Verschmutzung der Luft durch die Leichen findet sich in der Motivtradi-tion wohl erst bei Ovid.
210 Anders als von Boyle (2011, 149) angenommen wird cum primis hier nicht rein zeitlich, sondern quantitativ aufgefasst (vgl. auch Thuc. 2,50,2), sodass der begründende Faktor der fides noch stärker hervortritt.
211 Das Verhältnis der Griechen und Römer zu Hunden zeigt sich in der Literatur generell als ein Be-sonderes, man denke bloß an die Trauer des Odysseus beim Wiedersehen mit seinem Hund Argos (Hom. Od. 17,290–327; vgl. Toynbee 1973, 112–124 und Kynast 2016, 132). Für das enge Verhältnis des Lukrez zu Hunden führt der Kommentar von Leonard/Smith (1942), 862 mehrere Beweisstellen an; in dessen Zuneigung zu Hunden liegt vielleicht auch die Ausführlichkeit und Hervorhebung des Leids begründet. Die Beobachtung von Leonard/Smith lässt sich gerade mit der vorliegenden Stelle bestärken, da eine Parallele zwischen dem Sterben der treuen Hunde und demjenigen des optimus quisque (6,1245) gezogen werden kann, vgl. Bright (1971), 617 und Raabe (1974), 43.
212 Vgl. Leonard/Smith (1942), 862. Es besteht auch ein starker Kontrast zu mittelalterlichen und neu-zeitlichen Pestbeschreibungen, in denen von Hundetötern die Rede ist.
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über die Motivtradition bis hin zu Paulus Diaconus, der sie in seiner Historia Langobardorum als letzte Wächter inszeniert.213 Lucr. 6,1225–1228 (= 1226–29 Deufert) keine Heilmethode … brachte ihnen den Tod : Das Ausbleiben des allgemein wirkenden Heilmittels greift (neben der Vorlage des Thuky- dides in 2,51,2) strukturell und sprachlich auf die Betrachtungen des vierten Buchs über den Geschmack zurück, in denen erläutert wurde, weshalb bestimmte Nahrungsmittel nur für manche Lebewesen genießbar sind und wodurch Geschmacksunterschiede entstehen.214 Die dort gegebene Erklärung, dass die physiologische Anlage der foramina (‚Kanäle‘) zu unter- schiedlicher Empfänglichkeit für die Atome führt, mag hier ebenfalls zugrundegelegt sein. Eine explizite Erklärung für die Unheilbarkeit der Krankheit, wie sie später Vergil in seiner Pa- thophysiologie (Verg. Georg. 3,478–481) vorausschickt, bleibt Lukrez jedoch schuldig. Nichts- destoweniger ist nach der äußerst knappen Reaktion der murmelnden Medizin in 6,1178 an dieser Stelle eine Begründung für ihr Scheitern angegeben,215 die jedoch schwer in den Zusam- menhang zu stellen ist: Die Einbettung der vier Verse ist nicht nur aufgrund des Verses 1272 (urspr. 1225) fraglich, sondern sie erscheinen auch nach dessen Transposition mit Blick auf den vorangegangenen und den folgenden Abschnitt merkwürdig isoliert. Schröders Auffassung,216 die Verse 1225–1228 entsprächen einer Einleitung, ist angesichts der Tatsache, dass die sich an- schließenden Verse auf die gesamte vorangegangene Beschreibung ( in his rebus , 6,1229) Bezug nehmen und dass nec keinen neuen Passus ankündigt, nur schwer zu halten – der eingeleitete Abschnitt käme unmittelbar zu einem Ende. Somit hat Bailey zwar Recht, wenn er in seinem Kommentar die enge Bezugnahme des Abschnitts zur Vorlage des Thukydides betont, jedoch löst dies nicht die Anschlussschwierigkeiten.217 Lucr. 6,1234 (= 1235 Deufert) quippe etenim: Dadurch, dass Lukrez die Verse im Anschluss mit quippe etenim einleitet, weicht er von dem beigeordnet faktischen καὶ ὅτι des Thukydides (2,51,4) ab. Aufgrund der potenziellen Kau-213 Vgl. Paul. Diac. Hist. 2,4. Betensky (1972, 30) sieht im Sterben von Mensch und Tier erneut ein gleichschaltendes Potenzial des Todes und macht auf Lucr. 6,1127 aufmerksam, wo ein Rollentausch stattgefunden zu haben scheint.
214 Vgl. Lucr. 4,633–705, inbes. 665–667, in denen auch die Auswirkung von Krankheiten auf das Ge-schmacksempfinden erläutert werden.
215 Blößner (2004, 127 Anm. 62) sieht eine Spannung zu den Versen 1179–1181, die von ihm jedoch zu stark ausgelegt wurden: Dort ist die Rede vom Scheitern der Medizin, nicht von ihrer Untätigkeit.
216 Vgl. Schröder (1898), 14.
217 Vgl. Bailey (1947), 1736, so auch Ernout/Robin (1928), 358; Godwin markiert zumindest, dass ein neuer Gedanke einsetzt (1991, 181) – lediglich Giussani (1898, 306) erkennt die Problematik.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung salität eines ὅτι wurde auch an dieser Stelle ein Missverständnis des Lukrez angenommen.218 Um diese Annahme zu entkräften, kann einerseits auf die in der Einleitung zu diesem Kapi- tel festgestellte Expertise des Lukrez verwiesen werden; andererseits sollte Beachtung finden, welche Wirkung durch die Veränderung der Vorlage erzielt worden ist. Die Einführung der Kausalität muss als Ausdruck der lukrezischen Intention verstanden werden,219 die eben nicht auf das Verständnis der Krankheit abzielt (das καὶ ὅτι des Thukydides ist in diesem Sinne de- skriptiv aufzufassen), sondern die Reaktion der Erkrankten und deren Bewertung aus philoso- phisch-didaktischer Perspektive in den Blick nimmt.220 Vor diesem Hintergrund ist tatsächlich das miserandum magnopere unum aerumnabile , dass die Menschen es nicht vermochten, die Krankheit zu bewältigen, was nun im Fokus der Betrachtung steht – die vier Verse des quippe etenim beschreiben die Ängste der Erkrankten in Anbetracht der um sich greifenden Krank- heit, die sich aus philosophischer Perspektive nicht ergeben dürften: Für den Epikureer sollte die Kontagiösität (angesichts der Unvermeidbarkeit der Ansteckung) keine Rolle spielen. Lucr. 6,1234f. (= 1235f. Deufert) denn zu keinem Zeitpunkt hörte die Ansteckung auf : An dieser Stelle gebraucht Lukrez den Begriff contagium für die Bezeichnung der An- steckung von Lebewesen zu Lebewesen zum ersten Mal und das sogleich kühn in personi- fizierter Form.221 Während die Römer Ansteckung in Form von Berührung ausdrückten,222 hatten die Griechen zu dieser Zeit keine vergleichbare Konzeptionalisierung.223 Stattdessen wurde bei der Betrachtung von Thukydides’ Krankheitskonzept (s. o. Kapitel 1.5.3) die Dar- stellung von ‚Krankheit als Flüssigkeit‘ aufgezeigt, die im Kommentar zu Vers 1256f. erneut begegnet.
218 Schröder (1898, 14) sieht die Modifikation in der übersehenen Konjunktion (καί) begründet, vgl. auch Munro (41886), 398.
219 Vgl. Giancotti (1960), 213.
220 Vgl. für diese Motivation und die Rolle des Angstvokabulars in der gesamten Beschreibung Bright (1971), 619.
221 Nardi (1647, 585) führt den Passus als schlagenden Beweis gegen seine Zeitgenossen ins Feld, die ein Wissen der Römer über Ansteckung nicht annehmen wollen. Thome (1993, 272–274) liefert eine hilf-reiche Sammlung der contingere -Gruppe. Zur häufig angeführten Parallele in Lucr. 3,471 vgl. Heinze (1897), 122; Pope (2020, 213–215) sieht einen Bezug auf Lucr. 3,59–73. Ähnliche Personifikationen in der Seuchenbeschreibung finden sich bei der incuria mactans (1241) und den funera incomitata (1272), vgl. Klepl (1940), 83f. mit Anm. 146 und 147. Die regelmäßige Verwendung von contagium im Zusammenhang der Beschreibung epidemischer Krankheiten merkt auch Grmek (1984, 54) an.
222 Zur Diskussion der Derivation von tangere vgl. de Vaan (2008), 606f. Das Wissen um Ansteckung über Berührung wurde bereits im Zusammenhang von Thukydides’ Beschreibung besprochen, vgl. Kapitel 1.5.2.
223 Vgl. Gardner (2019), 27 mit Nutton (1983), 5 Anm. 16.
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Lucr. 6,1236 (= 1237 [1245] Deufert) so wie bei wolligen Schafen und gehörnten Rindern : Wie auch seine Vorlage Thukydides (2,51,4) vergleicht Lukrez (in epischer Umschreibung) die rasche Ansteckung unter den dahinsterbenden Menschen mit dem von Viehherden.224 Da- bei steht nicht allein die Masse im Vordergrund, für die andere Vergleiche zur Verfügung gestanden hätten (z. B. Laub, Sand, Sterne),225 sondern die räumliche Nähe, die durch jene zustandekommt, und die daraus resultierende Ansteckungsgefahr. Dass bereits ein krankes Schaf ausreicht, um eine ganze Herde zu infizieren, begründete sogar eine sprichwörtliche Tradition bis ins Mittelalter.226 Gardner sieht eine gewisse Entmenschlichung durch den Tier- vergleich evoziert und durch das Verb cumulabat unterstrichen,227 wohingegen zu überlegen wäre, ob nicht eher das Stapeln der Leichen (und damit deren Verkommen zu einer anonymen Masse) die antiken Autoren zum Bild verleitet hat. Lucr. 6,1238–1245 (= 1239–1246 Deufert): „This is one of the most remarkable of Lucretius’ reworkings of his original.“228 Diesem Sonderstatus entsprechend erhält der Lukreztext an dieser Stelle erhöhte Aufmerksamkeit in sämtlichen Kommentaren. Der Abschnitt zeigt in Anknüpfung an Thukydides die zwei klas- sischen Reaktionsmöglichkeiten der Seuchenbewältigung auf: Flucht, bei der nicht selten die Schwachen zurückgelassen werden, oder Selbstaufopferung und Hilfsbereitschaft (s. auch Ka- pitel 3.2.2). Bemerkenswert ist zu allererst der dahingehend geänderte Sinn, dass bei Lukrez diejenigen einsam sterben, die ihre Angehörigen im Stich lassen ( fugitabant visere ad aegros ), während hingegen bei Thukydides (2,51,5) wahrscheinlich die Erkrankten als Subjekt von ἀπώλλυντο ( apōllunto ) anzusehen sind.229 Wenngleich Bailey diesen Unterschied erneut auf224 Der Vergleich bildet eine Vorlage für Vergils spätere Beschreibung der Krankheit, die sich durch die Viehherden schlängelt (Georg. 3,468f.), sowie den späteren Vergleich von Herbststurm und Seuchen (s. u. Kommentar zu 3,470). Ebenso nutzt Diogenes von Oinoanda in seiner Inschrift das Bild der Pest für die Unwissenden (fr. 3 col. IV,3 Sm mit Smiths Kommentar auf Seite 439; daneben Warren 2000 und Steger 2021, 87). Langmuir et al. (1958), 249 missverstehen den Vergleich und gehen statt-dessen von einer Ansteckung der Rinder durch die Seuche aus, vgl. dagegen Holladay (1988), 249 und Hornblower (1991), 324.
225 Vgl. McCartney (1960).
226 Vgl. mit Mumprecht/Ruef (2000, 8f.) antike Zeugnisse in Verg. ecl. 1,49f., Ov. rem. 613 und Sen. dial. 3,15,2.
227 Vgl. Gardner (2019), 94.
228 Bright (1971), 613.
229 Vgl. Bailey (1947), 1737, nach ihm auch Bright (1971), 614, der Lukrez die Ambiguität der Konstruk-tion des Thukydides ausnutzen sieht; zur Bedeutung von ἀπώλλυντο an dieser Stelle vgl. die Einord-nung von Bétant (1961), 130.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung ein Missverständnis zurückführen möchte, sollte zunächst vorbehaltlos auf die Änderung und ihre Wirkung innerhalb der Erzählung geblickt werden. Die Motivation der Flüchtigen ist in beiden Fällen auf der affektiven Ebene der Todesfurcht anzusiedeln ( vitai nimium cupidos mortisque timentis , δεδιότες [ dediótes ]), wobei die quan- titative Differenz der Motivationsbeschreibung noch mit einem Verweis auf die Dichtung zu erklären sein mag (wenngleich es kein Zufall sein dürfte, dass die Furcht als Hauptthema des Lukrez besondere Hinwendung erfährt). Doch in der Folge fügt Lukrez zwei Verse ein, die nach Robin einen Gedanken beinhalten, der „aussi peu scientifique que peu épicurienne“230 ist: Die unterlassene Hilfeleistung auf Basis des Egoismus der Individuen wird bestraft ( poenibat ), die Darstellung scheint auf eine gattungsbezogene Moral (Missetat gegen den Erkrankten als Menschen) oder alternativ eine spezifische Sozialmoral (Missetat gegen den Erkrankten als Mitglied der sozialen Einheit ‚Familie‘) zu rekurrieren;231 die Sinnhaftigkeit der Strafe ergibt sich durch die Schuld, welche die Angehörigen durch ihre Flucht auf sich geladen haben. Auf welche Art der Moral Lukrez genau Bezug nimmt, ist für den Effekt, auf den er abzielt, jedoch nicht von Bedeutung – wichtig ist an dieser Stelle nur, dass dem Rezipienten die Tat aufstößt und er den einsamen und hilflosen232 Tod der Flüchtenden der eigenen Anschauung gemäß als gerecht empfindet, was sich der Dichter im Folgenden zunutze macht.233 Die vollständige Wirkung dieses Zusatzes ergibt sich nun, wenn Lukrez Thukydides in der Beschreibung derjenigen, die den Kranken zu Hilfe eilten, sowohl in Bezug auf deren Mo- tivation der Scham ( pudor , αἰσχύνῃ [ aischýne ]) als auch auf den tödlichen Ausgang folgt.234 230 Ernout/Robin (1928), 360.
231 Zur Einführung des moralischen Aspekts vgl. Barigazzi (1974), 208; möglicherweise kann an dieser Stelle mit Hutchinson (2013), 212 mit Anm. 20 im poenibat eine Anspielung auf göttliches Wirken gesehen werden. Ein Argument für die spezifische Sozialmoral kann das turpi morte liefern, das im Falle des Vorwurfs einer Verletzung der Pflicht gegenüber Verwandten einen interessanten Kontra-post zu dem als korrekt gedachten Verhalten der pietas darstellte. Vgl. für die Todesangst als Ursache der Vernachlässigung der pietas Lucr. 3,79–84 (speziell 84), als Erläuterung des Gedankens auch 85f., wobei diese beiden Verse nach Deufert (1996, 51f. und erneut 2018, 139) zu athetieren sind.
232 Nethercut (2020, 122) macht auf eine Parallele zu Lucr. 5,988 aufmerksam, durch die eine Verbind-ung zwischen dem Verhalten der Flüchtenden in Athen und demjenigen in menschlicher Vorzeit hergestellt wird: „These two occurrences of this collocation, repeated nowhere else in Lucretius, sug-gest that the deaths of those afflicted by the plague are no different than those of the earliest humans who did not have the protections a city affords.“
233 Eine vergleichbare ‚Abholung‘ des Rezipienten sieht Foster (2009, 386) in Thukydides’ Auswahl bei der Verfallsschilderung moralischer Werte in Bezug auf alltägliche Dinge. Mit Toner (2013, 38) ist dieses Motivelement als moralische Anekdote einzuordnen.
234 Vgl. Bright (1971), 614. Hervorzuheben ist die Umdeutung der Klagen der Erkrankten, die bei Lukrez ( blandaque lassorum vox mixta voce querellae ) zur Pflege, bei Thukydides zur Pflichtvergessenheit führen.
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Hierdurch dürfte (auch) der antike Rezipient vor den Kopf gestoßen worden sein: gerade noch war von gerechter Bestrafung die Rede, nun wird optimus quisque von der Pest dahingerafft.235 Diese Widersprüchlichkeit kommt erst durch den von Lukrez getätigten Zusatz in den Versen 1240f. zustande, die dem Rezipienten vor Augen führt, dass die Krankheit keine von Göttern gesandte Art der Selektion ist, sondern ein vom Zufall bestimmtes Phänomen; dadurch wer- den liebgewonnene Moral- und Belohnungssysteme ausgehebelt und der Rezipient steht stau- nend vor dem Text.236 Jason Nethercut hat diesen rhetorischen Kunstgriff mit der Bezeichnung provisional argumentation versehen, die er wie folgt definiert:This is a kind of rhetorical gambit whereby Lucretius first engages his readers’ attention by addressing them within a familiar frame of reference, and then later reveals this frame of reference to be at odds with a clear-eyed, Epicurean view of reality.237 Lukrez konfrontiert demnach eine moralische opinio communis , dass der Bruch der pietas be- straft gehört ( familiar frame ), mit der willkürlichen Naturgewalt des epikureischen Weltbildes. Harmonisierende Deutungen, die im Sterben des optimus quisque den Sieg wahrer Sittlichkeit annehmen wollen, basieren zumeist auf der isolierten Betrachtung des Absatzendes und kön- nen aus diesem Grund die genannte Wirkung nicht erkennen.238
235 Den Umschwung von der gerechten Bestrafung hin zum ungerechten Schicksal eines optimus quis- que hat bereits Klepl (1940, 68) festgestellt, beleuchtet jedoch (in biographistischer Tradition) anstelle der hervorgerufenen Wirkung die Gefühlslage des Lukrez. Besser sieht O’Hara (2007, 65f.) an dieser Stelle keine Zerrissenheit des Autors, sondern einen Hinweis auf die geschickte Rezipientenorientie-rung. Zur Personengruppe äußert sich Cic. Tusc. 1,32: illud num dubitas, quin specimen naturae capi deceat ex optima quaque natura ? quae est melior igitur in hominum genere natura quam eorum, qui se natos ad homines iuvandos tutandos conservandos arbitrantur? (‚Beweifelst du etwa jenes, dass ein Abbild der Natur auf der Grundlage ihrer jeweils besten Ausformung zu begreifen ist? Welcher Men-schenschlag wäre nun geeigneter dazu als derjenige, der glaubt, er sei geboren, um andere Menschen zu unterstützen, zu beschützen und zu behüten?‘; vgl. auch Gildenhard 2007, 174–176).
236 Das „harsche Nullsummenspiel“ der pietätischen Pflege, das Gardner (2019, 243) erst in der Seu-chenbeschreibung des Paulus Diaconus verwirklicht sieht, ist dementsprechend bereits bei Lukrez umgesetzt. Bemerkenswert ist, dass Lukrez keine quantitative Einordnung der zwei Reaktionen (Flucht/Hilfe) vornimmt, um eine allgemeine Aussage über das Wesen des Menschen zum Guten oder Schlechten zu treffen.
237 Nethercut (2017), 103. Dabei ist m. E. die Analogie des Gambits besonders treffend gewählt, indem sie die strukturelle Parallele zwischen strategischer und emotionaler Handlungsaffordanz abbil-det.
238 Vgl. bspw. Büchner (1957), 71, Raabe (1974), 45 und Stoddard (1996) 123. Gleichwohl ist auf den Unterschied hinzuweisen, dass der Tod der Pflichtvergessenen drastisch (1241 mactans ) ausgedrückt wird, während die Pflichtbewussten den Tod freiwillig auf sich nehmen.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Lucr. 6,1246f. (= 1252f. Deufert) bald jeder Hirte … des gebogenen Pfluges : Der Sprung auf spezielle Personentypen auf dem Land in 1246f. ( pastor , armentarius , curvi moderator aratri ) geht einen weiteren Schritt in der Dekonstruktion der Kultur und erinnert im Aufbau an die Darstellung im zweiten Buchschluss (2,1164ff.; arator , sator );239 und auch auf inhaltlicher Ebene sind Parallelen festzustellen, etwa im Gemütszustand der Landarbei- ter: Dort erschöpft sich die Tätigkeit des Bauern ( arator ) in der Klage ( suspirat … crebrius ), wohingegen sich der Winzer ( sator ) in seiner Trauer ( tristis ) an die Götter wendet ( caelumque fatigat ) – ein Lösungsansatz, von dem auch die Leichen der Pesterkrankten in den Tempeln Athens zeugen (6,1266–1271).240 Möglicherweise äußert sich hierin ein allgemeines Prinzip der lukrezischen Buchschlüsse, in denen nach Müller jeweils am Ende der Bücher „das Falsche und das Wahre, Verblendung und Einsicht konfrontiert“241 werden. Wie oben im Zusammen- hang mit der Amnesie festgestellt wurde, ist die Wahrheit und demnach Lukrezens Forderung hinsichtlich des richtigen Verhaltens im Angesicht der Pestbeschreibung nicht leicht zu for- mulieren.242
239 Diesen Zusammenhang hat Galzerano (2017, 45f. und 2019, 71–98) für seine eschatologische Deu-tung der Seuchenbeschreibung hervorgehoben. In der Entwicklung der Motivtradition mag diese Erzähltechnik die Vorlage für die szenische Umsetzung bei Vergil (Schaf, Pferd, Stier) geliefert ha-ben, vgl. ebenso Nardi (1647, 599): „Ad Pathos amplificandum, postquam Lucretius ob oculos posuit Tragicam Urbis conditionem, inducit modo in scenam armentarios , pastores, atque colonos“ (‚Um das Pathos zu erhöhen, bringt Lukrez, nachdem er uns die tragische Lage der Stadt vor Augen ge-führt hat, Viehtreiber, Hirten und Bauern auf die Bühne.‘)
240 Der Personentypus des curvi moderator aratri begegnet dem Rezipienten überdies zu Beginn der sog. Kulturentstehungslehre im fünften Buchschluss (5,925–1457, vgl. Manuwald 1980), wenn Lukrez das von Kultur unbefleckte Leben der Menschen beschreibt (5,933f.): nec robustus erat curvi moderator aratri | quisquam (‚und nirgendwo gab es einen rüstigen Lenker des gebogenen Pfluges‘), s. auch den Kommentar zu Verg. georg. 3,517–519.
241 Müller (1978), 203 und nach ihm Deufert (1996, 323), der ebenfalls eine gestalterische Parallele an-nimmt: „Seiner eigenen, in diesen Versen wie in den anderen Proömien erkennbaren ἀταραξία [ ata- raxía ] stellt Lukrez gerade in den Finalia die Ängste und das Leid der uneingeweihten Menschen, etwa die Klage des ahnungslosen Bauern am Ende von Buch 2 (V. 1164–74) oder das Elend der Athe-ner zur Zeit der Pest, die Lukrez bewußt als ein historisches Ereignis vor der Lebenszeit Epikurs gewählt hat, entgegen.“
242 Vielleicht beschreitet Fowler (1997, 138) den richtigen Weg mit der Idee, dass das abrupte Ende des Buchschlusses bei Lukrez eine Folge seiner didaktischen Intention sei und die Lösung, die von man-chen Kommentatoren in Form einer Parainesis gewünscht worden ist, vom Rezipienten selbst ge-liefert werden müsse.
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Lucr. 6,1250–1252 (= 1256–1258 Deufert) Leblose Körper von Eltern über den Leichen ihrer Kinder : Im Gegensatz zu Thukydides verschiebt Lukrez das gedrängte Sterben auf das Land, wo- bei die Enge der Häuser bei jenem aus der durch die Evakuierung angestiegenen Zahl an Menschen resultiert, bei diesem ein Zeichen der Armut der Menschen auf dem Land ist. Es handelt sich um die einzige explizite Nennung sozioökonomischer Verhältnisse in der gesamten Motivtradition (s. dazu unten Kapitel 3.2.1). Die Verse können dahingehend als Exkurs bezeichnet werden, dass (mit Blick auf Menschen) bislang lediglich von den Einwoh- nern der Stadt die Rede gewesen ist:243 Der Lauf der Erzählung wird demnach unterbrochen, kehrt jedoch in Form des Menschenstroms wieder zur Stadt zurück.244 Der Exkurs dient nicht nur als Grundlage für die sich anschließende Klimax des Sterbens in der Stadt (darin wieder vergleichbar mit der Vorlage), sondern provoziert darüber hinaus eine emotionale Anteilnahme der Rezipienten durch die anrührende Todesschilderung der Familien.245 Zu diesem Zweck greift Lukrez auf den bekannten Topos der mors immatura ,246 des unzeitigen Todes, zurück; dabei schildert er zwei Fälle, in denen die Kinder entweder vor oder nach ihren Eltern sterben und lässt die Rezipienten mit der Frage zurück, wessen Schicksal nun mehr zu bedauern sei.247243 Deufert (2018), 482 spricht stattdessen von einem tiefen Einschnitt in der Erzählung.
244 Vgl. Matuschek (1996), 126 zu den rhetorischen Ursprüngen des Begriffs: „Die Argumentation oder Erzählung ist in ihren wesentlichen Teilen ein geradliniger Lauf ( cursus ), der durch Ausläufe ( excur- sus ) erweitert wird. Die Metapher sagt zugleich, daß sich dabei an der Grundrichtung nichts ändert. Der E. kehrt an seinen Ausgangspunkt zurück, um den alten Weg wieder aufzunehmen, so wie man auf einer Reise einen Abstecher macht.“
245 Godwin (1991, 84) bezeichnet die Szenerie treffend als „[t]he most pathetic of all sights, the children and parents dying together“. In ihrem Schwerpunkt auf der Affektion des Rezipienten gliedert sich diese Schilderung unmittelbar an den oben beobachteten Sprung auf einzelne Charaktere an.
246 Vgl. allgemein Lier (1902), 16–19 und Lattimore (1962), 184–191, zur Verbindung mit dem plötzli-chen Tod ( mors repentina ) Beagon (2005), 93 und mit der Seuche Kruschwitz (2020), 143. Morrison (2013, 225) sieht überdies eine Parallele zur Opferung der Iphigenie im ersten (1,84–101) und der Klage um den toten Vater im dritten (3,894–911) Buch. Wohl zu weit geht Kazantzidis (2017, 167 Anm. 95 und 2021, 73f.) mit seiner Assoziation des Honiggleichnisses.
247 Der bloß zeitlichen Diskrepanz des Todeszeitpunkts in Familien wurde von Endelechius’ Rezeption der Viehseuche Vergils ( De mortibus boum , 68–80) eine neue Tragik verliehen, indem die Milch des kranken Muttertiers für den Tod des Jungtiers verantwortlich ist (vgl. Barton 2000, 110–112). Gardner (2019, 235–256) hat jüngst das Fortleben dieses Motivs in der Renaissancekunst untersucht, das in den dortigen Pestdarstellungen wieder zurück auf den Menschen übertragen wurde. Ein inte-ressanter Gegensatz hierzu besteht in der Tradition derjenigen Erdbebenschilderungen, nach denen Säuglinge durch die Muttermilch genährt und gerettet werden konnten, vgl. Borsch (2018), 331f.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Lucr. 6, 1253f. (= 1259f. Deufert) strömte von den Äckern dieses Trauerspiel … zusammen : Aufgrund der bereits festgestellten Enthebung der Darstellung aus ihrem historischen Kon- text entfällt die Belagerung der Peloponnesier als Begründung für die Migration der Landbe- völkerung.248 In der Tat lässt Lukrez die Gründe der Bauern unbestimmt, sodass die Deutung den Rezipienten überlassen wurde. Besonders die fehlende Erwartung auf Besserung kann als Ansporn im Negativen, die Stadt mit ihrer besseren Infrastruktur, den Tempeln und Was- seranlagen im Positiven für eine Wanderungsbewegung fungieren; letztere finden in 6,1259f. mehrfache Erwähnung ( silani , aquae ), was diesen Eindruck verstärkt. Dabei wurde ein beson- ders tragischer Effekt von den Kommentatoren, die eine Begründung für die Landflucht bei Lukrez vermissen, übersehen:249 Die Tatsache, dass die Medizin nicht in der Lage ist, die Er- krankten zu heilen, erfährt der Rezipient in 6,1179f. – doch die Menschen auf dem Land teilen dieses Wissen nicht.250 Nähme man die (vergebliche) Hoffnung der Menschen vom Land auf Heilung durch die Ärzte in der Stadt als Ausgangspunkt für die Landflucht,251 ergäbe sich in der zweiten Hälfte des Abschnitts somit ein vom Rezipienten bereits befürchtetes Resultat: An- stelle der Heilung erwartet die Menschen vom Land lediglich der Tod, das Wasser bietet keine Hilfe und sie sterben im Dreck.252 Die emotionale Anteilnahme basiert folglich zum einen auf dem Erzählverlauf selbst, zum anderen auf dem exklusiven Wissen von Autor und Rezipient, welches das Endergebnis bereits vorhersehen lässt.
248 Vgl. Thuc. 2,13,2. Ebendiese Begründung vermissen viele Kommentatoren bei Lukrez, etwa Giussani (1898), 310 und Bright (1971), 615.
249 Diese Deutung der Änderung als bewusster literarischer Gestaltung steht der Annahme von Can-fora (2006, 731) gegenüber, dass Lukrez eine alte Fassung des Thukydides besessen habe, in der eine Buchtrennung nach Jahren vorlag, sodass der Dichter schlicht keinen Zugang auf die Ereignisse des Vorjahres gehabt und dies ihn zur Änderung veranlasst habe.
250 Zum Prinzip der diskrepanten Informiertheit als Bestandteil tragischer Dichtung vgl. Anm. 736, S. 268.
251 Darin wäre auch ein Gegenmodell zur erwarteten Maßnahme der Flucht aus der Stadt, die wohl nur für die wohlhabende Schicht anzunehmen ist, zu sehen (vgl. Stathakopoulos 2004, 78f. und 146f.). Dass eine Landflucht nach Rom häufig in einer Enttäuschung der Hoffnungen oder gar im Tod en-dete, haben Holleran (2011) und Harper (2017, 80) vor dem Hintergrund der ökonomischen, demo-graphischen und krankheitsökologischen Verhältnisse herausgearbeitet.
252 Nach Blößner (2004, 132) ist in der drastischen Darstellung ein wichtiges Moment von Lukrezens argumentativer Strategie zu sehen, insofern der Tod im Angesicht dieses unwürdigen Verhaltens durch die Rezipienten eine Neubewertung erfährt: „Mit dieser Darstellung, so scheint mir, appelliert Lukrez an das gut römische, wenn auch nicht exklusiv römische Empfinden, daß es Wesentlicheres gibt als den Tod. […] Nicht der Tod ist das größte Übel, sondern der Verlust von Würde, Respekt und Ansehen bei der Nachwelt.“
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Lucr. 6,1256f. (= 1262f. Deufert) aestu | confertos: Das Wort aestu , ein Vorschlag des Humanisten Marullus für das überlieferte aestus , bezeichnet an dieser Stelle weder Woge noch Hitze, sondern wie in Vers 1138 den krankmachenden Pest- hauch im Sinne einer Zusammenballung von Atomen, die Krankheit im Menschen verursachen (s. Anm. 93, S. 125). Nach Abwägung der bisherigen Konjekturvorschläge entschied sich Deufert in seiner Teubner-Ausgabe für die Emendation von confertos in confectos . Sein Plädoyer für einen weiteren Eingriff in den Text nahm ihren Ausgang bei der These: „Die Wendung aestu | confertos bleibt dann aber unbefriedigend, gleich ob man sie als ‚entassés par l’épidemie‘ oder als ‚vollge- stopft mit dem Pesthauch‘ auffasst“.253 Im Folgenden wird dafür plädiert, dass die Behauptung, ein Mensch sei vollgestopft mit einer Krankheit, für Dichter und Rezipienten nicht so fern liegt, wie es vielleicht auf den ersten Blick erscheint. Dienlich ist dabei ein erneuter Blick auf Lukrezens Vorlage. Bereits in Kapitel 1.5.3 wurde die Infektionslehre, die bei Thukydides (2,51,4) grundgelegt ist, betrachtet, nach der die Krankheit als Flüssigkeit konzeptionalisiert und die Ansteckung als ‚Vollfüllen‘ beschrieben ist:δεινότατον δὲ παντὸς ἦν τοῦ κακοῦ ἥ τε
θυμία ὁπότε τις αἴσθοιτο κάμνων (πρὸς γὰρ
τὸ νέλπιστον εὐθὺς τραπόμενοι τῇ γνώμῃ
πολλῷ μᾶλλον προΐεντο σφᾶς αὐτοὺς καὶ
Das Schrecklichste an der ganzen Misere war aber die Ver-zweiflung, sobald einer spürte, dass er krank war (denn da sie innerlich sofort jede Hoffnung verloren, gaben sie sich umso mehr auf und hatten der Krankheit nichtsοὐκ ἀντεῖχον), καὶ ὅτι ἕτερος ἀφ’ ἑτέρου
θεραπείας ἀναπιμπλάμενοι ὥσπερ τὰ
πρόβατα ἔθνῃσκον· καὶ τὸν πλεῖστον
φθόρον τοῦτο ἐνεποίει. (5) εἴτε γὰρ μὴ
θέλοιεν δεδιότες ἀλλήλοις προσιέναι ,
ἀπώλλυντο ἐρῆμοι, καὶ οἰκίαι πολλαὶ
ἐκενώθησαν ἀπορίᾳ τοῦ θεραπεύσοντος·
εἴτε προσίοιεν, διεφθείροντο, καὶ μάλιστα
οἱ ἀρετῆς τι μεταποιούμενοι·entgegenzusetzen), sowie die Tatsache, dass sie, der eine infolge der Pflege des anderen angesteckt , wie das Her-denvieh dahinstarben; das war Hauptursache für die hohe Zahl der Toten. (5) Entweder nämlich man unterließ es aus Angst lieber, zu einander zu gehen , so starben die Menschen eben alleine, und viele Häuser leerten sich man-gels eines zur Pflege bereiten Helfers; oder aber man ging hin, so holte man sich dort den Tod, und besonders diejeni-gen, denen an Anstand und Ehre gelegen war. Die Rezeption des Gedankens durch den Historiker Dionysios v. Halikarnassos zeigt überdies, dass die Vorstellung des Vollfüllens mit einer Krankheit auch im ersten vorchristlichen Jahr- hundert noch verständlich war:
253 Deufert (2018), 485.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung D. H. 10,53,5:
[5] καὶ οὐ μόνον ἐν τῇ πόλει τὰ δεινὰ ἦν, ἀλλὰ
καὶ ἐπὶ τῶν ἀγρῶν: καὶ οὐχ ἥκιστα ὁ γεωργὸς
ἐπόνησεν ὄχλος ἀναπιμπλάμενος , καὶ προβάτων
καὶ τῶν ἄλλων τετραπόδων ἅμα διαιτωμένων, τῆς
νόσου .
Das Übel war nicht nur in der Stadt, sondern auch auf dem Land: Ganz besonders die Bauernschar litt und füllte sich mit der Krankheit voll , weil sie mit den Schafen und dem anderen Vieh zusam-menlebte. Unabhängig davon, ob Lukrez diese Vorstellung Thukydides entnommen hat: Es scheint offen- sichtlich, dass die ursprüngliche Annahme von Deufert, der Ausdruck ‚vollgestopft mit dem Pesthauch‘ sei unzufriedenstellend, vor dem Hintergrund antiker Ansteckungsauffassungen ins Wanken gerät. Insbesondere in Verbindung mit der atomistischen Krankheitslehre wirkt die Vorstellung plausibel.254 Eine Emendation von confertos in confectos ist deshalb nicht not- wendig.255 Lucr. 6,1260 (=1266 Deufert) ihr Lebenshauch abgeschnitten … Verlockung des Wassers : Aus der Darstellung des Lukrez wird nicht explizit ersichtlich, ob die Menschen aufgrund maßlosen Trinkens an den Wasserstellen sterben. Neben anderen führt Bailey für diese Auf- fassung eine Parallelstelle von Livius an,256 in welcher der Tod jedoch neben dem Ausdruck
254 So spricht Lukrez (6,507–510) bei Wolken, die mit Wasseratomen gefüllt sind, von confertae nubes : quo cum bene semina aquarum | multa modis multis convenere undique adaucta, | confertae nubes umorem mittere certant | dupliciter (‚Wenn dorthin in ausreichendem Maße auf vielerlei Weisen viele Wasseratome von allen Seiten zusammengeströmt sind, treten die vollgestopften Wolken in einen Wettstreit, die Flüssigkeit abzulassen, und zwar aufgrund zweier Ursachen …‘).
255 Ein weiteres Argument für die Beibehaltung von confertos kann die Seuchenbeschreibung bei Livius (3,6,2) liefern: Grave tempus et forte annus pestilens erat urbi agrisque, nec hominibus magis quam pecori, et auxere vim morbi terrore populationis pecoribus agrestibusque in urbem acceptis. Ea con- luvio mixtorum omnis generis animantium et odore insolito urbanos et agrestem confertum in arta tecta aestu ac vigiliis angebat, ministeriaque in vicem ac contagio ipsa volgabant morbos . Nicht nur, dass an beinahe derselben Stelle von dicht zusammengedrängten Menschen in der Stadt ( confertos ), die Rede ist: Auch die Bezeichnung des Auflaufs von Mensch und Tier als conluvio ist ungewöhnlich und greift zum einen Lucr. 6,1254 konzeptuell auf (Menschenstrom als Flüssigkeit, confluxit ), zum anderen möglicherweise auf Lucr. 6,1200 proluvie zurück. Schließlich böte sich gerade bei dieser aus-führlicheren Beschreibung – ansonsten werden Seuchen bei Livius „gleichsam nur im Vorbeigehen erwähnt“ (Grimm 1965, 61) – ein Rückgriff auf den Vorgänger für Livius an. Preiser-Kapeller (2021, 194) zieht eine Parallele zur Beschreibung des Thukydides, was die gedankliche Nähe der Passus unterstreicht.
256 Liv. 23,7,3 plebs repente omnes comprehensos velut custodiae causa balneis includi iussit, ubi fervore atque aestu anima interclusa foedum in modum exspirarent . (‚Die Plebs befahl, alle in Eile ergriffenen Römer unter dem Vorwand der Bewachung in den Bädern einzuschließen, wo ihnen aufgrund der Gluthitze der Atem wegblieb und sie auf scheußliche Weise starben.‘)
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der anima interclusa eigens erwähnt wird. Sollten die Erkrankten sich zu Tode trinken, han- delte es sich um eine Erweiterung der Vorlage; diese wiederum wird von Ovid aufgegriffen, der die Kranken nicht nur dort sterben, sondern sie selbst dadurch zur potenziellen Quelle der Verbreitung werden lässt und ihr Verhalten moralisiert (s. Komm. zu Ov. met. 7,567b und 570). Lucr. 6,1264f. (= 1270f. Deufert) im Unrat ihres Körpers … unter Dreck begraben : Die Kommentatoren verweisen auf ein Tragikerfragment (fr. 181 Schierl) mit der Beschrei- bung des abgemagerten Aietes in Ciceros Tusculanen, das Petra Schierl (mit der gebotenen Vorsicht) dem Medus des Pacuvius zuordnet.257 Dieses Fragment weist sprachliche Parallelen nicht nur zum vorliegenden Verspaar auf, sondern teilt einerseits mit der Facies Hippocratica die Beobachtung der eingesunkenen Augen, stützt mit dem Ausdruck macie extabuit anderer- seits die oben vertretene Deutung von tabes als ‚Auszehrung‘ (s. Kommentar zu 6,1199–1201). Eine Bezugnahme von Seiten des Lukrez ist möglich, jedoch nicht zwingend, da die Beschrei- bung dieses Personentypus vielfältig umgesetzt wurde. Hervorzuheben ist der Ausdruck prope iam sordeque sepulta , mit dem Lukrez erneut eine Spitze gegen diejenigen setzt, die sich um den Zustand ihres Leichnams nach dem Tod sorgen: Die hier erwähnten Körper unterscheiden sich von den bereits genannten inhumata corpora dadurch, dass sie von Dreck überdeckt sind – auch dies ein Begräbnis, das die von Lukrez kritisierte Personengruppe kaum befürworten dürfte.258 Lucr. 6,1266–1271 (= 1272–1277 Deufert) Zuletzt hatte der Tod … obsiegte : Adelmo Barigazzi sieht das denique als letztes Aufzählungsglied der Schauplätze der Pest, die über Häuser, Plätze und Straßen schließlich bis in die Tempel gewandert ist.259 Damit hätte das denique keine argumentative, sondern eine narrative Funktion. Wenngleich eine solche257 Vgl. Schierl (2006), 376–378 und Cic. Tusc. 3,26 ‚refugere oculi, corpus macie extabuit, | lacrimae per- edere umore exanguis genas, | situm inter oris barba paedore horrida atque | intonsa infuscat pectus inluvie scabrum.‘ (‚Die Augen sind in die Höhlen gewichen, der Körper völlig abgemagert, Tränen haben mit ihrem Nass die blutleeren Wangen zerfressen, im Gesicht steht ein Bart, struppig vor Schmutz und ungeschoren, und wirft einen Schatten auf die Brust, die ihrerseits rau vor Dreck ist.‘)
258 Foster (2009, 394 Anm. 64) und Kazantzidis (2021, 139 Anm. 59) heben im Vergleich mit der Vorlage Thukydides den Schwerpunkt auf der Beschreibung des Drecks und den daraus resultierenden Ekel hervor.
259 Vgl. Barigazzi (1974), 211. Unabhängig von der Deutung des denique liegt wie bereits bei Thukydides eine Verkehrung der traditionellen Ursache-Wirkungsbeziehung vor: Häufig folgte die Pest als Be-strafung für die Beschmutzung heiliger Orte (bekannt ist das Beispiel der sog. Antoninischen Pest, vgl. Flemming 2019, 221 mit Anm. 7). Hier jedoch führt die Krankheit selbst zur Beschmutzung. Mit seinem Fokus auf die Heiligtümer spielt Lukrez möglicherweise mit einer Erzähltradition, in der von göttlichem Eingreifen gegen potenzielle Tempelschänder berichtet wird, vgl. Borsch (2018), 77–83.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Gliederung anhand der Orte möglich erscheint, kann auch für eine argumentative Funktion plädiert werden: Als Resultat der körperlichen und geistigen Verfassung der Erkrankten fallen sie von der religio ab.Diese Form der Konversion ist zwar nicht im Sinne des Lukrez, da die Menschen nicht durch die epikureische Erkenntnis vom traditionellen Kult und Götterver- ständnis Abstand genommen haben, sondern aus Resignation,260 dient aber dennoch dazu, die Machtlosigkeit der religio im Angesicht des Todes zu erweisen. Zum Schluss zeigen die Men- schen, wer sie wirklich sind261 – und offenbaren zugleich, dass die vermeintliche Stärke ihres Aberglaubens ihnen nicht weiterhilft, ja in der Folge vielmehr aufgrund dogmatischer Bor- niertheit zu weiterer Gewalt führt. Bereits in der Anmerkung zu 6,1179 und dem Murmeln der Medizin wurde festgehalten, dass der ursprüngliche Passus Thuc. 2,47,4 auf zwei Stellen aufge- spalten wurde: Das Scheitern der religio und des Kultes hat sich der Dichter (in Entsprechung zu Thuc. 2,52,3) als Höhepunkt bis zum Schluss aufgehoben, der durch das denique als letzter Schritt der Erzählung, zugleich aber auch von Lukrezens Argumentation markiert wird.262 Lucr. 6,1272 (= 1225 Deufert) incomitata rapi certabant funera vasta: Der hier abgedruckte Vers ist in den Handschriften eigentlich als Vers 1225 direkt im An- schluss an das Sterben der Hunde überliefert. Dass er an jener Stelle nicht verbleiben kann, ist lange erkannt und unmittelbar einsichtig. Für die Argumentation gegen den Verdacht einer Interpolation und für eine Versverstellung ist auf den Kommentar von Marcus Deufert zur Stelle zu verweisen,263 der im Folgenden die Basis der Untersuchung darstellt. Deufert
260 Vgl. für den Erleuchtungsprozess und Aufstand Epikurs, demnach das Vorbild einer Reinigung von der religio Lucr. 1, 62–79. Dies ist ein möglicher Grund dafür, dass Lukrez nicht in Siegeshymnen ausbricht, worüber sich Bailey (1947, 1743) und Godwin (1991, 184) wundern.
261 Vgl. Anm. 41, S. 20 und Lucr. 3,55–58: quo magis in dubiis hominem spectare periclis | convenit adver- sisque in rebus noscere qui sit; | nam verae voces tum demum pectore ab imo | eliciuntur <et> eripitur persona, manet res. (‚Umso mehr muss man einen Menschen in Gefahren, deren Ausgang er nicht kennt, betrachten und während der Widrigkeiten erkennen, wer er ist; dann nämlich wird endlich die Wahrheit aus dem Innern seines Herzens hervorgelockt, die Maske ihm entrissen – was bleibt, ist sein Wesen.‘). Hierin ist auch eine Erklärung des Normbruchs zu sehen, die Foster (2011, 90) im Vergleich zu Thukydides entfernt sieht. In Kapitel 1.6 wurde auf die Anthropologie der Katastrophe hingewiesen: Lukrez ginge vermutlich nicht von der Unmöglichkeit der Bewältigung der Pest durch kulturelle Errungenschaften aus, sondern sieht vielmehr im Scheitern der religio deren Unterlegen-heit gegenüber der Philosophie bestätigt.
262 Vgl. Effe (1977), 76f. Sallmann (1968, 89) setzt die Seuchenbeschreibung überzeugend mit den von ihm untersuchten Aspekten des Epos und der Mythenkritik in Verbindung: „So mündet die Pest-szene in dieselbe Lehraussage, die hinter den drei anderen Themen stand. Sie ist das philosophische Korrektiv zum befehdeten Mythos, die überwältigende Palinodie der tödlichen Natur auf die töd-liche religio .“
263 Vgl. Deufert (2018), 475–477, insbesondere 476 für eine Verzeichnung der bislang vorgenommenen Transpositionsvorschläge.
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hat den Vers in seiner neuen Teubner-Ausgabe hinter den Vers 1258 transponiert, der das Sterben auf dem Land in Form einer eindrucksvollen Szene (zum Begriff s. Anm. 330, S. 174) beschließt. Seine Argumentation für die Umstellung lässt sich nach drei Gesichtspunkten gliedern: a) Passung im Gesamtzusammenhang : Diese Stelle biete in der gesamten Seuchenbeschrei- bung den besten Ort für den Vers: Das incomitata (unbegleitet) knüpfe gedanklich unmit- telbar an das Sterben der Familienangehörigen an, die ja üblicherweise diese Begleitung stellten. Darüber hinaus sei auch der Wettkampf der Bestattungen, sprich die Notwen- digkeit einer schnellen Beseitigung der Leichen, eine logische Folgerung der sich in den Hütten stapelnden Leichen. Schließlich habe der Vers eindeutig einen abschließenden Charakter. b) Plausibilitätsargument über Rezeption : Die Umstellung werde auch durch die Rezeption in Senecas Oedipus plausibel gemacht, wo in den Versen 54–56 (s. u.) zunächst von Verwand- tensterben und direkt im Anschluss von Bestattungen die Rede sei, die jeder Klage entbehr- ten. Dies sei eine Variation der unbegleiteten Beerdigung. c) Paläographie : Die Auslassung hinter Vers 1258 sei durch ähnliche Endungen der Verse be- günstigt worden, die Versprengung lasse sich damit erklären, dass beide nachfolgenden Verse (1226 nec ratio … und 1259 nec minimam … ) mit demselben Wort begönnen. Zu a): Zunächst ist in Frage zu stellen, ob sich der Vers an dieser Stelle tatsächlich so gut einfügt wie behauptet. Angefangen beim Wettkampf der Bestattungen bleibt festzustellen, dass angesichts des Massensterbens in der Stadt eine solche Formulierung auch an vielen anderen Stellen denkbar bleibt und vor dem Hintergrund des Sterbens auf dem Land keine größere Rechtfertigung erhält als bspw. am Ende des Gedichtes. Merkwürdig ist auch, dass die Bestattung an der von Deufert vorgeschlagenen Stelle plötzlich auftauchte und eben- so plötzlich verschwände – findet sich doch vorher nicht einmal eine Anspielung auf den Umgang der Leute auf dem Land mit dem Tod in Form jedweder Kulturleistung. Auch die Anknüpfung mit is maeror erscheint nach der Umstellung nur mäßig gelungen. Das wohl stärkste Argument auf inhaltlicher Ebene ist jedoch, dass das äußerst eindrucksvolle Bild, das der Dichter über drei Verse entwickelt und den Rezipienten bis ins Mark erschüttern soll, durch die Versumstellung eine unpassende Ausweitung erfährt. Das Bild inszeniert das Sterben im Spiel mit dem Sepulkraltopos der mors immatura – die Bestattung hat hier keinen Platz. Zu b): Für die Argumentation gegen das Plausibilitätsargument muss der Zusammenhang der Verse bei Seneca (Oed. 52–61) betrachtet werden:162
2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Nec ulla pars immunis exitio vacat, sed omnis aetas pariter et sexus ruit, iuvenesque senibus iungit et gnatis patres funesta pestis, una fax thalamos cremat. fletuque acerbo funera et questu carent: quin ipsa tanti pervicax clades mali siccauit oculos, quodque in extremis solet, periere lacrimae. portat hunc aeger parens supremum ad ignem, mater hunc amens gerit properatque ut alium repetat in eundem rogum.
Kein Teil der Gesellschaft bleibt vom Tode unversehrt, sondern jedes Alter und Geschlecht geht gleicherma-ßen zugrunde; Jung und Alt, Vater und Sohn ver-bindet die tödliche Pest, und eine gemeinsame Fackel verbrennt Ehepaare . Bitteres Weinen und Klage fehlen bei den Bestattungen: Ja, gerade das anhaltende Leid dieses so großen Übels trocknete unsere Augen aus und, was in größter Not zu geschehen pflegt, unsere Tränen versiegten. Hier trägt ein Vater seinen Sohn, selbst erkrankt, zur letzten Feuerstätte, dort trägt eine Mutter von Sinnen den ihren und eilt, um einen weite-ren für denselben Scheiterhaufen zu holen. Bereits die von Deufert ausgeklammerten Eingangsverse des Passus zeigen, dass es Seneca um einen bestimmten Aspekt der Seuchenbeschreibungen geht, nämlich die Tatsache, dass die Krankheit Menschen jeden Alters und jeden Geschlechts trifft.264 Eine vergleichbare Umset- zung dieses Gedankens findet sich am Ende der Beschreibung von Ovid (Met. 7,611–613), auf die Seneca mit höherer Wahrscheinlichkeit Bezug nimmt:265 qui lacriment, desunt, indefletaeque vagantur natorum que virum que animae iuvenum que senum que, nec locus in tumulos, nec sufficit arbor in ignes.
Es fehlte an Menschen, die Toten zu beweinen, unbe-trauert streiften die Seelen von Söhnen und Ehemän- nern, von Jung und Alt umher: Weder reichte der Platz für Gräber noch das Holz für Feuer. Hier findet sich nicht nur die gleiche Betroffenheit aller Altersgruppen und Geschlechter, son- dern auch der Gedanke der fehlenden Klagegemeinschaft. Die Bezugnahme auf Lukrez damit gänzlich unwahrscheinlich zu machen, ist natürlich nicht möglich. Gerade weil der Dichter auf elegante Weise den mors immatura -Gedanken und die soziale Beziehung von Eltern zu ihrem Kind zu einer tragischen Spannung verknüpft, findet sich auch in seiner Beschreibung der Aspekt des Lebensalters. Jedoch scheint der Schwerpunkt eher auf dem dramatischen Bild
264 Mit dieser Gleichschaltung durch die Krankheit ist nicht nur der Gedanke der Gleichheit im Ange-sicht des Todes umgesetzt, sondern die literarische Umsetzung widerlegt zugleich die Aussagen der Fachschriften, die Krankheiten in Abhängigkeit vom Alter und auch vom Geschlecht systematisier-ten (zum Alter vgl. Hp. Aph. 3,24–31 [= 4,496–503 L.], zum Geschlecht Hp. mul. 1,62 [= 8,126 L.]).265 Vgl. Jakobi (1988), 91 und Gardner (2019), 216.
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zu liegen; man halte etwa folgende Verse Ovids (Met. 7,589–592) daneben, die ebenfalls über den Gedanken der fehlenden Unterscheidung des Alters hinausgehen:266 quotiens pro coniuge coniunx, pro gnato genitor, dum verba precantia dicit, non exoratis animam finivit in aris, inque manu turis pars inconsumpta reperta est!Wie oft hauchte eine Ehefrau, während sie für ihren Gatten, wie oft ein Vater, während er für seinen Sohn Bittgesuche sprach, an den Altären seine Seele aus, die ihren Gebeten kein Gehör schenkten, und wie oft fand man einen Teil des Weihrauchs noch unverbraucht in ihrer Hand! Sämtliche hier angeführten Argumente bewegen sich, ebenso wie Argument b) von Deufert, auf Ebene der Plausibilität. Ziel der Kontextualisierung war es, die von Deufert angeführte Parallele in Sen. Oed. 54–56 unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Schwerpunkte der Beschreibungen anzuzweifeln. Es bleibt zu überlegen, an welcher Stelle der Vers 1225 statt- dessen einzusetzen ist. Wie in Kapitel 2.1.1 ersichtlich, wird eine Transposition nach den gedanklichen Abschluss in Vers 1271 vorgeschlagen. Als mechanische Erklärung kann erneut der von Deufert gegebene Hinweis auf das nec beider Anschlussverse gegeben werden. Auf inhaltlicher Ebene gibt der Vers dem nachfolgenden Gedanken eine Überschrift:267 Nach dem Scheitern der religio und der numina folgt der Verfall des Bestattungswesens. Es wird zwischen funera und mos sepultu- rae unterschieden, wobei Ersteres durch das incomitata klar als Leichenzug268 gekennzeichnet ist, während Letzteres als Oberbegriff die Erd-/Feuerbestattung miteinschließt. Diese Zwei- teilung findet eine Entsprechung in der sich anschließenden Begründung der Verse 1275f.: Die Leichenzüge sind incomitata aufgrund der Furcht der Menschen ( trepidabat ), die traditionelle Bestattungsart ist aufgrund der Umstände ( pro re, pro tempore ) nicht beizubehalten;269 Letzte- res wird in der Folge weiter ausgeführt. Der asyndetische Anschluss des Satzes lässt sich damit
266 Vgl. dagegen Pisi (1989), 51f., die alle hier verglichenen Stellen auf eine Stufe stellt und als Grundlage Thuc. 2,51,3 annimmt, in denen der Umstand beschrieben wird, dass die Krankheit keine Rücksicht auf die körperliche Konstitution genommen hat.
267 Entsprechend wird er hier nicht (wie an vielen anderen Stellen) als Schlussvers aufgefasst. Die von Deufert (2018), 476 gegebenen Parallelen der Personifikation in Lukrezens Seuchenbeschreibung sind allesamt Bestandteil laufender Erzählung und dienen an keiner Stelle einem tragischen Ab-schluss.
268 Vgl. Vollmer, TLL VI,1 (1924), s.v. funus , 1600, 54.
269 Vergleichbar ist die gedankliche Abfolge bei Ov. met. 7,606f. corpora missa neci nullis de more ferun- tur | funeribus (neque enim capiebant funera portae). (‚Die toten Körper wurden nicht dem Brauch gemäß in Leichenzügen herausgetragen: Nicht nämlich hätten die Stadttore dem standgehalten.‘)
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung erklären, dass sich der gesamte Gedanke für den Dichter noch unter das denique unterordnete. Deshalb wird an dieser Stelle vorgeschlagen, Vers 1225 vor den Vers 1273 einzufügen. Lucr. 6,1273–1281 (= 1278–1286 Deufert) nicht blieb der althergebrachte Bestattungsbrauch … mit großem Blutvergießen : „Geschildert wird ein Rückfall in die Barbarei: ein Spiegelbild zur Kulturentstehungslehre in Buch 5.“270 Mit seiner Beschreibung des Abfalls vom Bestattungsbrauch knüpft Lukrez an seinen Vorgänger an und erzeugt damit ein starkes Spannungsverhältnis zwischen dem be- schriebenen Verhalten und dem, was seine Rezipienten als korrekte Form des Umgangs mit den Leichen der Angehörigen erwartet hätten ( social imaginary , s. Anm. 216, S. 71).271 Durch das Extrem der unterbliebenen Bestattung bzw. durch ein Massenbegräbnis findet eine so- ziale und ökonomische Degradierung statt, schließlich bezeugte eine solche Art des Begräb- nisses und die damit verbundene Anonymität für gewöhnlich die Zugehörigkeit zu den armen Schichten in Rom.272 Wenngleich also (anders als bei Thukydides 2,53,1) nicht explizit auf die Irrelevanz des ökonomischen Status hingewiesen wird, scheint die Gleichheit aller vor der Pest ohne Rücksicht auf jenen durch die Art der Bestattung versinnbildlicht zu werden. Auf der Handlungsebene liegt ein nicht unwichtiges Detail in der Frage danach, wer sich an dieser Stelle um die Scheiterhaufen streitet: Im Erzählzusammenhang kann es sich dabei nur um diejenigen handeln, die sich (vorher als optimus quisque ausgewiesen) weiterhin um ihre Angehörigen gekümmert haben und nicht vor der Krankheit geflohen und einen einsamen Tod gestorben sind.273 Bei Lukrez verlieren diese moralisch integren Menschen gemeinsam mit der religio sämtliche ethischen Maßstäbe.274 Der tragische Effekt der scheiternden Moral wird 270 Blößner (2004), 132; zur Verklammerung mit dem fünften Buchschluss s. Anm. 97, S. 126.
271 Für einen Rekonstruktionsversuch einer nach Vorstellung der römischen Oberschicht korrekten Bestattung vgl. allgemein Hope (2018), speziell zur visuellen Komponente Turner (2016) und zur olfaktorischen Clancy (2019). Ein klassischer Bestandteil des Ritus, die conclamatio (das wiederholte Rufen des Namens des Verstorbenen am Totenbett und am Scheiterhaufen, s. Anm. 655, S. 251) wird durch clamore (Lucr. 6,1279) aufgegriffen und als Ausdruck des gewaltsamen Streits zwischen den Hinterbliebenen pervertiert.
272 Vgl. Hopkins (1983), 205–211, hier 209: „Mass death involved mass burial; and in a serious epidemic there was no practical alternative to mass graves, into which the human dead were thrown pell-mell.“
273 Darin übereinstimmend (jedoch nicht hinsichtlich der Stellung der Verse 1247–1251) mit Deufert (2018), 480, vgl. auch Klepl (1940), 68.
274 Dies erinnert an die Verse 80–101 des ersten Buches, in denen Lukrez den fingierten Einwand der Unmoral als Resultat der Beseitigung der religio nicht mit sachlicher Argumentation, sondern mit einem Angriff auf sie beantwortet. Systematischer ist die Auseinandersetzung des Diogenes von Oi-noanda mit dieser Kontroverse in der theologischen Physiksequenz seiner Inschrift, in welcher der von Lukrez skizzierte Einwand ebenfalls Erwähnung findet (Theol. II = NF 167 II). Diogenes setzt der Befürchtung, dass die epikureische Ansicht unbeteiligter Götter zum Begehen von Verbrechen
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nicht zuletzt durch die Steigerung der Gewaltdarstellung im Vergleich zu Thukydides (2,52,4) erreicht, bei dem die Bestattungen zwar ungeeordnet, jedoch ohne Blutvergießen vonstatten gehen – in dieser Drastik wird der Streit um die Scheiterhaufen von keinem Nachfolger über- nommen. Insbesondere vor dem Hintergrund der epikureischen Überzeugung der Sterblich- keit der Seele findet sich hier „a dark reductio ad absurdum of mankind’s misguided attach- ment to funerary custom, which springs from its misunderstanding of death“.275 Lucr. 6,1282f. (= 1247f. Deufert) inque aliis alium, populum sepelire suorum | certantes: Mit Deufert ist das inque aliis alium als eine vorgezogene Apposition zu populum suorum zu erklären.276 Deuferts Vorschlag, die Verse an ihrer Stelle zu belassen und als Erweiterung des optimus quisque zu nehmen, ist jedoch zu widersprechen. Dabei kann gerade mit der Lach- mannschen Verwunderung, die Deufert (als grammatikalische Frage) zu widerlegen sucht, das stärkste Gegenargument geliefert werden: „Quomodo illi optimi homines certantes redeunt ? qui debebant primum exire, deinde certare, denique certamine finito redire.“277 Hier verweist Lachmann auf den plötzlichen Bruch auf der Handlungsebene von der Umschreibung der Auf- opferung in der Pflege hin zur wetteifernden Bestattung, der kaum erklärlich erscheint. Stellt man die Verse jedoch an den Schluss, ist kein solcher Bruch vorhanden – die Gruppe optimus quisque ist hier bereits bei der Bestattung. Daneben bräche die Erweiterung der fünf Verse an der überlieferten Stelle die kunstvolle Verteilung von vier Versen für die Treubrüchigen und vier Versen für die optimus quisque . Schließlich lässt sich der Schlusscharakter der Verse, den Fowler in Anschluss an Bockemüller für die (hier ebenfalls aufgegriffene) Transposition der Verse stark machte,278 nicht durch den vermeintlich tiefen Einschnitt des praeterea (6,1246) erklären. Wie oben gezeigt, handelt es sich an dieser Stelle lediglich um einen Exkurs, der kein derart abschließendes Epiphonem rechtfertigt. In Anbetracht der vorgebrachten Argumente ansporne, entgegen, dass auch jetzt die Gottesverächter die Verbrechen begingen. Der Rest spalte sich auf in die Gruppe derjenigen, die aufgrund der Einsicht in das Naturgeschehen gerecht seien, und die Ungelehrten, die aufgrund der Gesetze und der Angst vor Strafen kein Unrecht begingen (Theol. III–IV = NF 167 III und NF 126 I). Nach dieser Differenzierung tritt er in eine dem Lukrez ähnliche Argumentation ein, in der er die vermeintlich festen Fundamente der religio anhand histo-rischer Beispiele einzureißen sucht (Theol. V–VII = NF 126 III–V), sodass auch die wenigen Gottes-fürchtigen keine Garantie für Gerechtigkeit abgeben, vgl. Hammerstaedt (2015), 395–400.275 Hutchinson (2013), 214 m. Verweis auf Lucr. 3,870–893, vgl. auch Raabe (1974), 45 und Morrison (2013), 218.
276 Vgl. Deufert (2018), 480.
277 Lachmann (1850), 423.
278 Vgl. Bockemüller (1874), 279 für die Transposition (mit Emendation von alium in alios ), Fow-ler (1997) für die inhaltlich überzeugende Argumentation mit Blick auf die literarische Tradition und Hutchinson (2013), 214 mit Anm. 23, ebenso Barigazzi (1974), 213 und Galzerano (2019), 243 Anm. 101.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung zu Vers 1225 ist auch der von Deufert vorgeschlagene Dreischritt, der die Bockemüllersche Transposition inhaltlich unattraktiv machen sollte, in seiner Plausibilität relativiert.279 Des- halb sind die Verse basierend auf Fowlers inhaltlicher Argumentation an den Schluss gestellt. Lucr. 6,1284 (= 1249 Deufert) inde bonam partem in lectum maerore dabantur: Peta Fowler hat mit ihrem Verweis auf die Rückkehr der Trauernden nach Patroklos’ Beerdi- gung in ihre Betten (Hom. Il. 23,58) eine wichtige Parallele ausgemacht. Fowlers Assoziation mit der Totenbahre ( lectus ) ist durchaus interessant, weist jedoch ebenso wie Nisbets Vorschlag in letum das Problem auf, dass die Quantifizierung durch bonam partem dem Faktum ent- gegensteht, dass es für Lukrez (wie der Vergleich mit Thukydides gezeigt hat) keine Überwin- dung der Pest gibt.280 Bislang wurde der Vers in seiner Ähnlichkeit zu 6,1144 noch nicht genü- gend hervorgehoben: Eröffnet dieser die Seuchenbeschreibung durch die Überantwortung der Bevölkerung an Krankheit und Tod, beschließt der vorliegende Vers die eigentliche Schilde- rung. Neben gleichem Anfang und Schluss ( inde … dabantur ) zeugt auch die Quantifizierung an gleicher Stelle im Vers ( acervatim … bonam partem ) von einer parallelen Konstruktion der Verse. Mit dieser Beobachtung kann ein weiteres Plausibilitätsargument für die Bockemüller- sche Transposition geliefert werden.281 2.2.2 Vergil Georg. 3,470–473 Nicht toben in so dichter Abfolge Winde … mitsamt der Wurzel aus : Der Vergleich zeichnet sich durch seinen argumentativ nahtlosen Anschluss an die Lehre von den Ursachen der Krankheit aus den Versen 440–444 aus, die mit frigidus imber (‚kalter Regen‘) und cano gelu (‚graue Kälte‘) in der Wetterlage gesehen werden (s. Kapitel 3.1.1).282 Neben diesem
279 Vgl. Deufert (2018), 482f. Der Vorwurf, keine zufriedenstellende mechanische Erklärung für die Ver-schiebung der Verse vorweisen zu können, bleibt nichtsdestoweniger ein Desiderat, das angesichts einer tausendjährigen Überlieferungsgeschichte bis zum ersten Kodex mit einem Mediumswech-sel von Papyrus auf Pergament jedoch nicht die Beweiskraft erbringt, die häufig dafür beansprucht wird.
280 Fowler (1997), 129 mit Anm. 55 für Nisbets Vorschlag in letum .
281 Abschließend ist anzumerken, dass Girolamo Fracastoro das erste Buch seines Lehrgedichtes über die Syphilis, in dem er Lukrez und die Seuchentradition rezipiert (vgl. Glei 2013, 338f.), mit dem fol-genden Vers beschließt (1,469): Et totum luctus Latium, maerorque tenebat (‚Und ganz Latium hielt Trauer und Trübsal im Bann.‘), was in der Aussage den letzten beiden Versen des De rerum natura nach der Umstellung entspräche.
282 Die Grundlegung der Krankheiten im Einfluss der Umwelt auf den Organismus kann u. a. durch Luk-rez (z. B. Lucr. 6, 1090–1097) oder durch Schriften in hippokratischer Tradition angeregt worden sein.
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Rückgriff auf bekannte Ursachen von Krankheit bildet er als Verbindungselement ebenso einen Übergang zu den Versen 478f., in denen als Grund für die Pest eine Erkrankung des Himmels ( morbus caeli ) angegeben wird. Unter den Kommentatoren umstritten ist jedoch die Auslegung des Vergleichs, insbesondere aufgrund der Semantik von creber .283 Nach der hier vertretenen Deutung wird im Vergleich die Häufigkeit von Viehseuchen derjenigen von Stürmen auf dem Meer gegen- übergestellt ( creber turbo ↔ multae pestes) und als größer klassifiziert ( non tam … quam ).284 Wei- terhin wird anhand des adversativen nec (‚aber … nicht‘) die kollektive Durchseuchung ( nec singu- la … corpora ) mit dem implizierten Hinwegraffen einzelner Körper verglichen. Bei diesen Körpern dürfte es sich in der das Sturmwüten betreffenden Seite des Vergleichs um einzelne Schiffe handeln, die aufs Meer hinaus getrieben wurden und damit dem Wüten des Meeres ausgeliefert waren.285 Georg. 3,474f. die Alpen in luftiger Höhe … und den japydischen Timavus : Die Lokalisierung der Pest im Raum des heutigen Österreich, der Schweiz und Norditaliens hat früh Zweifel am historischen Charakter der Darstellung gesät: Sie sei zu großflächig und ungenau, als dass sie eine ernst gemeinte Ortsangabe darstellen könnte.286 Zugleich wird die Krankheit bemerkenswerterweise ideell auf das Noricum als viehreiches Gebiet beschränkt, das trotz der geschilderten großflächigen Ausbreitung bis zum Schluss Bezugspunkt bleibt. Darüber hinaus zeugt die Beschreibung, die sich von den Höhen der Alpen bis in die Täler Illyriens erstreckt, eher von einer künstlerischen Anlage und der Fertigung einer Kulisse für die nachfolgende Tragödie.287 An dieser Stelle wird deshalb davon ausgegangen, dass die Seu- chenbeschreibung nicht das Ziel hat, ein historisches Ereignis zu schildern, sondern auf Basis283 Vgl. die Diskussion bei Mynors (1990), 249f. Errens (2003, 748) Vorschlag, von einer Enallage ( cre- bram hiemem ) und einer ungewöhnlichen Semantik für hiems („Regenbö“) auszugehen, benötigt zu viele zusätzliche Annahmen.
284 Damit macht sich der Dichter ggf. die Polysemie des Adjektivs creber zunutze, das einerseits die zeit-lich dichte Aufeinanderfolge von Ereignissen, andererseits aber auch die räumliche Dichte bezeich-nen kann (vgl. Hoppe, TLL IV 1908, s.v. creber , 1117–1123). Die Verbindung turbo creber ist erstmals bei Vergil überliefert und in der Folge selten übernommen (z. B. Stat. Theb. 10,742 oder Gell. 19,1,3). Sicherlich schwingt auch die von Conington/Nettleship (51898, 328) bemerkte Schnelligkeit des auf-ziehenden Sturms auf der Bildebene mit.
285 Mit Michelakis (2019, 387) kann Soph. OT 22f. als Vorläufer des Bildes angesehen werden. Für eine andere Versinnbildlichung der Pest in Form eines Sturmes vgl. Petr. ecl. 10,480–485, in welcher der Sturm der Pest den Lorbeer (Laura) entwurzelt.
286 Vgl. für eine Übersicht der vorgebrachten Argumente bis in ihre Zeit Harrison (1979), 4–6 und Flintoff (1983), 86. Spätere Kommentatoren ordnen sich den jeweiligen Deutungstraditionen unter: Erren (2003), 749 sieht die Pest als historisches Ereignis um 35 v. Chr. an, Mynors (1990), 251 hält eine Erfindung für möglich, Thomas (1988), 129 hält die Frage für gänzlich irrelevant.
287 Vallillee (1960, 77) spricht von einem „picturesque effect“ und plädiert dafür, die Auswahl des Ortes auch vor dem Hintergrund einer notwendigen Distanz zur Katastrophe zu sehen.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung eines (womöglich historisch begründeten) Stoffes288 vor dem Hintergrund einer didaktischen Zielsetzung spezifische Inhalte zu vermitteln.289 Dass dennoch der Schein eines historischen Ereignisses erweckt werden soll, dient der Greifbarkeit des Gegenstandes, der hierdurch trotz seiner Fiktion in noch größerem Maße als tatsächlich möglich erscheint. Georg. 3,476 auch jetzt noch, nach so langer Zeit : Für die Deutung von Vergils Beschreibung ist die Aussage entscheidend, dass die Folgen der Pest auch noch zu seiner Zeit ( nunc quoque post tanto ) in den betroffenen Gebieten zu se- hen seien, die von allen Tieren, Hirten und Bauern verlassen sind ( deserta, vacantes ).290 Damit macht der Dichter selbst deutlich, dass es für ihn keine Überwindung der Pest gegeben hat, wie sie von manchen Kommentatoren aus dem donec (3,558) gelesen worden ist (vgl. ausführ- lich zur Stelle). In Anbetracht der bereits angenommenen Fiktionalität (zum Begriff s. Anm. 9, S. 12) der Erzählung ist der Verweis auf die noch sichtbaren Folgen als Mittel zur Steigerung der Glaubwürdigkeit des pseudohistorischen Rahmens zu verstehen. Georg. 3,478 Hier entstand einst : Mit seiner sprachlichen Gestaltung der Einleitung zur eigentlichen Seuchenbeschreibung macht Vergil deutlich, dass er sich im Folgenden auf Lukrez bezieht.291 Das Verhältnis der beiden Beschreibungen war und ist Gegenstand zahlreicher Publikationen.292 Fest steht: Vergil
288 Es bestehen weitere Erklärungsalternativen: Jacques Heurgon (1965, 243f.) stellt bspw. die (freilich spekulative) Hypothese auf, Vergil habe in dieser Gegend gesehen, wie die Menschen nur mit Ha-cken Agrikultur betrieben und habe mit der Pest eine Ätiologie dazu verfasst. Herbert Graßl (1982, 73) sieht den Ursprung der Erzählung in lokaler Tradition (bei Heurgon 1965, 241 grundgelegt); vor diesem Hintergrund ist womöglich auch das dicunt (3,531) neu zu bewerten (vgl. ausführlich zur Stelle). Dennoch müssen diese Hypothesen als solche neben einer (ebenfalls hypothetischen) histori-schen Deutung unbestätigt bleiben. Grimm (1965, 108) geht wohl zu weit, wenn er sowohl bei Vergil als auch bei Ovid eine literarische Umsetzung „ohne allen Anstoß aus der Wirklichkeit“ sieht.
289 Eine andere Funktion wird weder genannt noch erscheint vor dem Hintergrund des Werkes ein Fak-tenbericht zum Selbstzweck wahrscheinlich (vgl. dazu auch Fischer 1968, 21f.). Mit der Entfernung vom Ereignis selbst zugunsten der Vermittlung mithilfe der Abstraktion relevanter Aspekte ent-spricht das Ende des dritten Buchs der Georgica dem Ende des De rerum natura – wobei hier eher von einem Gattungsspezifikum des Lehrgedichtes als von einer intendierten Bezugnahme zu sprechen ist.
290 Mit Nelson (1998), 90 ist darauf hinzuweisen, dass, wenn im Zusammenhang der Georgica (und somit auch im Folgenden) von ‚Bauer‘ die Rede ist, dies im Lehrgedicht nicht nur als ein Beruf unter vielen gesehen, sondern als ein way of life und eine Berufung inszeniert wurde.
291 Vgl. Verg. georg. 3,478f. hic quondam morbo caeli miseranda coorta est | tempestas totoque autumni incanduit aestu mitLucr. 6,1138 haec ratio quondam morborum et mortifer aestus .
292 Dabei sind Ansätze lexikalischer Sammlung (z. B. Merrill 1918, als zu mechanisch kritisiert von Vallillee 1960, 71f., der jedoch selbst bisweilen zu vereinfachender Gegenüberstellung neigt) von in-haltlich-interpretatorischer Arbeit (z. B. Klepl 1940, West 1979 und Gale 2000) zu unterscheiden.
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hat Lukrez, ebenso wie im gesamten dritten Buch der Georgica (vgl. Anm. 22, S. 85), intensiv rezipiert. Auffällig ist, dass er Thukydides beinahe vollständig auszuklammern scheint: „The evidence shows determination on the part of Lucretius to reproduce the plague account of Thucydides and determination on Virgil’s part to reproduce that of Lucretius.“293 Dabei zeigt sich der Dichter insbesondere in kompositorischer Hinsicht als eigenständig und lässt ledig- lich an einigen Stellen seinen Vorgänger gedanklich in solchem Maße hindurchscheinen, dass seine Rezipienten die Bezugnahme bemerken.294 Nicht selten werden dabei Aspekte, die in Lu- krezens Beschreibung eine wichtige Rolle einnahmen, in veränderter und relativierter Form wieder aufgegriffen. Auf die entsprechenden Stellen wird in den Anmerkungen hingewiesen. Georg. 3,478 einer Erkrankung des Himmels / morbo caeli: Da das erste Verspaar schwer verständlich ist,295 wurden unterschiedliche Lösungen be- müht.296 Die syntaktisch komplexeste liefert Erren in seinem Kommentar, der von einem Ringtausch der Bezüge ausgeht: aestu totius caeli incandescente, autumni tempestate, morbus miserandus coortus est . Nun ergibt diese Umstellung zweifelsohne einen guten Sinn, entfernt sich jedoch sehr weit von dem uns überlieferten Text und m. E. auch von der durch ihn trans- portierten Aussage. Bei morbus caeli sollte zunächst eine Unterscheidung nach Bild- und Sach- ebene erfolgen.297 Auf der Bildebene wird dem Himmel selbst eine Krankheit zugeschrieben, die mit incanduit einem Fiebern ähnelt.298 Auf Sachebene scheint es zwei Möglichkeiten des Verständnisses zu geben, die von der Interpretation des - que in Vers 479 abhängen:293 Vallillee (1960), 100.
294 Vgl. West (1979), 77: „He is saturated with the poetry of Lucretius, and its words, phrases, thought and rhythms have merged in his mind, and become transmuted into an original work of poetic art with a tone and intention and poetic thrust which are entirely his own.“
295 Vgl. zuletzt Gardner (2014), 9, die es als „a truncated and elliptical reference to cause“ bezeichnete. Womöglich nahm auch Valerius Flaccus (2,475f.) Anstoß am Ausdruck morbus caeli , der bei der Bestrafung des Laomedon durch Apoll zwar eindeutig auf die vorliegende Stelle anspielt, jedoch morbus und caelum voneinander trennt: principio morbi caeloque exacta sereno | temperies , arsere rogis certantibus agri. (‚Zu Beginn Krankheiten und Sturm aus heiterem Himmel, es brannten im Wettkampf der Scheiterhaufen die Äcker.‘)
296 Eine knappe Zusammenfassung der Verständnismöglichkeiten erscheint angebracht: 1) morbus caeli als Krankheit des Himmels (Fairclough, Perkell, Erren), als Verpestung der Luft (Cerda, Voss, Saint-Denis, Thomas, Schönberger, Holzberg) und als nicht näher beschriebene, ungünstige physikalische Konstellation (Richter, Mynors). 2) tempestas als Klima/Atmosphäre (Saint-Denis, Fairclough), als Wetter/Temperatur (Heyne, Schönberger, Holzberg) und als Sturm (Erren).
297 Die Reduktion der Aussage auf die Bildebene, wie von West (1979), 76 vorgenommen, bedarf ent-sprechend einer Erweiterung.
298 Vielleicht ist das sprachliche Bild Verursachung für den unüblichen Gebrauch des incandesco , den Johann Baptist Hofmann als erstes Vorkommnis aufführt (vgl. TLL VII, 1 1939, s.v., 845, 4f.). Zur gro-ßen Wirkung von Fieber auf die Vorstellung vom antiken Konzept von ‚Krankheit‘ vgl. Wazer (2016),
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung 1. Fasst man das - que explikativ auf,299 besteht die miseranda tempestas genau darin, dass es sehr heiß ist. Nun ist (auch) dem antiken Rezipienten zweifelsohne Hitze ein ausreichendes Kriterium für ein vermehrtes Krankheitsaufkommen. Fraglich wäre jedoch, weshalb ein morbus caeli für die Hitze verantwortlich sein sollte, wo doch der Herbst ohnehin mit Hitze und Temperaturschwankungen verbunden worden ist (vgl. den nächsten Kommentar). 2. Fasst man das - que beiordnend auf, werden zwei verschiedene Ursachen für die Krankheits- entwicklung benannt. Zunächst schaffte der morbus caeli , eine im Rahmen miasmatischer Theorie gedachte Beschmutzung der Luft (s. Anm. 150, S. 135), die Grundvoraussetzung dafür, dass Organismen erkranken. Die Hitze kam in der Folge erschwerend hinzu, sodass das Seuchenpotenzial der miseranda tempestas aktualisiert wurde.300 Gegenüber den zwei Ursachen, die mit - que eng verbunden sind, kann das nachfolgende et als konsekutiv gedeu- tet werden. Dieses Verständnis ist m. E. zu präferieren.301 Georg. 3,479 in der für einen Herbst größtmöglichen Hitze : Dass die Herbstzeit den Menschen der Antike als besonders krankheitsfördernd galt, ist zu Genüge festgestellt;302 gerade in neueren Kommentaren wurden jedoch bereits zu Tage ge- förderte Erkenntnisse aufgrund einer Fokussierung auf den vorliegenden Text übergangen, weshalb hier eine Erinnerung angebracht scheint. Der Herbst ist nach antiker Vorstellung 130 mit Anm. 19. Eine parallele Erkrankung des Himmels und des Menschen passte auch in die antike Vorstellung der Interdependenz der beiden als Mikro- und Makrokosmos, vgl. Wright (1995), 56–74.299 Vgl. KSt II, 2, 25f.
300 Eine solche Vorstellung findet sich auch bei Cels. 1,9,6: Calor concoctionem prohibet, somnum aufert, sudorem digerit, obnoxium morbis pestilentibus corpus efficit . (‚Hitze verhindert die Kochung [s. Komm. zu Lucr. 6,1169], verursacht Schlafstörung und Schweißausbrüche, macht den Körper an- fällig für Seuchen .‘)
301 Vgl. ebenso Barton (2000), 100. Damit wäre auch Vergil (neben Lukrez und Ovid) eine mögliche Vor-lage für den Beginn von Senecas Seuchenbeschreibung ( contra Owen 1968, 309; s. Komm. zu Oed. 1–5).
302 So bspw. bei Cels. 2,1,1.: Igitur saluberrimum ver est, proxime deinde ab hoc hiemps; periculosior quam <salub>rior aestas, autumnus longe periculosissimus (‚Folglich ist der Frühling der Gesundheit am zuträglichsten, direkt nach ihm kommt der Winter; mehr abträglich als zuträglich ist der Sommer, bei weitem am schädlichsten aber ist der Herbst.‘). Diese antike Einschätzung wird auch durch die historische Demographie unterstützt, deren Erkenntnisse für den hier behandelten Zeitraum auf-grund ihrer in mehrfacher Hinsicht selektiven Materialbasis ausschließlich illustrierende Funktion besitzen, vgl. Scheidel (1994), Shaw (1996) und wiederum Scheidel (2012), hier insbes. 118–122. Für weitere Zeugnisse zur Auswirkung der Jahreszeiten auf die menschliche Gesundheit generell vgl. z. B. Hp. Aph. 3,1 (= 4,486 L.) Αἱ μεταβολαὶ τῶν ὡρέων μάλιστα τίκτουσι νουσήματα, καὶ ἐν τῇσιν ὥρῃσιν αἱ μεγάλαι μεταλλαγαὶ ἢ ψύξιος ἢ θάλψιος (‚Die Übergänge der Jahreszeiten bringen in besonderem Maße Krankheiten hervor, und innerhalb der Jahreszeiten die starken Wechsel von Kalt und Warm.‘) und 3,19–23, wo eine detaillierte Auflistung der Krankheiten aufgeteilt nach Jahreszeiten folgt.
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nicht allein durch seine Hitze ( aestu ) krankheitsfördernd,303 sondern durch die Abwechslung von Warm und Kalt,304 Trocken und Feucht, die das Gleichgewicht im Innern des Menschen durcheinanderbringen.305 Die nachfolgende Charakterisierung scheint jedoch nicht auf den vier Primärqualitäten allein, sondern auf einer Zwei-Elementen-Lehre mit entsprechender Qualitätenzuteilung zu fußen, wie sie auch in der theoretischen Grundlegung des hippokrati- schen Traktats Περί Διαίτης ( Perí Diaítes) vorzufinden ist.306 Georg. 3,481 Fäulnis : Im Lateinischen steht das Wort tabo (v. tabum ), das laut OLD eine „viscous fluid consisting of putrid matter, etc.“ bezeichne.307 Servius erachtete den Ausdruck in seinem Kommentar als wenig problematisch: ‚[Der Dichter] befolgte die Anordnung, die auch Lukrez und Sallust verwendeten; zunächst wurde die Luft, dann das Wasser, dann das Futter verdorben.‘308 Die modernen Kommentatoren schweigen zumeist, Mynors scheint mit der Parallele in Tac. hist.303 Der Dichter nimmt folglich im Vergleich mit den medizinischen Fachschriften eine Kürzung vor, die nicht zuletzt in der gewollten Bezugnahme auf den Terminus aestus bei Lukrez begründet ist, der (wie wir oben sahen, vgl. Komm. zu Lucr. 6,1138) in der Seuchenbeschreibung nicht die Hitze, sondern die Zusammenballung von Krankheitsatomen beschreibt, vgl. auch Vallillee (1960), 75f.
304 Vgl. bereits Cerda (1618), 433: „Ita ferme fit, est enim haec anni pars mire morbida. Ratio triplex. Prima, est in Autumno magna varietas caloris et frigoris. Deinde, Autumnus succedit Aetati, in qua apertis meatibus spiritus facile difflantur: isti adveniente Autumni frigore, constipate cute intro redeunt. Tertio, fructuum copia maxima exitialibus opportune est.“ (‚So geschieht es zumeist, denn dies ist der Teil des Jahres, der ganz erstaunlich krankheitsförderlich ist. Dafür gibt es drei Grün-de: Erstens herrscht im Herbst eine große Abwechslung von Wärme und Kälte. Zweitens folgt der Herbst auf den Sommer, in dem Dämpfe aus den geöffneten Gängen leicht ausgeatmet werden: Diese kehren mit der Ankunft der Herbstkälte, mit dem Verschluss der Haut nach innen zurück. Drittens begünstigt die sehr große Fülle an Früchten den Tod.‘)
305 Vgl. Ross (1987), 181. Erich Schöner (1964) hat in seiner Monographie eine differenzierte Betrach-tung der Entwicklung des Viererschemas innerhalb des Corpus Hippocraticum (und darüber hinaus) unternommen, vgl. ergänzend Lloyd (1964). Illustrativ für das Abwechseln der Temperatur als pa-thogenem Einflussfaktor sind auch die Seuchenbeschreibung bei Diodorus Siculus (14,70,6) und der Lehrvortrag bei Ammian (19,4,2).
306 Feuer: trocken, warm; Wasser: feucht, kalt, vgl. Hp. vict. 1,3–4 (= 6,472–477 L.). Zur Rolle des Dua-lismus von Feuer und Wasser für die Konzeption von Körper und Geist in dieser Schrift vgl. Bartoš (2015), 185–191. In Anbetracht der Beobachtungen von Johncock (2016, 186 Anm. 579) kann durch-aus auch Lukrez eine Grundlage für die Gegenüberstellung geliefert haben.
307 OLD, s.v. tabum , 1899. Bereits hier wird jedoch auf den Eintrag von tabes verwiesen; die vorliegende Stelle wird am Schluss des Eintrags gesondert angegeben mit dem Beisatz „ of the supposed source of an infection or plague “, wobei die besondere Verwendungsweise dadurch ersichtlich wird, dass nur Georg. 3,481 und 557 aufgeführt werden.
308 Serv. georg. 3,481: ordinem secutus est, quem et Lucretius tenuit et Sallustius, primo aerem, inde aquam, post pabula esse corrupta. Zum Verhältnis dieser drei Beschreibungen vgl. auch Gasparotto (1967), 364–369.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung 2,71 ebenfalls eine Flüssigkeit nahezulegen, Erren übersetzt mit ‚Eiter‘ oder ‚Ausscheidung‘.309 Nun lässt sich die Frage stellen, woher diese Flüssigkeit stammt und wie sich die Besudelung des Futters in die generelle Einführung der Pest einordnet. Die betroffenen Subjekte, die man sich hinzudenken müsste, sind an dieser Stelle noch nicht genannt – das Verständnis wäre entsprechend unnötig erschwert. Mit Drakenborchs Kommentar zu Liv. 4,30,9 ( nec corpora modo adfecta tabo ), ist zunächst festzustellen, dass keine strenge Unterscheidung von tabes und tabum in der Dichtung vorgenommen wurde.310 Damit eröffnete sich neben der Deutung als Flüssigkeit auch die der Auszehrung, des allmählichen Verfalls.311 Übertragen auf Pflanzen, die letztlich Futter ( pabula ) für das Vieh würden, ist deshalb mit ‚Fäulnis‘ zu übersetzen.312 Georg. 3,482 nicht kam der Tod nur auf einem Wege : Während über die Semantik von simplex eine ausführliche Diskussion stattgefunden hat,313 wurde über die Funktion der nachfolgenden gegensätzlichen physiologischen Vorgänge wenig gesprochen. Dabei ist mit Blick auf das in der Beschreibung ansonsten selten verwendete Im- perfekt zunächst festzustellen, dass es sich hier nicht (wie häufig angenommen) um zwei auf- einanderfolgende Phasen, sondern um ein wiederholtes Schwanken der Gegensätze handelt.314 Außerdem ist auffällig, dass die Pathophysiologie im Verlauf der weiteren Seuchenbeschrei- bung (etwa in Form der Symptome) nicht aufgegriffen wird – dadurch wirkt diese allgemeine
309 Vgl. Mynors (1990), 252 und Erren (2003), 757. Cramer (1998, 189f. Anm. 742) tilgt den Vers, wo-bei seine inhaltlichen Argumente nicht selten den Perspektivenwechsel innerhalb der Beschreibung verkennen; die ebendort genannten sprachlichen Bedenken bzgl. tabo werden im Folgenden ausge-räumt. Die Tilgung ist auch aufgrund der Verssymmetrie zu überdenken.
310 Vgl. Drakenborch (1821), 253. In der Tat ist auffällig, dass an den Stellen, an denen tabum die Flüs-sigkeit bezeichnet, meist ein Farbadjektiv ( niger, ater ), andere Körperflüssigkeiten ( sanies, sanguis ) oder eindeutige Verba hinzugegeben werden ( maculare, spargere, fluere ), sodass eine Verwechslung mit dem physiologischen Prozess ausgeschlossen ist (vgl. Enn. tr. 297 Jocelyn; Verg. Aen. 3,28; 3,622; 8,487; 9,472; Lucan. 6,548).
311 Illustrativ ist Cels. 2,1,8, wo φθίσις aus Hp. Aph. 3,29 (= 4,500 L.) durch tabes wiedergegeben wird.312 So bereits Voss (1800), 503. Folglich ist Gardners These (2019, 123f.) zu hinterfragen, nach der bereits hier die Verflüssigung als Metapher für die Auflösung der Grenzen im Bürgerkrieg zu verstehen ist; vgl. jedoch de Rue (1675), 207, der hier eine liquefactio annimmt. Gardner selbst übersetzt mit ‚decay‘, das sowohl ‚Verwesung‘ (in ihrem Sinne verbunden mit einer Verflüssigung) als auch ‚Fäulnis‘ bezeichnen kann.
313 Im Folgenden wird das Verständnis von Thomas (1988), 132 zugrundegelegt: „nor was the road to death uniform.“ Damit bezeichnen die vier Verse nicht den Zeitpunkt des Todes, sondern den Weg zum Tode hin.
314 Vgl. bspw. West (1979), 77: „A clear account. The disease has two phases, shortage of moisture, fol-lowed by excess of moisture.“ Daneben bliebe auch die Möglichkeit gleichzeitig stattfindender Pro-zesse (durativer Aspekt), wie sie Charles Lichtenthaeler (1994, 48f.) im dritten Epidemienbuch beob-achtet hat.
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Charakterisierung der Krankheit seltsam isoliert.315 Als Einleitung zur eigentlichen Schilde- rung kommt den vier Versen dennoch eine besondere Bedeutung in Form der Erschütterung des Rezipienten zu. Vor dem Hintergrund der Vorgehensweise medizinischen Fachpersonals der Antike dürfte ein solcher Wechsel der Extreme dazu dienen, die Unbehandelbarkeit der Krankheit von vornherein klarzustellen.316 Der Arzt der Antike, der theoretisch fundiert prak- tiziert (d. h. nicht die Tradition der ‚Empiriker‘, vgl. Kapitel 1.2),317 ergreift zur Behandlung innerer (und damit nicht anders erklärbarer) Krankheiten u. a. zu diätetischen Therapiemaß- nahmen,318 die Gegensätzliches mit Gegensätzlichem behandeln ( contraria contrariis );319 eine derartige Gegenüberstellung der Krankheitsursachen findet sich noch spät in Veg. mul. 1,2–4 bei der Kategorisierung und 1,10–11 bei der Heilung der Krankheiten ( humidus und aridus ).320 Vereinen sich jedoch die Gegensätze in einer Krankheitseinheit, ist Aporie auf Seiten der Me-315 Vgl. Klepl (1940), 55f. und West (1979), 78. Gardner (2019, 159) nimmt für eine ihrer Prämissen, nämlich dass die Verflüssigung eine stützende Säule in der metaphorischen Darstellung der Zer-setzung des Staatskörpers darstellt, an, dass in dilapsa (Georg. 3,557) eine Entsprechung zur Einfüh-rung vorliege. Die Überschneidung kommt jedoch durch die der Konzeption der Fäulnis zustande – im ersten Fall der (durch die Krankheit bedingten) inneren, im zweiten der äußeren Fäulnis (vgl. unten Komm. zu Georg. 3,484).
316 Man vergleiche Cels. 1 pr. 18 (zu den ‚Dogmatikern‘) Evidentes [sc. causas ] vero has appellant, in qui- bus quaerunt, initium morbi calor attulerit an frigus, fames an satietas, et quae similia sunt (‚Sicht-bare Ursachen nennen sie nun diejenigen, nach denen man fragt: Ob der Beginn der Krankheit Hitze oder Kälte mit sich brachte, Hunger oder Sättigungsgefühl, und Ähnliches.‘).
317 In die Gruppe der theoretisch fundierten Praktiker wären streng genommen auch die Methodiker einzuschließen, die zwar laut eigener Aussage auf vermeintlich sinnlose Debatten über erste Be-standteile verzichteten, jedoch ein theoretisches Grundgerüst ( status laxus, strictus, mixtus ) beibe-hielten (vgl. Meyer-Steineg 1916, 23f. und Cels. 1 pr. 56). Es sind denn auch gerade die Methodi-ker, die als Einwand gegen die formulierte These der Unbehandelbarkeit der Gegensätze angeführt werden könnten, da sie selbst den status mixtus definierten und damit eine Lösung anboten. Dabei bliebe zumindest fraglich, in welchem Maße die Theorie der koinotêtes im letzten Drittel des ersten Jahrhunderts bereits entwickelt war und ob Vergil diese rezipiert hat. Da auch die Methodiker stets gegensätzlich behandelt haben, scheint die These, hier solle die Unbehandelbarkeit der Krankheit hervorgehoben werden, sehr plausibel. Zur antiken Diskussion darüber, ob Krankheiten einzelne Körperteile oder den ganzen Körper befallen, vgl. McDonald (2012), dort insbes. 70 Anm. 33 für Verweise auf Sekundärliteratur.
318 Zur besonderen Schwierigkeit der inneren Krankheit, die dem Arzt selten einen Vergleichsmaßstab des Normalzustandes und damit eine Richtschnur für die eigene Behandlung lassen, vgl. Kollesch (1976), 277.
319 Vgl. bspw. Hp. vict. 2,39–56 (= 6,534–571 L.). Die Behandlungsart wurde sogar sprichwörtlich, vgl. Tosi (162007), 350. Den Umgang der antiken Medizin mit der Theorie gleicher und gegensätzlicher Elemente behandeln Müller (1965), insbes. 142–150, Thivel (1977) und jüngst Steger (2021), 26; für die Methode der ‚Dogmatiker‘ vgl. van der Eijk (2014), 469 mit Anm. 19.
320 Neben den Primärqualitäten (trocken-nass, warm-kalt) sind mit Golder (2007, 174) noch die Gegen-sätze Überfüllung-Entleerung, Anstrengung-Ruhe und Erweiterung-Verengung zu nennen.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung dizin die notwendige Konsequenz.321 Es ist anzunehmen, dass der gebildete Rezipient mit dem Behandlungsgrundsatz contraria contrariis vertraut war und ihm eine derartige Einführung zu Beginn der Seuchenbeschreibung eine Überwindung der Krankheit unmöglich erscheinen ließ.322 Georg. 3,484 da quoll immer wieder schwallartig Flüssigkeit auf : Die Überhitzung des Erkrankten führt nach Vergil zu einem Verschrumpeln der Glieder ( adduxerat artus ),323 das Aufkommen der Flüssigkeit zu einem inneren Schmelzvorgang. Letz- terer muss m. E. wörtlich verstanden werden,324 sodass Servius mit seinem Kommentar „etiam ossa, et per hyperbole totum hominem significat“ zwar das Darstellungsziel, jedoch nicht die medizinische Vorstellung zu benennen scheint. Dass das Innere des Menschen sich gleichsam innerlich verfaulend auflöst, liest man im Corpus Hippocraticum zu Hydrops und Erysipe- las.325 Die Auflösung der Knochen wird auch bei Celsus als eine der schlimmsten Ausformun- gen einer Krankheit beschrieben.326 Vergil konnte demnach auf eine etablierte medizinische
321 Die Implikation einer solchen Aporie direkt zu Beginn der Seuchenbeschreibung deckt sich struk-turell mit dem der thukydideischen Schilderung, der (anders als Lukrez) das Scheitern von Medizin und Kult der eigentlichen Erzählung voranstellt (2,47,4). Auch die Charakterisierung der Krank-heit als anormal hat in Thukydides ihr Vorbild (2,50,1–2, vgl. Thomas 2017, 569f.). Die schädliche Wirkung gegenteiliger Primärqualitäten auf den Organismus findet sich auch in Sen. epist. 95,15 im Rahmen einer Kritik der zeitgenössischen Diätetik.
322 Mit der Unbehandelbarkeit der Krankheit erzielt der Dichter nicht nur bereits an dieser Stelle eine Vorahnung dessen, was noch kommt, sondern reiht sich zudem in eine bestehende Tradition ein: „Throughout Roman medical texts runs the common theme that stopping an epidemic disease was something outside the domain of a traditional physician“ (Wazer 2016, 133). Im Vergleich zu den Prätexten liegt außerdem eine Erweiterung dahingehend vor, dass bei Thukydides und Lukrez kein Heilmittel gefunden werden konnte, das sowohl dem einen als auch dem anderen helfen konnte (vgl. Thuc. 2,51,2 und Lucr. 6,1225–1228). Vergil hingegen geht in dieser Charakterisierung so weit, dass nicht einmal bei ein und demselben Lebewesen ein Heilmittel permanent half.
323 Vgl. Serv. auct. georg. 3,483: ‘adduxerat’ pro ‘contraxerat’ .
324 So auch Voss in seiner Übersetzung und im Kommentar zur Stelle (1800, 654).
325 Hp. aff. 22 (= 6,232 L.) und epid. 3,3,4 (= 3,70–77 L.). Vgl. zum Fäulnisprozess als Resultat der Wärmeeinwirkung Leven (2005e), 294 mit weiteren Verweisen. Darüber hinaus ist auffällig, dass Schmelzvorgänge häufig mit Schlangenbissen verbunden werden (vgl. Nic. Ther. 239 und später Lu-can. 9,770–772; zur Parallele von Pest und Gift vgl. Leven 1997, 21 und zur literarischen Verarbeitung Krebs 2021). Ganz fern muss die Deutung von Vallilee (1960), 86 liegen, der den fluidus liquor in An-lehnung an Lukrez als jede Art von Flüssigkeit deutet und die Todesursache in der Aufnahme einer zu großen Menge davon sieht.
326 Vgl. Cels. 3,25,1 und 5,19,19, jeweils durch quoque hervorgehoben, daneben Hp. coac. 495 (= 5,696 L.) und Plat. Tim. 84b–c; womöglich die vorliegende Stelle in seiner Beschreibung des Giftes des Seps rezipierend auch Lucan. 9,784 hoc et flamma potest; sed quis rogus abstulit ossa? (‚Dies [sc. das Fleisch zu verzehren] vermag auch das Feuer; aber welcher Scheiterhaufen vertilgt selbst die Knochen?‘)
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Vorstellung zurückgreifen, sodass das Symptom nicht zwangsweise auf Lukrez zurückgeführt werden muss.327 Es mag ein Zufall sein, dass die Wassersucht bisweilen auf ein Leiden der Milz zurückgeführt und ebendieses Leiden als Charakteristikum des Herbstes angesehen wurde.328 Besonders die divergente Funktionszuschreibung der Milz in Hinsicht auf den Wasserhaushalt lässt keinen eindeutigen Schluss für die vorliegende Stelle zu – es lässt sich jedoch festhalten, dass die Vorstellung eines inneren Schmelzvorganges bestand und nicht als Übertreibung ge- deutet zu werden braucht.329 Georg. 3,486–488 Mehrmals … zwischen den zögernden Dienern zusammen : Als bedeutendste Innovation in der Tradition ist wohl die Szenentechnik330 anzusehen, mit- hilfe derer Vergil die Charaktere, die im dritten Buch im Zuge der Tieraufzucht eingeführt worden sind (Klepl spricht von „Tierhelden“331), wieder aufgreift.332 Die erste Szene unterschei- det sich von den nachfolgenden (Stier und Pferd) u. a. dadurch, dass sie explizit als mehrmali- ges Vorkommnis charakterisiert und das Opfertier unbestimmt gelassen wird.333 Dabei nimmt der Dichter Bezug auf die gängige Praxis, einen Opferritus so lange zu wiederholen, bis das gewünschte Ergebnis erzielt worden ist.334 Im vorliegenden Fall ist hervorzuheben, dass die Menschen trotz ihrer Beobachtungen keine Verbindung der Einzelfälle zueinander zu ziehen327 Vgl. West (1979), 79 und in der Folge Trevizam (2014), 174.
328 Vgl. Golder (2007), 133 und bspw. Hp. aff. 22 (= 6,232 L.).
329 Vgl. Tischendorf (1970), 6f. Diese Vorstellung war auch noch in der Mitte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts so geläufig, dass sie Calpurnius Siculus in die thematisch verwandte fünfte Ekloge (5,76f.) aufnahm: miserum fragili rubigine corpus | arrodet sanies et putria contrahet ossa. (‚Eiter wird den kranken Körper mit nagender Fäulnis zersetzen und die brüchigen Knochen zusammenfallen lassen.‘)
330 Unter Szene wird mit Bettenworth (2004, 19, ihrerseits mit Bezug auf Nicolai 1973) eine Konstel-lationseinheit verstanden, „die die Erzählung gliedert und durch die Einheit von Zeit, Ort, Hand-lung und Handlungsträgern als geschlossenes Bauelement kenntlich gemacht ist.“ Diese Technik beschrieb bereits Klepl (1940, 69), West (1979, 78) spricht von „Virgil’s case descriptions“. Vor diesem Hintergrund ist ggf. eine Neubewertung des Innovationsgrads des Endelechius in dieser Hinsicht vorzunehmen, vgl. Barton (2000), 102.
331 Klepl (1940), 75.
332 Diese Technik äußert sich auch in der Verwendung der Tempora (vgl. 5.3 Appendix C: Verwendung der Tempora): War das Imperfekt das bezeichnende Tempus für Lukrez, herrscht bei Vergil ein his-torisches Präsens vor (vgl. LHS II, 306f.). Möglicherweise ist die Szenentechnik im Zusammenhang mit Volks (2002, 6–24) poetic simultaneity , Butlers (2011, 50) cinematic feel oder Morrisons (2013, 213) perspectival character bei Lukrez zu betrachten.
333 Vgl. West (1979), 80: „The sacrificial animals (486–93) are a logical cross-division, since they would include the calves, swine and bulls later to be treated.“
334 Vgl. Rasmussen (2003), 121. Ein bekanntes Beispiel findet sich in Liv. 27,23,4, wo mehrere Tage hin-tereinander Opfer dargebracht wurden, bis schließlich die pax deorum erwirkt wurde. Für den Ver-such einer Umdeutung der als Zustand aufgefassten pax deorum vgl. Santangelo (2011).
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung scheinen – eine vermeintliche Zielsetzung der Sühne eigener Verfehlung zur Beseitigung der Pest, wie etwa Farrell sie annimmt, findet keine Stütze im Text:335 Vom Zweck dieser wieder- holten Opferungsbemühungen ist nirgends die Rede; die Tatsache, dassdie Menschen wieder- holt opfern, ergibt sich wie gesagt aus dem wenig glücklichen Ergebnis. Die Ergreifung von Gegenmaßnahmen von Seiten der Hirten scheint demnach in expliziter Form erst in 3,509f. vorzuliegen. Der Schwerpunkt der Darstellung liegt vielmehr auf dem misslungenen Opfe- rungsprozess, wobei die Plötzlichkeit des Zusammenbruchs als Unterbrechung des Opferritu- als gleich mehrfach Ausdruck findet ( in honore medio, stans, dum, inter cunctantis ministros ). Hierin besteht womöglich auch eine besondere Ironie der Szene: Der Zusammenbruch des Opfertieres ist selbst ein prodigium ,336 das einer Entsühnung (in Form eines Opfers) bedürfte – die Möglichkeit einer solchen ist jedoch von Anfang an ausgenommen.337 Georg. 3,490 brannten weder Altäre, auf die man Eingeweide gelegt … hatte : In den nachfolgenden vier Versen liegt ein Hysteron-Proteron vor: Zunächst würde das Tier geschlachtet, dann würde ein Versuch der Eingeweideschau ( haruspicina ) unternommen, zu- letzt folgte das Verbrennen der Eingeweide ( exta ). Ob die Menschen die Eingeweide der er- krankten Tiere tatsächlich auf Altäre legten oder nach der missglückten haruspicina die Kon- taktaufnahme zu den Göttern ganz unterließen, ist auf Grundlage des Textes nur schwer zu entscheiden. Sowohl eine grundsätzliche Aussage („Nicht brannten Altäre, auf denen …“) als auch eine konkrete („Die Altäre, auf die man …, brannten nicht“) ist denkbar. Für die Cha- rakterisierung der Menschen in der Erzählung hätten die jeweiligen Deutungen gleichwohl
335 Vgl. Farrell (1991), 92 Anm. 61 und dagegen Cramer (1998), 197. Wenngleich Farrell mit der religiö-sen Entsühnung die in der Antike (und vor allem in Rom, vgl. Wazer 2016) gängige Reaktion auf Seuchen in den Passus projiziert, sollte sich die Erklärung aus dem Text selbst ergeben.
336 Vgl. mit Harrison (1979, 58 Anm. 63) Obseq. 16 und 47 und Rasmussen (2003), 47–52, wobei der Tod der Opfertiere und die übrigen Zeichen im vorliegenden Fall keine Ankündigung der nahenden Pest, sondern bereits eine Auswirkung ebendieser sind. Zur (zumindest in der Theorie und damit auch potenziell in der Vorstellung der Rezipienten bestehenden) Rigidität der Vorschriften der Op-ferpraxis vgl. Latte (1960), 209–11 mit Anm. 431 und Engels (2007), 11. Dem Einwurf, dass Roms Prodigienwesen zu diesem Zeitpunkt wohl schwerlich ein Pendant im Noricum findet, sodass ein Vergleich unzulässig ist, ist die bereits bemerkte Anpassung an den Vorstellungshorizont der Rezi-pienten entgegenzuhalten, vgl. Anm. 27, S. 17.
337 Eine Inspiration für den Zusammenbruch des Opfers erhielt Vergil möglicherweise durch Berichte wie den von Strabo (13,4,14 [= 630 C. = 3,657,1–9 Radt]) über Hierapolis, dem zufolge die Priester an einem Eingang zur Unterwelt die Tiere in eine Grube führten, wo sie nach kurzer Zeit ohne Fremd-einwirkung verstarben. Hardy Pfanz et al. (2019) haben gezeigt, dass die Ursache für das Tierster-ben – das auch heute noch an Ort und Stelle zu beobachten ist – durch die hohe Konzentration geo-genetischer Gase (insbesondere CO2
) in Form von Gasseen über der Erdoberfläche verursacht wird. Berichte von den Wirkungen solcher Gasseen könnten auch in der Krankheitstheorie von Seneca (vgl. Kapitel 3.1.1) Niederschlag gefunden haben, der ebenfalls auf den Tod von Weidevieh hinweist.
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Konsequenzen: Versuchten diese trotz der problematischen Tötung und der Unzulänglichkei- ten der Eingeweide dennoch, diese zu verbrennen, zeugte das einerseits von Beharrlichkeit, an- dererseits von anhaltendem Unverständnis der Krankheit und der neuen Situation; dies reihte sich in die oben getätigten Beobachtungen zur Wiederholung des Opferungsprozesses ein. In der grundsätzlichen Lesart, nach der die Menschen gar nicht erst einen Versuch unternahmen, die Eingeweide zu verbrennen, ist zumindest eine bestimmte Form der Erkenntnis eingetreten. Es bleibt jedoch festzuhalten, dass auch im Falle dieser Interpretation den Menschen keine Nachlässigkeit zu unterstellen ist, die in einem zweiten Schritt etwa rückwirkend die Ursache für die Pest hätte bilden können (vgl. zur Pietät der Bauern auch unten die Diskussion von Harrison). Georg. 3,491 noch konnte der Seher (vates) Antworten erteilen : Die Bezeichnung vates dient als Oberbegriff für die eigentlich korrekte Bezeichnung als ha- ruspex (‚Eingeweideschauer‘),338 der zu Vergils Lebzeiten primär die Leber untersuchte.339 Dis- kutiert wurde an dieser Stelle, ob das Scheitern des Kultes zu Beginn der Seuchenbeschreibung im Rahmen einer allgemeinen Kritik der Wertlosigkeit von Opferzeremonien in Krisensitu- ationen zu lesen sei. Im Vordergrund steht m. E. eher das Pathos der Szene: Bedenkt man die Alternativen zu den muta exta ,340 nämlich laeta (~positiv)und tristia/turpia exta (~negativ), wäre die Eindeutigkeit der Eingeweideschau weniger beunruhigend als deren nicht zu deuten- des Ergebnis. Gerade hierdurch erhält die ausbleibende Kommunikation341 mit den Göttern einen prägnanten Ausdruck der Gleichgültigkeit. Das Scheitern des Kultes wäre nach diesem Verständnis eher als Bestandteil pathetischer Inszenierung denn als Kritik am Kult selbst zu betrachten.342338 Gardner (2014, 11 und erneut 2019, 125f.) sieht im vates eine metapoetische Aussage, dass der Dichter die Krankheit weder auf eine Ursache zurückführen noch interpretieren könne. Durch den Auftritt der Tisiphone (vgl. unten Komm. zu 3,552) bleibt die Ursachenfrage jedoch ungeklärt, sodass diese Deutung zumindest mit Vorsicht zu nehmen ist.
339 Zur Einordnung der Praxis der Eingeweideschau anhand der Bronzeleber von Piacenza vgl. Rasmus-sen (2003), 117–148.
340 Mit Verweis auf Festus (146 L.) siehe Heyne (1830, 582): „sunt exta muta, cum aliqua pars aut deesset, aut corrupta esset.“ (‚Eingeweide sind stumm [d. h. lassen keine Aussage zu], wenn entweder irgend-ein Teil fehlt oder verdorben ist.‘). Vgl. auch Obseq. 35, 55, 67.
341 Pace Rosenberger (1998), 141f., der den Ausdruck der Kontaktaufnahme präferiert, da nie sicher war, ob die Gottheit ihrerseits auf das Kommunikationsangebot eingeht – mit ‚Kommunikation‘ setze man demnach eine Bedingung voraus, die sich erst im Nachhinein herausstellte.
342 Vgl. ebenso Engels (2007), 252.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Georg. 3,492 kaum wurden die Messer … von Blut benetzt : Kurt Latte nutzte die vorliegende Stelle und deren Rezeption bei Ovid (Met. 7,599) in seinem Artikel zur immolatio dazu, die geringe Blutmenge als übles Vorzeichen im Zusammenhang der kultischen Handlungen einzuordnen.343 Dagegen argumentierte Bömer in seinem Ovid- Kommentar damit, dass die Dichter nichts anderes sagen wollten, als dass die Tiere krank seien. Dazu käme, dass die „Lage des Volkes […] wirklich nicht mehr von den Göttern durch Vorzeichen angekündigt zu werden [brauchte].“344 Mit der letzten Aussage bezieht sich Bömer ausschließlich auf die Stelle bei Ovid und lässt dadurch außer Acht, dass für die Rezipienten der Georgica (und die Beobachter des Opfervorgangs dort) die geringe Blutmenge am Anfang der Beschreibung steht. Außerdem zeigen die Beobachtungen zu Vergils Seuchenbeschreibung (vgl. Komm. zu Georg. 3,537–540), dass auch im Verlauf der Erzählung noch Prodigien ver- wendet werden können, um den unheimlichen Charakter des Geschehens zu betonen.345 Ob die Begebenheit dem antiken Rezipienten tatsächlich widernatürlich vorkommen konn- te, dürfte durch eine Betrachtung der Frage erhellt werden, welcher Zusammenhang zwischen Krankheit und Blutfluss außerhalb der Seuchenbeschreibungen angenommen wurde. Dies- bezüglich findet sich die Überzeugung, dass eine geringere Menge Blut aus Wunden von al- ten Menschen strömt. Das wohl bekannteste Beispiel hierfür findet sich in der literarischen Beschreibung von Senecas Freitod bei Tacitus.346 Gleichwohl ist es hier nicht nur das Alter, sondern auch die karge Diät ( parco victu ), die Senecas Körper geschwächt und zu geringerem Blutfluss geführt haben soll.347 Eine Beschränkung allein auf das Alter findet sich in Senecas 343 Vgl. Latte (1914), 1129, 46.
344 Bömer (1976), 351.
345 Vgl. dazu Rosenberger (1998, 33): „Sind erst einmal in einer Krisensituation mehrere Prodigien ge-meldet und anerkannt, so kann eine Sogwirkung einsetzen, unter deren Einfluß weitere Phänomene, die sonst vielleicht nicht als Prodigium behandelt worden wären, die Qualität eines Zeichens gewin-nen.“ Livius (21,62,1) spricht in diesem Zusammenhang von ‚Gemütern, die sich einmal der Religion hingewandt haben‘ ( motis semel in religionem animis).
346 Tac. Ann. 15,63,3: quoniam senile corpus et parco victu tenuatum lenta effugia sanguine praebebat (‚… da ja sein betagter und von frugaler Diät ausgemergelter Körper eine nur schleppende Ausflucht durch das Blut gewährte‘), ähnlich auch der Freitod des Ostorius in Ann. 16,15,2: venae quamquam interruptae parum sanguinis effundebant (‚Seine Venen ließen, obwohl sie aufgetrennt worden wa-ren, zu wenig Blut ausströmen‘) und schließlich der Mord an Scaevola über dem Feuer der Vesta in Lucan. 2,128f. parvum sed fessa senectus | sanguinis effudit iugulo flammisque pepercit . (‚Aber sein müdes Alter ließ wenig Blut aus seiner Kehle ausströmen und das Feuer brennen.‘). Eine medizin-historische Einordnung zur Rolle von Ärzten bei Selbsttötungen im ersten nachchristlichen Jahr-hundert findet sich bei Steger (2021), 147.
347 Dirk Rohmann (2007 passim , Anm. 27 verweist auf unsere Stelle) hat ebenfalls eine Parallele zwi-schen der Abnormität des Blutflusses in der Opferpraxis und dem langsamen Blutfluss in senatori-schen Sterbeszenen ausgemacht; jedoch erscheint jener nach den soeben getätigten Beobachtungen im Falle von Seneca gerade nicht anormal, sondern seiner körperlichen Konstitution entsprechend –
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Agamemnon und bei Juvenal, der den minimus sanguis auf die Körpertemperatur im Alter zurückführt.348 Es bestand folglich die Vorstellung einer Abhängigkeit von der Jugendlichkeit eines Körpers (warm/feucht) und dem Blutfluss aus Wunden.349 Davon ausgehend, dass ein altes und krankes Tier die probatio hostiae (‚Prüfung des Opfertiers‘) nicht bestanden haben dürfte, muss es sich um ein nach äußerer Betrachtung gesundes Tier handeln.350 Folglich ist der geringe Blutfluss (auch) nach antiker Vorstellung etwas Widernatürliches und Unheimli- ches.351 Ob es sich aus Sicht der Rezipienten deshalb tatsächlich um ein prodigium handelte, ist schwerlich festzustellen, jedoch auch vom Verständnis des Verses 490 abhängig: Deutet man die nicht brennenden Altäre hier so, dass die Flammen ausgehen, sobald das Fleisch der Tiere darauf gelegt wird, fügte sich die geringe Blutmenge in eine Reihe von Prodigien ein: Ver- löschende Flammen, ‚unverständliche‘ Innereien, geringer Blutfluss (trotz äußerlich gesunder Tiere), die entweder ein echtes Adynaton oder zumindest eine Störung der natürlichen Ord- nung zum Ausdruck bringen. die Unrechtmäßigkeit der Handlung wird dennoch durch die Vergegenwärtigung der Tötung eines alten (geschwächten) Mannes anhand des Blutflusses unterstrichen, ohne dass Anleihen aus dem Numinösen notwendig wären.348 Sen. Ag. 656–658 vidi, vidi senis in iugulo | telum Pyrrhi vix exiguo | sanguine tingui . (‚Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie die Waffe in der Kehle des Greisen Pyrrhus kaum mit einer geringen Menge Blut gefärbt wurde.‘) und Iuv. 10,217f. praeterea minimus gelido iam in corpore sanguis | febre calet sola . (‚Außerdem wird die sehr geringe Menge Blut im schon erkalteten Körper lediglich durch Fieber erwärmt.‘). Juvenal folgt darin einer Qualitätenzuteilung (kalt/trocken), wie sie auch im Cor- pus Hippocraticum (und von Aristoteles) vertreten wird (vgl. Horstmanshoff 2005, 32f.). Für weitere Parallelen vgl. Tarrants (1976, 294) Kommentar zum Agamemnon, der jedoch das erste Vorkomm-nis der Vorstellung in Ov. met. 13,409f. zu spät ansetzt. Hill (1992, 214) verweist außerdem auf met. 7,315.
349 Der Zusammenhang von Blutfluss und Körpertemperatur findet sich auch in den Fachschriften, vgl. z. B. Cels. 4,2,2, wo Nasenbluten zu einer Abkühlung des Körpers führt. Zur Korrelation von Alter und Krankheit generell unter Berücksichtigung von literarischen und insbesondere medizinischen Quellen vgl. Cokayne (2003), 34–56.
350 Vgl. Bömer (1976), 352.
351 Dasselbe gilt möglicherweise für den Eiterfluss. Zur Unterscheidung der Wundflüssigkeiten vgl. mit Krebs (2021, 338) Cels. 5,26,20a: Ex his [sc. vulneribus] autem exit sanguis, sanies, pus. Sanguis om- nibus notus est: sanies est tenuior hoc, varie crassa et glutinosa et colorata. Pus crassissimum albidis- simumque, glutinosius et sanguine et sanie. Exit autem sanguis ex vulnere recenti aut iam sanescente, sanies [est] inter utrumque tempus, <pus> ex ulcere iam ad sanitatem spectante. (‚Aus diesen Wunden tritt nun sanguis , sanies , pus . Sanguis [~Blut] ist allen bekannt: sanies [~Exsudat] ist dünner als die-ses, unterschiedlich in Dicke, Klebrigkeit und Färbung. Pus [~Eiter] ist am dicksten und weißesten, und klebriger als sanguis und sanies . Es fließt nun sanguis aus frischen oder schon genesenden Wun-den, sanies in der Zwischenzeit, pus aus einem Geschwür, das sich schon zur Genesung neigt.‘)
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Georg. 3,494 Von da an starben : Der vorangegangene Passus wird in den nachfolgenden vier Versen zwei Mal ( hinc … hinc ) als (zeitlicher) Ausgangspunkt einer größeren (und zugleich allgemeineren) Entwicklung der Krankheit genommen. Mithilfe der beiden Verspaare wird die Ausbreitung der Pest von Tieren aus dem Bereich des Kults (von hostia zu vituli [‚Kälber‘]352) hin zu Nutztieren im alltägli- chen Umfeld des Bauern beschrieben ( canes [‚Hunde‘], sues [‚Schweine‘]).353 Das erste Verspaar umfasst den Tod selbst als Resultat der Krankheit unter den Kälbern, wobei das Sterben an zwei Orten ( laetis 354 in herbis , plena ad praesepia ) mittels zweier Verbalausdrücke ( moriuntur , animas 355 reddunt ) beschrieben wird. Entscheidend ist hierbei jedoch nicht das Sterben allein; vielmehr dient der Tod inmitten des Futters dem Aufbau einer kontrastreichen Szenerie.356 Dies lässt sich auch daran zeigen, dass der Todesart in diesem ersten Verspaar keine Beach- tung geschenkt wird; damit hebt es sich vom folgenden Verspaar ab, in dem ausschließlich auf Symptome eingegangen wird. Die Darstellung scheint hier demnach eher auf die genannte kontrastive Gegenüberstellung abzuheben.357Kaum Augenmerk wurde bislang auf die jeweili- ge Ursache des Futterreichtums gelegt: Versteht man die herbae als Gabe der Natur, die plena praesepia als Ergebnis menschlicher Arbeit, zeigt sich die Pest an dieser Stelle als Zerstörerin der Kollaboration von Mensch und Natur. Dabei ist zu bemerken, dass die laetae herbae nicht
352 Für vituli (auch als potenzielle iuvenci [‚Jungstiere‘]) im Kontext der Opferung vgl. Verg. georg. 3,23 und 4,547 sowie Betensky (1972), 134.
353 Ein einzelnes Ordnungsschema für die gesamte Seuchenbeschreibung, wie etwa Voss (1800, 655) es vorschlägt, nach dem der Dichter von den schwächeren zu den stärkeren Tieren fortschreitet, stößt im Einzelfall auf Schwierigkeiten. Beispielsweise müsste nach diesem Schema erklärt werden, wes-halb die Vögel als Schlussglied der Ausbreitung genannt werden. Deshalb ist es auch unwahrschein-lich, dass der Dichter (wie bereits Cerda zur Stelle postulierte) bei den Versen 541–543 vor Augen hatte, dass Arist. HA 602b13ff. den Tieren der See sämtliche Krankheiten abspricht – ansonsten wäre eine Weiterführung des Schemas durch Schlangen und Vögel geradezu unsinnig. Es ist vielmehr an-zunehmen, dass mehrere Gliederungsschemata des Narrativs bestehen, s. Anm. 447, S. 203.
354 Die quantitative Semantik von laetis lässt sich nicht nur mit Heyne im Hinblick auf die Infektion des Futters in Vers 481, sondern auch mit Verweis auf Verg. georg. 3,385 sowie mit dem parallel ge-brauchten plena ad praesepia plausibel machen. Der von Mynors (1990), 253 gesehene Widerspruch zur Infektion des Futters impliziert, dass eine solche zugleich eine Minderung der Quantität der Weidegründe nach sich ziehen müsste – dafür gibt es jedoch keinen Anhaltspunkt im Text.
355 Bemerkenswert ist das Attribut dulcis für die unschuldigen Seelen der Jungtiere, das West (1979, 80) als Eigenheit Vergils herausstellt. Der Tod der Jungtiere legt die Theodizee aus 525–530 bereits an dieser Stelle nah. Vgl. auch Glei (1991), 274 zur Viehseuche insgesamt: „Das Tiersterben wird zum Inbegriff schuldlosen Leidens.“
356 Vgl. Conington/Nettleship (51898), 331 und Richter (1957), 321.
357 Eine weitere Erklärung bestünde in der Verwandtschaft der hostiae und der vituli , wenn die Opfer-tiere als Kälber aufgefasst würden. Dann wäre die Todesursache aus der ersten Szene noch derart präsent, dass eine weitere Ausführung redundant hätte erscheinen müssen.
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unbedingt ein Anzeichen für ein vermehrtes Graswachstum sind, sondern lediglich das Resul- tat der nicht mehr fressenden Tiere.358 Georg. 3,496f. von da an … geschwollenen Hälse : Das zweite Verspaar beschreibt die Symptome der Hunde ( canes )359 und Schweine ( sues ), denen aus antiker Sicht ‚natürliche‘ Krankheitseinheiten ( rabies , angina ) zugeschrieben wer- den. Während dabei die Tollwut der Hunde deren eigentlich zahmes Wesen ( blandis ) ins Gegenteil verkehrt,360 werden die Schweine abgesehen von obesis nicht näher charakterisiert, das jedoch bereits Bestandteil der Symptomatik ist. Dies findet seine Begründung darin, dass insbesondere im Fall der Schweine die Vorstellung einer natürlichen (anatomisch beding- ten361) Anfälligkeit gegenüber Schwellungen bestand.362 Der Dichter rückt an dieser Stelle von einer einheitlichen Symptomatik ab, die (aus Sicht des modernen Rezipienten) auf eine ebenso einheitliche Ursache (etwa die inneren Zustände der Verse 482–485) zurückgeführt358 Gardner (2019, 127f.) verlangt deshalb dem Text und dem Rezipienten vermutlich zu viel ab, wenn sie bereits an dieser Stelle die Travestie des Goldenen Zeitalters (vgl. Kommentar zu 3,537–540) vor-gebildet sieht.
359 Cerda (1618, 434) bezeichnet den Umstand, dass in den meisten Seuchenbeschreibungen die Hunde sterben, als Bestandteil der ‚Dichterverschwörung‘ (vgl. Kapitel 1.1): „quasi velint deplorare feram illam abripi ab humano consortio, cuius tanta ad homines utilitas emanat.“ (‚Als wollten sie bekla-gen, dass jenes Tier aus der Lebensgemeinschaft des Menschen gerissen wird, aus der den Menschen doch so großer Nutzen erwächst.‘). Bei der Beschreibung bei Lukrez wurde bereits der moralische Aspekt im Tod der treuen Hunde herausgestellt (vgl. Komm. zu Lucr. 6,1222b–1224), der hier durch das Attribut blandis , das zugleich einen Kontrast zu rabies bildet, angedeutet wird, vgl. Raabe (1974), 48.
360 Eine solche Wesensverkehrung wurde nicht selten als generelles Merkmal der Seuchenbeschreibung angeführt, das jedoch im Einzelfall auf seine Richtigkeit überprüft werden muss. Vgl. exemplarisch Klepl (1940), 69: „Im einzelnen ist die Schilderung Virgils so angelegt, daß den Geschöpfen jeweils das ihnen eigene Wesen verkehrt oder vernichtet wird.“ Anhand dieses Merkmals lässt sich auch die Eigenständigkeit gegenüber Lukrez in der Tierdarstellung aufzeigen und begründen, vgl. dazu Vallillee (1960), 90f.
361 Der Zusammenhang von Anatomie und Pathophysiologie wurde bereits in den hippokratischen Schriften im Rahmen der Identifikation von sog. ‚Typen‘ erörtert; dabei ging es primär um eine Korrelation der inneren Anatomie und deren Wirkung auf den Durchfluss und das Mischverhältnis der Säfte (vgl. Kollesch 1976, 273f. und Distelrath 2005, 510f.). Dass diese Art des Zusammenhangs auch in Rom gesehen wurde, zeigt Cels. 2,1,23: obesi plerumque acutis morbis et difficultate spirandi strangulantur , subitoque saepe moriuntur . (‚Dicke Menschen leiden meistens an akuten Krankhei-ten, ersticken an Atemschwierigkeiten und sterben häufig ganz plötzlich.‘)
362 Vgl. den locus classicus Arist. HA 603a: τῶν δὲ τετραπόδων αἱ μὲν ὕες νοσήμασι μὲν κάμνουσι τρισίν, ὧν ἓν μὲν καλεῖται βράγχος, ἐν ᾧ μάλιστα τὰ περὶ τὰ βράγχια καὶ τὰς σιαγόνας φλεγμαίνει. (‚Unter den Vierfüßlern aber leiden die Schweine an drei Krankheiten, von denen die eine Branchos genannt wird, bei der Hals und Maul anschwellen.‘) und später Putnam (1979), 220: „[P]igs are strangled by their ordinary plumpness“.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung werden könnte; zu beachten ist dabei die Tatsache, dass für Vergil keine Notwendigkeit zu bestehen scheint, diese auffällige diagnostische Unzulänglichkeit durch eine weitere Ätio- logie zu beheben. Deshalb ist die Annahme gerechtfertigt, dass ein vermeintlicher Wider- spruch innerhalb der Seuchenbeschreibung lediglich von der Inadäquatheit der modernen Perspektive auf sie zeugt. Georg. 3, 498 labitur: Die Bedeutung des labitur ist nicht einfach zu greifen. Nach OLD s.v. labor 1, 990f. wäre einerseits ein Niedersinken/Kollabieren (7), andererseits ein Schwanken/Ausgleiten (5) ver- ständlich. Unser Passus wurde dort als Zusammenbruch aufgrund der Krankheit gedeutet, wonach jedoch das häufige Aufstampfen mit dem Huf nur schwer vorstellbar ist (wenngleich ein Zusammenbruch unter pathetischen Gesichtspunkten große Attraktivität besitzt, vgl. auch Obseq. 69). Vergleicht man andere Verwendungsweisen von labitur bei Vergil, sind vor allem Aen. 3,309, 5,329 und 11,818 von Interesse, da sie semantische Nähe zu unserem Passus aufweisen. Im dritten Buch wird die Verzweiflung der Andromache beschrieben, im fünften das Ausrutschen des Nisus im Wettkampf und im elften der Sturz der tödlich getroffenen Ca- milla. Der Ausdruck labitur ist lediglich im dritten Buch eine Einzelhandlung (das Sinken auf die Knie), im fünften und elften dient er als eine Zusammenfassung der nachfolgenden Handlung, da in beiden Fällen der Sturz noch einmal gesondert Erwähnung findet. Trotz der wörtlichen Entsprechung im fünften Buch ( labitur infelix ) ist der genannte Passus nur bedingt mit unserem vergleichbar. Für das hier angelegte Verständnis ‚Straucheln‘ wurde einerseits die Rezeption durch Lucan. 6,84ff., andererseits der abrupte Übergang zur Szene363 sowie ihre Gestaltung zum Anlass genommen, die eine Übersetzung etwa als ‚schwanken‘364 zu schwach erscheinen lassen. Georg. 3, 498f. ohne Erfolg … auf den Boden : Die Interpunktion und die davon abhängige semantische Aufteilung der folgenden Verse sind umstritten. Es wurden zwei Möglichkeiten der Interpunktion vertreten:
363 Man vergleiche die Überleitung zur Szene des Stiers in 3,515, die durch ecce eingeleitet wird, und die zahlreichen weiteren Sinnabschnitte, die mit Temporaladverbien eingeleitet werden.
364 Vgl. Ladewig/Schaper/Deuticke/Jahn (91915), 212.
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1. Es wird ein Komma nach infelix und herbae gesetzt,365 sodass studiorum … herbae eine Apposition bildet, in der beide Genitive von immemor abhängen. Das fontisque wird als Akkusativobjekt zu avertitur gezogen. 2. Es wird keine zusätzliche Interpunktion vorgenommen. Die Genitive werden jeweils durch die Adjektive ausgelöst ( studiorum zu infelix ,366 herbae zu immemor ). Das fontisque wird als Akkusativobjekt zu avertitur gezogen. Nun birgt jede dieser Deutungen ihre von den Kommentatoren diskutierten Vor- und Nachteile, ohne vollständig zu überzeugen – daher ist womöglich ein neuer Weg einzuschlagen. Ein erster Schritt zum korrekten Verständnis des Passus ist die Prämisse, dass es sich (zunächst) um eine konkrete Situation handelt, die strukturell mit der Szene der Stiere und trotz Quantitätsangabe durch saepe auch mit derjenigen der Opfertiere vergleichbar ist.367 Vor diesem Hintergrund ist die Übersetzung von fontisque als ‚Wasserstelle‘ und die Deutung von avertitur als ein Abwenden von ebendiesen unzufriedenstellend; deutete man labitur als Sturz, wäre eine solche Übersetzung gar unmöglich – es wird deshalb präferiert, fons hier als durch den Besitzer dargereichtes Wasser zu übersetzen.368 Darüber hinaus ist auffällig, dass immemor herbae … fontisque einer Kategorie zu- zuordnen sind, nämlich dem Unwillen des Pferdes, Nahrung und Flüssigkeit zu sich zu nehmen.365 Diese Art der Interpunktion vertrat ausführlich zuletzt Thomas (1988), 135, der mit Georg. 3,216 und Ov. met. 7,542f. sowie aufgrund der metrischen Zäsur dafür zu argumentieren versucht, die studia ebenfalls zu immemor zu ziehen (vgl. vor ihm die Miszelle von Rebert 1928, 539–542; auch Conte interpungiert in der Teubneriana entsprechend). Nun bietet der Vers 216 femina, nec nemorum pati- tur meminisse nec herbae zwar eine interessante inhaltliche Parallele (Liebe und Krankheit gleichen sich in ihrer Wirkung), vermag jedoch keine Sicherheit hinsichtlich der studia zu stiften, da an jener Stelle lediglich ein Bezug möglich ist ( meminisse ), an dieser jedoch zweifelsfrei zwei Möglichkeiten des Bezugs gegeben sind. Dies gilt ebenso für die von Rebert angeführten Stellen.
366 Der Genitiv bei infelix wurde mit Verweis auf Georg. 1,277 und u. a. Hor. serm. 1,9,11 erklärt, der Sinn i. d. R. mit Heyne wie folgt erschlossen: „At infelix studii est is, qui in studio suo successum non habet, nullum praemium, aut potius ex eo noxam et malum.“ (‚Aber infelix studii ist der, der bei seinem Bemü-hen keinen Erfolg hat, keinen Preis davonträgt oder dem vielmehr daraus Schaden und Übles entsteht.‘)
367 Ein solches Herausgreifen des Einzelschicksals in der konkreten Situation scheint auch Barton (2000), 109 nahezulegen.
368 Für fons als ‚Wasser‘ vgl. Vollmer, TLL VI, 1 (1921), s.v. fons , 1022, 45f.: „proprie (pluralis poeti-cus inde a Verg.): caput rivi, aut locus aut ipsa aqua.“ Harrison (1979, 13) versucht eine Parallelität zwischen der Charaktereinführung des Pferdes am Anfang des dritten Buches (3,73–88) aufzuzei-gen und versteht fontes als Objekt zu avertitur . Der Gegensatz bestehe darin, dass das Pferd vorher sogar reißende Flüsse durchschritt, jetzt vor einem kleinen Strom („stream“) zurückschrecke. Das Verständnis von fons als Hindernis, losgelöst von dessen Funktion als Wasserquelle, verbietet sich jedoch mit Verweis auf Verg. georg. 3,131 und 529 (näher: Cramer 1998, 200 ‚Tränke‘). Zwar zeigt Harrison zu Recht die Parallelen zur ersten Hälfte auf (etwa die demissae aures gegenüber micat auri- bus ), jedoch sollte die Suche nach ihnen nicht dazu führen, dass die von der späteren Stelle geforderte Semantik hier im Dienste der Parallelisierung verändert wird.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Diese beiden Aspekte ein und derselben Symptomatik werden lediglich durch den Akteur, victor equus , voneinander getrennt, der Anschluss mit -que kann an dieser Stelle rein weiterführend fun- gieren.369 Nimmt man avertitur als reflexives Medium (‚wendet sich ab‘),370 kann fontis als Genitiv ebenfalls zu immemor gezogen werden. Das gedachte Objekt der Abwendung wird durch die me- trisch enge Bindung an fontisque offenbar: Das Pferd wendet sich vom dargereichten Futter und Wasser ab, da es immemor herbae … fontisque ist. Zusammengefasst bedeutete dies: 3. Es wird keine zusätzliche Interpunktion vorgenommen. fontisque wird als Genitiv verstan- den, der durch immemor bedingt ist. Die Aktion avertitur ist in diesem Fall ein reflexives Me- dium; die Abwendung bezieht sich auf Futter und Wasser, das der Bauer dem Pferd anreicht. Dieses Verständnis hat ohne Zweifel den Nachteil, dass bezogen auf den ersten Vers die metri- schen Argumente, die eine Interpunktion und entsprechende Apposition nahelegen, durch die genannten inhaltlichen Argumente nicht ausgeräumt werden können. Nichtsdestoweniger ist die Szene nach dieser Interpretation um einiges zufriedenstellender erklärt als bislang. Georg. 3, 498 Bemühungen : Abhängig von der Interpunktion (s. letzter Kommentar) ist auch die Frage nach der Seman- tik der studia . Durch studium in den Georgica (und speziell im dritten Buch) wird zumeist die Mühe bezeichnet, die der Bauer in die Kultivierung von Land und Tieren investiert.371 Damit ist zunächst ein Bezug der studia auf den Bauern selbst denkbar; daneben steht weiterhin ein mög- licher Bezug auf die Bemühungen des Pferdes. Davon, ob man das studiorum auf infelix oder immemor bezieht, ist sowohl die zeitliche als auch die personelle Zuordnung der Bemühungen abhängig. Eine fehlende Erinnerung auf Seiten des Pferdes kann sich ausschließlich auf eigene Bemühungen aus der Vergangenheit beziehen. Nähme man hingegen einen Bezug zu infelix an, bestünde einerseits die Möglichkeit, dass es sich um die Tätigkeit des Bauern handelt (und damit in Einklang mit der sonstigen Verwendungsweise im dritten Buch stünde); andererseits wäre auch die Frage nach der zeitlichen Einordnung noch nicht eindeutig zu beantworten, da sich die studia sowohl auf die Gegenwart als auch auf die Vergangenheit beziehen können. Im Rahmen dieser Überlegungen ist erneut darauf hinzuweisen, dass es sich bei den Versen 498–502 (ähnlich wie in 3,486–488 und 515–524) um eine konkrete Situation handelt, die dem Rezipienten vor Augen gestellt wird. Entsprechend bildet der Passus eine geschlossene zeitliche Abfolge einer beobachteten Szene, sodass sich die Semantik der studia aus dem Zusammen- hang ergibt: Zunächst strauchelt das Pferd während seiner Übungsversuche ( studia , demnach 369 Vgl. LHS II, 474f.
370 Vgl. Bickel, TLL II,2 (1904), s.v. averto , 1321, 11ff.
371 Vgl. Georg. 2,195 und 3,163, 179, 318.
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auf die Gegenwart bezogene Bemühungen372), wendet sich in der Folge vom Bauern und dem von ihm dargereichten Futter und Wasser ab und stampft zuletzt mit dem Huf auf den Boden. Der Gestus des häufigen Aufstampfens ist als Ausdruck der Machtlosigkeit aufzufassen.373 So verstanden fügt sich die Szene nahtlos zwischen die Szenen von Opfertier und Stieren ein, in denen die Einzelcharaktere ihr Tun fortsetzen, solange es ihnen möglich ist. Darüber hinaus evoziert die Szene damit das größtmögliche Ausmaß an Mitleid für das Pferd; dieses rezep- tionsästhetisch reizvollere Verständnis wird zusätzlich durch die logische Abfolge der Erzäh- lung notwendig gemacht, nach welcher der Rezipient und der Bauer die Zeichen des nahenden Todes im Anschluss am Pferd selbst sehen. Georg. 3,500–502 herab hingen die Ohren … hart und unnachgiebig : Mit diesen Symptomen verarbeitet Vergil die bei Lukrez versifizierte Facies Hippocratica (vgl. oben Komm. zu Lucr. 6,1192b–1196), indem insbesondere der Kopf des Pferdes zum Ge- genstand der Betrachtung wird.374 Nach der hier vertretenen Deutung des primis diebus (vgl. unten Komm. zu 3,503) handelt es sich auch bei der vorliegenden Stelle um Anzeichen des bevorstehenden Todes ( signa mortis ). Auffällig ist Vergils Ergänzung in Hinsicht auf die kalte Temperatur des Schweißes, der in einer weiterführenden Spezifikation ( et ille quidem ) als typi- sches Merkmal von Sterbenden ( morituris ) charakterisiert wird.375372 Vgl. Nappa (2005), 151 und für einen ähnlichen Gedanken auch die Rezeption in Lucan. 6,86f. ore novas poscens moribundus labitur herbas | et tremulo medios abrumpit poplite gyros (‚… fordert es todgeweiht mit dem Maul frisches Gras und stürzt, es bricht seine Trainingsrunden in der Mitte mit zitterndem Knie ab.‘, vgl. dazu König 1957, 48).
373 Mit Sittl (1890, 16) ist anzumerken, dass bei Menschen das Aufstampfen nicht nur als Gestus der Wut, sondern auch als einer der Begeisterung verstanden wurde. An dieser Stelle zeigt der häufig zu lesende Verweis auf Veg. mul. 2,12,1 an, dass es sich beim beschriebenen Verhalten auch um einen Ausdruck des Schmerzes handeln kann. In Georg. 3,256 zeigt sich zwar ein ähnlicher Gestus im Kontext der Raserei, doch darf die Wut, die in der Folge durch die Zugabe von Wein entsteht, nicht bereits an dieser Stelle angesetzt werden. Deshalb sollte das mehrmalige Aufstampfen als Mittel, Mitleid zu evozieren, angesehen werden – wenngleich Mynors (1990, 253) in der Tradition von Hey-ne meint, gemäß Tragödientheorie eine strikte Trennung der intendierten Gefühle in den Passus von Pferd und Stier vornehmen zu müssen.
374 Vallillee (1960, 78–81) betont die Verdichtung der breiten Symptombeschreibung des Lukrez auf nur wenige Verse in den Georgica .
375 Farrell (1991, 84) sieht hierin ein klares Indiz für die Verwendung medizinischer Fachliteratur und vergleicht Hp. Aph. 4,37 (= 4,516 L.) οἱ ψυχροὶ ἱδρῶτες, ξὺν μὲν ὀξεῖ πυρετῷ γινόμενοι, θάνατον, ξὺν πρηϋτέρῳ δὲ, μῆκος νούσου σημαίνουσιν. (‚Kalter Schweiß bedeutet, wenn er mit hohem Fieber ein-hergeht, Tod, wenn aber mit niedrigerem, eine sich lang hinziehende Krankheit.‘). Wenngleich der Gedanke ursprünglich Fachleuten zueigen gewesen sein mag, ist eine weite Verbreitung angesichts seiner Eingängigkeit doch sehr wahrscheinlich. Kazantzidis (2021, 66) und Rover (2021, 40) sehen diesen Gedanken bereits bei Lukrez umgesetzt.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Georg. 3,503 zeigten / dant: Unklar ist, welche Tiere durch dant bezeichnet werden, d. h. welches Subjekt zu ergänzen ist; die Mehrheit der Kommentatoren schweigt über den plötzlichen Plural. Die wenigen, die sich äußerten, sprachen sich für eine Ausweitung der Beobachtung auf alle Pferde ( equi ) aus.376 Sicher ist, dass durch das anaphorische haec die an einem Pferd exemplarisch dargelegten Anzeichen des Todes nun auf eine größere Anzahl von Tieren übertragen werden. In Bezug auf die Frage, welche Tiere gemeint sind, gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder es handelt sich um alle Pferde oder um alle vorher genannten Tiere ( vituli, canes, sues, equus ). Letztere Auf- fassung zu vertreten fällt deshalb schwer, weil der Plural lediglich als eine Vorwegnahme der im folgenden Abschnitt behandelten Pferde und damit als unangekündigter Übergang von der konkreten Szene zu allgemeiner Betrachtung erscheint. Ob deshalb mit Conte der Vers 503 zum nächsten Abschnitt zu rechnen ist, bleibt jedoch aufgrund des anaphorischen Charakters des Demonstrativums fraglich. Georg. 3,503 vor ihrem Tod in den ersten Tagen / ante mortem primis diebus: Der alternative Krankheitsverlauf des nachfolgenden Abschnittes wird den Symptomen ante mortem primis diebus gegenübergestellt. Hier ist eine Untersuchung des Ausdrucks primis die- bus (‚in den ersten Tagen‘) vor dem Hintergrund der Fachliteratur notwendig.Im Bereich der Pflege wird dieser erstmals von Varro für die Aufzucht von Hühner- und Gänseküken verwen- det, was Columella übernimmt.377 Für das Verständnis unseres Passus ist jedoch die Verwen- dung in medizinischen Fachschriften entscheidend: Mit Blick auf die hippokratischen Schrif- ten, Celsus und Scribonius Largus ist festzustellen, dass es sich bei dem Ausdruck um eine feste Wendung handelt, die eine zeitliche Zuordnung von Symptomen oder Behandlungsmethoden zum Ziel hat.378 Damit ist plausibel zu machen, dass es sich bei Vergil um die Aufnahme eines Gliederungselementes aus der zeitgenössischen medizinischen Fachliteratur handelt, das sich 376 Vgl. Voss (1800), 658 und Mynors (1990), 253.
377 Vgl. Varro rust. 3,9,13, 3,10,4 und Colum. 8,5,19, 8,14,8 (jeweils mit Ergänzung durch eine Zahl oder zeitliche Klassifikation). Im Militärwesen wird der Ausdruck bspw. dann verwendet, wenn der Ver-lauf einer Schlacht oder einer Expedition in unterschiedliche Phasen eingeteilt werden soll, so etwa Liv. 36,23,4: hoc primis diebus , dum integrae vires erant, et frequentes et impigre fecerunt, in dies deinde pauciores et segnius und Caes. civ. 1,18,4 Caesar primis diebus castra magnis operibus munire et ex finitimis municipiis frumentum comportare reliquasque copias exspectare instituit .
378 Dass es sich bei den ersten Tagen um einen gesonderten Zeitabschnitt handelt, zeigen bspw. Hp. acut. 11 (= 2,306 L.); Hp. Epid. 7,1,3 (= 5,368 L.); Cels. 3,4,2 et ante omnia quaeritur, primis diebus aeger qua ratione continendus sit (in Bezug auf Fieber) und 3,15,1 Sed cum haec tarde admodum finiatur nisi primis diebus discussa est, diligentius ab initio praecipiendum est, quid in ea fieri debeat . (zur febris quartana ) 3,25,3 vinum praeterquam primis diebus recte datur (zur sog. Elephantiasis). Scri-bonius Largus unterscheidet zu Beginn seiner Compositiones die Behandlung von Kopfschmerzen primis diebus und pluribus diebus (Scrib. Larg. 1 und 3).
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(für uns fassbar) wieder in derjenigen des ersten nachchristlichen Jahrhunderts niedergeschla- gen hat. Der Dichter grenzt demnach zwei potenzielle Krankheitsphasen voneinander ab: Der zeitnah nach der Erkrankung eintretende Exitus primis diebus gegenüber einem processus , der es dem Hirten erst möglich macht, zu reagieren und eine Form der Medizin (in diesem Falle Wein) anzuwenden – freilich ohne Erfolg.379 Bemerkenswert ist schließlich die Vorstellung, dass Krankheiten über einen längeren Zeitraum in ihrer Intensität abnähmen, so etwa Cels. 2,5,1:Post haec indicia votum est longum morbum fieri: si<c> enim necesse est, nisi occidit. Neque vitae alia spes in magnis malis est, quam ut impetum morbi trahendo aliquis effugiat por- rigaturque in id tempus, quod curationi locum praestet.
Nach diesen Aussagen ist zu wünschen, dass eine Krankheit lange andauert: denn so geschieht es not-wendigerweise, wenn sie einen nicht tötet. Keine an-dere Hoffnung auf Überleben besteht im großen Übel, als dass man der Wucht der Krankheit dadurch ent-kommt, dass sie in die Länge gezogen wird, und dass die Zeit sich zu dem Zweck verlängert, Raum für die Heilung zu schaffen. Sollte diese Hoffnung auf Seiten der Rezipienten bestanden haben, wird sie gnadenlos ent- täuscht, indem das Ende des processus den plötzlichen Kollaps des Pferdes in seiner Grausam- keit sogar in den Schatten stellt.380 Georg. 3,505 brannten die Augen : Ob das Bild des Feuers ( ardentes ) die Rötung der gereizten Augen oder ihre physiologische Folge, d. h. vermehrte Tränenflüssigkeit und daraus resultierendes Glänzen, bezeichnet, ist schwer zu sagen. Der Ausdruck verdient vermutlich mehr Aufmerksamkeit, als ihm bislang zuteil wurde: Zu Recht wurde auf die Parallele in Lucr. 6,1146 hingewiesen, wo es die Rötung war, die sich wie ein eigenes Licht in die Augen ausbreitete ( suffusa ). Doch scheint an dieser Stelle eine Wesensveränderung dahingehend vorzuliegen, dass Feuer in den Augen zumeist mit Mut und Kampfesbereitschaft assoziiert wird; dies wiederum sind Eigenschaften, die dem
379 Trevizam (2014, 177f.) liegt mit seiner Einteilung in zwei Phasen zwar richtig, begründet sie jedoch fälschlich aus einer vermeintlichen Phasierung in den Versen 482–485 (s. Komm. zur Stelle). Nicht ganz treffend ist weiterhin der von Vallillee (1960, 85) vorgenommene Vergleich mit Lucr. 6,1225–1228, da dort die Unzuverlässigkeit desselben Heilmittels bei verschiedenen Patienten, hier jedoch die verschlechternde Wirkung eines Mittels bei einem Patienten beschrieben wird.
380 Vgl. hingegen Paul. Diac. hist. 2,4, wo er mit sin vero zwar ebenfalls eine Einteilung zwischen der Erkrankung primis diebus und einem processus unternimmt, eine Überlebenswahrscheinlichkeit der Erkrankten nach den ersten drei Tagen jedoch als nicht unrealistisch einstuft ( habebat spem viven- di ). Zur Verwendung der Seuchenbeschreibung des Vergil bei Paulus Diaconus vgl. Grimm (1965), 105f.; Gasparotto (1967, 387) will an dieser Stelle einen Bezug auf Lukrez sehen.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung vom Dichter geschilderten Naturell der Pferde entsprechen und deren Übersteigerung im Wahn nun durch die ardentes oculi angekündigt wird.381 Georg. 3,506f. die Atemzüge wurden tief … Würgen : Die drei Verse schildern in einer Steigerung Anomalien des Atmungsvorgangs der Pferde.382 Mit attractus ab alto spiritus, interdum gemitu gravis wird zunächst die Ausatmung in den Blick genommen.Beim Spannen der Eingeweide durch singultus 383 verweisen die Kommentare auf Lucr. 6,1160, das Vergil zur Vorlage gedient haben dürfte.384 Wollte man jedoch davon aus- gehen, dass der Dichter das Wort nicht um seiner selbst bzw. des Effekts willen übernehmen,385 sondern mit ihm auf einen Bestandteil der Realität referieren wollte, mag es sich auf die Ver- haltensstörung des Koppens beziehen. Bei dieser Stereotypie „spannt [das Pferd] die ventrale Halsmuskulatur sichtbar an, wobei es zu einem charakteristischen Rülpsgeräusch kommt.“386 Bisweilen sei im Rahmen von Aerophagie auch eine Ausdehnung des Bauches zu beobach- ten.387 Mit Blick auf mögliche Konsequenzen der genannten Symptome ist anzumerken, dass
381 Brandmetaphorik zur Beschreibung des Zorns bei Vergil hat Rieks (1989), 175f. untersucht. Die
Kampfbereitschaft der Pferde wird in Verg. Aen. 12,101f., ihr Naturell in Georg. 3,207 beschrieben.
382 Der negative Einfluss unregelmäßiger und in ihrer Quantität uneinheitlicher Atmung wird in Hp. Coac. 255 (= 5,638 L.) beschrieben, zur Typologie s. Hp. Epid. 2,3,7 (= 5,108–111 L.).
383 Vgl. zum Sprachgebrauch den Tod des Sulmo in Verg. Aen. 9,414f.: volvitur ille vomens calidum de pectore flumen | frigidus et longis singultibus ilia pulsat. (‚Jener ergießt in Todeskälte einen heißen Strom aus seiner Brust und stößt seine Eingeweide mit einer tiefen Stoßatmung an.‘). Die Verbin-dung singultus longus wird zuerst von Vergil verwendet und erst später von den sog. flavischen Epikern semantisch vielfältig wieder aufgegriffen (Val. Fl. 6,511; Sil. 4,593 und Stat. Theb. 7,682). Hier wird angenommen, dass longus sowohl die zeitliche Dauer der Einatmung als auch die Menge der eingesogenen Luft bezeichnen soll. Mynors’ Verweis auf Nic. Ther. 434 ( λυγμοῖσι βαρυνόμενοι θαμέεσσιν ) entspräche wohl eher der Verwendung bei Val. Fl. 3,338 ( hunc crebris quatiens singulti- bus ).
384 Dass Vergil hier ein Symptom aus einer Krankheitsschilderung am Menschen in die Veterinärmedi-zin überträgt, scheint auch ein Blick in die veterinärmedizinische Fachliteratur zu bestätigen. Weder Varro, Columella und Plinius noch Pelagonius, Palladius und Vegetius führen das Symptom des sin- gultus an. Lediglich in der Mulomedicina Chironis (6,20 [549]) liest man Folgendes: Si strumis vexari coeperit, signa haec erunt. infra auriculas intumescunt usque ad iugulum interdum, et tractus longus aurae erit et singultus, nec salivas continet, currunt pinguitudines similes de ore . (‚Wenn das Zugtier begonnen hat, an Schwellungen zu leiden, wird es diese Anzeichen geben: Unterhalb der Ohrläpp-chen schwellen sie bisweilen bis zum Schlüsselbein an, und der Atemzug wird lang sein und singultus wird auftreten, nicht behält es seinen Speichel und fettige Flüssigkeit rinnt aus seinem Maul.‘)
385 Vgl. z. B. West (1979): „Virgil has drawn upon Lucretius’ symptomology for an account which has no co-herence and makes no clinical sense, but which does produce a vivid and affecting picture of a sick horse.“386 Toewe (2014), 13.
387 Zwar sind die Ursachen für das Koppen noch immer nicht eindeutig geklärt, doch scheint eine Kor-relation mit „einem intensiven Management, Training und restriktiver Haltung“ (Toewe 2014, 164)
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die Atmung von Platon und Aristoteles in Zusammenhang mit einer Kühlung der natürlichen Hitze des Organismus gebracht wird – eine ausbleibende oder schwergängige Atmung führte deshalb zu einer Hitzeakkumulation, die im vorliegenden Fall auch die Veränderung des Cha- rakters hat bewirken können.388 Georg. 3,507f. aus den Nüstern floss schwarzes Blut : Die erste Verbindung des Attributs ater mit sanguis geht der Überlieferung nach auf den Thyest des Ennius zurück, dessen allzu detailreiche Verwünschung von Cicero getadelt wird.389 Die erste Aufnahme des Ausdrucks findet sich in der Seuchenbeschreibung des Lukrez,390 der angesichts der verbalen Parallelen auch die Quelle für Vergils Verwendung gewesen sein dürf- te. Dieser greift es im dritten Buch der Georgica gleich zwei Mal auf,391 zunächst in 3,219ff.: pascitur in magna Sila formosa iuvenca: illi (sc. tauri) alternantes multa vi proelia miscent vulneribus crebris; lavit ater corpora sanguis …Es weidet im großen Wald Sila eine schöne Kuh: Jene [sc. die Stiere] fechten untereinander sehr brutale Kämpfe um sie aus und fügen sich viele Wunden zu. Ihre Körper baden in schwarzem Blut … Die nächste und einzige weitere Verwendung in den Georgica befindet sich in der Seuchen- beschreibung. Bemerkenswert ist der unheimliche Aspekt der dunklen Farbe (beim Vorgän- ger angedeutet durch das Attribut corruptus ), die nicht selten als böses Vorzeichen gedeutet zu bestehen. In der antiken Pferdehaltung, wie sie von Vergil beschrieben worden ist, gab es sicher-lich viele Gelegenheiten, Pferde beim Koppen zu beobachten und daraus Inspirationen für die Pest zu schöpfen.
388 Vgl. Plat. Tim. 84d, Ar. resp. 472a–b und Nutton (22013), 118f.
389 Vgl. Tusc. 1,106 (Jocelyn 150): exsecratur luculentis sane versibus apud Ennium Thyestes, primum ut naufragio pereat Atreus: durum hoc sane; talis enim interitus non est sine gravi sensu; illa inania: ‘Ipse summis sáxis fixus ásperis, evísceratus, | Látere pendens, sáxa spargens tábo, sanie et sánguine atro‘ (‚Thyestes wird bei Ennius mit recht hübschen Versen verwünscht, auf dass der Atride zunächst Schiffbruch erleide und sterbe; dies allein ist schon hart; denn ein solcher Tod ist sehr unangenehm; jene Worte sind also unnötig: „Aufgespießt oben auf den spitzen Felsen, ausgeweidet, an der Seite herabhängend und die Felsen mit Eiter, Wundflüssigkeit und schwarzem Blut bespritzend.“‘). Zur Darstellung der Farbe des Blutes in der lateinischen Dichtung vgl. André (1949), 328, nach dem das Adjektiv ater (31) gegenüber niger (9) Vorrang besitzt und das Blut in 43 % der Fälle schwarz be-schrieben wird.
390 Lucr. 6,1147f.: sudabant etiam fauces intrinsecus atrae | sanguine . Zwar ist auf syntaktischer Ebene das Attribut ater auf die fauces bezogen, doch ist semantisch eindeutig, dass die Färbung durch das Blut zustandekommt, das den Rachen hinunterläuft und ihn hierdurch schwarz färbt.
391 Vgl. Bannier, TLL II (1903), 1019, 5f., der sich jedoch mit der Einordnung von 3,507 unter vitulorum aegrotantium unnötig weit vom Text entfernt.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung wird.392 Wie bereits bei Lukrez festgestellt, wird Nasenbluten im Corpus Hippocraticum nicht grundsätzlich negativ beurteilt, sondern gilt nicht selten als notwendige Art des natürlichen Abflusses eines Krankheitsstoffes (Apostase, vgl. Anm. 189, S. 143). An dieser Stelle appelliert der Dichter jedoch wohl eher an die Laien- denn an die Fachmeinung, nach der Blutfluss aus der Nase schwerlich als etwas Positives gewertet wurde. Georg. 3,511 Bald war gerade er ihr Untergang : Die Verabreichung des Weines stellt sich als verhängnisvoll heraus, da dieser anstelle der erhofften Linderung der Symptome eine Verschlimmerung des Zustandes erzielt.393 Vor der ambivalenten Wirkung von Wein warnt auch Plinius der Ältere im einleitenden Passus zur Untersuchung der Weinsorten: „Weiterhin: Mit wie ungewissem Ergebnis wird das Getränk zum unmittelbar wirkenden Heilmittel oder Gift!“394 Die Verwendung von Wein in der Ve- terinärmedizin395 hat Tradition – bereits Cato mischte seinen Medikamenten drei Sextarien Wein bei, der sich seitdem als Standardmittel etablierte; auch später werden Risiken, wie sie in der vorliegenden Stelle impliziert werden, in der veterinärmedizinischen Fachliteratur eher selten benannt.396 Weiterhin bemerkenswert ist die Zuschreibung der Primärqualitäten ‚warm‘ und ‚trocken‘ im Gegensatz zum Wasser in Hp. vict. 2,52 (= 6,554 L.: Ὕδωρ ψυχρὸν καὶ ὑγρόν·
392 Vgl. prominent das prodigium in Verg. Aen. 3,27–29a: nam quae prima solo ruptis radicibus arbos | vellitur, huic atro liquuntur sanguine guttae | et terram tabo maculant . (‚Denn der Baum, dessen Wurzeln als erste aus dem Boden gerissen wurden, vergoss schwarze Blutstropfen und besudelte die Erde mit Eiter.‘)
393 Das Heilmittel, das die Krankheit letztlich verschlimmert, scheint zur Kaiserzeit sprichwörtlich ge-worden, vgl. Woodman (2010), 52.
394 Plin. nat. 23,31: praeterea quam ancipiti eventu potum statim auxilium fit aut venenum!
395 Freilich wurde Wein auch in der humanmedizinischen Diätetik genutzt, vgl. generell Jouanna (1996) und exemplarisch Hp. aff. 48 (= 6,258 L.). Celsus (3,7,1–2) unterscheidet im Weingebrauch bei epi-demischem Fieber und Brennfieber. Bei Ersterem ist warmer Wein zu verabreichen ( vinum calidum et meracium dare ), bei Letzterem nicht. Gerade zu Vergils Lebzeiten wurde die Verabreichung von Wein in der Medizin neu thematisiert, da der Arzt Asklepiades von Bithynien diesem eine bedeu-tende Rolle in seinem medizinischen System beimaß, das eine Alternative zur Humoralpathologie auf Basis einer Atomtheorie darstellte (vgl. oben Kapitel 1.2). Dazu exemplarisch Plin. nat. 23,38: Asclepiades utilitatem vini aequari vix deorum potentia posse pronuntiavit . (‚Asklepiades lehrte, der Nutzen des Gebrauchs von Wein könne kaum durch die Macht der Götter erreicht werden.‘). Ob die vorliegende Stelle bei Vergil eine Kritik an der allzu freizügigen Verwendung von Wein in der Medi-zin darstellte, ist nicht mehr festzustellen.
396 Vgl. für den Gebrauch Cat. Agr. 83, Gratt. 474–476, Colum. 6,30–35, insbes. 6,34,1 (Barton 2000, 115 Anm. 252 mit weiteren Verweisen) und zu gesundheitlichen Risiken Veg. mul. 2,9,7: Vinum num- quam dabis; capitis enim valetudo sumpto mero deterior efficitur . (‚Wein sollst du niemals verabrei-chen; denn die Kopfgesundheit verschlechtert sich nach Einnahme von Wein.‘). Pelagonius hingegen zählt in Kapitel 28 seiner Pferdemedizin den Wein zu den Potiones <omnes> et omni tempore neces- sariae . (‚Tränke, die allesamt zu jedem Zeitpunkt notwendig sind.‘)
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οἶνος θερμὸν καὶ ξηρόν [ thermón, xerón ]). Wurde oben ein Zusammenhang von fehlerhafter Atmung und Thermoregulation festgestellt, scheint nun auch der Wein eine Verlagerung der Temperatur zum Warmen hin zu induzieren.397 Georg. 3,514 mit bloßen Zähnen ihre Glieder in Fetzen : Die Pferde zerfleischen sich mit bloßen Zähnen – ein Übel, dessen Beschreibung durch den bereits genannten Ausruf (513) retardiert und damit zu einer tragischen Klimax inszeniert wird.398 Der Suizid der Pferde ist womöglich durch eine ähnliche Anekdote inspiriert, wie sie bei Arist. HA 631a über den equus Scythicus zu lesen ist, der sich nach der Erkenntnis der Deckung der eigenen Mutter von einer Klippe stürzt.399 Harrison hat plausibel gemacht, dass Vergil sich bei der Art des Suizids Lucr. 4,638f. zum Vorbild nahm:400 est itaque ut serpens hominis quae tacta salivis disperit ac sese mandendo conficit ipsa.Es steht daher fest, dass eine Schlange, die vom Spei-chel eines Menschen berührt worden ist, zugrunde geht und sich selbst mit einem Biss tötet.
397 Die Erhitzung durch Wein wurde sprichwörtlich, vgl. Otto (1890), 170. Ebenso wie die vorliegende Beschreibung sieht auch Varro rust. 2,1,22 die häufigsten Symptome in einer Überhitzung des Kör-pers: signa autem sunt, ut eorum qui [si] e labore febrem habent adapertum <os> umido spiritu crebro et corpore calido . (‚Anzeichen aber bestehen darin, dass der Mund derjenigen, die aufgrund von Anstrengung fiebrig werden, offen steht – der Atem ist häufig feucht, der Körper heiß.‘). Hierbei ist auch Cat. agr. 156,6 hervorzuheben, wo lediglich demjenigen, der kein Fieber hat, Wein verabreicht werden soll (anders Celsus, s. Anm. 395, S. 189).
398 Nach Raabe (1974, 50) „bleibt dem Tier, auch wenn es im Wahnsinn verendet, doch ein Schein inne-rer Würde. In seinem Sterben liegt eine Tragik, die Lukrez nicht kennt.“
399 In seiner Drastik kann die Art der Selbsttötung auch das exemplum des Cato nachbilden, wie auch bei Sen. epist. 95,68f. das Pferd und Cato in einen Zusammenhang gebracht werden. Vgl. zur Selbst-tötung im Fall von Krankheit Gourevitch (1969), zu Catos Einfluss Griffin (1986 a/b), van Hooff (1990), 47–54 und paradigmatisch die Romana mors des Festus als Reaktion auf die Verschlimme-rung seiner Krankheit in Mart. epigr. 1,78. Die Sekundärliteratur bezieht sich jedoch zumeist auf Fälle des ersten nachchristlichen Jahrhunderts, wenngleich die Akzeptanz des Freitods auch vorher gegeben war. Hervorzuheben ist dabei das (intendiert) theatralische Element des Freitods, bspw. durch die Länge des Aktes oder das Publikum, die soziale Komponente durch die Anwesenheit von Freunden und die Ruhe des Selbstmörders (vgl. Griffin 1986a, 65f.). Klammert man den Rezipienten als Publikum des Pferdesuizids aus, fehlen die Elemente eines für den Römer gelungenen Selbstmor-des, was angesichts der Verursachung durch den Wahn nicht verwunderlich ist: Gerade hierdurch muss die Beschreibung einerseits als befremdlich und andererseits besonders tragisch empfunden worden sein.
400 Vgl. Harrison (1979), 17.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Wenngleich Lukrez dadurch aufgegriffen scheint, ist zu betonen, dass der Suizid in Lukrezens Beschreibung keine Entsprechung findet. Damit bildet Vergil ein Bindeglied zwischen der Be- schreibung des Lukrez und des Ovid, der in Met. 7,604f. auch vom Selbstmord der Menschen berichtet.401 Georg. 3,515 Aber schau dort : Die Drastik der Schilderung des Selbstmordes der Pferde erfordert einen abrupten Szenen- wechsel, den der Dichter durch ecce vollzieht.402 In Verwendung und Funktion ist ecce nicht mit den beiden anderen Vorkommnissen in den Georgica zu vergleichen.403 Mit Blick auf die Aeneis und die späteren Epen ist die Verwendungsweise jedoch gängig und somit lediglich im Rahmen der Seuchenbeschreibung als einzige Überleitung dieser Art (auch im Kontrast zu 3,498, s. o.) zu erwähnen.404 Georg. 3,515 Stier / taurus: Im Lateinischen steht taurus (‚Stier‘), was jedoch an vielen Stellen der Sekundärliteratur mit ‚Ochse‘ übersetzt wird. Laut Fachschriftstellern (z. B. Colum. 6,20f.) wurden Stiere auch in rö- mischer Zeit für die Zucht verwendet. An dieser Stelle dient der Gebrauch möglicherweise dem Kontrast zwischen der kräftigen Natur des Stiers und seinem Zusammenbruch. Vergil wirkt dabei stilbildend für seine Nachfolger (Ov. met. 7,539 und Sen. Oed. 146). Georg. 3,516 brach … zusammen … von sich : Die Beschreibung des Todes erfolgt knapp und wirkt gerade hierdurch drastisch: Der Stier bricht bei der Arbeit zusammen ( concidit ), erbricht Blut und gibt einen letzten Seufzer von sich
401 Neben der literarischen Rezeption hat die Beschreibung möglicherweise auch eine Entsprechung auf der Sachebene: Automutilation ist eine schwere Verhaltensstörung bei Pferden, die an dieser Stelle zu einem Freitod übersteigert worden sein könnte. „Die gewöhnlichste Form der Selbstverletzung zeigt sich als Beißen in die Flanken, gelegentlich auch in die Haut von Brust und Gliedmaßen.“ (Wintzer 31999, 495).
402 Ein solcher Perspektivenwechsel zwischen Rind und Pferd zur sich ergänzenden Beschreibung ein und derselben Thematik ist den Rezipienten aus der ersten Hälfte des Buches durch die Erläuterung der Aufzucht der Tiere bekannt. Vgl. Georg. 3,51b–62 (Auswahl der Kuh), 72–102 (Auswahl des Hengstes), 138–178 (Aufzucht und Erziehung der Kälber), 179–208 (Aufzucht und Erziehung der Fohlen).
403 Vgl. Verg. georg. 1,108 und 407, die beide innerhalb der begonnenen Erzählung verbleiben. Nur an der vorliegenden Stelle dient es der Aufmerksamkeitsverschiebung.
404 Vgl. Verg. Aen. 2,57, wo von der allgemeinen Reflexion über Trojas Schicksal zum konkreten Bericht des Sinon gewechselt wird. In 2,203 wird ersichtlich, dass ecce auch die Aufmerksamkeit auf eine schreckenerregende Szene lenken kann.
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( vomit ore cruorem extremosque ciet gemitus ).405 Für diese Stelle wurde wiederholt eine Nach- ahmung von Lucr. 3,487ff. angemerkt:406 quin etiam subito vi morbi saepe coactus ante oculos aliquis nostros, ut fulminis ictu, concidit et spumas agit , ingemit et tremit artus, desipit, extentat nervos, torquetur, anhelat inconstanter, et in iactando membra fatigat.Oft sogar bricht einer, plötzlich von der Wucht sei-ner Krankheit überwältigt, vor unseren Augen wie vom Blitz getroffen zusammen , spuckt Schaum , stöhnt und zittert an den Gliedmaßen, ist von Sinnen, streckt seine Muskeln, verdreht sie, atmet unregelmäßig und ermattet letztlich am Umher-schleudern seiner Glieder. Eine Rezeption durch Vergil lag angesichts der zahlreichen Referenzen nah und wurde bislang auch von niemandem in Frage gestellt. Was nun aus diesem Bezug zu gewinnen ist, scheint schwieriger zu beantworten. Man könnte mit Farrell annehmen, dass zwar eine Bezugnah- me vorliegt, jedoch der Ursprungskontext nicht von Bedeutung sei, es handle sich lediglich um eine lexikalische Entlehnung.407 Dem ist jedoch nur mit einer kleinen Einschränkung zu- zustimmen: Der Ursprungskontext ist nämlich dahingehend nicht belanglos, dass eine ter- minologische Übernahme von einem Krankheitskontext408 in den nächsten die inhaltliche Parallele zur Voraussetzung hat. Darüber hinaus zeigt die Übernahme erneut, wie ähnlich das Krankheitserleben bei Mensch und Tier wahrgenommen wurde. Auffällig ist, dass Lukre- zens Schwerpunkt der Krankheitsschilderung (die Konvulsionen des Körpers)409 überhaupt nicht umgesetzt wurde, was gegen eine bewusste Übernahme dieses Passus durch den Dichter spräche. Welche Motivation im Falle einer Bezugnahme vorgelegen hat, sei es terminologische Not410 oder literarisches Spiel im Rahmen einer aemulatio , kann letztlich nicht entschieden werden.
405 Für die Umsetzung lukrezischer Dichtung im Rahmen der dritten Szene vgl. Harrison (1979), 16f. Bemerkenswert ist die Rezeption durch Sil. 10,241–246 im Löwengleichnis vor dem Hintergrund des heroischen Todes von Aemilius Paullus (beschrieben in beinahe 100 Versen, vgl. Hutchinson 1993, 289–294).
406 Vallillee (1960, 92) sieht im Scheitern und in der Schwäche des Stiers einen Hinweis auf Lucr. 6,1246ff.407 Vgl. Farrell (1991), 89.
408 Zu Parallelen von Lukrezens Beschreibung der Epilepsie und der medizinischen Fachliteratur vgl. Mazzini (1998), 17–21. Es ist hervorzuheben, dass sich der Lukrezpassus ausschließlich auf die Epi-lepsie bezieht. Kazantzidis (2017, 159 und 2021, 58) zeigt, dass an dieser Stelle konzeptuelle Parallelen zum Geschlechtsverkehr als Auswuchs der Liebeskrankheit vorliegen.
409 Vgl. Heinze (1897), 124f.
410 Eine solche Notwendigkeit ist allerdings vor dem Hintergrund der in Kapitel 1.2 beschriebenen, früh einsetzenden Entwicklung der medizinischen Fachsprache nicht unbedingt wahrscheinlich.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Georg. 3,517–519 Da ging der Bauer … in der Erde stecken : An dieser Stelle wird ein norischer Bauer als handelnde Person zum ersten Mal explizit ge- nannt.411 Es liegt ein Schwerpunkt auf der unvollendeten Tätigkeit, die einen starken Kontrast zur Beschreibung des Goldenen Zeitalters in Vergils Eklogen aufweist:412 Dort war der An- bruch eines neuen Zeitabschnitts nicht nur hinreichend für die Abnahme des Jochs, sondern auch Garant dafür, dass keine Feldarbeit mehr nötig sein würde – hier geht es schlicht nicht weiter. Daneben ist an der vorliegenden Stelle die Einheit von Mensch und Tier auf der Ebene der Emotion hervorzuheben, wenn der Bauer als tristis , der zweite Stier als maerens charakte- risiert wird. Häufig wurde auf die Vermenschlichung der Beziehung zwischen den Stieren hin- gewiesen ( fraterna morte ), die dem literarischen Prinzip des gesamten Werkes und insbeson- dere des dritten Buches entspricht.413 Der Ausdruck fraterna mors darf jedoch nicht zu stark belastet werden, wie es Gardner tut, wenn sie an diesem Ausdruck die Pest in den Bürgerkrieg transferieren will.414 Sicherlich sind die genannten Parallelen (auch zum Ende des ersten Bu- ches) signifikant, doch sollte dies nicht dazu führen, dass die Pest trotz ihrer philosophischen Eigenart lediglich als Verbildlichung des Bürgerkrieges gesehen wird. Georg. 3,520–523 Nicht konnten die Schatten … nicht der Strom : Mittels einer Rezeption von Lukrezens zweitem Buch415 folgt die Schilderung eines locus amoenus , dessen Anmut jedoch keine Auswirkung auf den Geist des Betrachters besitzt; wer dieser Betrachter ist, war und ist Gegenstand der Diskussion.416 Als Hinweis darauf, dass es
411 Der Bauer bildet eine historische Parallele zum Adressaten. Zur Diskrepanz zwischen intratextuellem (Bauern) und extratextuellem (senatorische Oberschicht, Octavian) Adressaten der Georgica vgl. Effe (1977), 87; Volk (2002, 136) sieht in der außergewöhnlichen Implementierung des Maecenas eine Ver-schmelzung beider. Das Motivelement des tristis arator war bereits in der Seuchenbeschreibung des Luk-rez hervorgetreten, der diese Form der Personeneinführung mehrmals in seinem Werk verwendet (Lucr. 6,1246ff.; 2,1164ff. und 5,933f.). Lühr (1973, 119f.) verfolgt das Motiv weiter über Ovid bis hin zu Manilius.
412 Verg. ecl. 4,41 robustus quoque iam tauris iuga solvet arator. (‚Auch wird der rüstige Bauer bald den Stieren das Joch abnehmen.‘)
413 Vgl. exemplarisch Gale (1991), 422f. Die Vorlage für eine derartige Betrachtung der Tierpsychologie können einige Passus bei Lukrez geliefert haben, vgl. Dierauer (1977), 197 Anm. 17. Bedenkenswert (wenngleich hypothetisch) auch Klingner (1967), 289: „Es ist keine Travestie, kein Spiel, das die Tiere vermenschlicht, kein Spiel mit Tiermasken. Virgil fühlt in der armen, dumpfen, leidenden Kreatur ein allgemeines Los sterblicher Wesen.“
414 Vgl. Gardner (2019), 129f. Glei (1991, 276) nimmt (vermutlich auch thematisch bedingt) eine ähnlich unvermittelte Übertragung vor.
415 Die Rezeption von Lucr. 2,352–366, wo eine Mutter ihr verlorenes Kalb sucht, wurde von vielen Sei-ten ausgeleuchtet, vgl. exemplarisch West (1979), 81–83.
416 In der Diskussion wurden beinahe sämtliche Positionen vertreten, sodass bereits Voss (1800, 662) sarkastisch urteilte: „[E]s fehlte nur noch, dass einer den schon gestorbenen Stier im Walde noch einmal sterben liesse.“
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sich um die Perspektive des Bauern handle, wurde angeführt, dass die Charakteristika des locus amoenus wohl eher aus der Perspektive eines Menschen denn aus der eines Stiers Geltung besäßen ( mollia prata , purior electro amnis ); doch können die mollia prata auch als bukolisches Element verstanden werden.417 Darüber hinaus verliert das Argument vor dem Hintergrund der festgestellten Einheit von Mensch und Tier noch mehr an Gewicht – es ist vielmehr denk- bar, dass die Relativierung der Schönheit der Natur418 (ebenso wie die Trauer, s. o.) im Ange- sicht der Pest beide gleichermaßen betrifft, wenngleich die Botschaft zwangsläufig anthropo- zentrisch ausgerichtet ist. Besonders in Anbetracht der oben skizzierten Vermenschlichung erscheint diese Position plausibel. Georg. 3,525f. Was nützen … umgewälzt zu haben : Hinsichtlich der Struktur ist eine Zweiteilung des Abschnitts festzustellen, die bereits durch die Syntax vorgegeben ist. Den ersten Teil bilden zwei rhetorische Fragen, die jeweils durch quid eingeleitet werden. Beide Fragen lassen sich sowohl konkret auf den Stier als auch allgemein auf den Menschen beziehen. Im ersten Fall wird die Mühe der Stiere im Angesicht ihres Todes einer- seits in Bezug auf das Ergebnis ( invertisse ), andererseits auf die Intention ( benefacta ) relativiert. Im zweiten Fall läge eine allgemeinere Form der Relativierung dahingehend vor, dass das gesam- te Tun des Menschen (in den Georgica verkörpert durch das Dasein des Bauern) im Verhältnis zum kollektiven und als ungerecht empfundenen Tod nichtig erscheint. Damit reihte sich die Aussage in eine populärphilosophisch-diesseitsverneinende Tradition kynisch-stoischer Art ein. Servius hingegen hat in seinem Kommentar die beiden Deutungsweisen (allgemein und konkret) an den Epikureismus angeschlossen:QUID LABOR AVT BENEFACTA IVVANT si neutrum mortem repellit, nec corporis exerci- tium nec mentis religio: nam si generalis est sen- tentia, secundum Epicureos contra religionem
Was nützen Mühen und Wohltaten , wenn nichts von beidem den Tod besiegt, weder die körperliche An-strengung noch die Religiosität im Geiste: denn wenn die Aussage allgemein ist, richtet sie sich gemäß den
417 Beispielsweise ist auch am Ende des ersten Wettgesanges bei Theokrit von weichen Wiesen die Rede
(Id. 6,45): ὠρχεῦντ’ ἐν μαλακᾷ ταὶ πόρτιες αὐτίκα ποίᾳ ; vgl. auch Verg. ecl. 7,45 somno mollior herba .
418 Diese Relativierung ist vor dem Hintergrund der zunehmenden Entwicklung einer Naturästhetik in Kunst und Literatur ab dem 1. Jahrhundert v. Chr. in ihrer Bedeutung zu unterstreichen. Das wachsende ökonomische Kapital führte dazu, dass die Landschaft nicht mehr lediglich der Ressour-cengewinnung diente, sondern selbst Gegenstand der Betrachtungslust der Römer wurde – Katja Schneider (1995, 79) sprach in diesem Zusammenhang von der ‚Entdeckung‘ der Landschaft, was al-lerdings vergleichbaren früheren Strömungen nicht gerecht werden dürfte. Neben einer verstärkten Idealisierung der Natur in Bukolik, Lyrik und Elegie ist auch eine weite Verbreitung der Landschafts-idylle in der Kunst festzustellen, vgl. Hinterhöller (2008).
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung est; si autem tantum ad bovem refertur, hoc di- cit: quid ei prodest labore suo aluisse mortales?
Epikureern gegen die Religion: wenn sie sich aber nur auf das Rind bezieht, sagt sie Folgendes: Was nützt es ihm mit seiner Arbeit die Menschen ernährt zu haben? Dabei erscheinen bei Servius die Wohltatenals Resultat religiöser Gesinnung. Das exercitium corporis dürfte sich nicht so sehr auf eine regelmäßige Übung des Leibes419 als vielmehr des- sen Verwendung im Rahmen körperlicher Anstrengung generell beziehen. Eine Reduktion auf labor im Fall einer konkreten Lesart (Stier) ist nur scheinbar notwendig, da seine benefacta ja gerade in jener Arbeit bestehen, wie auch aus den nächsten sechs Versen ersichtlich wird.420 Der Ausdruck ist demnach durch und durch mehrdeutig. Georg. 3,527–30 Dabei schadeten … gesunden Schlaf : Im zweiten Teil des Abschnitts wechselt der Dichter zu Aussagen über die Lebensführung des betroffenen Lebewesens. Blickt man nun etwas genauer auf die Art, wie diese Lebens- führung beschrieben wird, stellt sich schnell die Erkenntnis ein, dass auch an dieser Stelle mit einer Einheit von Mensch und Tier gespielt wird: Die Gegenüberstellung der beiden Le- bensentwürfe (luxuriös und unnatürlich vs. bescheiden und naturgemäß421) ist zugleich eine der Lebewesen. An eine Enthaltung von Massikerwein ( Massica Bacchi munera ) und mehr-
419 Andererseits kann Servius bereits an dieser Stelle den später von ihm festgestellten Bezug zur Medi-zin vorwegnehmen und die Leibesübungen als diätetische Maßnahme als nutzlos charakterisieren (wenngleich das Verhältnis zu ethischem Verhalten dann etwas locker wäre), vgl. Hp. vict. 1,2 (= 6,468–470 L.): Γνοῦσι δὲ τὰ εἰρημένα οὔκω αὐτάρκης ἡ θεραπείη τοῦ ἀνθρώπου, διότι οὐ δύναται ἐσθίων ὥνθρωπος ὑγιαίνειν, ἢν μὴ καὶ πονέῃ. Ὑπεναντίας μὲν γὰρ ἀλλήλοισιν ἔχει τὰς δυνάμιας σῖτα καὶ πόνοι, ξυμφέρονται δὲ ἀλλήλοισι πρὸς ὑγείην· (‚Ist das Gesagte verstanden, ist die Behandlung des Menschen noch nicht vollständig, weil ein Mensch nicht allein durch Essen gesund sein kann, wenn er nicht auch Sport treibt. Denn Nahrung und Sport haben zwar einander entgegengesetzte Wirkung, nützen jedoch gemeinsam der Gesundheit.‘). Zu dieser Parallele mag ihn gerade die Mehr-deutigkeit des labor bewegt haben.
420 Die Selbstaufopferung der Stiere durch ihre Arbeit für den Menschen wurde auch später von Ovid (Met. 15,120f.) in der Rede des Pythagoras vor dem Hintergrund der Kritik von Opferbräuchen ver-arbeitet: quid meruere boves, animal sine fraude dolisque, | innocuum, simplex, natum tolerare la- bores ? (‚Womit haben die Rinder das verdient, Tiere frei von Lug und Trug, unschuldig, aufrichtig, geboren, nur um Mühen zu erdulden?‘), vgl. Richter (1957), 323 mit weiteren Stellen, zu ergänzen durch Arat. Phaen. 132.
421 Womöglich ist es kein Zufall, dass hiermit exakt die Opposition von Land- und Stadtleben wider-gespiegelt wird, die auch eine zentrale Rolle im Restaurationsprogramm des Augustus spielt (vgl. dazu Eigler 2002 passim ). Es ist bemerkenswert, dass nach dieser Deutung die Rückbesinnung auf altrömische Werte angesichts der Pest nutzlos erschiene.
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gängigen Speisen ( epulae repostae 422 ) ist bei Tieren nicht zu denken, sondern bei Menschen;423 demgegenüber erfährt der Lebensentwurf der Bescheidenheit und Naturverbundenheit seine Ausformung in der Lebensart der Stiere, die sich an Kräutern ( frondibus, victu herbae ) satt- fressen und aus Bächen ( fontes, flumina ) trinken.424 Der gesunde, sorglose Schlaf kann sich wiederum auf Mensch und Tier beziehen. Folglich handelt es sich bei dem abschließenden Pas- sus um eine Klage, die zwar vom Tod der Stiere ausgeht, deren Formulierung jedoch über die ursprüngliche Bindung an die beiden Tiere hinausgeht und damit auf eine condicio communis von Stieren und Bauern ver- und auf das menschliche Dasein hinausweist. Servius hat zu Recht darauf hingewiesen, dass an dieser Stelle Bezug auf diätetische Rat- schläge von Seiten der Ärzte Bezug genommen wird:425 et per transitum tangit illa quae dicunt phy- sici, morbos venire ex cibi et potus nimietate vel mutatione, ex nimiis vigiliis et multa sollicitudine, dicitque etiam sine his nasci aegritudinem: nam in animalibus cum nihil horum sit, tamen aegritudinem cernimus.Im Vorbeigehen streift er jene Aussagen der Mediziner: Krankheiten resultierten aus einer zu großen Menge oder Unregelmäßigkeit von Speis und Trank, aus allzu langem Wachbleiben und großem Stress; und er sagt, dass sogar ohne diese Ursachen Krankheiten entstehen: Denn ob-wohl nichts von diesen bei Tieren zutrifft, sehen wir sie dennoch erkranken. Mit Blick auf diätetische Maßnahmen muss das Übermaß, das durch die epulae repostae na- hegelegt wird, auch auf den zuvor genannten Wein bezogen werden – schließlich wurde oben bei der Behandlung des Pferdes bereits gezeigt, dass Wein fester Bestandteil der Human- und Veterinärmedizin gewesen ist (vgl. Anm. 395, S. 189). Hierin liegt auch die Verbindung zum ersten Teil der Klage, in der ein Fokus auf dem Verhalten des Lebewesens zu liegen scheint:
422 Erklärte Servius repostae noch mit „aut abundantes, aut variae“, ist seit Coningtons Argumentation (51898, 334) opinio communis , dass dieser Ausdruck das erneute Auftischen beschreibt (vgl. OLD s.v. repono [2b], 1620).
423 Harrison (1979, 35f.) hat diesen Punkt zum Anlass genommen, die Ursache für die Pest u. a. in eben-diesem Luxus zu suchen – der redlichen Lebensweise der Tiere würde die Verkommenheit des Men-schen gegenübergestellt. Diese Deutung hängt zum einen am Verständnis der Verse 531ff., das noch zu besprechen sein wird, zum anderen müsste es nach Harrisons Interpretation verwundern, dass Vergil an keiner Stelle der Seuchenbeschreibung einen konkreten Hinweis darauf gibt, dass solche Exzesse stattgefunden haben.
424 Besonderes Gewicht erhält diese Ungerechtigkeit im Vergleich mit Lukrez, der einen starken Schwer-punkt auf die Gier und Verkommenheit der Erkrankten gelegt hatte.
425 Der Tod unabhängig von der gesunden Lebensführung ist ein Aspekt der Seuchenbeschreibung des Thukydides (2,51,3), der bei Lukrez keine Entsprechung gefunden hat. Man kann dies (mit der nöti-gen Vorsicht) zum Anlass nehmen, von einer direkten Benutzung durch Vergil zu sprechen.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Eine gute Ernährung und daraus resultierend physische Gesundheit hat in der Antike stets auch einen moralischen Charakter, sodass sich die Selbstbeschränkung des zweiten Teils sehr gut an den ersten anfügt.426 Schließlich stellt die Diätetik eine weitere kulturelle Errungen- schaft dar, die durch die Pest eine Relativierung erfährt. Georg. 3,531 Zu keinem anderen Zeitpunkt : Die Einleitung tempore non alio ist für die Interpretation des Passus von entscheidender Bedeutung: Harrison nimmt die Verse 531–533 als Ausgangspunkt für seine Deutung. Er gibt den Ausdruck mit ‚ in those days ‘ wieder und führt mehrere Stellen der Georgica an, mit denen er seine Interpretation stützen möchte.427Ausgelassen wurde in diesen Betrachtungen Georg. 3,245–248,428 dessen Bedeutung für die Semantik der vorliegenden Stelle aufgrund der paral- lelen Funktion am Ende der ersten Buchhälfte und der wortwörtlichen Entsprechung nicht gesondert hervorgehoben werden muss. Dort dient der zeitliche Ausdruck dazu zu sagen, dass zu keiner anderen Jahreszeit die Tiere so liebestoll sind wie im Frühling. Die Übersetzung muss demnach an beiden Stellen lauten: ‚Zu keinem anderen Zeitpunkt‘. Die Besonderheit der Suche hat Richter in seinem Kommentar herausgestellt, indem er das Noricum als viehreiches Gebiet hervorhob. Georg. 3,531 so sagt man, seien in jenen Gegenden : Die Vieharmut wird in ihrer Einmaligkeit vom Dichter unbekannten Sprechern zugeordnet ( dicunt )429 und speziell auf regionibus illis bezogen, sodass die Übertragung des Iunorituals in
426 Zum Zusammenhang insbesondere von Ethik und Diätetik vgl. Wöhrle (2016), 87f.: „Ein Grund-prinzip blieb jedoch für die gesamte antike wissenschaftliche Medizin weiterhin gültig: Die Gesund-heit wurde als ein wie auch immer genau definierter Gleichgewichtszustand oder besser eine ideale Proportionalität der im Menschen wirksamen Kräfte im Verhältnis zu seiner Umwelt betrachtet, Krankheit als ein Ungleichgewicht, das man selbst, etwa durch falsche Ernährung, verschulden konnte oder das auf ungünstige Umwelteinflüsse respektive – in modernen Begriffen – genetische Anlagen zurückzuführen war.“ Eine explizite Ausformung dieses Zusammenhanges findet sich häu-fig in der Gattung der Philosophenbiographien, vgl. Luchner (2010).
427 Vgl. Harrison (1979), 37f.
428 tempore non alio catulorum oblita leaena | saevior erravit campis, nec funera vulgo | tam multa infor- mes ursi stragemque dedere | per silvas; tum saevus aper, tum pessima tigris. (‚Zu keiner anderen Zeit [sc. als im Frühling] streunt die Löwin uneingedenk ihrer Jungen wilder auf den Feldern, und nie töten die hässlichen Bären vielerorts in größerem Maße und schichten die Leichen in den Wäldern aufeinander; dann wütet der Eber, dann ist die Tigerin am gefährlichsten.‘)
429 Diese Zuordnung ist weder willkürlich noch ein Anzeichen dafür, dass an dieser Stelle ein Wechsel in der erzählten Zeit vorliegt (anders Harrison 1979, 38f.): Eine Aussage darüber, dass eine solche Situation in diesen Gegenden bislang noch nie aufgetreten ist, übersteigt schlicht die Kompetenz des Dichters und wird deshalb einer unbestimmten Menge zugeordnet; somit wird die Authentizität der Information nicht weiter hinterfragt.
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das Noricum eine bewusste Entscheidung des Dichters gewesen und keine Ortsunabhängig- keit des Narrativs zu vermuten ist.430 Nicht ernst genug genommen wurde die Möglichkeit, dass der Dichter im dicunt nicht nur eine narrative Floskel, sondern seine (erdachte) Quelle für die Seuchenbeschreibung angibt. In diesem Fall fingierte Vergil ein Gespräch mit Nachkom- men von Geflohenen, die ihm von dem Ereignis berichtet hätten. Eine solche Quellenangabe diente primär dem Zweck, den Eindruck eines historischen Geschehens und der Verlässlich- keit der Erzählung zu verstärken, wie sie bspw. diejenige des Thukydides ganz natürlich durch dessen eigene Erkrankung an der Pest erhielt. Georg. 3,532f. von einem ungleichen Paar von Auerochsen / uris imparibus: Besonderes Augenmerk hat auch der Ausdruck uris imparibus als Ergebnis der Suche er- fahren. Mit Verweis auf 3,169 iunge pares 431 und den religiösen Anspruch der Gleichförmigkeit im Kult432 sind alle textimmanenten Punkte benannt, von allzu ausschweifenden Auslegungen sollte abgesehen werden.433 Die Tatsache, dass ein unterschiedliches Gespann verwendet wird, widerspricht damit sowohl irdischen als auch überirdischen Regeln und zeigt die Not der Si- tuation auf. Georg. 3,534 Infolgedessen / Ergo: Das ergo setzt das zweite Verstripel mit dem ersten in eine konsekutive Beziehung und setzt eine Priorisierung der Verwendung von Nutztieren voraus. Dabei ist der kultische Kontext430 Eine ähnliche Übertragung findet sich 1. Sam. 4–6, wo das geschilderte Abwehrritual gegen die Pest zwar den Philistern zugeschrieben wird, jedoch eigentlich als ein Reflex der israelitischen Vorge-hensweise gesehen werden muss (vgl. Huber 2005, 73–81). Auf vergleichbare Weise scheint hier ein Stück griechisch-römischer Ritualpraxis in den fremden Kontext des Noricums versetzt.
431 Vgl. Mynors (1990), 256 und bereits Varro rust. 1,20,1. Eine ausführlichere Schilderung findet sich in der spätantiken Rezeption des Endelechius, De mortibus boum 37–40: Aetas consimilis, saetaque concolor, | mansuetudo eadem, robur idem fuit | et fatum, medio nam ruit aggere | par victum parili nece . (‚Ein ähnliches Alter, die gleiche Fellfarbe, gleich zahm und gleich stark waren sie – und teilten dasselbe Schicksal: Denn mitten auf einem Erdhügel wurden sie gleichermaßen vom selben Tod niedergestreckt.‘)
432 Vgl. Latte (1960), 209–211. Wann immer im Rahmen unseres Vorhabens von einer Orthopraxie der römischen Religion ausgegangen wird, findet dies in der Klientel der jeweiligen Werke ihre Begrün-dung. Ältere ebenso wie aktuelle Untersuchungen der Religionsforschung betonen die Schwierigkei-ten, die in der Überlieferung skizzierte Religion als diejenige anzusehen, die auch im Alltag prakti-ziert worden ist (vgl. ibid. und Rüpke 2014, 20f.). Dennoch ist es m. E. zulässig anzunehmen, dass der Dichter mit Blick auf die Rezipienten auf ein Konstrukt von Religion anspielen konnte, dass diesen aus der übrigen Literatur bekannt geworden und zu einer Vorstellung korrekter römischer Religions-ausübung gefertigt worden ist.
433 Beispielsweise vermutete Jonathan Foster (1988, 41), es verberge sich eine Aristeia der Bauern in der
Nennung der uri , deren Zähmung schließlich bei Caesar (Gall. 6,28) als unmöglich dargestellt werde.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung (und damit die Kommunikation mit der göttlichen Sphäre) wichtiger einzustufen als die Be- stellung der Felder. Wenn nun selbst für den Opferungsbetrieb, trotz erhöhter Bemühung und klar definierter Vorgaben, kein Vieh bis auf Auerochsen gefunden werden konnte, so war ge- wiss auch keines da, um Arbeiten von Landbau und Warentransport zu übernehmen.434 Da- raus folgt, dass dieser Passus ein Ausdruck der pietas der Hirten und Bauern darstellt und gerade nicht dazu geeignet ist, deren Schuldigkeit zu beweisen (vgl. Anm. 423, S. 196). Georg. 3,535 montisque per altos: Conte druckt in der Teubneriana die Variante arduos von P , die erstmals von Sabbadini präferiert und zuletzt von Holzberg im Text abgedruckt wurde. Aus paläographischer Sicht stehen M und R gegen P . Bemerkenswerterweise behauptet Heyworth in seinem Review zu Contes Ausgabe, dieser führe zwingende Argumente für die Einsetzung der Variante – nach diesen sucht man jedoch vergeblich.435 Anlass für die Übernahme der Variante ist die Vorstel- lung, dass der Versschluss aus 3,412 ( montisque per altos ) dem Schreiber noch in Erinnerung gewesen sei, als er den vorliegenden Vers schrieb, und das ähnlich lautende arduos durch das bekannte altos ersetzte. Neben dem paläographischen Argument liest man auch ein inhalt- liches: Mit steilen Bergen sei der Sinn besser erfasst als mit hohen, da die Anstrengung der Menschen betont werden solle. Nun ist zweifelsohne ein steiler Berg in seiner Widrigkeit dem Lastenträger gegenüber ein- deutiger, als wenn lediglich seine Höhe genannt wird. Jedoch ist für den vorliegenden Passus zu hinterfragen, ob es überhaupt um die Widrigkeit des Terrains geht. Der Fokus scheint m. E. auf der technischen Rückentwicklung der Menschen und der automatisch daraus resultieren- den Anstrengung zu liegen. Diese wird eindeutig gekennzeichnet durch aegre, ipsis unguibus, contenta cervice . Über die Widrigkeit der Natur selbst wird keine Aussage getätigt (bspw. die Festigkeit des Bodens);436 die Dramatik der condicio humana ohne ihre Nutztiere gewinnt viel-
434 Diese Deutung richtet sich gegen die Auffassung von Harrison (1979, 36f. und 39), der im ergo nur nach seiner Interpretation göttlicher Verursachung einen Sinn erkennen kann. Als Einwand gegen seine Theorie kann neben der semantischen Klärung des tempore non alio auch die Frage dienen, warum die Bauern, wenn das Suchen nach Tieren nachlässig und zu einem Zeitpunkt geschah, als Tiere noch im Überfluss vorhanden waren, ausgerechnet uri ausgewählt haben sollen (vgl. dazu auch Anm. 433). Sicherlich hätte es eine einfachere Möglichkeit gegeben.
435 Vgl. Heyworth (2014), https://bmcr.brynmawr.edu/2014/p.vergilius-maro-bucolica-georgica. bibliotheca-scriptorum-graecorum-et-romanorum-teubneriana-2011/ (letzter Zugriff: 23.03.22). Conte selbst führt in seinem kritischen Apparat lediglich eine Parallelstelle für eine Synizese in Georg. 2,180 an.
436 Man vergleiche nur die effeta tellus am Schluss des zweiten Buches von Lukrezens De rerum na- tura , die dem betrübten Bauern auch unter Schwerstarbeit nur kümmerliche Erträge liefert (Lucr. 2,1150–1174).
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mehr dadurch an Gewicht, dass sich die Natur nicht als Gegenspielerin positioniert und der Mensch in der Reduktion auf seinen Körper trotz gleichbleibender Verhältnisse der Umge- bung dennoch nicht genügt.437 Selbst wenn man die Erschwerung menschlichen Handelns auf die Natur zurückführen wollte, bestünde immer noch keine Notwendigkeit, altos in arduos abzuändern: Spricht der Dichter von hohen Bergen im Noricum, wird der Rezipient sicherlich keine befestigte Straße, sondern Bergpässe vor Augen gehabt haben, die für die plaustra einen ebenso schwierigen Transport verhießen. Zusätzlich zu diesen inhaltlichen Argumenten folgt noch eine sprachliche Beobachtung. Der Versschluss montisque per arduos würde hier singulär verwendet, der Dichter selbst verwendet arduus nicht attributiv in der Verbindung mit mons . Stattdessen findet sich zwei Mal die Wendung ardua montis , die auch von späteren Autoren wieder aufgegriffen worden ist.438 Zuletzt ist darauf zu verweisen, dass der nachfolgende Pas- sus (s. u.) möglicherweise inhaltlich auf Georg. 3,404–413 zurückgreift – eben jene Verse, aus denen der Versschluss montisque per altos übertragen zu sein schien. Aus paläographischen, inhaltlichen sowie sprachlichen Gründen ist deshalb altos der Variante arduos aus P vorzu- ziehen. Georg. 3,537–540 Nicht kundschaftete der Wolf … umher : Der Dichter führt den Rezipienten durch mehrere Adynata,439 die das Motiv des saeculum aureum anklingen lassen, in die Irre;440 erweckt die anfängliche Formulierung den Anschein437 Einen Schwerpunkt auf die Tätigkeit der Bauern und nicht deren Umgebung nimmt auch Clare (1995, 96) mit seiner „cruel parody of efficient farming“ an. Klepl (1940, 72) deutet das Geschehen positiver, in dem sie in den Versuchen „den standhaften Willen des Menschen gegen die Zerstörung“ sehen will.
438 Vgl. Verg. Aen. 8,221; 11,513; Ov. met. 8,692; Val. Fl. 3,694; Sil. 3,480; 497; 13,610 und 15,493.
439 In seiner Kategorisierung von Adynata stellt Canter (1930, 39) fest: „In content by far the greater number of the ἀδύνατα express reversals of nature, as in animals (habitat, mode of life, disposition, physical form, strange associations and monstruous matings)“.
440 Der Abschnitt ist als „Travestie“ des Goldenen Zeitalters bezeichnet worden. Der Schein des Golde-nen Zeitalters wird zum einen durch das Hinzukommen positiver Elemente (Anspülen der Fische, Hinabfallen der Vögel), zum anderen durch das Wegfallen negativer Elemente (Zähmung der Wölfe, Tod der Schlangen) erweckt, die den labor des Menschen hinfällig machen; mit Veit (1961, 44f.) kön-nen diese Elemente den Grundzügen des ‚ewigen Frühlings‘ und ‚ewigen Friedens‘ zugeordnet wer-den. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Pest eine Art ‚Zerstörerin‘ der von Ju-piter eingerichteten Ordnung zu sein scheint (vgl. zum Kontrast Hes. op. 90–105): Die räuberischen Wölfe, die giftigen Schlangen, Jagd und Fischerei sind alle Bestandteile der göttlichen Theodizee im ersten Buch und erfahren durch die Pest eine Relativierung bzw. Aufhebung (vgl. Verg. georg. 1,129f. und 139–142, in Teilen auch von Gardner 2019, 211 angeführt). Daher ist Klepls (1940, 73; contra West 1979, 83) Folgerung zu unterstreichen: „Es gibt nichts Widermenschliches, was nicht zugleich Widergöttliches und Widernatürliches wäre: in diesem Sinne ist die Seuche bei Vergil wirklich Welt-zustand.“
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung eines friedvollen Miteinanders von Beute und Jäger, wird bereits am Ende von Vers 538 of- fenbar, dass diese Harmonie trügt. Tatsächlich stellen die Wesensveränderung des Wolfes durch die acrior cura (‚ärgere Sorge‘) sowie der Übermut der Gämsen und Hirsche idylli- sche Zustände vor den makabren Hintergrund ihrer Krankheit, „it is a tranquility achieved through death rather than concord“.441 Gerade das Wecken zeitlich begrenzter Hoffnung durch die Anknüpfung an eine bekannte Szenerie mit anschließender Ernüchterung erzielt einen pathetischen Effekt. Daneben dürfte das in den Städten umherschweifende Wild in antiken Rezipienten ein Gefühl des Unheimlichen verursacht haben, erinnert es doch an die zahlreichen Sichtungen von Wölfen in Städten, die als prodigia eingestuft worden sind.442 Zwar sind Hirsche im Zusammenhang mit Prodigien nicht direkt überliefert, doch legt der analoge Akt der Transgression einen solchen Vergleich nahe.443 Darüber hinaus schließt der Dichter mit einem prodigium an, das wiederum aus der Überlieferung bekannt ist, dem An- spülen von Fischen,444 sodass man nicht zu weit geht, wenn man neben der Travestie des Goldenen Zeitalters auch den Charakter des Unheimlichen durch mehrere Prodigien her- vorhebt.445
441 Gardner (2019), 127. Als Vorlage sind Verg. ecl. 5,60f. nec lupus insidias pecori, nec retia cervis | ulla dolum meditantur (‚Nicht sinnt der Wolf danach, das Kleinvieh in einen Hinterhalt zu führen, keine Netze planen eine List gegen die Hirsche.‘) und Verg. ecl. 8,27f. anzusehen: aevoque sequenti | cum canibus timidi venient ad pocula dammae . (‚Im kommenden Zeitalter werden die furchtsamen Gäm-sen gemeinsam mit den Hunden zur Tränke kommen.‘). Gerade der Vergleich mit der fünften Ekloge bildet einen starken Kontrast: Die Verse stehen im Zusammenhang der Vergöttlichung des Hirten Daphnis, der durch die beschriebenen himmlischen Zustände (wohlverdiente) Muße ( otium ) erlangt.
442 Vgl. Obseq. 13, 43, 49, 52 und 63; für eine Übersicht der prodigia , in der neben Wölfen auch Eulen in den Städten gesichtet werden vgl. Rasmussen (2003), 53–116, eine ausführliche Besprechung liefert Engels (2007).
443 Zum Aspekt der Liminalität im Zusammenhang der Prodigien vgl. Rosenberger (1998), 107–126.
444 Vgl. Obseq. 29 und besonders 68 (44 v. Chr.): Hostiae grex piscium in sicco reciproco maris fluxu relictus. Padus inundavit et intra ripam refluens ingentem viperarum vim reliquit. Inter Caesarem et Antonium civilia bella exorta. (‚In Ostia wurde bei Ebbe ein Fischschwarm auf dem Festland zurückgelassen. Der Po schwoll an und hinterließ bei seinem Rückfluss am Ufer eine gewaltige Menge an Vipern. Zwischen Caesar und Antonius brach der Bürgerkrieg aus.‘). Perkells (1989, 121) Idee, dass die angespülten Fische an das Goldene Zeitalter erinnern sollen, erscheint aufgrund des Zusatzes ceu naufraga corpora unwahrscheinlich (s. Anm. 450, S. 203). Ohnehin ist der Verweis auf Georg. 1,141f. nur bedingt hilfreich, da dort und auch sonst nirgendwo die Rede davon ist, dass Fischreichtum Bestandteil des saeculum aureum ist; die Tatsache, dass die Menschen zu fischen be-ginnen, ist vielmehr Ausdruck der curae , die Jupiter in deren Herzen sät, und kein Substitut vorher herrschender Zustände.
445 Toner (2013), 110f. vertritt die Position, dass die Beschreibung von Prodigien als eines der Haupt-merkmale römischer Katastrophenschilderungen anzusehen ist, was sie als ein attraktives Unter-suchungsfeld für die Vorstellungsgeschichte zu Vorzeichen auszeichnet, s. Anm. 115, S. 35.
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Zudem nimmt Vergil in diesen vier Versen möglicherweise Bezug auf Georg. 3, 404–413:Nec tibi cura canum fuerit postrema, sed una velocis Spartae catulos acremque Molossum pasce sero pingui. numquam custodibus illis nocturnum stabulis furem incursusque luporum aut impacatos a tergo horrebis Hiberos saepe etiam cursu timidos agitabis onagros, et canibus leporem, canibus venabere dammas ; saepe volutabris pulsos silvestribus apros latratu turbabis agens, montisque per altos ingentem clamore premes ad retia cervum .
Aber die Aufzucht der Hunde möge für dich nicht an letzter Stelle stehen – vielmehr nähre die schnellen Spartanerwelpen und den massigen Molosser lange mit Milch. Niemals wirst du mit diesen Wächtern einen Dieb des Nachts in den Ställen zu fürchten haben, nie einen Angriff der Wölfe oder hinter dei-nem Rücken die noch nicht befriedeten Hiberer. Oft auch wirst du furchtsame Wildesel treiben und mit den Hunden Hasen, ja, mit ihnen Gämsen jagen; oft wirst du Eber aus ihren Sülen im Wald verjagen und mit deren Bellen wild vor dir her treiben und in den hohen Bergen wirst du den majestätischen Hirsch mit Geschrei in die Netze drängen. Hier wird den Rezipienten die Aufzucht von Hunden und deren Zweck erläutert, der in der Abwehr von Wölfen und der Jagd auf Gämsen, Eber und Hirsche besteht. Die Parallelen auf lexikalischer Ebene sind auffällig, darunter das montisque per altos , das einige Kommentato- ren zur fälschlichen Annahme der Variante arduos in 3,535 verleitet hat (s. o.). Ein derartiger Anschluss erschiene auch durch inhaltliche Anknüpfung an die vorangegangenen Verse sinn- voll: Ging es dort um den Schwund der Zivilisation (Landbau und Warentransport), wäre an dieser Stelle die Errungenschaft der Jagd schlichtweg nicht mehr vonnöten. Deutlich würde durch die Verse insbesondere, dass die Hunde in ihrer Funktion als Wächter und Jäger nicht länger benötigt werden – und vermutlich auch nicht als solche dienen können, da sie selbst er- kranken und sterben (vgl. 3,496). Ihr Zustand wird jedoch an dieser Stelle nicht erwähnt, der Schwerpunkt der Darstellung liegt ganz auf der Verkehrung weltlicher Gesetzmäßigkeiten. Nach diesem Verständnis nähme der Dichter zugunsten der Dekonstruktion menschlicher Kultivierungsbemühungen die logische Inkonsistenz in Kauf, dass einzelne Tiere überleben, während andere an der Pest sterben.446
446 Vgl. West (1979), 84f., der in Vergils Streben nach Paradoxien im Rahmen der Seuchenbeschreibung die Quelle für mehrere logische Fehler ausmachen will. Manchmal sind diese Inkonsistenzen jedoch Folgen von Wests eigenen Überlegungen: Beispielsweise sieht er in der Flucht der Robben in Flüsse die Unachtsamkeit des Dichters belegt – schließlich sei nicht anzunehmen, dass diese nicht infiziert wären. Im Text wird aber weder von der Reinheit der Flüsse noch vom Überleben der Robben ge-sprochen.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Georg. 3,541–547 Daraufhin … hoch in den Wolken zurück : Der zweite Abschnitt löst sich vom Hauptaspekt der Wesensverkehrung ab und reduziert die Darstellung auf die räumliche Ausbreitung der Pest.447 Es wurde bereits festgestellt, dass der Dichter an dieser Stelle die strenge Eingrenzung auf das Noricum hinter sich zu lassen scheint, um eine Infektion der Welt in allen ihren Teilen zu schildern.448 Die Ausbreitung in Wasser, Erde und Luft wird von einer Fluchttendenz der Tiere begleitet: Meereslebewesen verenden am Strand, Robben schwimmen in Flüsse, Schlangen verstecken sich in Felsspalten und Vögel erheben sich in die Lüfte.449 Dabei ist hervorzuheben, dass die Ausbreitung und deren Folgen zugleich die Errungenschaften der Kultur nutzlos erscheinen lassen. Das Anspülen der Fische relativiert die Fischerei,450 das Hinabfallen der Vögel die Jagd;451 somit wird der menschliche labor auch durch die vermeintlich positiven Aspekte zunichte gemacht.452 Georg. 3,544f. Auch starb … lagen … da : Der Tod von Vipern und Wasserschlangen lässt noch einmal Zustände vor dem geistigen Auge erscheinen, die ein saeculum aureum ohne Schädlinge verheißen – doch besitzt dieses Versprechen hier schon keine Kraft mehr;453 anstelle einer goldenen Zeit sehen sich die Rezi- pienten einem Massensterben gegenüber. Wurde vorher die Bewachung durch und die Jagd
447 Diese ‚geographische‘ Auslegung (vgl. Klepl 1940, 72) stellt sich gegen die Auffassung, der Dichter gehe in der Seuchenbeschreibung von kleineren zu größeren Lebewesen über. Dieses Beschreibungs-schema trifft zwar für die Schilderung bis Vers 531 zu, jedoch impliziert der oben genannte Bruch in der Erzählung nicht nur eine Veränderung des Beschriebenen (vom Spezifischen zum Allgemeinen), sondern auch eine des Beschreibungsmodus (von der biologischen zur geographischen Orientie-rung).
448 Vgl. Raabe (1974), 52.
449 Zumindest in Teilen scheint sich der Dichter bekannter Adynata zu bedienen, die sich auf den Wech-sel des Lebensraums bei Tieren beziehen, vgl. Dutoit (1936), 171 und Manil. 5,213 (zur Wirkung des Hundssterns).
450 Glei (1991, 275) sieht mit Verg. ecl. 1,60 in den angespülten Fischen einen Reflex des vorhergesagten Endes der Schifffahrt im Goldenen Zeitalter. Das Entfallen der Notwendigkeit des labor bei gleich-zeitiger Nutzlosigkeit der nun naturgegebenen Umstände entsprechen der oben behandelten Auf-zucht der Hunde.
451 Für den Sturz der Vögel kann Lukrezens Beschreibung des Avernersees (6,743f.) als Vorlage gelten ( contra Vallillee 1960, 91). Silius Italicus (14,594) wird später Lukrez und Vergil in der Seuchenbe-schreibung während der Belagerung von Syrakus gedanklich aufgreifen.
452 Mit Nethercut (2020, 122f.) ist darauf hinzuweisen, dass diese Rückentwicklung menschlicher Kul-tur bereits in der Beschreibung des Lukrez angelegt ist.
453 Zum Versprechen des saeculum aureum wurde an dieser Stelle häufig Verg. ecl. 4,24 occidet et ser- pens (‚Sterben wird auch die Schlange‘) angeführt. Vgl. außerdem Perkell (1989), 121 und Verg. georg. 1,129.
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mit Hunden aufgrund des Verhaltens der Wölfe und des Wildes obsolet, ist an dieser Stelle eine Relativierung der Abwehrtechniken des Menschen zu beobachten (Georg. 3,414–420):Disce et odoratam stabulis accendere cedrum galbaneoque agitare gravis nidore chelydros . saepe sub immotis praesepibus aut mala tactu vipera delituit caelumque exterrita fugit, aut tecto adsuetus coluber succedere et umbrae
(pestis acerba boum) pecorique aspergere virus fovit humum.
Lerne auch, stark riechendes Zedernholz in dei-nen Ställen anzuzünden und mit dem Geruch von Galbanharz die schweren Wasserschlangen zu ver-jagen. Oft versteckt sich eine Viper , die zu berüh-ren gefährlich ist, unter feststehenden Zäunen und flieht furchtsam vor dem freien Himmel, oder eine Klapperschlange, die sich für gewöhnlich in Häuser und Schatten schleicht (als bittere Plage der Rinder) und ihr Gift auf das Vieh versprüht, streift über den Boden. Nach den als Räuber eingesetzten Wölfen werden nun auch die giftigen Schädlinge des Götter- vaters von der Krankheit unschädlich gemacht.454 Georg. 3,548 Futtergründe : Über die Semantik von pabula herrscht Uneinigkeit, da es zum einen als Futter, zum an- deren als Futtergrund und damit als eine räumliche Veränderung interpretiert worden ist.455 Neben den von den Kommentatoren bereits genannten Argumenten spricht für einen Orts- wechsel, dass dieser im Rahmen der Selbsthilfe die (nach antiker Vorstellung) effektivste Me- thode darstellt und sich im Rahmen der vorliegenden Klimax der Hilflosigkeit gut einfügt;456 schlägt diese fehl, muss der Bauer sich an andere Instanzen wenden, die in der Folge durch quaesitae artes abgebildet werden.457 Vielleicht kann das herausstechende praeterea mit Erren als Rezeption der Landflucht bei Lukrez und damit als Indiz für die Interpretation eines Orts-
454 Dadurch stellt sich erneut die Frage nach dem Verhältnis der göttlichen Sphäre und der Krankheit. Ob eine Kausalbeziehung zwischen Göttern und der Seuche besteht, lässt Vergil (wie im Folgenden erörtert) offen.
455 Cerda (1618), 443 mit Verweis auf Lucr. 6,1135f. für Futtergrund; Keightley (1846), 292 und Ladewig/Schaper/Deuticke/Jahn (91915), 216 für Futter; Richter (1957), 327 verbindet mit Verweis auf Colum. 6,5,2 beide Lösungen; Mynors (1990), 256 folgt Richter; Erren (2003), 774 für Futter.
456 Der Ortswechsel war ein gebräuchliches Mittel zur Selbsthilfe bei Epidemien (s. Kapitel 3.2.3) und wird auch in Hp. nat. hom. 9 (= 6,52 L.) und Cels. 1,10,1 empfohlen. Ebenso zwecklos war die Flucht der Angehörigen in der Beschreibung des Lukrez, die vor dem Hintergrund von dessen Erläuterun-gen zur Krankheitsverbreitung ohne Wirkung bleiben mussten (vgl. Lucr. 6,1238–1241).
457 Mit dieser Abfolge lehnt sich Vergil auch an Varro rust. 2,1,21 an, wo eine Differenzierung von
Krankheiten vorgenommen wird, die einerseits durch Selbsthilfe, andererseits nur durch die Hilfe
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung wechsels verstanden werden. Zumindest erscheint es aufgrund der Tatsache, dass die Verse 537–547 eine Ausbreitung der Krankheit auf alle Lebensbereiche geschildert haben, nur folge- richtig, dass ein Ortswechsel keine Abhilfe mehr schafft. Georg. 3,552 Tisiphone : Laut dem Servius Danielis sei unter der Bezeichnung Tisiphone nicht eine der Furien zu ver- stehen, sondern der Dichter habe der Pest lediglich einen kunstvollen Namen geben wollen;458 in der Tat ist die Verlockung groß, die schwierigen Fragestellungen, die sich aus der Nennung der Tisiphone und der daraus resultierenden Spannung mit Blick auf die Ätiologie zu Beginn der Beschreibung ergeben, durch diese Erklärung auszuklammern.459 Doch muss man sich der Problematik einer potenziellen göttlichen Verursachung der Pest stellen, zumal sich durch sie eine interessante Kritik an Lukrez ergäbe.460 Zunächst ist festzustellen, dass der Auftritt der Tisiphone in der Erzählung logisch mit dem Auszug von Chiron und Melampus zusam- menhängt, indem erst das Scheitern von medicina und religio den endgültigen Siegeszug der Krankheit ermöglicht.461 In der Folge stellt sich schnell Verwunderung darüber ein, welche Gottheit die Furie ausgesendet haben sollte. Dabei ist es unerheblich, ob emissa eine aktive Sendung der Tisiphone oder lediglich ein Dulden ihres Ausbruchs bezeichnet, da in beiden Fällen eine göttliche Urheberschaft anzunehmen wäre – die Identität des Urhebers bleibt un- genannt.462 Bereits Voss erläutert zur Stelle, dass die Furien als Rächerinnen für schwerere Be- leidigungen, z. B. die Verletzung der Ehrfurcht gegenüber den Göttern, fungierten. Die Furie kann im Rahmen antiker Vorstellung i. d. R. nicht als selbstständige Figur agieren.463 Auch er gibt jedoch keine Erklärung dafür, wer verletzt sein und aus welchen Motiven sich demnach eines Arztes geheilt werden können; vgl. Ladewig/Schaper/Deuticke/Jahn (91915), 216 und zur Ab-folge der Maßnahmen Anm. 509, S. 218.
458 Serv. auct. georg. 3, 552: Tisiphonen hic non unam furiarum debemus accipere, sed pestilentiam, cui eleganter poeta hoc nomen dedit. (‚Tisiphone dürfen wir hier nicht als eine der Furien verstehen, sondern als die Pest, welcher der Dichter auf kunstvolle Weise diesen Namen verlieh.‘). Eine solche Gleichsetzung dämonischer Kraft mit der Pest fand bereits im Oedipus des Sophokles mit Ares statt, vgl. Müller (1984), 32–34 und Michelakis (2019), 401 mit Anm. 87.
459 So auch Ladewig/Schaper/Deuticke/Jahn (91915), 216: „An Tisiphone als Rächerin für Frevel ist hier nicht gedacht; die Ursache der Pest ist ja 478 deutlich genug bezeichnet.“
460 Vgl. Farrington (1958) und Farrell (1991), 86.
461 Horstmanshoff (1989, 85) folgerte für die Ilias : „Bij een verwonding vraagt niemand naar een ziener, bij een pestilentie vraagt niemand naar een arts.“ Bei Vergil versagen in Form von Chiron und Me-lampus beide Professionen, vgl. West (1979), 87 und Clare (1995), passim .
462 Die Eigenheit der vorliegenden Stelle tritt deutlich durch einen Vergleich mit Mars am Ende des ersten Buchschlusses hervor, der in vielerlei Hinsicht gewinnbringend ist, vgl. dazu Putnam (1979), 228f. und Nappa (2005), 157.
463 Vgl. Voss (1800), 672f.
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die Pest ereignen könnte. Die Leerstelle, die der Dichter in diesem Punkt hinterlässt, wird vom Gedicht selbst nicht gefüllt.464 Dennoch muss man nicht mit dem Servius Danielis bei einer Versinnbildlichung der Pest verbleiben: Vielmehr kann gerade die Setzung einer Handlungs- trägerin als Ausdruck eines Bedürfnisses nach Sinn und dem daraus resultierenden Bemühen um eine metaphysische Deutung verstanden werden. Georg. 3,554f. vom Blöken der Schafe … hallten : Die Herrschaft der Krankheit wird den Augen der Rezipienten entzogen: Ungleich den vo- rangegangenen Szenen erscheint das Leid der Tiere derart unsäglich, dass der Dichter ledig- lich einen akustischen465 Reiz beschreibt und somit das konkrete Geschehen der Phantasie der Rezipienten überlässt.466 Mit der Beschränkung der Information geht zugleich ein kur- zer Perspektivenwechsel einher, in dem die verdorrte und tote Lebenswelt der Tiere die Ge- räuschkulisse wirkungsvoll unterstreicht und damit an die Stelle einer potenziell ekelhaften Leidensschilderung tritt; dabei ist zu bemerken, dass der Dichter mit den ripae arentes (‚aus- getrocknete Ufer‘) die physikalische Ursache der Pest, nämlich das Wetter, in Form ihres Resultats wieder aufgreift. Schließlich steht das Brüllen der Tiere an dieser Stelle in denkbar starkem Kontrast zum beschaulichen locus aemoenus am Ende des zweiten Buchs (insbes. 2,467–471), in dem eine vergleichbare Geräuschkulisse ( mugitusque boum ) eine gegenteilige Wirkung erzeugt.464 Womöglich handelt es sich hierbei um eine der zahlreichen Ambiguitäten, die Perkell (1989, 17) zur Grundlage ihrer Untersuchung machte: „It is the presumption of this study, then, that the Georgics is a deliberately ambiguous poem. By making opposing views present in dynamic tension the poet establishes poles of debate and engages readers’ imagination and critical thoughtfulness“.
465 Mit einer Beschränkung des Informationsflusses auf das Gehör knüpft der Dichter an seine eige-ne Praxis an (auch außerhalb der Georgica , vgl. Ross 1987, 162, daneben Raabe 1974, 53 Anm. 38); man vergleiche 2,467ff., aber auch den asilus -Exkurs (3,146ff.). In der Parallele im dritten Buch hat Harrison (1979, 47) ein weiteres Argument für die Verursachung der Pest durch Iuno gesehen. In vergleichbarer Weise löscht Lucan (7,571) in der Schlacht bei Pharsalos das Licht und reduziert seine Beschreibung auf die Geräusche, vgl. Glaesser (2018), 75.
466 Möglicherweise spiegelt sich hierin auch die Praxis der antiken Tragödie wider, in der physische Gewalt nicht offen gezeigt, sondern dem Zuschauer durch verschiedene Formen der Vermittlung zu-getragen wurde. Einen derartigen Bezug in der Theorie implizieren auch Kommentatoren, wenn sie bspw. die evozierten Gefühle der Seuchenbeschreibung auf Mitleid und Schrecken beschränken (vgl. Voss 1800, 651 und Anm. 373, S. 184). Zu einem vergleichbaren Ergebnis bzgl. der Beschränkung auf das Resultat der Gewalttat kommt auch Seidensticker (2006, 102): „Der letzte Schrecken bleibt seiner Phantasie überlassen und ist dadurch fern gerückt und zugleich – gerade weil die Herstellung des Bildes ganz der eigenen Phantasie überlassen und nicht durch Worte eines Anderen vermittelt wird – auch ganz nah.“
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Georg. 3,557 die durch die Fäulnis ( tabo ) entstellten, eingefallenen Kadaver : Gemeinsam mit Vers 481 ist dies die einzige Stelle der Seuchenbeschreibung, an der das Wort tabum Erwähnung findet. Modifiziert durch turpi ist mit Verweis auf Anm. 310, S. 171 festzu- stellen, dass tabum auch hier keine Flüssigkeit, sondern den Verfall bezeichnet.467 Im dilapsa ist das Endergebnis dieses Verfallsprozesses ausgedrückt. Gardner weist zu Recht auf die Konzep- tion des Zerfließens hin, jedoch zeigt sich hierin eine gängige Vorstellung der Fäulnis.468 Georg. 3,558 solange bis man lernte : Der Bezug des donec hat dahingehend zu Missverständnissen geführt, dass einige Kom- mentatoren in ihm eine Überwindung der Pest gesehen haben.469 Grundsätzlich ist eine Am- biguität des Bezugs von donec festzustellen, da es sich entweder auf dat stragem oder aggerat beziehen kann.470 Wie im Kommentar zu 3,476 bereits angedeutet, gibt der Dichter selbst Aus- kunft darüber, dass das Resultat der Pest eine Gegend ist, die weder Menschen noch Tiere beherbergt: desertaque regna | pastorum et longe saltus lateque vacantis . Folglich ist der Bezug auf aggerat zu präferieren. Darüber hinaus ist dieses Verständnis auch das einzige, das den sich anschließenden Passus in einen sinnvollen Zusammenhang stellt. Georg. 3,559 Denn : Die Bedeutung des nam wird von Thomas treffend erschlossen: „explains the burial of the corpses.“471 Das bedeutet konkret, dass das Verscharren der Tiere zunächst nicht vorgenom- men wurde, da noch die Hoffnung auf eine Ressourcenverwertung (Leder, Fleisch, Wolle) be- stand, die in der Folge jedoch enttäuscht wird. Somit zeigt sich in den Versen 560–562 auf einer letzten Ebene das Scheitern des labor : Die Häute sind unbrauchbar, das Fleisch der Tiere lässt sich weder durch Wasser noch durch Feuer von der Krankheit reinigen und die Wolle ist zum Spinnen ungeeignet.472 Demzufolge kann nicht einmal mithilfe des labor noch etwas von den toten Tieren gewonnen werden. 467 Vgl. mit Rückverweis auf 3,480 Erren (2003), 777.
468 Vgl. Gardner (2019), 123f. und Leven (2005e), 294.
469 Dabei machte sich eine Tendenz bemerkbar, Vergil im Kontrast zu Lukrez unbedingt optimistisch darstellen zu wollen. Vgl. exemplarisch Kettemann (1982), 32, der sogar die Begründung ab nam als inhaltlich wenig bedeutsam klassifiziert, um seine Deutung des ‚typisch Vergilischen‘ aufrechtzu-erhalten; dagegen Glei (1991), 275.
470 Vgl. prägnant Harrison (1979), 23. Sollte atque an dieser Stelle das Potenzial einer stärkeren Tren-nung zweier Glieder bergen, kann ebendieses auch als Stütze der Argumentation für 3,498f. dienen.471 Thomas (1988), 145, wie bereits Page (1898), 333.
472 Im letzten hippokratischen Aphorismus (7,87 = 4,608f. L.) werden diejenigen Krankheiten, die auch durch Feuer nicht besiegt werden können, als unheilbar eingestuft. Die Vorstellung, das pathogene
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Georg. 3,561–563 man konnte nicht einmal … abscheren … Mäntel : Im Zusammenhang mit der Verwertung der Wolle wurde häufig auf eine Ungereimtheit hingewiesen, da in einem ersten Schritt die Gewinnung der Wolle (mithilfe der Scherung), in einem zweiten deren Verarbeitung am Webstuhl durch die Krankheit unmöglich wird. Wie aber komme es dann überhaupt dazu, dass es Menschen gibt, die aus der kranken Wolle gefertigte Überwürfe ( amictus ) anlegen?473 Handelte es sich hier nicht um einen lo- gischen Fehler des Dichters? Dieser Vorwurf scheint berechtigt, kann jedoch womöglich ausgeräumt werden, indem man darauf verweist, dass die Verse 561f. nicht derart exklusiv gemeint sind, wie sie zumeist gedeutet wurden. Damit würde der Umstand, dass weder Scherung noch Verarbeitung möglich war, nur unterschiedliche Fälle beschreiben, wäh- rend in einem letzten Schritt die Folgen einer ‚Verarbeitung um jeden Preis‘ geschildert werden.474 Es ist leicht ersichtlich, wie der Dichter diesen vermeintlich unlogischen Teil der Be- schreibung hätte aussparen können, nämlich indem er die Menschen schlicht das nicht zu reinigende Fleisch hätte essen lassen – auch hieran hätten sich jene angesteckt, das Er- gebnis wäre dasselbe. Dies führt wiederum zur Frage nach einem möglichen Beweggrund für die uns vorliegende Gestaltung. Dabei ist zunächst darauf hinzuweisen, dass an dieser Stelle eine Konzeption der Krankheitsübertragung impliziert wird, die über die Vorlage bei Lukrez (und auch bei Thukydides) hinausgeht. Zwar las man dort davon, dass die Leichen der Erkrankten potenzielle Überträger waren, indem Raubtiere von ihrem Fleisch fraßen, die kurz darauf verendeten;475 doch ist bei Vergil neben dem Fleisch als Krankheitsträger auch die verarbeitete Tierhaut genannt. Die damit verbundene Kontagionstheorie durch direkten Kontakt stellt keine Neuerung dar, war sie doch bereits bei Thukydides (und auch bei Lukrez) stets impliziert: Bei ihnen fanden gerade diejenigen den Tod, die sich zur Pflege der Erkrankten entschlossen.476 Bemerkenswerterweise wird dieses implizite Wissen der Krankheitsübertragung durch direkten Kontakt nun auch auf die Haut der toten Tiere übertragen. Aus dieser Änderung wird auch das Streben des Dichters nach Innovation er- sichtlich, hätte die Ansteckung des Menschen über den Verzehr des Fleisches doch wieder Potenzial unserer Nahrung müsse durch Kochen erst überwunden werden, findet sich auch in Hp. vet. med. 3 (= 1,578 L.), vgl. dazu Langholf (1990), 89.473 Page spricht hier von „a sort of illogical climax“ (1898, 334), da bereits die Verarbeitung am Webstuhl durch die Unmöglichkeit der Scherung verhindert werden müsste.
474 Eine solche Deutung stellt keine neue Erkenntnis dar, vgl. Ladewig/Schaper/Deuticke/Jahn (91915), 217.
475 Vgl. Thuc. 2,50,1 und Lucr. 6,1215–1218.
476 Zu den impliziten Kenntnissen von Krankheitsansteckung in der Seuchenbeschreibung des Thuky-dides vgl. Leven (1997), 25f. und Kapitel 1.5.3.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung nur eine Wiederholung bereits bekannter Motive des Thukydides und Lukrez bedeutet – durch die Übertragung des Ansteckungsmotivs auf die Haut schafft Vergil jedoch etwas Neues. Georg. 3,564 stinkender Schweiß über die schmutzigen Glieder : Für die Übersetzung wurde eine chiastische Enallage angenommen, nach dem lateinischen Text wären die Bezüge der Adjektive genau andersherum. Sind stinkende Glieder noch gut vorstellbar, erscheint der schmutzige Schweiß weniger verständlich. Gleichwohl könnte ent- weder mit erneutem Verweis auf Theophrast (vgl. Anm. 108, S. 128) das Attribut immundus (‚schmutzig‘) als Umschreibung des dunkleren Schweißes gedeutet oder die apostatische Funktion desselben bezeichnet werden. Georg. 3,566 zerfraß … das heilige Feuer die Glieder : Vergil beschließt seine Seuchenbeschreibung wirkungsvoll mit dem Symptom des heiligen Feuers, das sich über die Glieder der (nun infizierten) Menschen ausbreitet. Damit zieht er einerseits eine Verbindung zur Pathophysiologie am Anfang der Beschreibung,477 andererseits zu Lukrezens Schilderung (vgl. oben Komm. zu 6,1167). Es macht den Anschein, als spiele der Dichter bewusst auf seinen Vorgänger an, um zum Schluss erneut hervorzuheben, in welcher Tradition sein Werk zu lesen ist, und gleichzeitig indirekt eine Begründung zu liefern, weshalb er seine Beschreibung nun beendet: Die Viehseuche war das Innovative, das in Wettstreit mit dem Alten getreten ist – über die Pest am Menschen wurde bereits geschrieben. 2.2.3 Grattius Gratt. 366 Jenes ist ein schweres Leiden (labes): Die Einleitung der Beschreibung durch den Begriff labes findet sich nur bei Grattius. Bereits zu Beginn dieser Arbeit wurde angemerkt, dass eine semantische Unterscheidung der ver- wendeten Begriffe in der Motivtradition häufig nicht vorgenommen wurde (s. Anm. 4, S. 11). Der Dichter spielt durch die Zuordnung der Adjektivattribute mit den verschiedenen Bedeu- tungsmöglichkeiten des Wortes: Passt gravis besser zum übergeordneten Begriff der Krank- heit, kann sich altus auch auf die ursprüngliche Semantik von labes (‚Sturz‘) beziehen, die auch in Vers 371 impliziert ist. 477 Vgl. Gardner (2014), 10f.
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Gratt. 366 ullis: Der Wiener Kodex A überliefert illis , für das Baehrens ullis konjizierte.478 Editoren, die an der Überlieferung festhalten, verweisen darauf, dass mit illis am Schluss auf die bereits genann- ten Behandlungsmethoden Bezug genommen werde. Diese Interpretation ist auch deshalb at- traktiv, weil die vorher genannten Heilmethoden entweder an der Hautoberfläche oder durch Öffnung des Körpers durchgeführt werden konnten, sodass sich altior als Gegensatz dazu he- rausstellte. Kenney sah jedoch in der zweifachen Verwendung von ille (einmal kata-, einmal anaphorisch) innerhalb eines Verses eine Schwierigkeit: „ illis referring back to the treatments described in the preceding verses after illa referring forward to the cum -clause is surpassingly feeble writing.“479 In der Tat wäre diese Verwendung der Demonstrativa irreführend und findet im Rest des Gedichtes keine Entsprechung. Auch der von Formicola angeführte Vers in Catull. 76,23 bietet nur vermeintlich eine Parallele:480 Zwar bereitet auch hier das Demonstrativum die sich anschließende Subjunktion ut vor, doch befindet sich das zweite Demonstrativum im untergeordneten Satz. Im vorliegenden Vers hingegen würde der präparative Charakter des illa am Versbeginn durch das zweite illis unterbrochen. Kenneys Argument gegen das über- lieferte illis hat entsprechend Bestand. Weiterhin stellt sich die Frage nach Kasus und Funktion von curis illis sowie der Semantik von altior . Enk hat den m. E. besten Vorschlag für die über- lieferte Fassung vorgelegt: „labes illa nimis latet, quam ut illis medicinis, quas modo nominavi, curari atque sanari possit“.481 Die Argumentation des Dichters scheint es jedoch zu erfordern, dass die Pest stärker als sämtliche Heilmittel ist.482 In der Folge hebt Grattius nämlich hervor,478 Eine aktuelle Diskussion der Überlieferungsgeschichte bietet Reeve (2016).
479 Kenney (1965), 15. Kenneys Vorschlag omni (in Verbindung mit cura est , vorher bereits von Heinsius geäußert) greift jedoch unnötig stark in den Text ein, da Baehrens’ leichte Änderung dieselbe Seman-tik ermöglicht (vgl. OLD s.v. ullus [3], 2084). Ein Einwand gegen die Konjektur könnte die Wiederho-lung von ullis in V. 372 sein. Für gleiche Versschlüsse in kurzer Abfolge vgl. Gratt. 1 und 8 ( artes ), 235 und 242 ( ferarum ), 301 und 304 ( fetae ), 333 und 337 ( armis ) sowie 505 und 511 ( illi ). Nicht aufgeführt wurden die zahlreichen Stellen, die zwar gleiche Wörter, jedoch in anderen Kasus in dichter Abfolge am Versende aufweisen. Zur Häufigkeit gleicher Versschlüsse bei Grattius vgl. bereits Kraffert (1883), 151.
480 Vgl. Formicola (1985), 158 und Catull. 76, 23–26: non iam illud quaero, contra me ut diligat illa , | aut, quod non potis est, esse pudica velit: | ipse valere opto et taetrum hunc deponere morbum. | o di, reddite mi hoc pro pietate mea!
481 Enk (1918), 104. Formicola (1985, 157f.) sieht in Enks Übersetzung Grund zur Annahme, dass curis illis als Dativ der Beziehung zu altior zu ziehen sei und schlägt selbst einen Ablativus comparationis vor; Letzterer ist jedoch auch aus Enks Paraphrase zu lesen.
482 Dies setzt voraus, dass Pithous Lesung cura est für überliefertes curas zugunsten von van Vliets curis abzulehnen ist. Die Grenzüberquerung als notwendige Voraussetzung für das Wirken der auxilia scheint sich von den vorher und nachher beschriebenen curae zu unterscheiden, vgl. zum Begriff der cura auch die Untersuchung von Hauser (1954).
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung dass vor einer wirkungsvollen Behandlung zunächst eine Grenze zwischen der Krankheit und dem Rudel liegen muss (s. Komm. zu Gratt. 378–380) – erst dann könnten die Mittel überhaupt einen Nutzen ( usus quidam ) entfalten. Mit der Lesung ullis (Baehrens) gewönne der Vers daher zusätzlich an Gewicht und zugleich wäre die von Kenney monierte sprachliche Auffälligkeit behoben. Gratt. 367f. zunächst im Verborgenen vollständig … sich erst zu spät … zeigt : Dass Krankheiten in ihren Anfängen zu behandeln sind, ist unter Ottos Überschrift prin- cipiis obsta als sprichwörtlich zu bezeichnen.483 Die Unterteilung der Krankheit in unter- schiedliche Phasen, die ihren Ursprung möglicherweise in den Fachschriften besitzt, wurde oben bereits angesprochen (s. Anm. 378, S. 185). Die Erweiterung, dass sich die Krankheit im Verborgenenan ihrem Wirt labt, hat ihre inhaltliche Vorlage vermutlich in Vergils Georgica (3,454–456):484 alitur vitium vivitque tegendo, dum medicas adhibere manus ad vulnera pastor abnegat et meliora deos sedet omina poscens.
Die Krankheit nährt sich und lebt im Verborgenen, solange der Hirte sich weigert, heilende Hände an die Wunden zu lassen, untätig herumsitzt und bessere Vorzeichen von den Göttern einfordert. Ein großer Unterschied besteht darin, dass es bei Vergil die Schuld des Hirten ist, der nach Meinung des Sprechers eine unnötige Verzögerung des medizinischen Eingriffs in Kauf nimmt, da er sein Handeln noch von der religiösen Sphäre abhängig macht.485 Bei Grattius ist
483 Vgl. Otto (1890), 287 und Ov. rem. 91f. Principiis obsta; sero medicina paratur, | cum mala per longas convaluere moras . (‚Wehret den Anfängen; zu spät wird eine Medizin bereitet, wenn das Übel durch zu lange Verzögerung erstarkt ist.‘). Daneben auch Gratt. 383–385 zur rabies : pluruma per catulos rabies invictaque tardis | praecipi<t>at letale malum: sit tutius ergo | antire auxiliis et primas vince- re causas (‚Sehr häufig und für die Säumigen nicht zu verhindern stürzt die Tollwut, das tödliche Übel, Welpen ins Verderben: Es dürfte demnach sicherer sein, mit Hilfsmaßnahmen vorzubeugen und die ersten Ursachen zu beseitigen .‘) und Verg. georg. 3,468f.: continuo culpam ferro compesce, priusquam | dira per incautum serpant contagia vulgus. (‚… diesen Krankheitsherd unterdrücke sofort mit dem Stahl, bevor sich die unheilvolle Ansteckung durch deine nichtsahnende Herde schlängelt.‘)
484 Als sprachliche Vorlage für den Dativ der Richtung kann mit Verweis auf Hey, TLL I (1904), s.v. ago , 1376, 42–44, der auch die Semantik des agere durch per corpora erläutert, Verg. georg. 3,482f. ( sed ubi ignea venis | omnibus acta sitis miseros adduxerat artus) plausibel gemacht werden; vgl. daneben Gratt. 214 Glympice, te silvis egit Boeotius Hagnon .
485 Diese Fokussierung auf die Schuld des Patienten bzw. des Verantwortlichen im Falle einer inneren Erkrankung entspricht auch der Argumentation der hippokratischen Schrift De arte , vgl. Holmes (2018), 77f.
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es die Eigenheit des Krankheitstyps, die es unmöglich macht, im Vorhinein zu reagieren, und in der Folge spezielle Maßnahmen erfordert, um reguläre Behandlungsmethoden wirksam werden zu lassen. Eine Prognostik, die als zentrale Aufgabe des Arztes in vielen hippokrati- schen Schriften genannt wird, kann angesichts des latenten Verlaufs erst dann vorgenommen werden, wenn sich die Krankheit vollständig ausgebreitet hat. Gratt. 369 Dann ist die Pest schon entfesselt / Inde emissa lues: Grattius knüpft in Ausdruck und Gedanken an Vergil an.486 Der lateinische Begriff lues um- schreibt etymologisch einen Krankheitszustand, der den Körper der Erkrankten zersetzt.487 Zuerst belegt ist lues für eine Pest in den Liedern des Priesterkollegiums der Arvalbrüder, danach in einem Nonius-Fragment der Annalen des Licinius Macer.488 Bei den von uns be- handelten Autoren tritt die Bezeichnung einer Pest als lues zuerst in Verg. Aen. 3,139 auf und wird dort sowohl mit den Menschen ( membris , 3,137)als auch mit der Flora verbunden ( ar- boribusque satisque ), weshalb es am ehesten mit Fäulnis zu übersetzen ist (s. auch den Komm. zu Georg. 3,481). Das Verhältnis zwischen der Aeneis , Grattius und der Benennung der Pest durch Ovid als dira lues ist unklar. Es bleibt festzustellen, dass Ovid zuerst als einführenden Terminus seiner Schilderung lues wählt. Eine Steigerung von Vergil und Grattius (ohne Attri- but) zu Ovid (ursachenbedingtes Attribut, s. Komm. zur Stelle) wäre denkbar, bleibt jedoch spekulativ, da die Chronologie von Ovids Metamorphosen und den Cynegetica nicht eindeutig festzustellen ist (s. Anm. 26, S. 91). Gratt. 369 morbi: Anstelle des überlieferten morbis hat Johan van Vliet morbi von Sannazaro aufgegriffen, das von Verdière, Cacciaglia und Formicola übernommen wurde. Auf der anderen Seite steht der Vorschlag mortes von Reinhard Stern, der sich daran störte, dass mit emissa lues eine erregte Rede begonnen werde, die durch den Ausdruck morbi venere verkomme.489 Zwei Argumente können für contagia morbi angeführt werden: Erstens ergibt sich eine sinnvolle gedankliche486 Vgl. Verg. georg. 3,551f. saevit et in lucem Stygiis emissa tenebris | pallida Tisiphone Morbos agit ante Metumque und den Komm. zu Gratt. 373–376.
487 Die Herleitung vom griechischen Wort λύω (auflösen) war bereits in der Antike geläufig, vgl. Paul. Fest. 89, 4: Lues est diluens usque ad nihil, tractum a Graeco λύειν. Enks (1918, 105) Erklärung, unter lues werde insbesondere der Krankheits stoff bezeichnet, bedürfte einer genauen Untersuchung und ist für die Motivtradition nicht zu belegen. Der Ausdruck ist in erster Linie dichterisch und wird schrittweise von Historikern übernommen, vgl. Pisi (1989), 46 Anm. 5.
488 Zu dem unverständlichen Fragment des Macer vgl. Cornell (2013), 676f., zu den Arvalbrüdern Nor-den (1939), 121–133 und Kruschwitz (2002), 211–220.
489 Vgl. Stern (1832), 134: „At vero in tam vivido et incitato genere dicendi augeatur pondus necesse est sequentis sententiae“; seiner Konjektur folgen Postgate, Duff, Serra und Sestili.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Abfolge nur durch morbi , da die in einem Hund herangereifte Krankheit diesen verlässt ( emis- sa ), dann zum Rest der Meute übergeht ( per contagia … venerunt ), die daraufhin stirbt ( ruit ). Durch die Konjektur mortes lieferte aequali sub labe ruit schwerlich eine neue Information. Zweitens scheint Grattius an dieser Stelle einen Passus aus Lukrez aufzugreifen, in dem jener (in Anknüpfung an Thukydides) die Ansteckung unter den Menschen mit derjenigen zwi- schen Weidevieh beschrieb.490 Insbesondere der analoge Zusammenhang der Ansteckung über Berührung lässt eine bewusste Anspielung naheliegend erscheinen. Gratt. 370 iuxtaque: Vollmers Vorschlag fusaque für das in A überlieferte Iusaque als (für Grattius so nur hier belegter) verkürzter Ablativus absolutus, i. S. v. „cum labes diffunditur vel serpit per canes“491 ergibt im Zusammenhang mit der Lesung per contagia morbi ein Problem: Nach dem Sub- jektswechsel von lues zu morbi sollte nun im Syntagma erneut das erste Subjekt aufgegriffen werden – eine äußerst gewagte Konstruktion, die für den Rezipienten auch nicht unbedingt nachvollziehbar ist (s. auch Komm. zu Gratt. 366). Darüber hinaus muss man sich die Fra- ge stellen, welche Information fusa dem Text hinzufügte: Die Ausbreitung der Krankheit ist bereits durch per contagia erfasst, wodurch fusa höchstens eine zeitliche („nachdem“) oder modale („indem“) Komponente beisteuerte. Hingegen böte iuxtaque (zeitlich: „unmittelbar danach“, räumlich: „nahebei“492), das in der Abschrift des Sannazaro steht, in der Tat eine sinnvolle Erweiterung des Texts:493 Attraktiv wird die Lesung nicht zuletzt dadurch, dass der plötzliche Kollaps in Folge der Ansteckung von Lukrez (6,1218) und Vergil (3,486ff.) eben- falls behandelt worden ist. Paläographisch lässt sich das überlieferte iusaque mit der häufig in Handschriften belegten Verschreibung iusta für iuxta erklären.494 Aus diesen Gründen wird Sannazaros Lesung iuxtaque übernommen.
490 Lucr. 6,1234–1236 quippe etenim nullo cessabant tempore apisci | ex aliis alios avidi contagia morbi , | lanigeras tam quam pecudes et bucera saecla . Auch die von Verdière angeführte Parallele aus Ne-mesians Cynegetica (195f.) besitzt Gewicht: nam tristes morbi, scabies et sordida venis | saepe venit. (‚Denn oft leiden sie [sc. die Welpen] an tödlichen Krankheiten, oft sucht ihre Venen die dreckige Räude heim.‘)
491 Enk (1918), 106.
492 Vgl. v. Kamptz, TLL VII,2 (1970), s.v. iuxta , 749,65–750,31.
493 Zur Bewertung dieser Abschrift des Kodex A vgl. Schenkl (1898), 391: „Die Züge der alten Hand-schrift sind mit unverdrossener Geduld entziffert und der Text durch wohlüberlegte und häufig tref-fende Änderungen lesbar gemacht.“
494 Vgl. v. Kamptz, TLL VII,2 (1970), s.v. iuxta , 748, 41f.
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Gratt. 371 unter dem gleichen Leiden : Grattius greift an dieser Stelle auf keinerlei Symptome aus der Motivtradition zurück und gestaltet das Sterben anders als seine Vorgänger bemerkenswert nüchtern. Dieser Unterschied ist sicherlich durch den expositorischen Charakter des Passus bedingt, da die nachfolgende Beschreibung der einzelnen Krankheiten ausgewählte Aspekte aus Lukrez und Vergil aufgreift (s. Kapitel 3.1.3). Nichtsdestoweniger gilt hier wie dort Bernd Effes Feststellung:Dem Jagddichter geht es nicht darum, ein mitleiderregendes Bild der dem Tod verfallenen
Kreatur zu malen, er sieht die Krankheiten vielmehr mit dem nüchternen Interesse des sachlich Betroffenen und legt entsprechenden Wert auf eine adäquate Beschreibung.495 Die Verwendung der Vorgänger macht der Dichter im Folgenden ausreichend deutlich, ohne jedoch mit seiner Beschreibung ähnliche Ziele zu verfolgen. Diese Abkehr von der Tradition wird in den Versen 373–376 expliziert. Gratt. 371f. Weder Körperkraft noch Verdienst … kein Flehen lässt … erhoffen : In ihrer Kürze und im sprachlichen Ductus erinnern die eineinhalb Verse an Manil. 1,887 nec locus artis erat medicae nec vota valebant , der an dieser Stelle wiederum Ovid (Met. 7,613, s. Komm. zu Manilius) rezipiert. Grattius greift in seiner Formulierung einen Aspekt von Lukrez und Vergil, womöglich sogar des Thukydides auf. Bei der Besprechung von Lukrez (6,1245) konnte festgestellt werden, dass in Form der Personengruppe des optimus quisque eine Störung des Tun-Ergehen- Zusammenhangs aufgezeigt wurde, um den Rezipienten nach einer anfänglichen Erfüllung sei- ner normativen Erwartung zu enttäuschen. Dieses rhetorische Mittel wurde wiederum in Vergils Georgica (3,525f.) durch die Klage nach dem Tod des Jochbruders verarbeitet. Bei Grattius wird das Element auf den Ausdruck merito (‚Verdienst‘) beschränkt und in einem Atemzug mit der Zweck- losigkeit des Flehens genannt, die in beinahe sämtlichen Seuchenbeschreibungen unterstrichen wird.496 Mit Vergil verbindet den Dichter, dass an dieser Stelle unklar ist, ob noch von den Tieren oder vom Menschen die Rede ist. Einen Unterschied bildet die Nennung der Körperkraft der Er- krankten, die jedoch keine Neuheit in der Tradition darstellt: Bereits bei Thukydides (2,51,3) wurde auf die Konstitution der Menschen abgehoben und geschildert, dass die Pest Starke und Schwache ohne Unterschied dahinraffe. Ob Grattius direkten Zugriff auf Thukydides hatte, eine andere Quel- le vermittelnd fungierte (s. Komm. zu Verg. georg. 3,527–30) oder er schlichtweg selbst das Element eingebaut hat, ist (auch aufgrund der Kürze des Ausdrucks) nicht mehr zu ermitteln.
495 Effe (1977), 160, contra Formicola (1988), 181.
496 Bei Vergil ist an genannter Stelle nicht von merita , sondern benefacta die Rede, vgl. jedoch Georg. 2,514f.: hic anni labor, hinc patriam parvosque nepotes | sustinet, hinc armenta boum meritosque iuvencos .
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Gratt. 373–376 Sei es, dass (sive) … die Erde ihre eigenen Gaben zugrundegehen lässt : In nur vier Versen stellt Grattius die Ätiologien seiner Vorgänger in Form einer sive … seu -Kons- truktionzusammen:497 Hatte Lukrez die Möglichkeit der Pathogenese aus der Luft und der Erde in einem eigenen Abschnitt zur Krankheitstheorie geschildert (6,1098–1102), vermischte Vergil physikalische (Hitze, Luft) und mythische Erklärung (Unterwelt) in seiner Beschreibung. Es ist auffällig (wenngleich in der Sache nicht verwunderlich), dass Grattius die Leerstelle, die Vergil bei der göttlichen Urheberschaft gelassen hatte (s. Komm. zu Georg. 3,552), gefüllt hat. Auf die Ätio- logien als solche wird in Kapitel 3.1.1 eingegangen werden, hier soll die Urheberin der Krankheit, Proserpina, genauer in den Blick genommen werden. Die älteren Editoren haben unterschiedliche Erklärungen hinzugezogen, um Plutos Gattin als sinnvolle Urheberin der Krankheit auszuweisen. Es bestand die These der Gleichsetzung von Proserpina mit Diana und einer Bestrafung der Hunde im Zusammenhang des Actaeon-Mythos, die jedoch von Burmann widerlegt werden konnte.498 Dessen Idee, furtum commissum in den Text zu setzen und damit die Pest als Rache für den Dieb- stahl der Proserpina zu nehmen, erscheint inhaltlich verlockend. Doch dürfte die enge Anlehnung an Vergil an dieser Stelle für Johnsons furiis sprechen, wie von den meisten Editoren angenommen; schließlich hatte dieser die Furie Tisiphone aus der Unterwelt aufsteigen lassen. Ob das zu süh- nende Verbrechen ( ira als Resultat weist auf die Strafe hin)499 tatsächlich Plutos Diebstahl gewesen sein soll, ist nur schwer festzustellen – eine unmittelbare Verbindung zu den Hunden ergäbe sich dadurch immer noch nicht. Nichtsdestoweniger ist Proserpina die Gottheit, die als Verursacherin der Pest aus der Unterwelt am naheliegendsten erscheint. Möglicherweise ergibt sich ein Wortspiel durch die Etymologie von proserpere , da ja auch die Ausbreitung von Krankheiten (insbesondere solcher auf der Hautoberfläche) in einer schlängelnden Bewegung beschrieben wird.500 Schließlich vermag Sestilis Hinweis auf die Benennung der Proserpina als Iuno der Unterwelt ( Iuno inferna ) eine Brücke zu Ovids Pest zu schlagen, die von der eifersüchtigen Iuno verursacht wird,501 und die Notwendigkeit eines Anlasses zur Wut zu relativieren.
497 Damit rezipiert Grattius vermutlich Lukrezens epikureische Methode multipler Erklärungen (πλεοναχὸς τρόπος, pleonachós trópos ), wie es auch für Lucan beobachtet worden ist (vgl. Schrijvers 2005, 36–39 und Verde 2020, 84–92); ähnlich auch der Aetna-Dichter (V. 110–117) zur Ursachensuche unterirdischer Ka-näle mit dem bemerkenswerten Abschluss: non est hic causa docenda | dum stet opus causae . (‚Nicht muss man hier die Ursache lehren, solange nur das Resultat der Ursache vor Augen steht.‘). Die Bedeutung der vorliegenden Stelle für das Verhältnis zu Lukrez und Vergil generell betont Effe (1977), 164 Anm. 21.
498 Vgl. Burmann (1731), 239f.
499 Vgl. Hiltbrunner/Stiewe, TLL VII,2 (1962), s.v. ira , 365, 82ff., jedoch ohne unsere Stelle.
500 Zur Etymologie vgl. Varro ling. 5,68 (Benennung des Mondes): dicta Proserpina, quod haec ut ser- pens modo in dexteram modo in sinisteram partem late movetur (‚Genannt wurde sie Proserpina, weil sie sich wie eine Schlange mal auf die rechte, mal auf die linke Seite bewegt.‘), für die Verwendung von serpere im Zusammenhang mit Krankheiten vgl. OLD s.v. serpo (3), 1745 und Kapitel 3.1.2.
501 Vgl. Sestili (2011), 200.
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Gratt. 377 Wende dich ab von der Quelle des Übels : Der Ausdruck fons mali für die Quelle des Übels ist vor Grattius lediglich bei Liv. 39,15,9 belegt und wird auch in der weiteren Motivtradition nicht erneut verwendet. Die kurze Do- xographie der Ätiologien, in der die Krankheitsursachen in der Luft, der Unterwelt und der Erde angerissen werden, wird durch die knappe Anweisung zur Abkehr abgeschlossen. Die Abwendung502 bezeichnet hier sowohl die konkrete Maßnahme der räumlichen Veränderung als auch den methodischen Verzicht auf die Besprechung der Krankheitstheorie.503 In seiner Konzentration auf die Behandlung der Pest anstelle ihrer theoretischen Ergründung zeigt sich der Dichter konform mit den Forderungen der Empiriker (und mit Thukydides, s. Kapi- tel 1.5.3).504 Die Beschränkung auf die Aufforderung zur Grenzüberschreitung (s. Komm. zu Gratt. 378–380) ergibt sich auch aus der Plötzlichkeit und Geschwindigkeit der Ansteckung. Für den Ausdruck fontem averte mali ist darauf hinzuweisen, dass der Dichter hier nicht nur auf Georg. 3,210 caeci stimulos avertere amoris (s. dazu auch im Folgenden), sondern auch auf den victor equus (‚das siegreiche Pferd‘)aus der Norischen Viehseuche des Vergil (Georg. 3,499) zurückgreift. Gratt. 377 calles: Die Editoren entscheiden sich entweder für valles aus Summontes505 und Sannazaros Ab- schriften (u. a. Logus, Pithou, Burmann, Raynaud, Verdière, Cacciaglia) oder das in A über- lieferte calles (Baehrens, Vollmer, Enk, Formicola, Sestili, Green). Verdière stört sich zunächst am Ausdruck trans … calles , übergeht jedoch, dass sich für seine Variante ebenfalls kein Beleg502 Für die besondere Konstruktion des reflexiven averte vgl. Bickel, TLL II,2 (1904), s.v. averto , 1321, 53–64 und die dort angeführte Stelle Verg. Aen. 1,104f. franguntur remi, tum prora avertit et undis | dat latus.
503 Die Absage an jede Form der theoretischen Ergründung der Pest kann zusätzlich als metapoetische Aussa-ge gedeutet werden: Für fons als Quelle eines Werkes oder von dessen Inhalt vgl. Vollmer, TLL VI,1 (1921), s.v. fons , 1025, 8ff. Nach dieser Deutung beschriebe mali nicht die konkrete Pest im Werkzusammenhang, sondern die Pest als Motiv der literarischen Tradition, bzw. konkret die Darstellungsart der Vorgänger. Mit der Aussage unterstriche der Dichter seine Eigenständigkeit in der Verarbeitung des Stoffes.
504 Vgl. zu den Empirikern Kapitel 1.2 und Cels. 1 pr. 38: Neque enim se dicere, consilio medicum non egere, et irrationale animal hanc artem posse praestare; sed has latentium rerum coniecturas ad rem non pertinere; quia non intersit, quid morbum faciat, sed quid tollat, neque quomodo, sed quid optime digeratur. (‚Nicht nämlich sagten sie, dass der Vernunft ein Arzt nicht bedürfe und ein vernunftloses Tier diese Kunst ausüben könne; sondern dass Vermutungen über verborgene Ursachen nichts zur Sache täten; weil es nicht von Interesse sei, was die Krankheit verursache, sondern was sie beseitige, und nicht wie, sondern was am besten verdaut werde.‘)
505 Zur Neubewertung der ehemals Sannazaro zugeschriebenen Abschrift vgl. Reeve (2016), 194f. mit Anm. 4/5.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung finden lässt.506 Seine Überlegungen hinsichtlich der Krankheitsursache sind für die Deutung der Vorschrift nicht von Belang, war doch durch den Sprecher unmittelbar vorher eine Absa- ge an die Theorie getätigt worden. Formicola macht sich die von van Vliet aufgezeigte Paral- lele zu Georg. 3,209–214 zunutze und will auf der Grundlage eines komplexen Verarbeitungs- vorgangs Grattius’ Arbeitsweise nachvollziehen.507 Für die hier vorgeschlagene Deutung (vgl. Komm. zu den Versen 378–380) ist es nur bedingt von Interesse, ob es sich um hohe Berge oder tiefe Täler handelt, da es um die Überschreitung einer Grenze geht, welches Kriterium in beiden Fällen erfüllt wäre. Gegen die Konjektur valles spricht jedoch, dass sehr selten le- diglich auf die Tiefe von Tälern hingewiesen wird, sondern eher auf deren Schattigkeit und Kühle. Dieser (in anderen Zusammenhängen durchaus denkbare) Zug spielt an der vorlie- genden Stelle jedoch keine Rolle. Eine ausschließliche Höhenangabe bei Bergpfaden scheint kaum verwunderlich; außerdem ist calles eindeutig die lectio difficilior , weshalb es in den Text übernommen wird. Gratt. 378 einen breiten Strom sollt ihr bei der Flucht überqueren : In Anbetracht der Übersetzungen von Formicola und Green, die dem Wechsel zur zweiten Person Plural des Futurs ( superabitis ) durch eine Wiedergabe im Futur möglichst genau zu entsprechen suchen, ist für die vorliegende Übersetzung auf den Ersatz des Imperativs durch das Futur hinzuweisen.508
506 Vgl. Verdière (1963), 359. Man würde sich (ebenso wie Verdière bei calles ) per … valles wünschen, wie etwa in Ov. met. 14,423–425: sex illam noctes, totidem redeuntia solis | lumina viderunt inopem somnique cibique | per iuga, per valles , qua fors ducebat, euntem . Die von Burmann (1731, 241) angeführten Stellen, der mit van Vliet eine semantische Austauschbarkeit von valles und montes annehmen möchte, unterscheiden sich vom besprochenen Vers dadurch, dass in ihnen stets eine statische Ortsangabe und keine Bewegung ausgedrückt wird.
507 Vgl. Formicola (1988), 181f. und Sestili (2011), 201. Folgende Ursprungsverse werden genannt: aver- tere sei entnommen aus Georg. 3,210, der Gedanke von Berg und Fluss aus 3,213 und superare aus 3,270, wobei auch dort die natürlichen Grenzen genannt werden. Der Ausdruck trans … flumen werde zu trans … calles , post sei im superare verarbeitet. Die Rezeption der Vergilstelle liegt nicht nur in der Parallelisierung von der Liebesglut und dem Feuer der Krankheit bei Vergil selbst begründet (vgl. Ross 1987, 150), sondern liegt auch aufgrund der analogen Struktur nahe: Ebenso wie Berge und Flüsse einen Keil zwischen die Tiere treiben sollen, muss nun eine Grenze zwischen der Krankheit und dem Rudel gezogen werden.
508 Formicola (1988), 106 „Ti consiglio di trasferire i cani oltre gli alti sentieri montuosi e in fuga traver-serete l’ampio fiume.“ und Green (2018), 45 „I advise leading them over the high mountain tracks and you will overcome a wide river in your flight.“ Zum Ersatz des Imperativs durch das Futur vgl. LHS II, 311: „In der 2. und 3. Person wird der Ind. des Fut. zum Ausdruck eines Befehls gebraucht, wenn die seelische Grundstimmung des Sprechenden vorwiegend die einer sicheren Erwartung der Ausführung der Handlung ist“. Ebendort ist auch für Fachschriftsteller ein Nebeneinander von Im-perativen und Futurformen beschrieben.
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Gratt. 378–380 deine Hunde über hohe Gebirgspfade … Hilfsmaßnahmen wirken : Während von Beginn an die textkritischen Fragen um calles und superabitis ausführliche Behandlung in den Kommentaren erfuhren, ist die inhaltliche Besprechung der Verse erst spä- ter durch den Verweis auf Columella (7,5,2) angestoßen worden:Si aegrotat universum pecus, ut et ante prae- cepimus et nunc, quia remur esse maxime salutare, iterum adseveramus, in hoc casu quod est remedium praesentissumum, pa- bula mutemus et aquationes totiusque re- gionis alium quaeramus statum caeli cure- musque, si ex calore et aestu concepta pestis invasit, ut opaca rura, si invasit frigore, ut eligantur aprica.
Wenn das gesamte Vieh erkrankt (wir beharren erneut auch an dieser Stelle auf dem, was wir vorher vorschrie-ben, weil wir es für das Heilsamste halten), lass uns in diesem Fall, weil das Heilmittel direkt zur Hand ist, Fut-ter und Trank austauschen; lass uns ein anderes Klima in einer ganz anderen Gegend suchen und dafür sorgen, dass wir, wenn die Krankheit von gleißender Hitze herrührte und eindrang, schattige Ländereien, wenn sie durch Kälte eindrang, sonnige aussuchen. Wie Verdière bereits feststellte, will Grattius im Gegensatz zum späteren Columella nicht auf die Ursache der Krankheit eingehen.509 Es bestehen jedoch noch weitere Unterschiede: Im An- schluss an die vielzitierte Stelle warnt Columella davor, man solle das Vieh bei der Wanderung nicht überanstrengen; diese Perspektive auf die erkrankten Tiere fehlt in den Cynegetica voll- ständig, was von den Kommentatoren womöglich durch den Hinweis auf die unübliche Art der „Transhumanz“510 angesprochen werden sollte. Der Dichter nimmt weiterhin nicht schwer- punktmäßig das Gebiet in den Blick, in das der Lehrling vordringen soll, sondern lediglich die zu überschreitenden natürlichen Grenzen.511 Schließlich sind es nicht veränderte klimatische Bedingungen,512 die zur Heilung der Tiere beitragen, sondern ficta auxilia , d. h. in jedem Fall
509 Vgl. Verdière (1963), 359. Inwiefern aus Grattius’ oder Columellas Darstellung abgeleitet werden kann, dass es sich beim Ortswechsel um die „prima misura per sfuggire ad un’epidemia“ (Cacciaglia 1970,70) handelt, bleibt unklar; das remedium praesentissumum betont, dass die im Anschluss ge-nannten Vorgehensweisen in der Verfügungsgewalt des Hirten oder Bauern selbst liegen.
510 Die bei den Kommentatoren vorgenommene Bezeichnung ‚transhumance, transumanza‘ ist für die hier beschriebene Überquerung von Berg und Fluss nur bedingt geeignet. Die Transhumanz ist in erster Linie eine Wirtschaftsform, die eine räumliche Verschiebung des Weideviehs in regelmäßigen Abständen vorsieht. Diese Verschiebung kann über weite Entfernungen erfolgen (horizontale Trans-humanz, vgl. Waldherr 1999, 564f.). Die vorliegende Stelle handelt jedoch weder von Weidevieh noch von einer Wirtschaftsform, weshalb auf den Begriff verzichtet wurde.
511 Zu Bergen und Flüssen als natürliche Grenzen und ihre Einbeziehung durch Mensch und Gesell-schaft vgl. Sonnabend (1999), 160f. und Schön (1999), 148f.
512 Bei der Behandlung der scabies (Gratt. 419–424) geht der Dichter hingegen auf die Nutzung der kli-matischen Verhältnisse für die Prävention ein.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Kulturleistungen des Menschen.513 Die Überquerung der natürlichen Grenzen schafft ledig- lich die Grundlage für die sich anschließende Behandlung: Berg und Fluss fungieren wie ein Schutzwall gegen die Krankheit.514 An dieser Stelle wendet sich der Dichter gegen seinen Vor- gänger Vergil, der in der Norischen Viehseuche (Georg. 3,548) noch betonte, dass ein Orts- wechsel keine Abhilfe schaffen konnte. 2.2.4 Ovid Met. 7,517–520 Aeacus seufzte … Der Reihe nach will ich mich nun erinnern : Ovids bedeutendste (und auch gattungsbedingte) Neuerung in der Motivtradition ist die Einbettung der Pest in einen erzählerischen Zusammenhang:515 Gab es bei Lukrez und Vergil, die das Motiv beide an einem Buchschluss platzierten, scheinbar kein ‚Danach‘ für die Be- troffenen,516 besitzt sie wie bei Grattius auch bei Ovid eindeutig Expositionscharakter für die darauffolgende Erzählung über die Verwandlung der Myrmidonen.517 Durch den Gesamtzu- sammenhang ergibt sich für den Dichter die Zwischenschaltung einer weiteren Erzählebene:518
513 Vgl. Gratt. 13–15 tu trepidam bello vitam, Diana, ferino | qua primam quaerebat opem, dignata re- pertis | protegere auxiliis (‚hilfreiche Erfindungen‘) orbemque hac solvere noxa . In Abgrenzung von cura scheint das auxilium bei Grattius die konkrete Behandlungsmaßnahme zu bezeichnen, wäh-rend jene das Bemühen um die Heilung im Allgemeinen beschreibt.
514 Begreift man dies nicht bloß symbolisch, könnte es sich bei dieser Vorstellung um eine Entlehnung aus der Magie handeln. Den häufigen Wunsch nach magischem Schutz im Angesicht einer bevor-stehenden Katastrophe bespricht auch Wolfenstein (1998 [1957]), 18. Dass unser Dichter der Magie nicht abgeneigt ist, wird an den priscae artes in Gratt. 399–405 ersichtlich, wenngleich der Bezug der Verneinung in V.400 umstritten ist (vgl. Verdière 1963, 371). Für die Verbindung magischer Vorstel-lung und Ansteckung vgl. Grmek (1984), 62: „Les observations empiriques de jadis sur la contagiosité des pestilences, de la phtisie et de quelques autres maladies étaient embourbées dans un magma de suppositions magiques“.
515 Vgl. Vallillee (1960), 103. Zur narrativen Struktur und Erzähltechnik in Ovids Metamorphosen vgl. exemplarisch Nagle (1989), 97–100 (allgemein) und 110 (zur Pest), Pechillo (1990), Rosati (2002) m. Literaturverweisen sowie die entsprechenden Einträge in Ulrich Schmitzers Bibliographien ‚Neue Forschungen zu Ovid‘ I–III.
516 Diese Einschränkung ist deshalb hervorzuheben, weil viele Kommentatoren gerade auf den Um-stand hingewiesen haben, dass Vergil sein Werk nicht (wie Lukrez) mit der Pest beschließt, sondern mit dem vierten Buch eine positive Wendung habe folgen lassen. Solche Interpretationen sind auch im Zusammenhang von Deutungstraditionen (Optimisten/Pessimisten) zu sehen, deren Genese Zanker (2011) dargelegt hat.
517 Vgl. Grimm (1965), 67 und Heerink (2011), 467. Die Pest als Exposition, die zugleich das Resultat einer Ehrverletzung und Anstoß einer neuen Handlung ist, findet sich bereits in Homers Ilias , vgl. Horstmanshoff (1989), 27 und die Besprechung von Senecas Oedipus in Kapitel 2.2.6.
518 Zur möglichen Mehrstufigkeit von Ebenen der Rede vgl. De Jong (1987), 149–194.
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Aeacus erkrankte zwar nicht selbst an der Pest (wie es Thukydides von sich selbst sagt), bringt jedoch dem Rezipienten die Geschehnisse aus seiner eigenen Perspektive nahe. Das Konzept dieses ‚letzten Menschen‘, der in der Lage ist, über die Katastrophe zu reflektieren, und dessen spezifische Funktion im Zusammenhang apokalyptischer Szenarien wurde bereits besprochen (s. o. Kap. 1.6). Mit dem reichen Potenzial der Subjektivität unterliegt der Dichter zugleich be- stimmten narrativen Zwängen, die er bspw. durch die Vorgabe, der Reihe nach ( ordine ) zu be- richten, expliziert. Es gelingt Ovid im Folgenden, die Erzählung räumlich derart zu beschrän- ken (anders als bei seinem Vorgänger Vergil), dass die Fokalisierung des Aeacus authentisch wirkt. Insbesondere die Verse 582–613 schildern dessen Erfahrungen aus nächster Nähe und gewinnen dadurch an Pathos. Met. 7,523 Eine unheilvolle Pest / dira lues: Ovid verwendet neben lues zahlreiche Ausdrücke (u. a. malum , morbus , vitium ) für ein und dieselbe Krankheit, jedoch ohne das Attribut dirus . Bömer betont zu Recht,519 dass der Dichter sich durch die Junktur von seinen Vorgängern abzuheben versucht: Bereits durch dirus wird für den antiken Rezipienten ersichtlich, dass es sich bei der Pest um eine Katastrophe göttli- chen Ursprungs handelt;520 wenngleich bei Vergil am Höhepunkt der Erzählung Tisiphone aus der Unterwelt auftaucht, erschien die metaphysische Verursachung eher als Deutungspoten- zial einer gewissen Doppeldeutigkeit und wurde nicht eindeutig an den Beginn der Seuchen- beschreibung gestellt. Ovid legt sich dementsprechend als erster Autor der Motivtradition in seiner Ätiologie auf den Einfluss einer bestimmten Gottheit fest (vgl. den folgenden Kommen- tar und Kapitel 3.1.1). Met. 7,523 aufgrund des Zorns der ungerechten Iuno : Die Eifersucht von Jupiters zänkischer Gemahlin auf die Liebhaberinnen ihres Gatten ist sprichwörtlich und findet sich in mehreren Episoden der Metamorphosen .521 In der Seuchen- beschreibung wird dieses Element aufgegriffen, um die Krankheit als das Resultat göttlicher519 Vgl. Bömer (1976), 334f.
520 Zur Etymologie vgl. de Vaan (2008), 171, besonders prägnant in diesem Zusammenhang ist auch die Bezeichnung der Dirae (‚Furien‘). Für eine Übersicht über antike Erklärungen für dirus vgl. Maltby (1991), 190, bspw. Serv. Aen. 2,519: DIRA modo proprie: ‚dira‘ enim est deorum ira . Vielleicht wurde es erst durch die gehäufte Verwendung des Attributs möglich gemacht, dass Seneca in seinen Natu- rales Quaestiones (6,27,4) im Zusammenhang der Seuchenentstehung von einem aer dirus sprach.
521 Vgl. Otto (1890), 179 und u. a. Ov. met. 1,588ff. (Io); 3,253–315 (Semele), woneben andere Geschich-ten treten, in denen sich Iuno ungnädig gegenüber anderen Frauen zeigt (4,416–542 Ino). Der Vers-schluss Iunonis iniquae findet sich auch in Verg. Aen. 8,292, der Gedanke bereits in Aen. 1,4. Zur Junodarstellung im römischen Epos vgl. Häußler (1978), 187–206.
222
2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Intervention zu motivieren.522 Verglichen mit den Beschreibungen bei Thukydides, Lukrez und Vergil ist dies das erste Mal, dass dezidiert keine naturwissenschaftliche Erstursache angege- ben wird. Dies lässt sich zum einen mit dem Werkzusammenhang erklären: Dadurch, dass Ovid die Pest in eine mythhistorische Zeit versetzt, ist der Handlungsraum für Göttinnen und Götter gegeben. Zum anderen ist die Idee, dass Unglücksfälle (darunter auch Epidemien) einen Sinn besitzen müssen und somit auf eine intentionale Ursache zurückzuführen sind, ureigenes Charakteristikum menschlichen Denkens. Die Krankheit fungiert als Strafe für eine vorange- gangene Tat, die damit auch Gegenstand menschlicher Beurteilung wird: Da im vorliegenden Fall jedoch keine menschliche Verfehlung zugrundeliegt, kann Iuno als iniqua (‚ungerecht‘) charakterisiert werden.523 Met. 7,525–527 dum visum … victa iacebat: Bereits Bothe argumentierte in seinen Vindiciae dafür, dass die Verse an der überlieferten Stelle nicht zu halten sind, indem er auf eine inhaltliche Dopplung ab Vers 561 verwies.524 Weiterhin bereitete der Ausdruck mortale malum einigen Kommentatoren Schwierigkeiten.525 Außerdem fände die hier implizierte Einsicht der Menschen in die göttliche Verursachung
522 Dass darüber hinaus Junos Motiv der Eifersucht dem Massensterben eine besonders zynische Note verleiht, teilt Ovids Beschreibung mit der des Silius Italicus (14,583 invidia divum ). Während bei Si-lius jedoch keine individuelle Gottheit als Ursache genannt wird, reiht sich Iunos Verhalten bei Ovid in das soeben beschriebene Vorstellungsmuster ein, nach dem Jupiters amor zur ira seiner Gattin und daraufhin zur Bestrafung der Sterblichen führt, vgl. Nagle (1984), 239.
523 Mit kleinen Abstrichen entspricht die Beschreibung bei Ovid mit der sich anschließenden Ver-wandlung der Myrmidonen der von Walter (2010, 248) gelieferten Grundstruktur von Katas-trophenfilmen: Zu Beginn „eine unvorhersehbare Katastrophe; die Zerstörung, mit der eine maßlose, nur im Wettlauf nach Vergnügungen und Geld befangene Gesellschaft bestraft wird; eine Handlung mit Guten und Bösen; Mut, Solidarität, moralische Besserung des Bösen; die Zeit nach der Katastrophe als Phase von Reinigung und Wiedergeburt mit dem Elan des Wiederauf-baus“.
524 Bothe (1818), 72: „Inculcandi mihi videntur, ne bis idem generatim dicat poeta hoc loco et 561, sed haec ad mulomedicos et id genus artifices referantur, sicut versu 561.“ Zwar ist die Annahme hin-sichtlich der Veterinärmediziner willkürlich (wenngleich für Bothes Argumentation notwendig), doch der Hinweis auf die inhaltliche Dopplung bleibt aktuell: Auch Bömer (1976, 335) sieht eine solche, nimmt jedoch eine Intention an, das Scheitern der Medizin direkt an den Beginn der Be-schreibung zu stellen.
525 Eine der einflussreichsten Erklärungen ist die von Gottlieb Erdmann Gierig (1804, 459), der die Krankheit als ein Übel „usitatum inter mortales, adeo naturale“ definiert. Ähnlich auch Bömer (1976, 335): „malum, quod non nisi ad mortales pertinet“. Anderson (1972, 299) spricht knapp davon, dass die Pest als Gegenstand menschlicher Sphäre, d. h. wie eine ‚normale‘ Krankheit er-schien.
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keine Entsprechung in der Seuchenbeschreibung.526 Folglich werden die Verse von einigen Edi- toren entweder transponiert oder vollständig getilgt.527 Doch es lohnt ein zweiter Blick: Die fehlende Wiederaufnahme der Einsicht in die göttliche Verursachung hat ihren Grund in ihrer Selbstverständlichkeit vor dem Hintergrund antiken Denkens. Dabei ist diese Erkenntnis keine aktive Ergründung der Gottheit (geschweige denn eine exakte Zuordnung), sondern aus Sicht des Rezipienten und der antiken Ärzte eine logi- sche Folgerung aus der Unbehandelbarkeit der Krankheit und der Masse an Erkrankten.528 Der Ausdruck mortale malum kann mit Verweis auf das zweite Buch von Ovids Metamorpho- sen als zwar ungewöhnlich, jedoch nicht unverständlich ausgewiesen werden.529 Schließlich handelt es sich bei den Versen 525–527 und 561–564a nicht um eine exakte Dopplung, wie von Bothe behauptet; vielmehr wird zu Beginn der erfolglose Kampf der Medizin gegen die Krankheit im Allgemeinen vorweggenommen, wohingegen später konkret das Scheitern der Behandelnden ausformuliert wird.530 Mit den Versen 525–527 knüpft Ovid an den Archetyp Thukydides (2,47,4, T I A) an, auf welche Grundlage Moritz Haupt zu Recht verwiesen hat:531 dum visum mortale malum tantaeque latebat causa nocens cladis, pugnatum est arte medendi : exitium superabat opem, quae victa iacebat.Solange das Übel menschlich schien und die bös-willige Ursache des derart großen Unheils verbor-gen blieb, kämpfte man mit der Heilkunst; der Tod überwältigte jedoch ihr Heer , das besiegt darnie- derlag .
526 Vgl. Tarrant (1982), 357, dessen Beurteilung der Verse an manchen Stellen primär auf ästhetischem Unbehagen zu beruhen scheint. Der Ausdruck causa nocens cladis dürfte bspw. trotz seiner Eigen-tümlichkeit jedem Rezipienten unmittelbar verständlich gewesen sein; causa cladis findet sich als beliebte Alliteration bei Livius (2,36,4; 2,51,6; 6,20,15; 28,13,2).
527 Bothe mit seiner Transposition vor 561 wurde bereits genannt, Tarrant athetiert, Kenney (2011, 278) nimmt zwar an, dass es sich um Verse Ovids handelt, diese jedoch an falscher Stelle stünden – die ursprüngliche Stellung der Verse sei aber nicht mehr zu ermitteln.
528 Vgl. Crawfurd (1914), 63. Entsprechend wäre zu überdenken, ob an dieser Stelle nicht sogar eine Argumentationsstrategie antiker Ärzte zu Tage tritt, das Scheitern der eigenen Behandlung auf die Götter zurückzuführen. Die gleiche Reihenfolge findet sich auch in der zweiten von Ovids Seuchen-beschreibungen (Met. 15,626ff.): Zuerst versuchen sich die Ärzte an der Behandlung; nach dem Scheitern der Medizin wenden sich die Menschen an die Götter.
529 Vgl. Ov. met. 2,56 non est mortale quod optas ! Mit diesem Ausruf verurteilt Apoll den Wunsch seines Sohnes Phaeton, den Sonnenwagen zu lenken. Mortale bezeichnet an dieser Stelle das, was einem Menschen zukommt, was Teil der menschlichen Sphäre ist, bzw. gerade nicht ist.
530 Diese (auch bei Thukydides vorliegende) Aufteilung nach ars und artifex entspricht dem bereits von Eduard Norden (1905, 508–515) herausgearbeiteten Gliederungsprinzip von Fachschriften unter-schiedlicher Disziplinen.
531 Vgl. Haupt in Ehwald (91915), 394. Delcuve (1936), 206 geht mit der Behauptung, es handle sich um eine reine Übersetzung, etwas zu weit, später zurückhaltend Vallillee (1960), 128f.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung οὔτε γὰρ ἰατροὶ ἤρκουν τὸ πρῶτον θεραπεύοντες
ἀγνοίᾳ , ἀλλ᾽ αὐτοὶ μάλιστα ἔθνῃσκον, ὅσῳ
καὶ μάλιστα προσῇσαν … πάντα ἀνωφελῆ ἦν,
τελευτῶντές τε αὐτῶν ἀπέστησαν ὑπὸ τοῦ
κακοῦ νικώμενοι.
Weder nämlich konnten Ärzte, die ohne Kenntnis der Erkrankung diese zum ersten Mal behandeln mussten , etwas ausrichten, starben vielmehr selbst am ehesten, da sie ja am meisten zu den Kranken gingen … alles war nutzlos, und am Ende gaben sie es auf, von der Katastrophe gebrochen . Argwohn hat vermutlich die Tatsache hervorgerufen, dass die vorrangige Erkrankung der Be- handelnden aufgrund ihrer Nähe zu den Patienten (Kursivdruck), die an ebendieser Stelle bei Thukydides genannt wird, von Ovid nach hinten gezogen worden sein soll, obwohl doch das Scheitern im Allgemeinen bereits vorher Erwähnung fand. Die implizierte Prämisse einer li- nearen Vorgehensweise des Dichters ist jedoch zu bezweifeln. Ein Blick auf 7,567 utile enim nihil est (~ πάντα ἀνωφελῆ ἦν in 2,47,4) zeigt, dass Ovid Elemente seiner Vorlage entnahm und über diese in freier Komposition verfügte.532 Unter Annahme der Echtheit der Verse ergibt sich noch ein weiteres Detail in der ungewöhnlichen Verwendung des Imperfekts bei iacebat :533 Es könnte sich dabei um eine Anspielung auf Lukrez handeln, der in seiner Beschreibung fast aus- schließlich das Imperfekt nutzte (vgl. Anm. 102, S. 127). Unabhängig davon dürfte ersichtlich geworden sein, weshalb die Verse weder zu transponieren noch zu tilgen sind.534 Met. 7,526f. großen Unheils … kämpfte man … Heer … besiegt darniederlag : Die im Lateinischen verwendeten Wörter cladis , pugnatum est , opem und victa iacebat er- zeugen vor dem Auge des Rezipienten eine Schlacht zwischen Ärzten und der Krankheit.535
532 Zwar ist die Bezugnahme auf Verg. georg. 3,549 quaesitaeque nocent artes evident, bietet jedoch kein Argument dagegen, dass der Gedanke des Wütens der Krankheit gegen die Ärzte von Thukydides entnommen wurde. Vielmehr zeigt sich in der kunstvollen Verarbeitung aller drei Vorgänger das ingenium Ovids (eine Rezeption des Grattius ist, wenn überhaupt, im Bild der herrschenden Krank-heit gegeben, Met. 7,553 und Gratt. 463).
533 Ungewöhnlich deswegen, weil in der gesamten Seuchenbeschreibung lediglich dann das Imperfekt genutzt wird, wenn es durch die Subjunktion dum ausgelöst oder eine Nebeninformation geliefert wird.
534 Abschließend mag noch ein Plausibilitätsargument für die Echtheit der Verse angeführt werden: Angenommen, die Verse wären von einem Interpolator gefertigt, so hätte dieser nicht nur (die auch sonst bisweilen bloß dürftig gelöste) Aufgabe der Versdichtung vor sich gehabt, sondern hätte die Verse zusätzlich aus dem Griechischen auf eine solche Art entlehnen müssen, dass die Vorlage noch erkennbar wäre. Ganz zu schweigen von den erforderlichen Griechischkenntnissen stellte sich auch schlicht die Frage nach der lokalen Verfügbarkeit des Thukydides.
535 Vgl. OLD s.v. clades (2), 330 „A military disaster, defeat, reverse.“ Der Begriff ops wird im militäri-schen Sinne für Truppen zwar i. d. R. im Plural verwendet, findet sich aber selten auch im Singular, vgl. mit OLD s.v. ops (1), 1258 Verg. Aen. 8,685. Das Bild der Schlacht gegen eine Krankheit war in
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Zwar ist dieser Kampf in Grundzügen bei Thukydides angelegt (primär durch das νικώμενοι, ‚besiegt‘), wird jedoch vom Dichter über die beiden Verse ausgeführt. Das Ergebnis im Gesamt- zusammenhang ist identisch mit dem der Vorlage: Direkt zu Beginn der Seuchenbeschreibung wird dem Rezipienten das Scheitern der Medizin vor Augen geführt. Mit Blick auf Lukrez und Vergil ist festzustellen, dass die Behandelnden in ihrem (wenngleich ergebnislosen) En- gagement hervorgehoben werden. Hatte Lukrez noch vom beschämten Murmeln der Medizin gesprochen und Vergils Arznei lediglich Schaden verursacht, sieht sich das Bemühen der Ärzte an dieser Stelle keiner Kritik oder Häme gegenüber, ja wirkt vielmehr heldenhaft. Met. 7,529–532 träge machenden Krankheitsstrom … mit ihrem todbringenden Strom : Die dichte Aufeinanderfolge von aestus und aestibus hat Herausgeber früh dazu bewogen, in V. 532 die Variante flatibus in den Text zu übernehmen.536 Als Erklärungsversuche der Dopp- lung (zum Zweck ihrer Beibehaltung) wurde zum einen die Rhetorisierung in der Assonanz von aestibus … Austri (Bömer), zum anderen das Bedeutungsspiel mit aestus als Hitze und als Krankheitsstrom (Kenney) angeführt.537 Gerade das letztere Argument und mit ihm die Frage nach der Semantik der aestus bedarf m. E. einer erneuten Betrachtung. Anderson vergleicht mit den letiferis aestibus den Ausdruck mortifer aestus (Lucr. 6,1138) und behauptet, Lukrez und Vergil hätten beide mit aestus Krankheitsströme bezeichnet.538 Für Vergil ist hier eindeu- tig zu widersprechen, da aestu in Georg. 3,479 an autumni und incanduit gebunden und damit rein thermischer Natur ist (s. o. den Komm. zur Stelle). Ovids Vorgänger hat der Tradition dementsprechend die ursprüngliche Wortbedeutung ‚Hitze‘ hinzugefügt. Wie steht es nun um die Semantik bei Ovid? In Vers 533 wird erläutert, die Krankheit wandere auch in Quellen und Seen ( constat et in fontes … lacusque ) – dies macht notwendig, dass vorher auch die Infektion der Luft bezeichnet wurde.539 Nähme man beide aestus als Wärme, wäre dies nicht gegeben. Nach dieser Prämisse ist mindestens unter einem der beiden aestus der Krankheitsstrom nach der Antike weit verbreitet (vgl. Lupton 32012, 61–64 und King 2013, 688), fand daneben bis in die Spätmoderne Verwendung und wurde nicht nur von Literaten bemüht, wie eine Rede des französi-schen Staatspräsidenten Emmanuel Macron an die Nation im Zuge der SARS-CoV-II-Pandemie vom 18.03.2020 bezeugte, in der er eindringlich wiederholte: „Nous sommes en guerre.“, vgl. dazu Füller/Dzudzek (2020), 170–173.536 Vgl. Heinsius (1758), 575.
537 Vgl. Bömer (1976), 336 und Kenney (2011), 278. Pisi (1989, 49) sieht die Stelle als „pura variazione fantastica sul tema della calura“. Im Folgenden wird sich zeigen, dass Ovids Gedankengang weder Selbstzweck noch unschlüssig ist.
538 Vgl. Anderson (1972), 300.
539 Dazu ist zu bemerken, dass diese Einsicht diejenigen, die flatibus in den Text übernehmen, eigentlich dazu verpflichtet, das erste aestus als Infektion der Luft anzunehmen.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Lukrez zu verstehen, obwohl der fehlende theoretische Unterbau der Atomistik einen Beige- schmack hinterlässt.540 In 7,529 wird beschrieben, wie der aestus in Wolken eingeschlossen wird: Solche ‚hohlen Wolken‘ ( nubes cavae ) werden sowohl bei Lukrez als auch in Senecas Naturales Quaestiones für die Erklärung von Wetterphänomenen hinzugezogen – hierbei wird jedoch Wind in den Wolken eingeschlossen.541 Weder aus dem beschriebenen Naturphänomen noch aus dem At- tribut ignavus kann dementsprechend eine Entscheidung für die Semantik des aestus getroffen werden.542 Für Vers 532 scheint die von Bömer zur Stelle vertretene These, der Auster sei weder heiß noch kalt, einen ersten Ansatz zu liefern. Wenn der Auster durch calidus zu klassifizieren ist, kann durch die letiferis aestibus eine Begründung dafür geliefert werden, warum der sonst vor allem feuchte Wind derart heiß ist. Diese Erklärung steht jedoch auf wackligem Funda- ment, da die Südwinde (wie Bömers Stellenverweise selbst zeigen) nicht selten ohnehin als heiß bezeichnet werden. Auf der anderen Seite ist es möglich, dass mit letiferis aestibus der Begleit- umstand eines Wetterphänomens, hier des Windes, angegeben wird.543 In diesem Fall wäre es redundant (wenngleich nicht unmöglich), aestibus als Wärme anzusehen, da dann das Wehen der warmen Winde von der todbringenden Wärme begleitet würde: Dies spräche dafür, das zweite aestus als Krankheitsstrom anzusehen. Daher wird hier für beide aestus angenommen, dass mit ihnen ein Krankheitsstrom be- zeichnet werden soll, und zwar aus Gründen der Textkohärenz. Ginge man davon aus, dass der erste aestus ‚Hitze‘ bezeichnet, muss nach der Motivation dieses Verses gefragt werden, da das Einschließen des aestus in den Wolken eine nicht mehr genutzte und damit überflüssige Information darstellte. Nimmt man die Wolken jedoch als ‚Transportmedium‘ der Krankheit, ergeben beide Verse eine sinnvolle Abfolge. Es handelt sich folglich bei den aestus letiferi um genau den Krankheitsstrom, der vier Verse zuvor in den Wolken eingeschlossen wurde.544
540 Doch ebenso wird Lucan (6,89f.) ohne weitere theoretische Erläuterung schreiben: traxit iners cae- lum fluvidae contagia pestis | obscuram in nubem. (‚Zog die stehende Himmelsluft den Krankheits-stoff dieses flüssigen Unheils in eine dunkle Wolke zusammen.‘)
541 Vgl. bspw. Lucr. 6,121–131 und Sen. nat. 2,27. Die Aufnahme von drückender Hitze durch Wolken (vgl. dazu auch im Folgenden) wäre außergewöhnlich; bei Lukrez ist das Feuer ( ignis ), das in die Wolken fährt (z. B. Lucr. 6,150), Grundlage für Blitze.
542 Vgl. Skutsch, TLL VII,1 (1936) s.v. ignavus , 280, 55ff. Der Eintrag zeigt, dass ignavus i.S.v. ‚träge machend‘ lediglich dreimal bei Ovid in den Metamorphosen belegt ist. Die anderen beiden Belege befinden sich in kurzer Abfolge in Ov. met. 2,763 und 821, wobei einmal frigor , einmal gravitas die Ursache ist. Durch diese beiden Bezugswörter kann die eine Parallele zu aestus als ‚Hitze‘, die andere zum ‚Krankheitsstrom‘ angeführt werden.
543 Vgl. LHS II § 76c.
544 Wenngleich ohne Begründung scheint auch Vallillee (1960), 104 diese Position zu vertreten.
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Met. 7,530–532 und während der Mond … verschmälerte : Die hier vorliegende ausführliche und durchaus typische Beschreibung der Mondphasen wur- de von den Kommentatoren in erster Linie als Zeitangabe für die Dauer der Pest ausgelegt;545 dass es sich um eine solche handelt, ist unbestritten. Doch muss auf weitere Deutungspotenziale hingewiesen werden: Wilhelm Gundel hat herausgearbeitet, dass nach einer Aussage bei Pseu- do-Galen der Arzt Diokles v. Karystos (4./3. Jh. v. Chr.) dem Mond eine außerordentliche Wirk- macht auf die menschliche Gesundheit im Zusammenhang möglicher Prognostik zuschrieb.546 Es erscheint deshalb durchaus möglich, dass Ovid in der ärztlichen Praxis eine Inspiration fand. Eine weitere Deutung eröffnet sich durch die von Manilius benannte Symbolkraft des Schwin- dens und Wachsens des Mondes.547 In ihrem Werden und Vergehen spiegelte sich das Schicksal ( fatum ) von Mensch und Welt, das im Folgenden in Form des Exodus durch die Pest und die Wiedergeburt des Volkes mittels der Verwandlung der Ameisen wieder aufgegriffen wird. Met. 7,533 Krankheit : Der Begriff für ‚Krankheit‘ im Lateinischen lautet vitium , der in der Motivtradition aus- schließlich an dieser Stelle im Singular verwendet wird, um das einzelne Phänomen der Pest zu bezeichnen. Für die Semantik ist auf eine Stelle in Vergils Eklogen zu verweisen, die von Kommentatoren auch gerne zur Erläuterung des morbus caeli zu Beginn der Seuchenbeschrei- bung der Georgica angeführt wird.548 Das Wort vitium bezeichnet hier die Besetzung der Luft mit dem (wie auch immer vorgestellten) Krankheitsstoff und ist dementsprechend nicht, wie Bömer es vorschlug, mit ‚Gift‘ zu übersetzen.549 Dessen Verwunderung über den Wortgebrauch545 Eine Rezeption fand diese Zeitangabe in Girolamo Fracastoros Syphilis 1,319ff.: In primis mirum illud erat, quod labe recepta, | saepe tamen quater ipsa suum compleverat orbem | luna prius, quam signa satis manifesta darentur (‚Jenes war besonders verwunderlich, dass oft nach einer Ansteckung der Mond trotzdem noch vier Mal seinen Kreis vollendet hatte, bevor die Erkrankten ausreichend sichtbare Symptome zeigten.‘), deren zahlreiche Bezüge zu den hier behandelten Seuchenbeschrei-bungen noch zu untersuchen sind, vgl. den Ansatz bei Glei (2013).
546 Vgl. Gundel (1933), 103f mit Verweis auf [Gal.] progn. decub. 901 (= 19,530f. K.): Διοκλῆς δὲ ὁ Καρύστιος καὶ ῥήτωρ οὐ μόνον αὐτός φησιν, ὡς καὶ σὺ γινώσκεις, ἀλλὰ καὶ τοὺς ἀρχαίους ἱστορεῖ, ἀπὸ φωτισμοῦ καὶ τοῦ δρομήματος τῆς ☾ τὰς προγνώσεις τῶν νόσων ποιουμένους . (‚Diokles von Charistos spricht nicht nur als Redner, wie du selbst weißt, sondern untersucht auch die Prinzipien, indem er Krankheitsprognosen auf der Grundlage des Lichtes und des Mondlaufs vornimmt .‘)
547 Vgl. Manil. 2,913–915: et dominam agnoscit Phoeben, fraterna videntem | regna per adversas caeli fulgentia partes | fataque damnosis imitantem finibus oris .
548 Vgl. Verg. ecl. 7,57 Aret ager, vitio moriens sitit aëris herba (‚Trocken ist das Feld und aufgrund der kranken Luft welkt das dürstende Gras dahin.‘) und Georg. 3,478.
549 Vgl. Bömer (1976), 337, womöglich in der Tradition von Meineke (1825), 380, der es mit Fäulnis über-setzen will. Besser haben v. Albrecht (1994) und Holzberg (2017) vitium in ihren Übersetzungenmit ‚Seuche‘ wiedergegeben.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung an dieser Stelle ist nachvollziehbar, da er für seine Argumentation u. a. auf die Dissertation von Fritz Schoknecht zu vitium und dessen Entwicklung zurückgreift. Dieser wiederum geht auf der Grundlage von Ciceros Tusculanen von einer klaren Scheidung von morbus und vitium vor Celsus aus.550 Die vorliegende Stelle sowie der angegebene Eklogenvers ergeben jedoch ein anderes Bild, zumal der Bezug auf die Krankheit an einzelnen Gliedern, wie er bei Cicero für vitium geschildert wird, im vorliegenden Zusammenhang keinen Sinn ergibt.551 Der Schritt zu Bömers ‚Gift‘ liegt ferner als schlicht anzunehmen, dass die Ausweitung des Begriffs (zumin- dest in der Dichtung) früher stattgefunden hat als u. a. von Schoknecht angenommen. Deshalb wird vitium im allgemeinen Sinne als ‚Krankheit‘ übersetzt. Met. 7,533–535 Es ist bekannt … mit ihrem Gift verdarben : Mit diesen Versen fügt Ovid der Übertragung der Krankheit durch die Luft auch dieje- nige über das Wasser hinzu.552 Mit diesen beiden Elementen umfasst die Beschreibung die beiden Überträgermedien, welche die Motivtradition kennt.553 Zwar war bereits bei Lukrez (6,1126 in aquas cadit ) und Vergil (Georg. 3,481 corrupitque lacus ) die Rede von einer In-
550 Vgl. Schoknecht (1930), 32–37 mit Cic. Tusc. 4,28: Quo modo autem in corpore est morbus, est aeg- rotatio, est vitium, sic in animo. morbum appellant totius corporis corruptionem, aegrotationem mor- bum cum imbecillitate, vitium, cum partes corporis inter se dissident , ex quo pravitas membrorum, distortio, deformitas. (‚Wie es nun im Körper Krankheit, Übelbefinden und vitium gibt, so auch im Geist. Mit Krankheit bezeichnet man die vollständige Verdorbenheit des Körpers, mit Übelbefin-den Krankheit, die mit Schwäche einhergeht, mit vitium (~Mangel) den Zustand, wenn Teile des Körpers nicht zueinander passen , worunter Verkümmerung, Verdrehung, Entstellung der Glieder zählen.‘)
551 Daneben ist auch Verg. georg. 3,454ff. zu nennen, wo ebenfalls im Krankheitskontext vom vitium die Rede ist: alitur vitium vivitque tegendo, | dum medicas adhibere manus ad volnera pastor | abnegat et meliora deos sedet omina poscens . (‚ Die Krankheit nährt sich und lebt im Verborgenen, solange der Hirte sich weigert, heilende Hände an die Wunden zu lassen, untätig herumsitzt und bessere Vor-zeichen von den Göttern einfordert.‘)
552 Der von Anderson (1972, 300) gesehene Widerspruch besteht m. E. nicht – es handelt sich nicht um zwei widerstreitende Erklärungsansätze, sondern um die Schilderung der zwei Infektionsmöglich-keiten, zum einen über die Luft, zum anderen über das Wasser.
553 Lucan (6,93f.) erhebt das Wasser sogar in seiner Eignung als Überträgermedium über die Luft (s. u. Komm. zur Stelle). Den umfassenden Charakter von Ovids Ätiologie hob Georg Sabinus, ein Schüler Philipp Melanchthons, im Jahr 1555 in einem Kommentar hervor und gab damit zugleich eine Zu-sammenfassung zeitgenössischer Theorie: „Physici tradunt vicium seu corruptionem aeris esse cau-sam pestilentiae, ipsumque aera corrumpi et venenato terrae vapore et multorum cadaverum foetore. Interdum etiam ex vicio aquarum gigni pestilentem morbum. Quas Physicas causas omnes Ovidius erudite complectitur.“ (‚Die Ärzte lehren, die Krankheit oder Vergiftung der Luft sei Grund für eine Pest, die Luft selbst werde verdorben durch giftige Dämpfe aus der Erde und den Gestank vieler Lei-chen. Bisweilen entstehe eine Pest sogar aus der Krankheit von Gewässern. All diese Ursachen der Ärztezunft gibt Ovid auf gelehrte Art vollständig wieder.‘)
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fektion des Wassers, jedoch wird an der vorliegenden Stelle eine Erklärung gegeben, die über den Krankheitsstrom oder ein Wetterphänomen hinausgeht: Das Wasser wird (zusätz- lich?) durch das Gift von Schlangen verdorben.554 Schlangen genossen in der griechisch-rö- mischen Antike einen ambivalenten Ruf, da ihnen einerseits (insbesondere im Zusammen- hang mit Asklepios) heilende Kräfte zugeschrieben werden konnten; andererseits wurden sie als chthonische Wesen mit der Unterwelt verknüpft und galten als unheilvolle Dämonen.555 Letztere Konnotation liegt hier vor und kann bei genauerer Betrachtung ein Verständnis- problem der inculti agri lösen: Diese führten bei manchen Interpreten zu Verwunderung über eine gewisse zeitliche Inkohärenz, da es sich hier doch um den Anfang der Pest handeln müsse; es sei nicht nachvollziehbar, dass die Äcker bereits an dieser Stelle nicht bestellt wür- den.556 Dafür gibt es einen plausiblen (textimmanenten) Lösungsvorschlag – in incultos liegt m. E. ein sog. Partizip mit Möglichkeitsbedeutung vor, die Felder sind folglich unbestellbar und nicht unbestellt.557 Die Unbestellbarkeit wiederum kann mehrere Ursachen haben: Ent- weder verwüstet die schiere Anzahl der Schlangen ( multa milia serpentum ) die Felder und die Menschen sind schlichtweg verängstigt oder das Schlangengift tritt auch an dieser Stelle554 Die Kommentatoren vergleichen Hyg. fab. 52, wo ebenfalls die Pest auf Ägina beschrieben wird, Iuno jedoch nur eine einzige Schlange schickt, um das Wasser zu vergiften. Eine Interpolation, wie Rohde (1929, 36 Anm. 11) sie annehmen wollte, ist trotz der unüblichen Form des errasse (vgl. Bömer 1976, 337) nicht nachzuweisen. Kenney (2011, 279) macht zu Recht darauf aufmerksam, dass die Ver-giftung (535 fluvios temerasse venenis ) an die Vorlage des Thukydides (2,48,2, T III A) erinnert. An-gesichts der Übereinstimmung, die zu Beginn von Ovids Beschreibung festgestellt wurde, erscheint eine direkte Bezugnahme durchaus möglich.
555 Vgl. Crawfurd (1914), 2f., Rosenberger (1998), 115, Ritzmann (2005), 777f. und Hartmann (1921), 507–514, aus dessen Beschreibung der Schlange auch die Übertragbarkeit auf Seuchen schlüssig erscheint (509): „Gemeinsam ist allen diesen und noch vielen anderen Völkern nur der Ausgangs-punkt, der Eindruck nämlich, den der unheimliche Charakter der S[chlange] auf den primitiven Menschen macht, ihr lautloses Dahingleiten, ihr rätselhaftes Verschwinden und Erscheinen, ihr faszinierender Blick […], ihr schneller und tödlich-wirkender Angriff.“ Ähnlich urteilen auch Fin-negan (1999), 40 und Barton (2000), 101 Anm. 209. Vergleichbar ist die Vorstellung der Krankheit als Wurm, wie sie für die ägyptische Medizin belegt ist (vgl. Steger 2021, 21). Als böses Omen treten Schlangen auch in Obseq. 68 auf, wo sie den Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius ankündi-gen. Nennenswert ist vor diesem Hintergrund auch Greg. Tur. Hist. 10,1, wo bei einer Tiberüber-schwemmung vor dem Seuchenausbruch am Ende des 6. Jahrhundert Schlangen in die Stadt gespült werden.
556 Anderson (1972, 300) übergeht die Problematik und geht von einer zeitlichen Aufeinanderfolge aus. Kenney (2011, 279) deutet die Vorwegnahme so, dass der Dichter die Schlangen eher als Verschlim-merung der ohnehin bestehenden Problematik ansieht. Fickelscherer (81920, 92f.) erklärte die un-bestellten Felder mit der Trägheit der Menschen ( ignavos ) und der Dürre. Gardner (2014, 18 und erneut 2019, 154) sieht in den inculti agri eine Anspielung auf den Zustand des Goldenen Zeitalters. Im Folgenden wird ein simplerer Lösungsweg unterbreitet.
557 Zum Partizip Perfekt mit Möglichkeitsbedeutung (belegt seit den Augusteern) vgl. LHS II § 209b.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung aus, sodass neben dem Wasser auch die Erde (und mit ihr die Feldfrüchte)558 vergiftet wird. Letztere Variante ist auch deshalb attraktiv, weil neben Luft und Wasser auch die dritte Sphäre, die Erde, umfasst würde.559 Met. 7,536f. Zuerst wurde an Leichenhaufen der Hunde … und an wilden Tieren : Die ersten beiden Verse der Infektion heben zum einen die Vielfalt der Tierrassen und die Quantität der Kadaver, zum anderen die bereits mehrmals angesprochene Plötzlichkeit der Krankheit (Rapidität, vgl. Kapitel 1.6) hervor. Ovid lässt das Sterben mit den Tieren beginnen, die er zunächst in einer Aufzählung unspezifisch nebeneinanderstellt, um sie im Folgenden in einzelnen Schritten zu behandeln. Von den anfangs genannten Tieren werden zunächst die Schafe ( oves )und Rinder ( boves ) expliziert; das Pferd kommt hinzu, bevor die wilden Tiere ( ferae ) und deren abweichendes Verhalten geschildert werden. Die Gesamtanlage der Verse 536–546 ist von Vergils Seuchenbeschreibung inspiriert, wobei Ovid die Reihenfolge variiert (in der Vorlage Opfertier – Pferd – Stiere – Wildtiere hin zu Stiere – Schaf – Pferd – Wildtiere). Trotz dieses ersten Eindrucks ist die Rezeption nicht rein linear, da in den Versen 596–601 er- neut Aspekte aus Vergils Darstellung verarbeitet werden. Met. 7,541 fiel ihre Wolle von allein und ihre Körper magerten ab : Gardner sieht an dieser Stelle zu Recht eine Anspielung auf Beschreibungen des Goldenen Zeitalters.560 Ovids Vorgänger Vergil hatte mit seiner ‚Travestie‘ (s. o. Komm. zu Verg. georg. 3,537–540) ein Motivelement in die Pest eingeführt, das aus dem Schrecken des Todes eine Relativierung der Mühelosigkeit (Beseitigung des labor improbus ) und des Überflusses welt- licher Güter herleitet. Diese Güter, die der Mensch nunmehr von der Natur erhält, ohne dass sie ihr durch seine Arbeit abgetrotzt werden müssten, verlieren ihren Wert im Massensterben. Diesen Gedanken hat Ovid mithilfe eines neuen Elementes auf einen Vers verdichtet:561 Der vermeintliche Gewinn der Wolle wird sogleich durch die Abmagerung der Tiere aufgewogen; dabei ist auf die künstlerisch geschickte Umsetzung hinzuweisen, dass der Rezipient den Ein-
558 Damit wäre nebenbei Vallillees (1960, 106) Verwunderung darüber hinfällig, dass Ovid dieses in beinahe allen Vorlagen vorhandene Motiv nicht verarbeitet hat.
559 Die Erde als Krankheitsträger tritt auch in Sil. 14,591 squalebat tellus vitiato fervida dorso auf (s. Komm. zur Stelle).
560 Vgl. Gardner (2019), 156f. und Verg. ecl. 4,21f. ipsae lacte domum referent distenta capellae | ubera . (‚Von sich aus werden die Ziegen ihre mit Milch prall gefüllten Euter nach Hause bringen.‘)
561 Die von sich aus abfallende Wolle scheint weder Vorgänger noch Nachfolger gefunden zu haben. Bömer (1976, 338) verweist lediglich für die Stellung des sponte sua auf Ov. met. 1,90, ebenso Kenney (2011), 280. Auch ein Blick auf Sprichwortsammlungen der Antike und des Mittelalters führt zu keiner Parallele – es handelt sich folglich um eine Eigenheit Ovids.
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druck erhält, das Abfallen der Wolle mache gleichsam den eigenen Blick auf die Auszehrung der Tiere frei. Met. 7,542–544 das Pferd, einst mutig und ruhmreich … einem trägen Tode geweiht : Das Pferd erhält mit drei Versen eine Sonderstellung in der Aufzählung der Nutztiere.562 Dies findet (ähnlich wie bei Vergil) sicherlich auch seine Begründung im Status, den dieses Tier für die griechisch-römische Gesellschaft besessen hat.563 Im Vergleich mit Vergil fällt nichtsdestoweniger auf, dass die Übersteigerung des dem Pferd eigenen Kampfesmuts zur Ra- serei einer absoluten Erschöpfung gewichen ist. Ovid legt den Schwerpunkt auf die Opposition des ursprünglichen, energischen Wesens und der Todesart ( mors iners ). Met. 7,545f. Nicht gedachte der Eber zu zürnen … auf das kräftige Weidevieh loszugehen : Bei der Verarbeitung des Abschnitts zur Wesensverkehrung in Zeiten der Pest (=Verg. georg. 3,531–547) nutzt Ovid von Vergil an anderer Stelle beschriebene Tiere,564 vermutlich auch, um eine bloße Wiederholung zu vermeiden. Die einzige Überschneidung besteht im scheuen und schnellen Wild, das nicht mehr davonläuft, wobei der Prodigiencharakter aus den Georgica keine Entsprechung findet (s. Anm. 442, S. 201). Ausgetauscht wird der Wolf durch den wüten- den Eber, der Aspekt der Gefährdung der Herde wird mit der Einführung der Bären in die Rei- he aufgenommen.565 Bömer hat in seinem Kommentar Motivation und mögliche Vorlagen für Ovid dargelegt, wobei er die Ungewöhnlichkeit dieser Verbindung von wilden Bären und Wei- devieh hervorhob.566 Mit Blick auf seine Aussage, die Formulierung armenta fortia sei „reiner poetischer Schematismus“,567 da doch in der Situation der Pest keines der Tiere noch als fortis zu bezeichnen sei, ist ihm zu widersprechen. Diese Bewertung geht nämlich dahingehend fehl, dass der Dichter hier nicht die konkrete Situation vor Augen hat, sondern dem Rezipienten anhand des Epithetons das übliche Charakteristikum der Tiere aufzeigt – das entspricht auch562 Für die Argumentation gegen eine Athetese von Vers 543 vgl. Marahrens (1971), 115f.
563 Klingner (1967, 286) sieht in Vergils drittem Georgicabuch, auf das Ovid mit seiner Beschreibung Bezug nimmt, das Bestreben, das Pferd als göttliches Wesen zu zeichnen. Zur Prestigeträchtigkeit des Pferdes, das stets auch Zeichen ökonomischer Unbeschwertheit ist, vgl. Kitchell (2014), 88–91.
564 Vgl. Verg. ecl. 4,22 nec magnos metuent armenta (‚Weidevieh‘) leones und Verg. georg. 3,247–249: tam multa informes ursi (‚hässliche Bären‘) stragemque dedere | per silvas; tum saevus aper (‚der wilde Eber‘), tum pessima tigris; | heu male tum Libyae solis erratur in agris (s. auch Anm. 428, S. 197). Bei der Besprechung der Georgica wurde bereits auf die enge Verbindung des Abschnitts zur Sexuali-tät und der Pest hingewiesen – eine motivische Entlehnung von dort für die Neuverarbeitung der Pest legt nahe, dass eine solche auch in der Antike gesehen wurde.
565 Vgl. Toynbee (1973), 93–100 zu Bären, 131–136 zu Ebern und Schweinen.
566 Vgl. Bömer (1976), 339f.
567 Ibid., 340.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung dem allgemeinen Erzählmodus der Wesensverkehrung.568 Schwierig bleibt die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Eber und Bär: Da beide für ihre (vermutlich) sprichwörtliche Wut und Gefährlichkeit angeführt werden, entsteht eine gewisse Redundanz. Met. 7,550f. sie zerfielen und schmolzen … und trugen die Ansteckung in die Ferne : Anhand der Zuschreibung einer aktiven Tätigkeit an die ‚schmelzenden‘569 Tierkadaver ( agunt 570 contagia late ) führt der Dichter mit dem miasmatischen Leichnam ein neues Element in die Motivtradition ein.571 Bei Lukrez war die Ausbreitung durch den atomaren Krankheits- strom und bei Vergil durch die vergiftete Luft von vornherein ausreichend begründet; dennoch konnte bei der Betrachtung von Vergils Seuchenbeschreibung ein Innovationsdrang beim Übergang der Krankheit vom Vieh auf den Menschen festgestellt werden, indem er sich nicht auf die Übertragung durch das Fleisch beschränken wollte (s. o. Komm. zu Georg. 3,561–563). In vergleichbarer Weise liefert Ovid mit den miasmatischen Kadavern nun eine eigene Be- gründung dafür, wie die Krankheit (und mit ihr die Erzählung) von den Nutz- und Wildtieren zu den Menschen übergeht.572 Folglich ist Vallillee, der Ovid aufgrund von dessen Rückgriff auf eine Vielfalt literarischer Vorlagen (und deren vermeintlich unvereinbare narrative Sys- teme) zu dieser Neuerung gezwungen sieht, nicht zuzustimmen; vielmehr ist mit Anderson anzunehmen, dass es sich um eine bewusst gesetzte und geschickte Innovation handelt, die
568 Vergleichbar Kenney (2011), 280. Für das Bild vgl. Sil. 4,563 ut subigente fame diversis rupibus ursi | invadunt trepidum gemina inter proelia taurum . (‚Wie unter dem Zwang des Hungers in zerklüfteten Gebirgen Bären den zitternden Stier in eine Schlacht von zwei Seiten drängen.‘). Die Furcht des Stiers ergibt sich durch die Bedrängnis durch gleich zwei hungrige Bären.
569 Zur Konzeption der Verwesung anhand verflüssigender Fäulnis vgl. oben Komm. zu Verg. georg. 3,557.570 Die Diathese tritt insbesondere durch einen Vergleich mit der Rezeption bei Lucan. 6,88–90 hervor, bei dem syntaktisch nicht die Leichen selbst die Verbreitung der Krankheit verursachen, sondern die Luft ( caelum ), s. auch unten den Komm. zur Stelle.
571 Den Leichnam als Krankheitsüberträger hat bereits Thukydides (2,50,1) vorbereitet, als er beschrieb, wie die wilden Tiere nach dem Leichenfraß selbst verendeten, vgl. auch Demont (1983), 347 und Soph. OT 180f.
572 Bodel (1994, 36) spricht in seiner Untersuchung zur Lex Lucerina von einer späteren Entwicklung dieses Wissens: „Awareness of the sanitary risks caused by the exposure of decomposing human flesh in areas of human activity does not seem to be explicitly attested before the last quarter of the second century AD, but there is some reason to believe that Romans of an earlier day, whatever their understanding of the mechanics of transmission, recognized an association between rotting corpses and poor health.“ (Hervorhebung FN) Die Unbestimmtheit sowohl des Zeitpunkts als auch der Vor-stellungsart lässt sich mit Ovids expliziterÄußerung konkretisieren: In der ersten nachchristlichen Dekade findet sich die Idee einer Vergiftung der Luft durch verwesende Leichen, die zur Verbrei-tung von Krankheiten beitrug; Gegenmaßnahmen finden sich ebenfalls in diesem Jahrhundert, s. Anm. 67, S. 356.
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unabhängig von ihrer narrativen Funktion auch eine wichtige Vorstellung von Krankheits- übertragung widerspiegelt.573 Met. 7,552f. zu den armen Bauern … in den Mauern meiner großen Stadt : Anderson ist etwas ungenau in seiner Behauptung, Ovid habe sich hier von Lukrez inspi- rieren lassen, der die Bauern bereits krank in die Stadt wandern ließ.574 Bemerkenswerterweise greift Ovid die Wanderung der Bauern überhaupt nicht auf, sondern spricht nur von der An- steckung auf dem Land und in der Stadt. Die Trennung von Stadt und Land entspricht zwar der des Lukrez (im Gegensatz zu Thukydides), jedoch auch dem typischen Beschreibungsmo- dus von Geschichtsschreibern, bei denen Seuchen in der Regel Ländereien und Städte heim- suchen (s. Anm. 99, S. 126), und damit wohl einer generellen Vorstellung; darüber hinaus wird, als logische Konsequenz der Auslassung der Wanderung, auch keine kausale Zuordnung vor- genommen. Spuren des Lukrez sind dementsprechend kaum auszumachen. Angesichts der unmittelbar vorausgehenden Formulierung des agunt contagia late (dazu s. o.) erscheint die Verbreitung der Krankheit vielmehr auch ohne die Annahme einer Landflucht plausibel und dem Text näher.575 Met. 7,554–557 Die Eingeweide brannten zuerst … wurde gierig eingesogen : Wie bereits oben bei der Verarbeitung der Tierszenen ersichtlich wurde, fasst Ovid die von seinen Vorgängern behandelten Elemente häufig zusammen; so wird auch die Aufzählung der Symptome der Menschen, die von Thukydides und Lukrez beschrieben wurden, stark gerafft: Brennen der Eingeweide ( viscera torrentur ), Rötung der Haut ( rubor ), heißes Keuchen ( ductus anhelitus igni ), Schwellung der rauen Zunge ( aspera lingua tumet ), Mundtrockenheit ( arentia ora , vgl. auch Anm. 397, S. 190) und Durst, Verhärtung des Oberbauchs ( praecordia dura ) wer- den in rascher Folge aneinandergereiht. An diesem Katalog fallen mehrere Aspekte auf: Zu- nächst beschränkt sich der Dichter ausschließlich auf die obere Körperhälfte,576 eine Beschrei- bung von Magenbeschwerden oder gar Ausscheidungen (s. Komm. zu Lucr. 6,1200) bleibt aus. Auffällig ist weiterhin, dass die von Lukrez sehr umfänglich dargelegten signa mortis auf ihren dramatischen Kern, das letzte Verdrehen der Augen, reduziert werden (s. u. zur Stelle).573 Vgl. Vallillee (1960), 111 und Anderson (1972), 301.
574 Vgl. Anderson (1972), 302. Womöglich formulierte er aus den im Folgenden skizzierten Gründen sehr vorsichtig: „ To some extent , he may be inspired to this transition“ (Hervorhebung FN).
575 So auch Kenney (2011), 281: „I due versi di Ovidio danno l’impressione di una devastazione totale e quasi simultanea“.
576 Mit dieser Schwerpunktsetzung prägt Ovid die Symptomatik seiner Nachfolger, die den Erkrankten ebenfalls weitestgehend ins Gesicht blicken, vgl. auch Kapitel 3.1.3.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Met. 7,555 igni: In den meisten Handschriften findet man igni / igne überliefert, aegre ist hingegen eine Konjektur von Heinsius, die sich zudem nach Tarrants Oxford-Ausgabe mindestens in ei- ner Renaissancehandschrift findet. Tarrant druckt entsprechend aegre , ebenso einige neuere Herausgeber wie Hill und Kenney. Letzterer sieht hierin den Vorteil, dass ein lukrezischer Versschluss (6,1223) entstehe und eine unnötige Betonung des igni vermieden werde.577 Die Überlieferung sei als Glosse zu erklären. Aus dieser Lösung ergeben sich nicht zuletzt inhalt- liche Schwierigkeiten, da nicht unmittelbar ersichtlich wird, wie eine schwergängige Atmung (so die bisherige Interpretation) eindeutiges Anzeichen eines inneren Feuers ist. Anderson druckt igni , sieht darin jedoch einen Ablativus causae und den Beginn des neuen Satzes.578 Problematisch an dieser Lösung ist die unnachvollziehbare Betonung des igni als Enjambe- ment, die Kenney zum Anlass für die Übernahme der Konjektur nahm. Hier wird ein anderer Weg beschritten, indem die Interpunktion der alten Teubneriana von Merkel wieder aufge- griffen wird. Dieser druckt igni und setzt danach eine harte Interpunktion. Wie ist dies aber zu verstehen? Bislang wurde der ductus anhelitus als schwergängige Einatmung oder nicht näher differen- ziert als Atmung aufgefasst. Dieses Verständnis ist nicht zwingend: Bei Gellius (12,5,2) findet sich folgende Beschreibung des erkrankten Taurus: Et ubi ad aedes, in quis ille aegrotus erat, pervenimus, videmus hominem doloribus cru- ciatibusque alvi, quod Graeci κόλον dicunt, et febri simul rapida adflictari gemitusque ex eo conpressos erumpere spiritusque et anhelitus e pectore eius evadere non dolorem magis indicantes quam pugnam adversum dolorem. Daraus wird ersichtlich, dass anhelitus nicht nur das stoßweise Einatmen, sondern auch analog ein keuchendes Ausatmen bezeichnet. Die Tätigkeit der Ausatmung kann ebenfalls durch du- cere ausgedrückt werden.579 Nach dieser Interpretation wäre igni entweder als Ablativus modi oder als Angabe des räumlichen ‚Woher‘ zu deuten,580 das die vorher bereits genannten Flam- men im Innern nach außen treten lässt: Es handelt sich um ein heißes Keuchen, aus dem das
577 Vgl. Kenney (2011), 281.
578 Vgl. Anderson (1972), 302.
579 Vgl. Auct. ad Herenn. 4,45 A pluribus unum sic intellegetur: ,Atrox calamitas pectora maerore pulsa- bat; itaque anhelans ex imis pulmonibus prae cura spiritus ducebat .‘
580 Vgl. KSt II,1 361 und 408f. Der Wegfall der Präposition (bei Abl. sep.) wäre der dichterischen Sprach-freiheit zuzuschreiben.
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innere Feuer für den Beobachter ersichtlich wird.581 Damit können die von Kenney genannten Schwierigkeiten durch die Änderung der Interpunktion und der semantischen Deutung des anhelitus behoben werden. Ein weiteres Argument für die Beibehaltung der Überlieferung kann auch eine Rezeption in der Seuchenbeschreibung des Silius (14,601) liefern: aspera pulmonem tussis quatit, et per anhela igneus efflatur sitientum spiritus ora.Ein rauer Husten erschütterte die Lunge und der Atem der Dürstenden trat wie Feuer mit einem Keuchen aus ihrem Mund. Freilich ist Ovid an dieser Stelle nicht die einzige Bezugsquelle des Silius (vgl. Appendix A1), doch scheint der Gedanke des feurigen Atems ausschließlich eine Parallele in der überlieferten Textfassung der Metamorphosen zu finden.582 Für sich genommen ist dies zwar kein belast- bares Argument für die Beibehaltung (der Vorwurf der petitio principii läge nah), kann jedoch in Verbindung mit der obigen Argumentation als Plausibilitätsargument angeführt werden. Met. 7,558 keine Decke, keine Art von Verhüllung : Die Unfähigkeit der Erkrankten, Kleidungsstücke an ihrer Haut zu ertragen, wurde auch von Thukydides (2,49,5 T V) erwähnt. Ein im Zusammenhang mit Lukrez (s. o. Komm. zu Lucr. 6,1163–1165) mehrfach herangezogener Passus des Celsus über das Brennfieber be- schreibt, dass die Kranken in Gewänder eingehüllt werden sollen.583 Met. 7,559 dura: Tarrant übernimmt in der Oxford-Ausgabe Scheppers Konjektur nuda in den Text,584 der die These aufstellte, aus dem Zusammenhang werde ersichtlich, dass nuda zu lesen sei. In der Folge ent-
581 Ein vergleichbares Symptom beschreibt auch Galen im vierten Buch seiner Schrift De locis affec- tis 471 (= 8,275 K.): ἔτι δὲ καὶ τοῦτο πρόσεστι τῇ διὰ θερμασίαν πολλὴν δυσπνοίᾳ κατὰ μέγεθος καὶ πυκνότητα καὶ τάχος γινομένῃ, τὸ μετ’ ἐκφυσήσεως γίνεσθαι τὴν ἐκπνοὴν θερμοῦ καὶ ζέοντος πνεύματος· (‚Weiterhin kommt dies noch hinzu, wenn wegen zu viel innerer Hitze Atemschwierig-keiten in Hinblick auf die Tiefe, die Frequenz und die Schnelligkeit entstehen, dass der ausgeatmete Hauch kochend heiß wird.‘); s. im Extrem auch Anm. 592, S. 236.
582 Inwiefern die in Platons Timaios (79b–e) geschilderte Respirationstheorie einen unmittelbaren oder mittelbaren Einfluss auf diese Konzeption ausgeübt hat, lässt sich nicht rekonstruieren. In jedem Fall ist dessen Darstellung illustrativ für die Sonderrolle, die der Wärme bzw. dem Feuer im Atemvor-gang zugeschrieben werden konnte.
583 Vgl. Cels. 3,7,2c Ubi utrumlibet factum est, multa veste operiendus est, et collocandus ut dormiat. (‚Sobald eines von beidem [s. Anm. 157, S. 137] geschehen ist, muss der Patient mit zahlreichen Ge-wändern bedeckt und gelagert werden, damit er schläft.‘)
584 Vgl. Burmann (1727), 517.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung schied sich die Mehrzahl der Herausgeber dennoch für den consensus codicum , dura . Nichtsdesto- weniger steht die Konjektur durch Tarrants Entscheidung zur Diskussion, die durch einen Blick auf medizinische Fachschriften entschieden werden kann. Dort findet sich nämlich die Verbindung praecordia dura wiederholt als Fachausdruck für die Verhärtung (und die damit häufig einherge- hende Schwellung585) eines bestimmten Abschnittes des Bauches unterhalb der Brust.586 Zur Illust- ration kann insbesondere Cels. 3,20,6 mit seinen diätetischen Maßnahmen herangezogen werden: Si praecordia mollia sunt, cibis utendum plenioribus; si dura, in isdem sorbitionibus subsistendum, inponendumque praecordiis quod simul et reprimat et molliat.
Wenn der obere Bauch weich ist, muss man reichere Kost verschreiben; wenn er hart ist, muss man bei der oben genannten Brühe bleiben und dem Bauch etwas auflegen, das ihn zugleich abschwellen lässt587 und weich macht. Es handelt sich folglich bei den praecordia dura zum einen um eine Innovation im Bereich der Symptome. Zum anderen scheint es sich eindeutig um eine Entlehnung aus der Fachsprache
585 Mehrfach wird die Schwellung (ἔπαρσις, éparsis) oder Spannung (ἔντασις, éntasis) in diesem Bereich im Corpus Hippocraticum beschrieben, vgl. exemplarisch Hp. Prorrh. 2,4 (= 9,20 L.) und Epid. 3,1,2 (= 3,32–38 L.).
586 Vgl. OLD s.v. praecordia (1b), 1426 und Cels. 2,7,30; 2,17,4; 3,7,2c; 4,15,1; 5,18,7a sowie Scrib. Larg. 265. Caelius Aurelianus spricht später vorwiegend von der tensio praecordiarum , welche die oben genannte Schwellung bezeichnet. Bömer (1976, 343) nimmt m. E. unnötigerweise an, dass der Aus-druck an der vorliegenden Stelle eine andere Semantik besitzen müsse als in den medizinischen Fachschriften. Insbesondere der Zusammenhang legt nahe, dass sich Ovid medizinischen Vokabu-lars bedient hat, um eines seiner Symptome zu beschreiben. Es ist gerade der Zusammenhang, der nach André (1991, 220f.) und Langslow (2000, 276) betrachtet werden muss, um die Bedeutungsviel-falt des Begriffes einzugrenzen.
587 Die Bedeutung des reprimat ist an dieser Stelle anders aufgefasst als in der Übersetzung von Thomas Lederer (2016, 209), der es im Zusammenhang von Wickeln konsequent mit ‚der Krankheit Einhalt gebieten‘ übersetzt. Mit Blick auf Cels. 2,9,2, wo eine Kategorisierung therapeutischer Maßnahmen vorliegt, tritt reprimere als Gegensatz zu evocare hervor: Omne vero auxilium corporis aut demit aliquam materiam aut adicit, aut <e>vocat aut reprimit, aut refrigerat aut calefacit, simulque aut durat aut mollit: quaedam non uno modo tantum sed etiam duobus inter se non contrariis adiuvant. (‚Jedes Hilfsmittel für den Körper nimmt entweder etwas von seiner Substanz oder fügt etwas hinzu, lockt entweder hervor oder reprimit , kühlt entweder herab oder heizt auf und entsprechend härtet es entweder oder macht weich: Manche Mittel helfen nicht nur auf eine Art, sondern auch auf zwei Weisen, die nicht zueinander im Gegensatz stehen.‘). Die beiden Verba scheinen eine klare räum-liche Vorstellung zu implizieren (auch unabhängig vom Präfix e -), nach der das Übel entweder nach außen gelockt (und damit ausgeschieden) oder nach innen gedrückt (und damit gehemmt) werden soll. Entsprechend hat Lederer mit seiner Übersetzung zwar Recht, doch hat letztlich jede der in 2,9,2 genannten Therapien das Ziel, der Krankheit Einhalt zu gebieten – das reprimere sollte dennoch auch in seiner räumlichen Vorstellung erfasst werden und wird entsprechend mit ‚abschwellen‘ wieder-gegeben.
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zu handeln, die jedoch früh im übertragenden Sinne für cor und damit den Sitz von Gefühlen und Tugenden gebraucht wurde.588 Met. 7,560 sondern der Boden glühte von ihren Körpern : Der Erde werden von Aristoteles die Primärqualitäten ‚trocken‘ und ‚kalt‘ zugeschrieben, die ihr auch im entwickelten Viererschema zukommen.589 Von Seiten der Pharmakologen wird zu Ovids Lebzeiten die heilende Wirkung von Erde unterschiedlicher Ursprungsorte differenziert betrachtet, wie in der zweiten Hälfte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts durch Pedanios Dioskurides, der deren Wirkung ebenfalls der Kühlung zuschreibt.590 Vor dem Hintergrund der technisch fortgeschrittenen Nutzung von Erde im pharmakologi- schen Bereich schiene der Versuch der Selbsthilfe an dieser Stelle umso verzweifelter – ob der gebildete Rezipient jedoch derartige Fachkenntnisse besaß (und sei es durch die Er- fahrung als Patient), bleibt im Dunkeln. Unabhängig davon unterstreicht das Adynaton des Sieges der Krankheit über die Primärqualität der Erde ihre über- oder widernatürlich wirkenden Kräfte.591 Dabei führt der lateinische Begriff fervet (‚glüht‘), der auch für das menschliche Fieber Verwendung findet, zu einer Parallele zwischen Erkrankten und Ele- ment,592 die möglicherweise über die Wärmeübertragung hinausgeht und eine Sympathie grundlegt.593588 Vgl. Keudel, TLL X,2 (1985), s. v. praecordia , 512, 22ff. Keudels Eintrag führt die vorliegende Stelle nicht auf und ist dahingehend zu ergänzen.
589 Vgl. Arist. GC 330b und Schöner (1964), 66: „Eminent wichtig ist aber die Ausgestaltung, die das Viererschema im ‚Corpus Aristotelicum‘ (C. A.) erfuhr und die infolge der Autorität des Aristoteles auf philosophischem Gebiet auf die Viersäftelehre übertragen wurde: Es ist die bewußte und aus-drückliche Zuordnung von vier Qualitätenpaaren zu den vier empedokleischen Elementen.“
590 Vgl. u. a. Dsc. 5,169 und Stamatu (2005c), 267f.
591 Wenngleich in Dutoits Auflistung der Adynata in griechischer und römischer Dichtung kein vergleichbares aufgeführt ist, zeugen insbesondere solche von der Art ‚Wasser bringt Feuer her-vor‘ oder ‚Feuer bringt Eis hervor‘ vom Spiel mit Elementen und Primärqualitäten (vgl. Dutoit 1936, 169). Rowe (1965, 390 und 396) nimmt an, dass es ganze Listen mit Adynata für den lite-rarischen Gebrauch gegeben haben muss, da sie als eine Unterart des Sprichworts verstanden wurden.
592 Eine bemerkenswerte Parallele zu dieser Vorstellung findet sich noch in der ‚Deutschen Encyclopä-die oder Allgemeinen Real-Wörterbuch aller Künste‘ unter dem Lemma Kausos (1796, 440; Hervor-hebung FN): „Die Kennzeichen dieser Krankheit sind: ein harter und voller Puls, der hier merkli-cher ist, als in andern Krankheiten; starke Hitze, ein heftiger Durst, der zuweilen plötzlich nachläßt, eine außerordentliche Trockenheit der Augen, Nase, Lippen, Zunge und des Halses, heftiger Kopf-schmerz, und zuweilen in den Anfällen des Fiebers, Verwirrung der Sinnen; Heißwerden der Luft im Zimmer durch den Odem des Kranken “.
593 Zur Verwendung von fervor vgl. bspw. Cels. 2,7,28 post magnos fervores corporis nervorum rigor aut distentio (‚Nach starkem Glühen des Körpers folgt Steifheit oder Krampfen der Muskeln‘) und zur
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Met. 7,561–567a Keiner war da, der Einhalt gebot … Nützlich war nämlich nichts : Bereits in der obenstehenden Diskussion zur Tilgung der Verse 525–527 wurde für diesen Abschnitt eine große Nähe zu Thukydides festgestellt.594 Folgende Elemente sind als Gemein- samkeiten herauszustellen: a) Keiner war da, der Einhalt gebot,595 insbesondere gegen die Heiler brach das Wüten der Katastrophe los und die Heilkünste schadeten ihren Herren:
Denn je näher ein jeder einem Kranken war und je treuer er ihn pflegte, desto schneller trat er auf die
Seite des Todes;596a1) 2,47,4: Weder nämlich konnten Ärzte, die ohne Kenntnis der Erkrankung diese zum ersten Mal behandeln mussten, etwas ausrichten, starben vielmehr selbst am ehesten, da sie ja am meisten zu den Kranken gingen …b) und sobalddie Hoffnung auf Rettung vergangen war und die Kranken das Ende der Krankheit in ihrem Tod erkannten,b) 2,51,4 Das Schrecklichste an der ganzen Mise-re war aber die Verzweiflung, sobald einer spür-te, dass er krank war (denn da sie innerlich sofort jede Hoffnung verloren, gaben sie sich umso mehr auf und hatten der Krankheit nichts entgegenzu-setzen) …c) ergaben sie sich ihren Begierden und keiner kümmerte sich mehr darum, was von Nutzen sein könnte:c) 2,53,1 Auch anderweitig war diese Krankheit für die Stadt der Anfang einer zunehmenden Auf-lösung von Brauch und Gesetz. Leichter wagte nämlich jetzt so mancher, nach Lust und Laune zu machen, was er vorher geheim zu halten ver-sucht hatte, da man ja sah, wie die Dinge abrupt umschlugen …
Untersuchung sympathetischer Naturbeschreibung Posch (1969), 92–101. Diese stoische Form der kosmischen Sympathie wird im Zusammenhang von Senecas Tragödie weiter unten besprochen (s. u. a. Komm. zu Oed. 1–5).
594 Vgl. auch Nardi (1647, 538) in der 37. animadversio seines Lukrezkommentars.
595 Die lateinische Bezeichnung moderator wird in der Motivtradition nur noch in Lucr. 6,1247 ver-wendet, dort jedoch speziell für den Bauern ( moderator aratri ). Fickelscherer (81920, 94) sieht im moderator das Bild des Wagenlenkers angedeutet (vgl. etwa Ov. met. 4,245 nil illo fertur volucrum moderator equorum ), sodass die Krankheit mit einem ungehorsamen Pferd verglichen würde. Sollte für den Rezipienten ein solches Bild erkennbar gewesen sein, läge hierin möglicherweise auch eine Rezeption der Tisiphone aus Vergils Seuchenbeschreibung, die Krankheiten und Furcht vor sich her-treibt.
596 Hutchinson (2013), 212f. weist auf die pointierte Formulierung und das grotesk anmutende Spiel mit den Komparativen hin, die das Dilemma der Pfleger aufzeigen; im servit (‚dient‘) liegt möglicherwei-se ein Hinweis auf die soziale Realität, in der die beschriebene Tätigkeit tendenziell die von Sklaven gewesen wäre.
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d) Nützlich war nämlich nichts.a2) 2,47,4 … alles war nutzlos – am Ende gaben sie es auf, von der Katastrophe gebrochen. Die Erkrankung der Behandelnden führt bei den Menschen zur absoluten Hoffnungslosigkeit und erinnert darin an Lucr. 6,1179, wo das ratlose Murmeln der Medizin kurz vor die signa mortis gestellt war (s. Kommentar zur Stelle). Auch auf die Rezeption von Vergils Viehseu- che wurde bereits hingewiesen (s. Anm. 532, S. 223). Dementsprechend ist der Abschnitt aus- nehmend gut geeignet, um die literarische Verarbeitung aller drei Vorlagen aufzuzeigen – auf sprachlicher, inhaltlicher und struktureller Ebene. Met. 7,567b Ihr Schamgefühl einmal abgelegt / passim positoque pudore: Der aus Lukrez bekannte Abschnitt zu den Wasserstellen wird eingeleitet durch den Aus- druck passim positoque pudore , der unterschiedlich erklärt wurde. Neben der wenig zufrie- denstellenden Idee, der Dichter wolle lediglich eine Alliteration fabrizieren, gab es folgende Argumentationsansätze: Burmann ging recht weit, indem er im haerent einen Hinweis auf Geschlechtsverkehr sehen wollte.597 Kenney erkannte (mittels Thuc. 2,53) im pudor einen Hinweis auf den Zuwachs an Kriminalität oder eine Vorausdeutung auf den später beschrie- benen Freitod der Erkrankten (7,604f.). Die opinio communis geht davon aus, dass sich der Ausdruck auf die bloße Nacktheit der Menschen bezieht.598 Jedoch beruht diese Idee entwe- der auf 7,558 und Scheppers Konjektur nuda in 7,559, gegen die oben zur Stelle argumentiert worden ist, oder dem Prätext des Lukrez. Es finden sich in diesen Versen selbst keine An- haltspunkte dafür, dass sich pudor auf die Nacktheit bezieht – es ist vielmehr auffällig, dass der Abschnitt überhaupt keine Aussage über Hitzeempfinden macht, wie man es vielleicht erwarten würde. Deshalb ist m. E. pudor als Schamgefühl auf die Vorstellung des rechten Maßes zu beziehen, das durch das hemmungslose Trinken der Erkrankten überschritten und von den Mitmenschen beobachtet wird.599 Dieses wird zunächst durch das haerent na- hegelegt und durch inde graves expliziert. In Anknüpfung an den Prätext des Lukrez, in dem die Gier nach Wasser nicht zuletzt anthropologische Wesenszüge aufdecken sollte, liegt auch597 Vgl. jedoch zum gesteigerten Sexualverhalten in Krisensituationen Wolfenstein (1998 [1957]), 36.
598 Vgl. Burmann (1727), 517, Kenney (2011), 282. Anderson (1972, 304) geht von dem Wunsch nach einer Alliteration aus oder begründet mit Nacktheit und den Kämpfen um die Wasserstellen (Krimi-nalität). Bömer (1976, 345) spricht vom pudor publicus (=?).
599 In Kasters Taxonomie des pudor handelte es sich um Skript 6, wobei pudor hier als „your habit-ual sensitivity to the emotion and your inclination to anticipate and avoid the circumstances in which you would experience its fully embodied form“ (Kaster 2005, 30, zum Skript: 47) aufgefasst wird.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung hier ein Schwerpunkt auf der Moral, der durch das Epiphonem in 7,571 abgerundet wird (s. u. Komm. zur Stelle). Met. 7,570 (=571 Anderson) trotzdem trank mancher selbst jenes : Die steigernde Funktion des et i.S.v. ‚selbst, sogar‘ hebt den Umstand hervor, dass auch die im Wasser treibenden Leichen die Menschen nicht davon abhalten, es zu trinken.600Es ist schwer abzuschätzen, ob die vorliegende Stelle eher die Pietätlosigkeit gegenüber den Toten, die fehlende Weitsicht der Erkrankten mit Blick auf die Wirkung des Wassers oder schlicht deren Verzweiflung ins Visier nimmt.Für den antiken Rezipienten dürfte das Wasser durch das Miasma (im kultischen wie medizinischen Sinne) eindeutig verdorben gewesen sein. Aus medizinischer Sicht zeigt sich hier das Wissen um den Zusammenhang von Leichen, verdorbe- nem Wasser und daraus resultierender bzw. sich verschlimmernder Krankheit, das in diesem Fall übersteigert wird (s. u.). Eine solche Konzeption findet sich nicht nur bei Ovid: Illustrativ ist der Bericht seines Zeitgenossen Dionysius v. Halikarnass über eine Pest in Rom im Jahre 451 v. Chr., bei der ab einem bestimmten Punkt Leichen aufgrund von Platz- und Zeitmangel in Gräben und in den Tiber geworfen werden. Das Resultat ist, dass das Wasser ungenießbar wird und die Menschen krank macht.601 Met. 7,571 (=569 Anderson) nec sitis est … bibendo: Der Vers wird von den Herausgebern unterschiedlich beurteilt. Der Großteil der jüngeren Editoren tilgt ihn in der Tradition von Rudolf Merkel, die älteren lassen ihn an Ort und Stelle stehen.602 Hiergegen wendet Kenney ein sprachliches und ein inhaltliches Argument ein:603 Der Vers antizipiere auf unpassende Weise das folgende Verspaar und sei überdies sprachlich auffällig. In der Tat ist die Verbindung sitim extinguere (anstelle v. sedare ) sonst zuerst bei Se- neca belegt;604 die Abweichung von der sprachlichen Norm kann hier jedoch durch die speziel- le Funktion des Verses eine Begründung erhalten. Diese wiederum geht einher mit der Frage nach der Position des Verses, die zweifelsohne zu ändern ist, wenn eine Athetese vermieden werden soll – eine Beibehaltung nach Art der älteren Kommentare erscheint inhaltlich aus- geschlossen. Mit Bothe wird deshalb die Transposition des Verses nach 571 vorgeschlagen,605 sodass diese gedankliche Abfolge entsteht: 600 Zum Gebrauch von et anstelle von etiam vgl. KSt II, 9.
601 Vgl. D. H. 10,53,2f.
602 Die Tilgung findet sich bei: Hill, Kenney, Merkel, Tarrant. Nicht getilgt haben: Anderson, Boissona-de, Burmann, Gierig, Haupt, Lemaire.
603 Vgl. Kenney (2011), 282.
604 Vgl. bspw. Sen. dial. 12,10,2 und epist. 8,5.
605 Vgl. Bothe (1818), 74f. und ergänzend Jakobi (1988), 98 mit Anm. 163.
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1. Die Kranken verspüren einen ungeheuren Durst, werfen sich in die Brunnen und sterben dort. 2. Das Wasser wird durch die Leichen vergiftet und wird dennoch von anderen Menschen (ob gesund oder krank, wird nicht gesagt) getrunken.606 3. Die Einnahme des Wassers führt rasch zum Tod. An dieser Stelle bildet der Vers einen gelungenen Abschluss der Steigerung des Schreckens in Form eines moralisierenden Epiphonems.607 In vergleichbar bedrückender Weise schließt nec prius … quam die Erzählung von der Schlacht der Lapithen gegen die Zentauren (Ov. met. 12,534f.). Vor dem Hintergrund, dass der Dichter mithilfe des Verses einen starken Abschluss des Abschnitts (in der Folge wechselt der Schauplatz der Erzählung) erzielen wollte, erscheint das semantisch komplizierte Zeugma ein Element gelungener Rhetorik.608 Deshalb ist m. E. keine Tilgung, sondern die Transposition nach Bothe vorzunehmen. Met. 7,572 So großer Ekel … vor ihrem verhassten Lager : Vom Verdruss über das eigene Krankenbett war bei Ovids Vorgängern keine Rede: Hin- sichtlich des Handlungsablaufs ergibt sich hieraus eine weitere Begründung für die sich an- schließende Szene auf den Straßen, die bei Lukrez nach der Beschreibung der Wasserstellen nicht gesondert motiviert war. Dort reichte der Durst der Erkrankten und deren Anzahl in der Enge der Stadt aus, um sie auf die Straßen zu bringen, hier kommt der Ekel ( taedia , eine starke Empfindung) hinzu. Für die Rezipienten dürfte einsichtig gewesen sein, dass das Streben der Sterbenden nach draußen für eine weitere Verbreitung der Krankheit gesorgt hat, war doch bereits in 7,551 die Rolle der miasmatischen Leichen erläutert worden. Bemerkenswert ist, dass die von Ovid eingeführte Bettflucht nach dem Handbuch Palliativmedizin als ein typisches Verhalten in der terminalen Phase angegeben wird.609 Ob die Menschen der Antike ein solches Verhalten beobachtet haben und dies eine Inspiration für Ovid geliefert hat, bleibt ungewiss.606 Vallillee (1960, 130) hebt den Umstand, dass die Menschen sogar das Wasser tranken, in dem ihre toten Mitmenschen trieben, als eigenen Beitrag des Dichters zur Motivtradition hervor.
607 Zum Begriff vgl. Anm. 201, S. 145. Inge Marahrens (1971, 119), wenngleich gegen Bothes Transposi-tion, liefert letztlich selbst ein gutes Argument für die Schlussstellung der Verse, da der Vers „die ganze Tragik in prägnanter Kürze zusammen[fasse]“. In ihrer Argumentation gegen die Umstellung (S. 118) scheint Marahrens den steigernden Charakter des aliquis tamen haurit et illas zu verkennen (s. Anm. 600, S. 239). Mechanisch lässt sich die fehlerhafte Überlieferung am ehesten durch die Kor-rektur einer Auslassung am Rand mit einer sich anschließenden falschen Einordnung begründen.
608 Dementsprechend ist von einer beabsichtigten Spannung auszugehen, vgl. dazu Lausberg (2008), 351f. und zum Verhältnis von Ovid zur Rhetorik generell Auhagen (2007).
609 Vgl. Saraga/Stiefel (32015), 40.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Met. 7,575 sein eigenes Haus als Grab : Bömers These, Ovid habe nicht die Bedeutung des kultischen Konzepts der domus funesta zugrundegelegt, ist zu widersprechen.610 Das Possessivpronomen sua modifiziert domus hier m. E. nicht nur als reine Besitzanzeige, sondern gibt in Verbindung mit dem Attribut funesta den subjektiven Eindruck der Erkrankten wieder, dass es diese vier Wände wären, die durch den eigenen Tod verunreinigt würden – es handelt sich demnach um die Konfrontation mit dem eigenen Tod auf konkreter, räumlicher Ebene. Diese Deutung wäre insbesondere für die- jenigen Herausgeber attraktiv, die 7,576 athetieren, da die domus dann auch nicht mehr als Verursachung für die Krankheit gälte. Nach dieser Überlegung wäre das videtur nicht nur als Medium zu einem reinen Dativobjekt cuique , sondern auch ein Dativus auctoris in Verbindung mit einem Passiv i.S.v. ‚erkennen‘ zu erwägen.611 Eine mögliche Übersetzung nach diesem Ver- ständnis lautete: ‚Sie springen davon auf oder, wenn ihre Kräfte ihnen das Aufstehen versagen, wälzen ihre Körper auf den Boden und flüchten alle vor den eigenen Hausgöttern, ein jeder erkennt sein Haus als das eigene Grab.‘ Ein solches Verständnis wäre auch bei nicht erfolgter Tilgung möglich, da in diesem Fall 7,576 eine ganz neue Information erhielte: In 575 werden die Erkrankten mit ihrem Tod konfrontiert, im Folgevers wird eine kausale Zuordnung vorgenom- men. Unabhängig davon, ob videtur als sich aufdrängender Eindruck oder als eigene Erkenntnis gedeutet wird, handelt es sich um ein Hysteron-Proteron – zu Beginn steht der Eindruck bzw. die Erkenntnis der domus funesta und daraus resultiert die Flucht der Erkrankten. Met. 7,576 et, quia causa latet, locus est in crimine parvus: Aufgrund der zahlreichen Überlieferungsvarianten und Konjekturvorschläge zu parvus (insbesondere notus ,daneben natus , parvo , magno , morbi 612 ) und der vermeintlich unver- ständlich starken Emphase, die auf dem letzten Wort liege, haben sich mehrere Herausgeber für eine Tilgung des Verses entschieden.613 Ob es sich um eine Glosse am Rand handelte, ist schwer zu entscheiden: Sprachlich ist der Vers bis auf seinen Schluss nicht weiter auffällig, sämtliche Bestandteile sind auch sonst an der entsprechenden Stelle im Vers bei Ovid be-
610 Vgl. Bömer (1976), 346. Als funesta galt die domus nach einem Todesfall, deren Bewohner sich im Anschluss sozial isolieren und bestimmte Schutzmaßnahmen befolgen mussten (vgl. Lindsay 2000, 154f. und Hope 2009, 71). Eine davon war die Kennzeichnung des Hauses mit Zypressen- oder Rot-tannenzweigen, um Amtsträger wie etwa Priester vor einer Befleckung zu schützen, vgl. Schrumpf (2006), 34f.
611 Für videre i.S.v. ‚erkennen‘ vgl. OLD s.v. videre (14), 2059.
612 Eine erschöpfende Übersicht findet sich bei Marahrens (1971), 117.
613 So Tarrant in der Nachfolge von Merkel, s. auch Kenney (2011), 283 zu parvus : „[L]a sua posizione, però, crea un’enfasi irrilevante e il verso dovrebbe essere espunto come glossa marginale.“
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legt.614 Der Stein des Anstoßes, der locus parvus , wurde von Anderson als Kontrast zur wei- ten Ausbreitung der Krankheit gesehen; anders hat ihn Haupt erläutert, der hierin die Ver- arbeitung der Enge des Raums sieht, die bereits bei Thukydides und Lukrez eine große Rolle gespielt hat.615 Problematisch bleibt dabei, dass die Enge bei den Vorgängern durch den Zu- sammenhang motiviert war: Im Athen des Thukydides drängten sich die Menschen nach der Evakuierung auf dem Land, bei Lukrez waren es die kleinen Hütten der Bauern, die zu Enge und Krankheitsverbreitung führten – hier jedoch fehlte eine solche Begründung. Marahrens ist möglicherweise auf dem richtigen Weg, wenn sie im parvus keine objektive Größe, son- dern eine subjektive Empfindung im Sinne einer Klaustrophobie versteht.616 Daneben kann (in Anlehnung an Anderson) durchaus eine Opposition von Groß und Klein angelegt sein, jedoch mit einer Hervorhebung der causa ( nocens ): An dieser Stelle spricht Aeacus aus der Position desjenigen, der um die göttliche Verursachung weiß; die causa ist – das weiß auch der Rezipient – niemand anderes als Iuno, deren Wirken von den unwissenden Erkrankten auf einen kleinen Ort reduziert wird.617 Met. 7,580f. membraque pendentis … exhalantes: Die beiden Verse werden von Tarrant getilgt, Rudolf Merkel athetiert in der alten Teub- ner-Ausgabe den Vers 580 im Anschluss an Capoferreus.618 Gründe für die Tilgung werden zunächst auf sprachlicher Ebene angeführt: Der Ausdruck membra tendere ist nur hier be- legt, pendentis caeli ist zumindest gewagt,619 exhalantes ohne Objekt ist erst wieder in der Spätantike belegt und auch mors deprenderat ist selten.620 Darüber hinaus durchbricht ge-614 Ov. met. 4,287b causa latet , vis est notissima fontis ; 5,603 et, quia nuda fui, sum visa paratior illi; fast. 2,497 luctus erat, falsaeque patres in crimine caedis [sc. essent]. Allerdings wird gerade dieser Umstand von Tarrant (1982, 358) als Argument gegen die Echtheit angeführt.
615 Vgl. Anderson (1972), 304 und Haupt in Ehwald (91915), 397, daran anschließend Bömer (1976), 346.616 Vgl. Marahrens (1971), 119. Weniger weit ginge die Deutung, dass die Enge des Raums nicht als be-klemmend wahrgenommen, sondern lediglich als Ursache für die Krankheit angenommen wird. In diesem Fall handelte es sich um die subjektive Ätiologie der Erkrankten, die nicht selten im Wider-spruch zur Aussage der Ärzte stand, vgl. Lloyd (2021), 50.
617 Das Spiel mit Groß und Klein ist gerade bei Vergleichen sprichwörtlich, vgl. Otto (1890), 204f.
618 In der Praefatio zu seinen Quaestiones Ovidianae hatte Merkel (1835, XVII) noch versucht, den Vers mithilfe der Variante einer ihm vorliegenden Handschrift in membraque pendentis ad sidera tendere coeli zu ändern.
619 Die Junktur caelum pendens findet jedoch im späteren (vgl. Tränkle 1990, 183) Panegyricus Messalae Verwendung, [Tib.] 3,7,22f.: Huic et contextus passim fluat igneus aether | pendentique super clau- dantur ut omnia caelo . Zur Argumentation gegen membra tendere vgl. Tarrant (1982), 359.
620 Ovid nutzt stets animam exhalare als Ausdruck für das Sterben, was Heinsius in seinem Konjek-turvorschlag Hic ubi mors animam deprenderat exhalantes umgesetzt hat. Vgl. mit entsprechenden Verweisstellen Marahrens (1971), 121 Anm. 7; ihre Argumentation für die Möglichkeit des absolut
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung rade der Vers 580 die Konstruktion von Partizipien und Infinitiven, die Ovid zur Vergegen- wärtigung der Situation verwendet.621 Dieser Vers ist es auch, der von inhaltlicher Seite widersinnig erscheint; wurde in 579 durch supremus motus die pathetische Mimik aus Lucr. 6,1181 aufgegriffen, ist ein Ausstrecken der Glieder im nächsten Moment unwahrschein- lich. Deshalb ist Vers 580 aus sprachlichen wie inhaltlichen Gesichtspunkten zu tilgen. Für den folgenden Vers erscheint die Entscheidung schwieriger, da hier weder eine Unterbre- chung des Gedankengangs noch eine der partizipialen Konstruktion vorliegt. Es bleibt die Feststellung aus Anm. 620, dass Ovid stets animam als Objekt zum Ausdruck des Sterbens hinzunähme; als Argumente für die (hier vorgenommene) Beibehaltung des Verses kann zum einen das Streben nach dem abbildenden Versus Spondiacus, zum anderen angeführt werden, dass das fehlende Objekt eine intendierte Ambiguität in 7,551 darstellen könnte. Dort hatte Ovid den Tierleichen eine ungewöhnlich aktive Rolle ( agunt contagia late ) zu- geschrieben, die auch für die Leichen der Menschen anzunehmen ist und worauf exhalantes möglicherweise anspielt. Met. 7,582f. Wie fühlte ich mich … das Leben hasste und Teil meines Volkes sein wollte : Der in 7,582 beginnende Abschnitt eröffnet den Teil der Erzählung, der in größerem Maße von persönlicher Erfahrung geprägt ist ( ipse ego … cum facerem ; ante sacros vidi … postes) und viele Neuerungen für die Motivtradition enthält.622 Die im Verhältnis stärkere Bezug- nahme auf Vergil in diesem Teil wurde bereits von Vallillee herausgearbeitet.623 Aus der oben festgestellten Innovation eines über das Geschehen reflektierenden, zugleich daran partizi- pierenden Erzählers in Form des Aeacus ergeben sich andere Möglichkeiten der emotionalen Reaktion. Der Wunsch, selbst zu sterben und ebenfalls ein Teil der Leichenhaufen zu sein, ist ein Element, das vorher allein durch den Aufbau der Erzählungen nicht vorstellbar gewesen gebrauchen exhalare anhand von defungi bleibt nicht ohne Zweifel. Die Überraschung durch den Tod wird auf ähnliche Weise erst bei Curt. 8,4,14 und Lact. Inst. 1,17,5 ausgedrückt.
621 Ähnlich gestaltet ist die Rede des Aiax gegen Odysseus in Ov. met. 13,73–76: conclamat socios: ad- sum videoque trementem | pallentemque metu et trepidantem morte futura; | opposui molem clipei texique iacentem | servavique animam. (‚Er ruft nach seinen Gefährten – schon bin ich da und sehe ihn: bebend, bleich vor Angst, zitternd im Angesicht des Todes; ich stellte meinen wuchtigen Schild vor ihn, bedeckte den Liegenden und rettete sein Leben.‘). Zudem bezieht sich Ovid in der Überbe-stimmung durch Partizipien womöglich auch auf Lucr. 6,1181, was auch das Bild des Augenrollens nahelegt.
622 Bernbeck (1967, 74) sieht im Verweis auf den Tempel (587 templa vides ) eine „überraschende Aus-weitung der gegebenen Szene“, die ebenfalls im Zusammenhang der persönlichen Bezugnahme zu sehen ist.
623 Vgl. Vallillee (1960), 113–115 und zur Zweiteilung in tendenziell nüchterne und empathisch-teilneh-mende Erzählung Simpson (2001), 331.
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ist: Hatte Vergil in seiner Seuchenbeschreibung lediglich die Relativierung einer ästhetischen Naturbetrachtung und daraus resultierend die fehlende Freude des Beobachters geschildert, nimmt Aeacus (nicht zuletzt aufgrund seiner Verantwortung als König) eine aktivere Rolle in der Bewertung der Situation ein. Diese Aktivität, diese Positionierung gegenüber dem Un- heil ist eine (dem Archetyp Thukydides entnommene) Neuerung der ovidianischen Beschrei- bung. Dennoch besteht kein Anlass anzunehmen, dass die vorangegangenen Schilderungen als weniger anrührend empfunden wurden, nur weil kein Mensch über das Leid in der Welt reflektierte – an jener Stelle waren es die Sprecher selbst, die das emotionale Kapital der Verse ausschöpften. Met. 7,585f. wie wenn faule Äpfel … und von der geschüttelten Eiche die Eicheln : Bömer verweist auf den berühmten Vergleich des Glaucus bei Homer, der das Kommen und Gehen menschlicher Generationen mit dem Laubwechsel an Bäumen in Beziehung setzt, und sieht Ovids Bild der Äpfel als Variante desselben; dieses werde in der Folgezeit bspw. in metri- schen Inschriften aufgegriffen.624 Grinda macht außerdem auf vergleichbares Gedankengut bei Plautus und Cicero aufmerksam und differenziert mehrere Unterarten des Bildes.625 So unter- scheiden sich die Darstellungen dahingehend, ob die Äpfel im reifen oder unreifen Zustand vom Baum fallen. In keiner Darstellung faulen die Äpfel jedoch bereits am Baum: Hierin liegt die künstlerische Innovation des Dichters, indem Elemente der Erzählung (Auszehrung der Menschen) auf die Bildebene (Fäulnis der Äpfel) ausstrahlen. Nichtsdestoweniger soll das Bild nicht nur den Verfall der Erkrankten, sondern auch die Streuung und die Menge der Leichen auf den Wegen vor Augen führen. Bei den Eicheln vermutet Gardner eine komplexe Verweis-624 Vgl. mit Bömer (1976, 348) CE 465,20f. (= CIL XII 533) und 1490 (= CIL VI 7574), in dessen Nachfol-ge Kenney (2011), 284 sowie generell zu Naturgleichnissen bei der Darstellung des Sterbens Lange (1956), 36–38 und von Symptomen Roselli (2018), 193. Ein Blick auf Homer liegt auch deshalb nah, weil der Vergleich neben der räumlichen Ausdehnung der Leichen auch deren Quantität hervor-hebt.
625 Vgl. Grinda (2002), 1034f. Einen ähnlichen Vergleich nutzt Accius bei Gellius (13,2,4–6), hier jedoch mit dem Ziel, seinen Stil zu rechtfertigen: ‚Ita est,‘ inquit Accius ‚uti dicis; neque id me sane paenitet; meliora enim fore spero, quae deinceps scribam. Nam quod in pomis est, itidem‘ inquit ‚esse aiunt in ingeniis; quae dura et acerba nascuntur, post fiunt mitia et iucunda; sed quae gignuntur statim vieta et mollia atque in principio sunt uvida, non matura mox fiunt, sed putria .‘ (‚Accius sagte: Es ist so, wie du sagst; und ich bereue das überhaupt nicht; denn ich hoffe, dass besser wird, was ich in Zukunft schreiben will. Denn was für Äpfel gilt, so sagt man, gelte auch bei Talenten; diejenigen, die hart und herb erwachsen, werden danach mild und lieblich; diejenigen aber, die sofort verschrumpelt und weich entstehen und zu Beginn feucht sind, werden in der Folge nicht reif, sondern faulig .‘). Die Vielzahl der gedanklichen Parallelen relativiert Galinskys (1975, 125) Kritik, das Gleichnis sei über-flüssig und thematisch unpassend.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung struktur auf Elemente des Goldenen Zeitalters, das an dieser Stelle der unbarmherzigen Reali- tät gegenübergestellt wird.626 Met. 7, 588b–592 Wer bot nicht … noch unverbraucht : Der Abschnitt steht zunächst unter dem Zeichen der insbesondere bei Thukydides her- vorgehobenen, aber auch bei Vergil inszenierten Plötzlichkeit der Krankheit und des da- raus resultierenden Kollapses. Das Motiv des plötzlich zusammenbrechenden Opfertiers wird direkt im Anschluss erneut (und das sogar doppelt) verwertet, davor jedoch abgewan- delt auf die opfernden Menschen übertragen. Es besteht dennoch ein wichtiger Unterschied zwischen diesen Versen: Im Moment des Sterbens sind die Menschen im Gegensatz zu den Tieren alleine; der Standpunkt des Erzählers wird durch das reperta est in 7,592 deutlich – erst im Nachhinein werden die Menschen aufgefunden, die ihre Opferhandlung noch nicht einmal bis zum Schluss durchführen konnten ( turis pars inconsumpta ). Neu (wenngleich nicht fernliegend) ist der Gedanke, dass nicht nur die gegenseitige Pflege innerhalb der Familie aus Pflicht- oder Schamgefühl erfolgt, sondern auch die Durchführung kultischer Handlungen.627 Mit Lukrez teilt Ovid zwar die Auffassung, dass solches Verhalten letztlich zwecklos ist ( non exoratis aris 628 ), doch verzichtet er auf die von Lukrez ausgeschöpfte Idee der egoistischen Flucht.629 Auch auf pathetischer Ebene macht sich Ovid einen Kunstgriff des Epikureers zunutze: Die Beschreibung von Leichen anhand von deren sozialer Funk- tion hat Lukrez in den Versen 6,1250–1252 mit Blick auf Familien vorgelegt. Hier wird die Dramatik ebenfalls dadurch erzielt, dass der letzte Moment im Leben der Verstorbenen in 626 Vgl. Gardner (2019), 164.
627 Bei Thukydides (2,52,3) sind die Leichen in den heiligen Bezirken durch die Evakuierung der Län-dereien in der ersten Hälfte des Buchs begründet (2,13,2). Die Leichenhaufen in den Tempeln bei Lukrez (6,1266–1268) könnten hingegen einen Versuch widerspiegeln, die pax deorum zu erwirken. In diesem Fall wäre zumindest die Motivation der pietas für die Kulthandlungen in ihrer expliziten Form eine Neuerung Ovids. Gebete wie Pflege hat Gardner (2019, 150) zu Recht als einen Schwer-punkt der Seuchenbeschreibung ausgemacht: „Ovid contextualized and Romanizes his plague nar-rative by intensifying Aeacus’ focus on familial bonds of pietas “.
628 Bömers (1976, 350) Erklärung der Brachylogie für ein prosaisches precibus in cassum missis ad ipsas aras mortem occubuit ist m. E. nicht zuzustimmen. Besser an dieser Stelle Haupt (in Ehwald 91915, 398): „Die Unerbittlichkeit des Gottes ist auf seine Altäre übertragen.“ Diese Übertragung ist auch Resultat von Ovids psychologischem Feingefühl: Für die betenden Menschen gelten die kalten Stein-altäre als einzige Verbindung zu den Göttern, deren Reaktion jedoch ausbleibt – damit sind die Al-täre das für sie greifbare Element, nicht die Götter.
629 Zur Zwecklosigkeit moralischen Handelns bei Lukrez vgl. Komm. zu Lucr. 6,1238–1245; insbeson-dere der ausbleibende Erfolg religiöser Pietät kann als lukrezischer Reflex gedeutet werden.
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der Haltung des Leichnams eingefangen und der Interpretation der Beobachter überlassen wird.630 Met. 7,596–599 Als ich selbst … mit einer dürftigen Menge Blut : Ovid bringt das bei Vergil (Georg. 3,490) beobachtete Hysteron-Proteron wieder in die rich- tige Reihenfolge, wobei er nur den Versuch der Schlachtung und die Eingeweideschau, nicht jedoch die Verbrennung erwähnt.631 Die Verse bilden eine Wiederholung der vorangegangenen Verse 593–595, mit Ergänzung der subjektiven Perspektive des Aeacus. Neben der Steigerung der Dramatik durch die Personalisierung des anonymen sacerdos verleiht der Erfahrungsbe- richt seiner Position gesteigerte Authentizität,632 wie es bereits für Thukydides zu verzeichnen war. Insbesondere bei überlebenden Vätern scheint im Zusammenhang von Seuchen ein er- höhter Legitimationsdruck zu bestehen, ihr Pflichtbewusstsein gegenüber der Familie (und in Aeacus Fall auch seinem Königreich) zum Ausdruck zu bringen.633 Die Opferhandlung dient folglich auch zu einem gewissen Grad der Selbstdarstellung als liebender Vater und gewissen- hafter König, illustriert auf der anderen Seite die Machtlosigkeit weltlicher Herrschaft im An- gesicht der Pest. Zur Frage um die dürftige Menge Blut s. o. Komm. zu Georg. 3,492. Met. 7,601 penetrant ad: Anstelle des penetrant ad schlug Kenney in seinem Kommentar penetrarant vor, um den Bruch in der Tempusgebung von perdiderant aufzuheben. Doch er selbst stellt fest, dass die Konstruktion mit ad für Ovid gängig ist – ein Blick auf Celsus zeigt, dass auch er das Durch- dringen der Krankheit (bei ihm zumeist ein Geschwür) mit usque oder usque ad ausdrückt.634630 Vgl. dazu auch Andersons (1972, 305) Paraphrase: „ At the very moment of supreme pietas , while praying for each other selflessly, husbands, wives, and parents suddenly collapse dead before they have had opportunity to offer all the incense they brought“ (Hervorhebung FN).
631 Die von Pechillo (1990, 38f.) dargelegte Interpretation (auf Grundlage von Galinsky 1975, 114–126), nach der Ovid die Seuche primär nutze, um zu amüsieren und epische Konventionen zu untergra-ben, stellt eine nicht treffende Reduzierung der Beschreibung dar und nimmt die Abhängigkeit von Vergil nur einseitig in den Blick.
632 Vgl. Anderson (1972), 306.
633 Ein bekanntes, vergleichbares Beispiel ist das Selbstzeugnis des Chronisten Agnolo di Tura del Gras-so, der zur Zeit des sog. Schwarzen Todes seine fünf Kinder begraben musste und dies in seiner Chronik festhielt.
634 Vgl. Kenney (2011), 284f. und Cels. 7,7,7a Idque adsidue male habet oculum; nonnumquam etiam exesso osse usque nares penetrat . (‚Diese Krankheit trifft das Auge besonders hart; manchmal zer-frisst sie sogar den Knochen und dringt bis in die Nase hindurch.‘). Die Aussage, bei penetrare + Akk. handle es sich um eine Ausdrucksweise des Lukrez, ist ungenau. Gerade Lucr. 3,470f., die wohl nächste Parallele, wählt die Präpositionalphrase: quare animum quoque dissolvi fateare necessest, | quandoquidem penetrant in eum contagia morbi .
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Wie aber wäre der Wechsel zum Präsens zu verstehen? In den meisten Übersetzungen wurde das Präsens als historisch gedeutet.635 Anders wurde es in der Loeb-Ausgabe wiedergegeben, nach der penetrant eine allgemeine Regel ausdrückt.636 Die Interpretation als historisches Prä- sens birgt die Problematik, dass das Eindringen der Krankheit dem Verlust der Aussagefähig- keit der exta eigentlich vorausgehen müsste. Dementsprechend müsste penetrant als ein histo- risch-resultatives Präsens gedeutet werden, das eine Handlung der entfernten Vergangenheit bezeichnet, deren Resultat in der Vergangenheit noch aktuell war und das durch die Wahl des Präsens vergegenwärtigt werden soll. Ein solcher Fall wird in den Grammatiken nicht ange- führt. Deshalb ist das Präsens mit Miller/Goold als allgemeine Regel aufzufassen. Met. 7,602–605 ante … fata: In diesem Abschnitt divergiert die Interpunktion in den Ausgaben von Anderson und Tar- rant dahingehend, dass Tarrant nach Vers 603 einen Punkt setzt.637 In Abhängigkeit von der Interpunktion ändert sich auch das Verständnis der vier Verse. Im Folgenden werden zunächst die beiden Möglichkeiten zusammengefasst und anschließend diskutiert: Version A (Tarrant): Die harte Interpunktion nach Vers 603 versteht die Verse 602f. als eng miteinander verbundenes Paar. Vers 603 bildet eine Erweiterung des vorangegange-nen Verses, die anhand der Wiederaufnahme des ante Ausdruck findet, ebenso durch die parallele Stellung von postes und aras . Die Verse 604f. bilden einen Sinnabschnitt, der unabhängig von den proiecta cadavera vor den Tempeln bezeichnet, dass Menschen dem nahenden Tod durch Freitod zuvorzukommen suchten. Es handelt sich dabei um eine allgemeine Aussage ohne räumlichen Bezug.
Version B (Anderson): Die leichte Interpunktion nach Vers 602 und die durchgehende
Syntax von 603–605 stellen dem Rezipienten eine Gesamtszene vor Augen: Nicht nur sieht Aeacus proiecta cadavera vor den Pforten der Tempel, sondern darüber hinaus ha-ben sich Menschen vor den Altären mit laquei selbst getötet, um ihr Schicksal vorwegzu-nehmen und die Götter anzuklagen.
635 Vgl. De Martignac (1697), 227: „dont la violence avoit penetré jusqu’aux intestins“, Hill (1992), 93 „the grim disease penetrated to the bowels.“, Paduano (2000), 311: „il triste morbo ha invaso la visce-re“, Chiarini in Kenney (2011), 55: „fin nei visceri entrava il tristo morbo.“
636 Miller/Goold (1912), 385: „for to the very vitals does the grim pest go“.
637 Die beiden jüngeren Herausgeber folgen damit bereits bestehenden Deutungstraditionen, für die sie hier repräsentativ genannt werden. Eine starke Interpunktion setzen bspw. Burmann, de Martignac und Merkel, keine setzen Regius, Boissonade, Bach und Lemaire.
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Anders als in den Versen 589–592 sind die hier beschriebenen Leichen nicht diejenigen der pflichtbewussten Familienmitglieder, die vor den Altären während der Opferhandlung ster- ben, sondern sind bereits tot, als sie vor die Tempel geworfen ( proiecta cadavera ) werden.638 Unabhängig davon, welche Version zu präferieren ist, steckt im invidiosior folglich die Inten- tion dieser Menschen: Sie wollen ihrer Indignation den Göttern gegenüber Ausdruck verlei- hen, indem sie deren Heiligtümer beflecken.639 Sie tun dies entweder, indem sie die Leichen vor die Pforten und sogar vor die Altäre werfen (Version A), oder indem sie sowohl Leichen vor die Pforten werfen als auch sich selbst vor den Altären aufhängen (Version B). Es handelt sich entsprechend um indignierten Trotz, welcher der Einsicht entspringt, dass die Götter den Menschen keine Hilfe gewähren – diese Auflehnung stellt unabhängig von der Entscheidung für eine der Versionen eine Neuheit in der Motivtradition dar.640 Vor einer Entscheidung ist festzuhalten, dass beide Interpretationen möglich sind. Die hier ver- tretene Präferenz für Version B hat ihren Grund in folgendem Nachteil von Version A: Diese isoliert das Verspaar 604f., sodass ein starker Bruch zur vorangegangenen Beschreibung der Leichen vor den Altären die Folge wäre; die bloße Nennung einer weiteren Gruppe von Menschen ohne eine räumliche Einbindung wäre ein kraftloser Schluss vor dem Finale. Version B hingegen integriert die Selbsttötung in eine grausige Szenerie und steigert das Pathos (und die Entrüstung) noch durch die explizite Nennung des laqueus . Die Selbsttötung durch den Strick war zwar, so weit es feststellbar638 Eine interessante Parallele findet sich in der Lex Lucerina (Z. 2f. Bodel): neve cadaver | proiecitad . Illustrativ für das vermutliche Vorgehen bei massenhaftem Sterben ist Varros vielzitierte Beschrei-bung der puticuli (ling. 5,25): extra oppida a puteis puticuli, quod ibi in puteis obruebantur homines, nisi potius, ut Aelius scribit, puticulae, quod putescebant ibi cadavera proiecta , qui locus publicus ultra Exquilias. (‚Außerhalb der Städte gibt es nach Löchern [ putei ] benannte puticuli , weil dort in Gruben Menschen verscharrt werden, wenn sie nicht eher, wie Aelius schreibt, puticulae genannt werden, weil darin hingeworfene Leichen verfaulen [ putescebant ] – ein öffentlicher Ort jenseits des Esquilin.‘). Belegt ist eine Häufung solcher Massengräber für die Justinianische Pest im sechsten und siebten nachchristlichen Jahrhundert, vgl. Harper (2017), 230f.
639 Nach dieser Deutung wäre das Verhalten keine „grotesque variation on pietas “ (Anderson 1972, 306), sondern Akt der Selbstermächtigung (vgl. Beagon 2005, 113f.). Eine Diskussion unterschiedlicher Deutungen bietet Bömer (1976), 353.
640 Freilich lasen wir bei Lukrez von den mit Leichen gefüllten Tempeln, die als Höhepunkt der Pest die Niederlage der religio zur Folge hatten (6,1266–1271) – doch dienten jene in der Situation dem Dichter als Beweis und waren vermutlich nicht willentlich dorthin geschleppt worden, um den Zorn auf die Götter auszudrücken. Die Bezugnahme auf Lukrez ist dennoch sehr bedeutsam: Neben der Inspiration durch den Suizid der Pferde bei Vergil ist es möglich, dass die Selbsttötung durch die Selbstverstümmelung in Lukrezens Seuchenbeschreibung motiviert worden ist. Darüber hinaus wiesen Jacobson (2007, 649) und Kenney (2011, 285) auf die gedankliche Parallele zu Lucr. 3,79–82 hin. Ovid scheint hier eine bewusste Steigerung (gleichwohl ganz im Geiste) seiner Vorlage vorzu-nehmen, indem die Erkrankten eben nicht voreilig in den Tod eilen, sondern ihren Tod bzw. den von anderen aufgrund der räumlichen Platzierung von Leichen inszenieren .
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung ist, in Rom verbreitet, galt jedoch als unehrenhaft.641 Es ist zumindest mit einer ablehnenden ersten Reaktion auf Seiten des Rezipienten zu rechnen. Geht man tatsächlich von einer moralischen Ver- urteilung dieser Selbsttötung aus, gewönne sie nach Version B als Ausdruck des oben festgestellten Trotzes eine noch größere Wirkung. Aus diesen Gründen wurde Andersons Interpunktion gefolgt. Met. 7,606f. Die toten Körper … Nicht nämlich haben die Stadttore dem standgehalten : Für neci ist bereits festgestellt worden, dass es hier nicht den gewaltsamen, sondern einen schrecklichen Tod bezeichnet.642 In diesem Zusammenhang ist noch auf Verg. georg. 3,480 genus omne neci pecudum dedit zu verweisen, das als sprachliche Vorlage gedient haben kann. Wichtig für den Gedankengang ist, dass es sich eben nicht nur um die kurz vorher genannten Suizidenten handelt, da ansonsten die folgende Äußerung keinen Sinn ergäbe. Es ist nun eben diese Äußerung, in der Ovid das bereits bekannte Element der Überhand nehmenden Menge an Leichen architektonisch versinnbildlicht.643 Jakobi hat in seiner Untersuchung zu Ovids Einfluss auf Senecas Tragödien das Bild „als Inversion des Topos von den alle Völkerscharen fassenden Toren der Unterwelt“644 wahrscheinlich machen wollen. Met. 7,610 deque rogis pugnant, alienisque ignibus ardent: Im Vers 610 hat der vermeintliche Subjektswechsel von pugnant zu ardent , d. h. von denjeni- gen, die um die Scheiterhaufen kämpfen, zu denjenigen, die auf ihnen verbrennen, Anstoß erregt. Merkel tilgte die Verse 609b–610 und beließ den Text mit einem Halbvers. Siegfried Mendner de- klarierte die Hemistichen 609b und 610a in seiner Dissertation als Erläuterungen des alienis und tilgte entsprechend, sodass sich der neue Vers indotata rogos alienisque ignibus ardent ergab.645 Neben Eingriffen in den Text wurden auch semantische Diskussionen geführt, um ardent bspw. als glühendes Verlangen auszuzeichnen; selten wurde angenommen, es gebe keinen Subjekts- wechsel, vereinzelt wurde von einem rhetorischen Kunstgriff Ovids ausgegangen.646 Dabei gehen
641 Vgl. van Hooff (1990), 64–72 und Serv. Aen. 12,603 et nodum informis leti: alii dicunt, quod Amata inedia se interemerit. sane sciendum quia cautum fuerat in pontificalibus libris, ut qui laqueo vitam finisset, insepultus abiceretur: unde bene ait ‘informis leti’, quasi mortis infamissimae.
642 Vgl. Bömer (1976), 353. Dort auch die Erläuterung zum Ausdruck missa neci , s. außerdem OLD s.v. nex (1), 1175.
643 Die Bewertung des Bildes fiel unterschiedlich aus. Anderson (1972, 307) sieht hier „the fantastic rea-son for the absence of customary funerals“, Kenney (2011, 285) bezeichnet das Bild als „un concetto piuttosto bizzarro“.
644 Jakobi (1988), 95, Anm. 153 mit Verweis auf Ov. met. 4,439f.
645 Vgl. Mendner (1939), 49, dem zufolge es sich um eine Collage aus Lucr. 6,1282ff. und Sen. Oed. 64f. handelt.646 So muss wohl auch Vallillee (1960), 140 verstanden werden, der es ohne weitere Erläuterung als Wortspiel bezeichnet, vgl. auch Marahrens (1971), 123f. Auf S.123 Anm. 2 findet sich eine Übersicht der gegebenen Erklärungen, auf die hier verzichtet werden kann.
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Haupt, Anderson und Kenney auf die spezifischen Eigenheiten der Erzählung ein, in der sich die Ereignisse überstürzten und sich dies auch im Erzähltempo widerspiegele.647 Grundsätzlich ist ein Subjektswechsel aus den genannten Gründen denkbar und stimmt auch mit der Einschrän- kung überein, dass ein solch archaischer Duktus zu klassischer Zeit höchstens aus stilistischen Gründen Verwendung fand.648 Doch hier werden (aufbauend auf der Paraphrase von Magnus, der keinen Subjektswechsel annimmt) zwei Alternativen vorgeschlagen: 1. Mit dem ardent werden in der Tat dieselben Menschen bezeichnet, die kurz vorher noch um Scheiterhaufen für ihre verstorbenen Angehörigen kämpfen; doch fallen diese nicht, wie von Magnus angenommen, während des Kampfes ins Feuer.649 Vielmehr handelt es sich bei ardent um ein Praesens pro futuro, das dem Rezipienten an dieser Stelle erneut den Umstand vor Augen führt, dass, wer im letzten Moment noch kampfbereit war, beim nächsten Wim- pernschlag (nun selbst tot) auf erbeuteten Scheiterhaufen liegt und brennt.650 Darüber hinaus würde nach dieser Interpretation die Zwecklosigkeit des Streits hervorgehoben, die sich in die von Medizin und Kult einreihte. Diese Variante wurde der Übersetzung zugrundegelegt. 2. Mithilfe der dritten Person im Plural wird die Handlung auf eine unpersönliche Ebene ge- hoben: Man kämpft … man brennt. Vorbereitet würde dies durch die allgemeine Aussage, dass es keine Ehrfurcht mehr gebe. Zudem reihte sich die unpersönliche Handlung gut in die sich anschließende Beschreibung des unbestimmten Mangels ( qui lacriment, desunt ). Insgesamt würde die Darstellung mit dieser Lösung jedoch in ihrer Drastik entschärft. Met. 7,611f. Es fehlte an Menschen … streiften die Seelen … umher : Ein Ausbleiben des ordentlichen Bestattungsritus galt als Inbegriff des schlechten Todes und war als Strafe für Schwerverbrecher vorgesehen.651 Der Hintergrund der Strafe war die Über- zeugung, dass nicht ordentlich oder gar unbestattete Menschen ( insepulti ) nicht den Übergang647 Ehwald (91915), 400: „In gewöhnlicher Rede würde bei ardent ein neues Subjekt ( mortui ) stehen, aber Ovid faßt die Verwirrung in lebhafter Kürze zusammen“. Anderson (1972, 307): „It is perhaps to heighten the sense of disorder that he abruptly changes subjects in 610 without expressly telling us that in pugnant he talks of the living mourners, in ardent of the corpses.“ Kenney (2011, 286) geht in seiner Diktion insbesondere auf die Kürze der Formulierung ein („Ovidio condensa […] L’espressio-ne abbreviata “ [Hervorhebung FN]).
648 Vgl. LHS II, 733.
649 Vgl. Magnus (1885), 86.
650 Vgl. LHS II, 308: „In allen diesen Fällen wird durch das Praes. die Unmittelbarkeit der Ausführung bzw. Nichtausführung einer Handlung kräftig unterstrichen“. Nach diesem Verständnis verschwim-men die Grenzen zwischen Gesunden, Kranken und Toten, was das von den Kommentatoren an-gesprochene Durcheinander konkretisierte.
651 Vgl. Hope (2009), 60.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung in das Jenseits bewältigen, sondern gezwungen sind, ein Dasein zwischen den Welten zu fristen, entweder auf der Erde oder in einem Bereich der Unterwelt.652 Es sind denn auch diese insepulti , die als die schädlichsten Geister angesehen wurden und vor denen die größte Furcht bestand.653 Mit der Verarbeitung der Geistererscheinungen bringt Ovid ein neues übernatürliches Element in die Motivgeschichte ein.654 Der Dichter greift als Ursache wohl nicht auf die unbestatteten Körper zurück, sondern legt seinen Schwerpunkt auf die nicht vergossenen Tränen der eben- falls an der Pest verstorbenen Angehörigen. Darin dürfte das im römischen Bestattungswesen ebenso wichtige wie charakteristische Element der conclamatio bezeichnet werden.655 Anderson spricht in seiner Argumentation für virum (anstelle von Heinsius’ Konjektur pa- trum oder der vereinzelt übernommenen Variante matrum 656 ) von vier Altersstufen, die Ovid beschreiben wollte.657 Die von Kenney festgestellte Parallele zu Lucr. 6,1250–1252 (s. Anm. 654) eröffnet ein weiterführendes Verständnis: Während die ersten beiden Glieder erneut die soziale Rolle der Verstorbenen in den Blick nehmen, sieht der Rezipient in iuvenumque senumque aus- schließlich das Alter hervorgehoben.658 Ohne die pathetische Wirkung des Lukrez zu reprodu- zieren – diese wurde ja bereits durch die pietas im Tempel erreicht – wird die Gleichheit vor dem
652 Galinsky (1975, 121) spricht von „one of the typical quick turns of the Ovidian narrative“, da die Perspektive hier rasch zwischen Unter- und Oberwelt wechsle. Dabei handelt es sich jedoch vor dem Hintergrund der skizzierten Vorstellung um eine nicht notwendige Annahme.
653 Vgl. Cumont (1922), 64f. Bekannt ist etwa die Geistergeschichte in Plin. epist. 7,27.
654 Kenney (2011), 286 sieht die Unterwelt der Aeneis (6,305–308) als Vorlage für eine Umarbeitung des Lukrez: „[L]a descrizione di Lucrezio di intere famiglie che giacciono insieme nella morte (VI 1256–8) è trasformata in una vignetta virgiliana delle anime degli insepolti che vagano per il Limbo“. Darin fände sich erneut eine kunstvolle Verarbeitung beider Vorgänger. Geistererscheinungen nach einer Pest beschreibt jedoch auch Diod. 13,86,3, im sechsten Jahrhundert (Proc. Pers. 2,22,10) finden sie sich gar als Auslöser der Pest in Träumen; zur Einordnung vgl. Meier (2021), 429.
655 Vgl. Schrumpf (2006), 23 und Hope (2019), 69. Das mehrmalige Rufen des Verstorbenen fand sowohl am Totenbett als auch am Scheiterhaufen statt und fügte sich passend in die Erzählung, die soeben noch bei den gestohlenen Flammen verharrte. Kierdorf (1991, 76f.) differenziert unterschiedliche Arten der Totenklage im römischen Brauch in Abhängigkeit von Alter und Geschlecht, dem durch das unterschiedlose Dahinraffen der Pest nur schwerlich hätte entsprochen werden können.
656 Die Tatsache, dass ausschließlich Männer in der Aufzählung genannt werden, führt Kenney (2011, 286) korrekt auf den Erzählzusammenhang zurück. Aeacus wendet sich zum Schluss seiner Erzählung wieder ihrem Beginn zu: der Nachfrage des Cephalus, weshalb ihm so viele Gleichaltrige begegneten und zugleich so viele Bekannte zu fehlen schienen. Entsprechend ungeeignet erscheinen Varianten und Emendationen wie natarum matrumque (Heinsius) und natarum nuruumque (Burmann), wenngleich der Wunsch nach einer Angleichung an Lukrez auf den ersten Blick verständlich ist.
657 Anderson (1972), 308: „[N]amely, to distinguish four ages of men (child, young man, mature man, old man) and to pair them alternately“, bekräftigt von Gardner (2019), 171.
658 Die Nennung von nati in Ovids Metamorphosen ohne einen Bezug auf die soziale Rolle des Kindes, son-dern lediglich auf das Alter, wie es nach Andersons Interpretation nötig wäre, findet m. E. keine Paralle-le. Dass neben der oben vertretenen Aufteilung dennoch das Alter mitbezeichnet wird, ist unbestritten.
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Tod sowie die Unerbittlichkeit der Pest umgesetzt (s. auch oben Kommentar zu Lucr. 6,1272). Ungeachtet der Familienbande wütet die Krankheit und tötet gleichermaßen Jung und Alt.659 Met. 7,613 Weder reichte der Platz für Gräber noch das Holz für Feuer : Ein letztes Mal setzt der Dichter die schier überwältigende Menge an Toten auf der Sachebene um, dem Zusammenhang entsprechend mit Rückgriff auf die Bestattungspraxis. Mittels dieser Neuerung steigert Ovid die Beschreibung seiner Vorgänger dahingehend, dass den Menschen bei Lukrez zumindest noch die Möglichkeit offenstand, ihre Angehörigen auf gestohlenen Scheiter- haufen zu begraben.660 Doch im fehlenden Platz auf den Friedhöfen und im zur Neige gehenden Holz kann ebenso ein Verweis auf logistische Probleme zu Zeiten von Seuchen wie eine Recht- fertigung für den Normbruch gesehen werden; Grimms Beurteilung, die Beschreibung sei „ohne allen Anstoß aus der Wirklichkeit“661 verfasst, erhält dadurch eine gewichtige Relativierung. 2.2.5 Manilius Manil. 1,874 Oder unser Gott erbarmt sich : Die Überzeugung, die Welt sei durch bzw. als eine Gottheit geordnet,662 stellt die zentrale Annahme des in den Astronomica grundgelegten Weltbildes dar.663 Mit der Überlegung, dass Kometen Ausdruck göttlichen Erbarmens sind, knüpft Manilius an das stoische Prinzip der 659 Hutchinson (2013), 215 sieht an dieser Stelle eine Bezugnahme auf Soph. OT 175–185.660 Andersons Überlegung (1972, 308), der Schlussvers passe besser nach 7,610 trifft zwar zu, ist aber keineswegs zwingend. Wenn die Bockemüllersche Transposition korrekt ist (s. o. Komm. zu Lucr. 6,1282f.), kann es sich hier um eine Bezugnahme auf den Schluss bei Lukrez handeln (1285f. nec poterat quisquam reperiri, quem neque morbus | nec mors nec luctus temptaret tempore tali. ).
661 Grimm (1965), 108. Logistische Herausforderungen aufgrund des hohen Leichenaufkommens wer-den auch aus Ovids Nachfolgern (s. z. B. Komm. zu Oed. 166–170) und spätantiken Quellen ersicht-lich, vgl. Leven (1995), 397.
662 Vgl. Reeh (1973), 177–179. Long/Sedley (1987, 331) liefern in ihrem Kommentar folgende Definition: „The Stoics’ god is, first, an immanent, providential, rational, active principle imbuing all matter, sometimes identified with nature or with fate; second, the whole world, or its constituent elemental massed; and third, the traditional gods of the Greek pantheon, interpreted allegorically as symboliz-ing the Stoic immanent deity in these various aspects.“ [Quellen zugunsten der Lesbarkeit ausgelas-sen, FN] Vgl. ebenso deren Quellen zur stoischen Theologie, 54 A–U.
663 Vgl. im Grundsatz Manil. 1,474–531. Volk (2009, 225f.) fasst die philosophischen Axiome der Astro- nomica übersichtlich zusammen: 1) Der Kosmos ist göttlich. 2) Alle Teile des Kosmos sind miteinan-der verbunden und wirken aufeinander ein. 3) Alles ist vorherbestimmt (strikter Determinismus). 4) Mensch und Kosmos stehen in einem parallelen Verhältnis zueinander (Mikro- und Makrokos-mos). 5) Der Kosmos enthüllt sich selbst, er will erkannt werden. 6) Die Betrachtung und Deutung des Himmels ist die Sinnerfüllung der menschlichen Existenz.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Vorsehung der stoischen Gottheit ( providentia dei ) an und stellt die für die römische Republik charakteristische Deutung des Himmelsphänomens als prodigium vor einen neuen Hinter- grund.664 Zwar ändert sich nichts an dem Umstand, dass das Himmelsfeuer Unheil verkündet (wie z. B. Krieg), doch verliert es seinen unheimlichen (weil unerklärlichen) Charakter da- durch, dass es dem Willen einer sorgenden Gottheit entspringt.665 Mit Blick auf die anderen Seuchenbeschreibungen (insbesondere Vergil, der die Prodigien als Störung der natürlichen Ordnung nutzte) gewinnt das prodigium der Kometen daher eine völlig andere Funktion – sowohl im Weltbild als auch in der Erzählung.666 An dieser Stelle bleibt unausgesprochen, ob Manilius ein Kausalitätsverhältnis zwischen den Kometen und den physikalischen Phänome- nen auf der Erde annimmt. Der Text scheint jedoch eher eine Korrelation denn eine Kausalität nahezulegen (Kometen als signa ). Manil. 1,875 Erscheinungen / affectus: Frühere Editoren haben anstelle des affectus , das in den Codices überliefert ist, effectus in den Text übernommen, da die Semantik des Ersteren schwerer fassbar ist. Die häufig aufgegriffene Interpretation von Breiter,667 der affectus caeli bezeichne „Erscheinungen am Himmel“,668 ist zwar aus dem Zusammenhang gut verständlich (und, wie sich im Folgenden zeigen wird, kor- rekt), geht dem Ausdruck jedoch nicht auf den Grund. Ein Blick auf die anderen fünf Verwen- dungen von affectus bei Manilius ergibt ein gemischtes Bild und kann an dieser Stelle nur be-
664 Vgl. Rosenberger (1998), 7 und 116 Anm. 147 für eine Stellensammlung. Zur gedeuteten Verbindung von Kometen und Seuchen, insbes. in Spätantike, Mittelalter und Neuzeit, vgl. Gundel (1921), 1147.
665 Vgl. auch Grimm (1965), 70: „Die heilsame Folge dieser Erkenntnis ist, daß der Mensch sich in das Unab-änderliche fügt und sein Los mit Gelassenheit trägt. Die am Ende des ersten Buches erwähnten Katastro-phen hätten also nicht vermieden, aber doch erkannt und als unabwendbar eingesehen und darum besser ertragen werden können“. In starkem Kontrast zu dieser Darstellung stehen die Prodigienam Ende des ersten Buches von Lucans Bellum civile , vgl. insbes. Lucan. 1,526–529 und dazu Engels (2007), 650–652.
666 Auf philosophischer Ebene dient die Zuordnung der Kometen zur providentia dei der Auseinan-dersetzung mit den Epikureern und damit insbesondere Lukrez, der im fünften und sechsten Buch seines Lehrgedichtes vertreten hatte, dass die Ereignisse am Himmel kein Werk der Götter seien, vgl. Gale (2011), 214.
667 Vor Breiter erklärte bereits Du Fay (1679, 105): „Affectiones, i.e. alterationes, mutationes, &c. Gallice disposition, changement dans le ciel , Cic. Fat. et. Divin.“ Welche Stelle Du Fay im Sinn hatte, ist nicht festzustellen, da in den genannten Werken weder affectus noch affectio Verwendung findet.
668 Breiter (1908), Komm. 37. Im Anschluss daran Liuzzi (1983, 63) „manifestazioni ed incendi del cielo“, Lühr mit vermeintlichem Zitat (1973, 117 Anm. 18) „ adfectus = ‚Veränderungen (sic!) am Himmel‘ (Breiter 37)“, in der Folge Abry (1999, 128 Anm. 33) „travers ces altérations et ces incendies célestes“ und Feraboli/Flores/Scarcia (2001, 89) „mandi dei segni mediante questi incendi che alterano il cie-lo“. Daneben Goold (1977), 75 „moods and conflagrations of the sky“.
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dingt weiterhelfen.669 Versteht man mit dem OLD affectus als „[t]he position of a heavenly body relative to that of others“,670 passte der Begriff zumindest zu den Stellen, welche die Beziehungen der Sterne zueinander beschreiben und deren Position miteinschließen – zumal gerade dies auch im Zusammenhang mit tri- oder hexagonaler Systematik von Bedeutung ist.671 Dennoch führt das OLD lediglich den vorliegenden Vers in dieser Bedeutung an. Die Lösung ist, wie be- reits Joseph Scaliger in seinem Kommentar zeigte,672 im Griechischen zu suchen: Der Audruck der πάθη ( páthe )bezeichnet an mehreren Stellen ‚Ereignisse am Himmel‘, insbesondere, wenn es um den Gegenstand der Astronomie als Wissenschaft geht.673 Manilius hat folglich den grie- chischen Begriff durch affectus caeli wiedergegeben – Breiter hatte die Interpretation vermutlich Scaliger entnommen, setzte sie in der Folge voraus und gab deshalb keine weitere Erklärung.674 Manil. 1,878f. zwingt der erschöpfte Pflüger seine betrübten Jungstiere … nutzlose Joch : Manilius greift das Motiv des tristis arator (s. Anm. 411, S. 193) für seine kurze Schilderung der Dürre auf. Er verbindet mit der Positionierung dieses Motivs im Zusammenhang mit der Seuche mehrere Elemente aus den Beschreibungen seiner Vorgänger. Die (statische) Klage der coloni erinnert an den zweiten Buchschluss bei Lukrez, wo Pflüger und Winzer die mangeln- de Fruchtbarkeit der Erde beklagen (s. o. Komm. zu Lucr. 6,1246f.); die (dynamische) Szene des erschöpften Pflügers lässt an diejenigen bei Vergil und Ovid denken, in denen die Arbeit der Menschen nicht durch die Trockenheit des Bodens erschwert, sondern durch den Tod der Nutztiere beendet wird. Daneben gibt es einen Unterschied in der Ausgestaltung: Die Trauer ist nicht länger Empfindung von Mensch und Tier im Zuge einer Sympatheia (wie bei Vergil), nicht nur des Menschen (wie bei Ovid), sondern wird allein den Stieren zugeschrieben ( mae- rentis … iuvencos ). Auslöser der Trauer kann nun nicht mehr der Tod des Jochbruders oder beider Stiere sein, sondern liegt allem Anschein nach in der Einsicht in die Zwecklosigkeit des669 2,147f.: Eine angenehme Regung, die sich auf akustischen Reiz hin im Empfänger einstellt. 2,340f.; 2,476; 4,812: Die Beziehungen zwischen den Sternbildern. 4,854: Zustand der Sterne hinsichtlich ihrer Leuchtkraft.
670 OLD s.v. affectus (3a), 77. Vollmers Einordnung im TLL (I 1903 s.v. 1185,22f.) unter generaliter kann die Stelle schwerlich erklären.
671 Zur Darstellung des Verhältnisses der Sternzeichen anhand geometrischer Muster (Dreieck, Vier-eck, Sechseck, Strecke), vgl. Goold (1977) xli–li und (darauf basierend) Volk (2009), 83–87.
672 Vgl. Scaliger (31655), 96.
673 Vgl. LSJ s.v. πάθος (III, 2) und exemplarisch Plat. Hp. Ma. 285c und Ph. 96b–c.
674 Ungeklärt bleibt, ob Manilius im affectus caeli (in Anbetracht der Verse 894f.) mehr sah als reine Fachterminologie, nämlich ein Symptom für eine Erkrankung des Himmels. Sollte dies der Fall ge-wesen sein, hat Manilius den oben besprochenen morbus caeli bei Vergil (Georg. 3,478) vermutlich als Ausdruck stoischer Sympathie gedeutet (vgl. Mugellesi 1973, 51 Anm. 44) und an dieser Stelle in eine neue sprachliche Form gebracht.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung eigenen Tuns ( iuga … frustrata ).675 Vor diesem Hintergrund gewinnen der defessus arator und sein Tun ( cogit ) ein bemerkenswert starrköpfiges Profil gegenüber der Einsicht der Tiere. Manil. 1,880 Oder mit schwerer Krankheit und schleichender Zersetzung : Als zweites Beispiel bevorstehenden Unheils nennt Manilius Epidemien, die syntaktisch im Subjekt der tödlichen Flamme ( letalis flamma ) konkretisiert und durch die Adverbiale morbis und lenta tabe ergänzt werden. Der Singular im Deutschen darf nicht über den Plural morbis hinwegtäuschen, der eine Vielgestaltigkeit der Symptome impliziert. Ge- meinsam mit dem Ausdruck der schleichenden Zersetzung ( lenta tabe ) haben wir an dieser Stelle den einzigen expliziten Verweis auf äußere Symptome. Gerade im Vergleich mit sei- nen Vorgängern (vgl. Kapitel 3.1.3) ist das eine bemerkenswerte Reduktion: Es scheint dem Dichter nicht um die Darstellung individuellen Leids zu gehen, nicht um das Evozieren von Pathos; hierin steht die Beschreibung der des Grattius nah (s. Komm. zu Gratt. 371). Bei den Versen 880–883 handelt es sich vielmehr um eine deskriptive Charakterisierung der Krankheit vom Moment der Ansteckung ( corripit ) über die Symptome ( gravibus morbis, lenta tabe; exustis medullis ) und die Ausbreitung ( populos, totasque per urbes ) hin zum Ergebnis ( publica fata succensis sepulcris peraguntur ). Dieser systematische und nüchterne Beschreibungsmodus stellt die Pest als ein regelhaftes Phänomen dar, das von Kometen an- gekündigt wird.676 Manil. 1,881 tödliche Flamme : In seiner Untersuchung zu Vergils Georgica hat Ross das Feuer als Hauptelement des dritten Buches und die Pest als Paradebeispiel für die destruktive Kraft desselben herausgestellt.677 Bislang hat unsere Untersuchung ergeben, dass die Seuchenbeschreibungen das Feuer zumeist als Wirkursache der Krankheit im Organismus beschreiben (vgl. dazu in der Rekonstruktion Kapitel 3.1.2). Bei Manilius ergibt sich für diesen Gedanken eine eigene Motivation, nämlich eine Analogie zwischen dem göttlichen Zeichen des Kometen ( ignis , fax ) und den durch ihn
675 Vgl. Bühler (1959), 488 und Landolfi (1990), 232f. Durch diese Fähigkeit des logischen Schlusses geht die Beschreibung über die stoische Tierpsychologie, die auf der Selbstwahrnehmung und dem von der Naturgottheit eingegebenen Wissen basiert, hinaus, vgl. Dierauer (1977), 205–211 und zur These von der Tiervernunft 253–273.
676 Eine Ausnahme bildet das rapit labentis populos , das die Plötzlichkeit des Untergangs hervorhebt; der Schwerpunkt auf dem jähen Wüten der unerklärlichen Krankheit war bereits bei Thukydides ersichtlich und ergibt an dieser Stelle weiterhin ein feines Spiel mit Kompositum ( corripit ) und Sim-plex. Hübner (1984, 251 Anm. 380) sah in der Plötzlichkeit der Ausbreitung eine Entsprechung zur spontanen Erscheinung des Kometen am Himmel. Es wird sich im Folgenden zeigen, dass dies nicht die einzige Parallele zwischen Zeichen und Bezeichnetem darstellt.
677 Vgl. Ross (1987), 181–186, dazu Finnegan (1999), 31.
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angezeigten Phänomenen. Ebenso wie die Dürre werden Krankheit und die im Anschluss be- handelten Kriege konzeptuell häufig durch das Feuer erfasst.678 Hierdurch gewinnt der Dichter einen erneuten Beweis für die enge Verbindung von Mikro- und Makrokosmos, die ihre ein- deutigste Ausformung in den Buchschlüssen von Buch 4 und 5 erfährt.679 Manil. 1,881 brennt sich … bis ins Mark : Mit flamma medullis greift Manilius einen vergilischen Versschluss aus einem Abschnitt des dritten Buches der Georgica auf (3,271), der den Einfluss der Venus (hier metonymisch als Ver- körperung der aus dem Fortpflanzungstrieb resultierenden Leidenschaft) auf Tiere und Men- schen beschreibt.680 Diese Verwandtschaft zwischen Liebe und Krankheit hinsichtlich ihrer Ursache und Wirkweise wurde bereits am Ende des vierten Buchs bei Lukrez ausgeschöpft, nach dem Liebe eindeutig als Krankheit einzustufen ist.681 Doch ist bei dieser Anspielung nebst einem ämulatorischen Eigenwert keine bedeutungsvolle Übertragung auf inhaltlicher Ebene festzustellen – die Parallele im Ausdruck bietet sich schlicht durch die analoge Konzeptualisie- rung durch das Element Feuer an.682 Stilistisch ergibt das die Menschen durchdringende Feuer einen feinen Kontrast zum Ermatten des Feuers in 1,889 und den nie erlöschenden Scheiter- haufen in 1,894.683678 Im Ansatz findet sich dieser Gedanke bereits bei Hübner (1984), 251 Anm. 380 und Abry (1999), 124; Pisi (1989, 50) sieht hierin eine Parallele zu den klimatischen Voraussetzungen von Seuchen.
679 Vgl. Volk (2009), 102–115 und zum Prinzip in der stoischen Kosmologie Wright (1995), 63.
680 Vgl. Landolfi (1990), 234 und Feraboli/Flores/Scarcia (2001), 279. Letztere führen noch Verg. Aen. 4,66f. an, wo Didos Liebeswahn beschrieben wird.
681 Vgl. Caston (2006), Kazantzidis (2017), 155–157 mit Anm. 57 und (2021), 51–60 sowie Schauer (2018), 71f. und Kanellakis (2021). Eine weitere Parallele ist in lenta tabe auszumachen – das langsame Ab-magern war fester Bestandteil elegischer Topik, vgl. McKeown (1989), 126. Zusätzlich zu Krankheit und Affekt wird auch die Wirkung von Gift in vergleichbarer Weise ausgedrückt, vgl. Sannicandro (2010), 54f. Anm. 10.
682 Dass neben der subjektiven Erfahrung der Liebe auch die der Wut in die Terminologie des Feuers gekleidet wurde, zeigen mit der gleichen Formulierung Petr. Sat. 121,105bf.: nec enim minor ira rebel- lat | pectore in hoc leviorque exurit flamma medullas (‚Nicht weniger nämlich begehrt der Zorn in dieser Brust auf, nicht verbrennt er mit schwächerer Flamme das Mark.‘) und zahlreiche Beispiele in Senecas Dialog De ira (s. bspw. Anm. 857, S. 295).
683 Der häufig vorgenommene Vergleich (vgl. etwa Breiter 1908 Komm., 38) mit Ov. met. 7,613 trägt daher nur eingeschränkt zur Erläuterung des Verses 889 bei, da Manilius hier gerade nicht auf das fehlende Material abhebt, sondern die kosmische Dimension der Krankheit unterstreicht; diese Deu-tung erklärt womöglich den ‚bizarren Ausdruck‘ (vgl. Lühr 1973, 122), der nicht als Metonymie ver-standen werden muss ( contra Landolfi 1990, 238).
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Manil. 1,883 fata peragere: Nach der opinio communis ist an der Überlieferung fata in O festzuhalten.684 Housman kritisierte, der Ausdruck fata peragere sei inkompatibel mit sepulchrum , da nicht durch die Bestattung, sondern durch den Tod selbst dem menschlichen Schicksal entsprochen werde und die Völker nach der Überlieferung lebend verbrannt werden müssten;685 mit seiner Kri- tik weist Housman auf eine tatsächlich vorliegende Spannung im Ausdruck hin.Dass eine solche vom Dichter hingenommen wurde, dürfte der Klammer dienen, die durch die Ver- wendung des Begriffes zustandekommt: Beide allgemeinen Teile der Beschreibung (880–883 und 892–895) schließen mit einer Form von sepulcrum , sodass bereits auf der Wortebene eine Verbindung zwischen den sterbenden Völkern einerseits und der erkrankten Welt an- dererseits hergestellt wird. Die so miteinander verknüpften Passus (zu Mensch und Welt) ergänzen sich inhaltlich: Steht zu Beginn die bloße Feststellung von Epidemien, erhalten diese in der Krankheit des mundus ihre Begründung – und andersherum wird diese im Vergleich mit den Menschen als fatum mundi begriffen. Die von Housman zu Recht festge- stellte Spannung im Ausdruck dient folglich einer kunstvollen Verklammerung der beiden Außenpartien. Manil. 1,884 Wie die Pest : Der Vergleich durch qualis (in V. 892 aufgegriffen durch talia ) impliziert, vor der Pest in Athen sei ebenfalls ein Zeichen am Himmel zu sehen gewesen, was jedoch weder durch Thuky- dides noch durch andere Beschreibungen der Attischen Pest zu belegen ist. Nun bestünde die Möglichkeit, die Vergleichspartikel nicht auf die Überschrift des numquam futtilibus excand- uit zu beziehen, sondern als Ausführung der vorher im Allgemeinen skizzierten Epidemien zu verstehen. Der Schwerpunkt der Beschreibung läge dann auf der Erläuterung der Krankheit, die übergeordnete These rückte etwas in den Hintergrund. Dabei wäre überdies zu überlegen, ob die Anspielung auf Lukrez den Rezipienten überhaupt an die Schilderung des historischen Ereignisses bei Thukydides hat denken lassen – in diesem Fall gäbe Manilius schlicht eine neue Information, die auf der Grundlage seines deterministischen Weltbildes keineswegs An- lass zur Verwunderung gibt. Dieses Gedankenspiel ist jedoch angesichts der Funktion von exempla bei Manilius im Zusammenhang induktiver Beweise zu verwerfen.686 Vielleicht ist
684 Zur Verteidigung gegenüber Bentleys Konjektur iusta vgl. Lühr (1973), 115 Anm. 11 und ergänzend Lucan. 6,820 und Mart. epigr. 4,18,5.
685 Housman (21937), 78: „librorum scriptura, peraguntur fata , significat populum uiuum comburi; morte enim, non sepultura, fata peraguntur.“ Die Verwendung von sepulchrum für den Scheiter-haufen ist selten belegt, vgl. OLD s.v. sepulcrum (b), 1740.
686 Diese Form des Beweises wird auch in dem auf die Seuche folgenden Abschnitt zum Krieg ersicht-lich, vgl. Reeh (1973), 201–203.
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mit Benario anzunehmen, dass Manilius bei vielen exempla die Ankündigung durch Kometen hinzugedichtet hat, um sie als Beweisstücke nutzen zu können und ein kohärentes Weltbild zu schaffen.687 Bühler führt die Ergänzung darauf zurück, dass der Schwerpunkt an dieser Stelle auf der literarischen Bezugnahme liegt und der Dichter deshalb die Ungenauigkeit in Kauf nimmt.688 Daneben besteht stets die Möglichkeit, dass der Dichter auf Quellen zurückgegriffen hat, die nun verloren sind und deren Darstellung nicht anderweitig Verbreitung gefunden hat. Manil. 1,884 die erechthëischen Bauern : Van Wageningen hat zu Recht eine Trennung zwischen den Bauern und der Stadt vorgenom- men, sodass sich das bereits bei Lukrez, Vergil und Ovid beobachtete Bewegungsmuster der Pest vom Land in die Stadt ergibt.689 Im Zuge der Besprechung von Lucr. 6,1139–1143 wurde die Erwähnung der legendären Könige Kekrops und Pandion behandelt. Mit Erechtheus führt Manilius einen weiteren mythhistorischen Würdenträger der attischen Königslisten an und nutzt dies als eindeutige Markierung der im Folgenden ausgeführten Anspielung auf Lukrez- ens Seuchenbeschreibung.690 Dabei ist die Wahl gerade dieses Königs womöglich kein Zufall: Erechtheus ist über den Mythos mit den Töchtern des Kekrops verbunden, denen er von Athe- ne in einem Korb überreicht wird, und wird als der Sohn des (älteren) Pandion geführt.691 Für seine Anspielung wählte sich der jüngere (und innovative) Manilius entsprechend den jün- geren König. Angenommen, der Dichter sah in Kekrops und Pandion jeweils nicht die erste, sondern die zweite Generation, stellte er sich höher als Lukrez, indem er Erechtheus als Vater (von Kekrops II.) und Großvater (von Pandion II.) erwählte. Manil. 1,885 Leichenzüge im Frieden / funera pacis: Der Ausdruck funera pacis wurde von Interpretatoren unterschiedlich gedeutet. Breiter übersetzt in Analogie zu funera belli mit „das Sterben im Frieden“.692 Die Problematik liegt auf der Hand: Die Pest, auf die Manilius hier allem Anschein nach anspielt, ist die von Thukydi-687 Vgl. Benario (2005).
688 Vgl. Bühler (1959), 487 Anm. 1., ebenso Hübner (2010a), 7 Anm. 49.
689 Vgl. van Wageningen (1921), 99, ihm folgend Lühr (1973), 117 Anm. 24; dagegen Bühler (1959), 489.690 Das Verhältnis des Dichters zum Mythos ist zwiespältig, vgl. Lühr (1969), 106–111, Hübner (1984), 236f. und Volk (2009), 39f. Lehoux (2011, 49f.) hat hervorgehoben, dass es sich hierbei nicht um eine Kritik am Mythos an sich, sondern an der Suggestion einer Abhängigkeit des Himmels von der Erde handelt, vgl. Manil. 2,37f.: quorum carminibus nihil est nisi fabula caelum | terraque composuit mun- dum quae pendet ab illo . (‚In deren Gedichten ist der Himmel ein einziger Mythos und die Erde hat die Welt erschaffen, die doch eigentlich von ihr abhängt.‘)
691 Vgl. Jacoby (1902), 421 und Kron (1976), 67–72 und 104f.
692 Breiter (1908), Komm. 38, daran anküpfend Lühr (1973, 117 Anm. 25): „Die Hyperbel funera pacis
(‚ein Sterben im Frieden‘ […]) soll besagen, daß die Zahl der Menschenopfer in den Mauern größer
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung des beschriebene Pest von Athen zur Zeit des Peloponnesischen Krieges. Es bieten sich zwei Erklärungsmöglichkeiten: Entweder dachte der Dichter tatsächlich, dass Athen sich zu dieser Zeit im Frieden befand oder der Ausdruck muss anders verstanden werden als bislang. Die Ar- gumentation für ein Missverständnis könnte daran ansetzen, dass Manilius als ersten Bezugs- punkt Lukrez wählte und von ihm ausgehend auch Vergil und Ovid verarbeitete. An keiner Stelle der Seuchenbeschreibung lässt sich ohne Zweifel nachweisen, dass ein direkter Zugriff auf Thukydides stattgefunden hätte.693 Lukrez wiederum hat seine Pest dem historischen Zu- sammenhang enthoben, die Kriegssituation tritt dort nicht hervor. Die primäre Bezugnahme auf Lukrez könnte deshalb dazu geführt haben, dass Manilius sich des historischen Ursprungs des Motivs nicht mehr bewusst war, was ein bemerkenswertes Eigenleben in der Tradition be- zeugen würde. Doch obwohl der Dichter vereinzelt historische Ungenauigkeiten aufweist,694 ginge solches Unwissen wohl darüber hinaus. Deshalb wird im Folgenden angenommen, dass der Ausdruck anders verstanden werden muss als bisher. Einen Hinweis auf ein anderes Verständnis können ein paar Zeilen geben, die Petrarca im Jahr 1348 zur Zeit des ‚Schwarzen Todes‘ an seinen Freund Sokrates (Ludwig van Kempen) schreibt.695 Hierin stellt er die Frage, ob die Nachwelt ihnen glauben sollte, dass ohne sicht- baren Einfluss von außen eine derart große Menge von Menschen in den Tod gerissen wurde. Unter diesen Einflüssen zählt Petrarca auch den Krieg auf ( sine bellis aut alia clade visibili ). Mit den funera pacis könnte Manilius demnach den bei Seuchen paradox anmutenden Umstand war als im Kampf gegen den Feind.“ Ebenso van Wageningen (1921, 99): „per exsequias tempore pacis factas.“
693 Die von Johannes Tolkiehn (1897) angeführten Stellen sind nur bedingt überzeugend, da die darge-legte Schnittmenge durch die Entlehnung aus Lukrez oder der restlichen Tradition herrühren kann. Nur Vers 887 weist in der Tat eine Parallele zum Gedankengang zu Thuc. 2,47,4 auf – eine Überein-stimmung allein darf jedoch nicht zu einem solch weitreichenden Schluss führen, wie bereits im Komm. zu Gratt. 371 angemerkt wurde. Im vorliegenden Fall erlaubt die knappe Ausdrucksweise keine Annahme des direkten Bezugs auf Thukydides, da das Scheitern von Religion und Kult bei allen Vorgängern verarbeitet wurde, s. dazu auch den Kommentar zum Vers.
694 So wird die Schlacht am Trasimenischen See (217 v. Chr.) von ihm stets nach Cannae (216 v. Chr.) genannt, vgl. Goold (1977), 225.
695 Petr. fam. 8,7,12f.: Quando hoc posteritas credet fuisse tempus, sine coeli aut telluris incendio, sine bellis aut alia clade visibili, quo non haec pars aut illa terrarum, sed universus fere orbis sine ha- bitatore remanserit? Quando unquam tale aliquid visum aut fando auditum ? Quibus hoc unquam annalibus lectum est, vacuas domos, derelictas urbes, squalida rura, arva cadaveribus angusta, hor- rendam vastamque toto orbe solitudinem? Consule historicos, silent: interroga physicos, obstupescunt; quaere a philosophis, humeros contrahunt, frontem rugant, et digitulo labiis impresso, silentium iubent . Credet ista posteritas, cum ipsi qui vidimus vix credamus, somnia credituri, nisi experrecti apertis haec oculis cerneremus, et lustrata urbe funeribus suis plena, domum reversi, exoptatis pig- noribus vacuam illam reperientes, sciremus utique vera esse quae gemimus? Zur Rezeption u. a. des Lukrez in diesem Brief vgl. Passannante (2011), 23–36.
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bezeichnen, dass ohne jede Kriegshandlung eine (mit Kriegszeiten vergleichbar) große Menge an Menschen in kurzer Zeit durch die Krankheit starb.696 Vor dem Hintergrund, dass auch seinen Rezipienten der historische Zusammenhang bekannt gewesen sein dürfte, erzielt der Ausdruck als Aprosdoketon eine wirkungsvolle Überraschung, gerade weil funera pacis auf den ersten Blick im Kontrast zur historischen Realität und damit zur eigenen Erwartung steht. Manil. 1,886 die Menschen einer auf den anderen in den Tod stürzten : Breiter verglich in seinem Kommentar zur Stelle Met. 7,604f.: mortisque timorem morte fug- ant (‚Ihre Todesfurcht vertrieben sie durch den Tod.‘), wobei die postulierte Ähnlichkeit nicht unmittelbar einleuchtet.Lühr schloss sich an van Wageningens Paraphrase an; „der dichte- rische Ausdruck scheint gelungen: die Menschen gleiten gewissermaßen in ein gemeinsames Geschick“.697Van Wageningen nimmt die Szene bildlich, die Präposition in wird bei ihm räumlich aufgefasst, sodass die sterbenden Menschen übereinander fallen und einen großen Leichenhaufen bilden. Nach dieser Interpretation würde womöglich Lukrezens Szene auf dem Land (6,1246–1252) bzw. der Kampf um die Scheiterhaufen (6,1282) verarbeitet. Vielleicht ist die Präposition auch vor dem Hintergrund von Ovids Einbindung der Leichen in die miasma- tische Theorie (Met. 7,550f., s. auch Komm. zur Stelle) final zu deuten: Dann stürzte nicht der eine über den Körper des anderen, sondern der Tod des einen bedeutete den des anderen auf- grund seines ansteckenden Potenzials; nach dieser Deutung kann Manilius auch eine gedank- liche Vorlage für Silius (14,609–612, s. Kommentar zur Stelle) geboten haben. Dies bedeutete wohl eine sehr starke Verdichtung des Textes, die jedoch angesichts der sonstigen Rezeptions- art des Dichters nicht unbedingt verwunderlich erschiene. Manil. 1,887 es keinen Platz (locus) für die Heilkunst gab und die Gebete nichts halfen : Die Form des Verses erinnert (auch durch die wörtl. Entsprechung von nec locus ) an den Schlussvers von Ovids Seuchenbeschreibung, Ov. met. 7,613: nec locus in tumulos, nec sufficit arbor in ignes .698 Waren es dort die natürlichen Ressourcen, die dem Massensterben nicht ge- nügen konnten, wird an dieser Stelle der Misserfolg von Medizin und Kult prägnant in einem696 Vgl. Feraboli/Flores/Scarcia (2001), 279. Bemerkenswert wäre diese Deutung insbesondere vor dem Hintergrund, dass eine enge Verbindung von Krieg und Seuchen bestand, vgl. Seibert (1983) und Breitwieser (2018).
697 Lühr (1973), 117 Anm. 26. Paraphrase bei van Wageningen (1921, 99): „alter in alterius corpus mor-tuum prolabens concidit.“
698 Zum Verhältnis zu Ovid vgl. v. Albrecht (32012), 823. Ein vergleichbarer Ausdruck findet sich in einer Beschreibung von Hannibals Augenkrankheit (Liv. 22,2,10f.): ipse Hannibal, aeger oculis ex verna primum intemperie variante calores frigoraque, elephanto, qui unus superfuerat, quo altius ab aqua exstaret, vectus, vigiliis tamen et nocturno umore palustrique caelo gravante caput, et quia medendi nec locus nec tempus erat , altero oculo capitur. Im locus von Manilius dürfte das bei Livius explizier-
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Vers verarbeitet. Deren Scheitern steht als Begründung zentral zwischen der vorangehenden Beschreibung des Massensterbens und dem darauffolgenden Werteverfall; man kann eine Zu- ordnung von Medizin-Massensterben und Religion-Werteverfall vornehmen (zum Verhältnis von Religion und Werten in Zeiten der Krise s. Anm. 274, S. 163), obwohl durch die Beschrei- bungen der Vorgänger bereits ersichtlich wurde, dass der Verfall der Moral auch durch die Konfrontation mit dem eigenen (unausweichlichen) Ende bedingt ist. Manil. 1,888f. Das Pflichtgefühl wich … noch Tränen : Nach Landolfi handelt es sich im Vergleich zu Lukrez hierbei um eine Steigerung des Schre- ckens: Die Vernachlässigung der pietas und die ausbleibenden Bestattungsriten seien bei die- sem über die Pest verteilt worden, während Manilius sie „in un unico blocco d’immagini“699 verarbeite. Dem ist zum einen die hier vertretene Textfassung entgegenzuhalten, nach der eine solche Aufteilung auch bei Lukrez nicht vorlag (vgl. Kapitel 2.1.1), zum anderen ist zu bemerken, dass der Dichter hier insbesondere auf Ovid (Met. 7,609–613) zurückgreift (was Landolfi auch selbst konzediert). Der Abschnitt zielt darauf ab, unterschiedliche Elemente der vorangegangenen Beschreibungen zu verbinden und auf engem Raum zu verdichten. Neben der argumentativen Funktion des historischen exemplum zeigt der Dichter somit anhand der Aufnahme des Motivs seine literarische Souveränität. Manil. 1,891 fand kaum einen Erben / vix contigit heres: Der Ausdruck vix contigit heres bewirkt einen starken Kontrast mit der einstigen Bedeu- tung und Größe des Volks ( tantus quondam populus )und bildet eine gelungene Verklam- merung zum mythischen Ursprung der antiquae Athenae in 1,884f.700 Diese Klammer ent- spricht wiederum derjenigen aus Lukrezens sechstem Buch (s. Anm. 97, S. 126) auf kleinstem Raum. Das Bild des fehlenden Erben (und damit der fehlenden Zukunft) ist innerhalb der Motivtradition einzigartig, wenngleich der Gedanke bereits in Aeacus’ Klagen angelegt scheint. In den Astronomica gibt es noch eine weitere Stelle, in der von einem Erben die Rede ist: Am Ende des vierten Buches werden die Weltuntergangsmythen von Sintflut und Weltenbrand im Zusammenhang mit der schwindenden Kraft der Sterne verarbeitet. Dort wird Deucalion als solus heres humani generis (‚einziger Erbe des Menschengeschlechts‘) te tempus auch mit anklingen – eine Begrenzung auf die Räumlichkeiten erscheint im Zusammen-hang der Enge der Stadt zu genau.
699 Landolfi (1990), 238.
700 Die Ehrbezeugung durch das Attribut des Alters bei Manilius lässt sich in 5,452f. zeigen: pascentur curis veterumque exempla revolvent | semper et antiqui laudabunt verba Catonis (‚Sie werden sich an den Sorgen laben, immer wieder die altbekannten Beispiele wälzen und die Worte des altehrwürdi-gen Cato loben.‘), wenngleich die Überhöhung an dieser Stelle der Verspottung dient.
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bezeichnet – es ist exakt diese Rolle, die Eva Horn in ihren Forschungen zur Katastrophenli- teratur als „den letzten Menschen“ bezeichnet hat.701 Es scheint daher wenig verwunderlich, dass die Formulierung des ‚letzten Erben‘ in der Seuchenbeschreibung bei Manilius eben- falls angedeutet wird, um die Pest in einen Zusammenhang mit dem Weltenbrand zu stellen (s. dazu im Folgenden). Manil. 1,895 novum … sepulcrum: Die Überlieferung bietet in diesem Vers die Lesarten omnium ( M ) und novum ( LG ). Da omnium gegen das Metrum verstößt, wurden früh Konjekturen vorgenommen, wobei sich nur van Wageningens Vorschlag mit hominum langfristig halten konnte.702 Lühr nimmt in der Aufnahme von dessen Position eine Sonderrolle ein, da er van Wageningens Interpunktion nicht teilt, sondern den Genitiv hominum auf natura bezieht.703 Neben der Konjektur hominum entschieden sich einzelne Editoren für die Variante novum .704 Breiter hat den Ausdruck auf die Ekpyrosis beziehen wollen, was van Wageningen in seinem Kommentar zur Stelle ablehnte.705 Im Folgenden wird zum einen dafür argumentiert, dass der Ausdruck tatsächlich eine Ver- bindung zum Weltenbrand aufweist, zum anderen werden Überlegungen zur Semantik des Begriffs novum angestellt. Dass der vorliegende Passus eine Verbindung zum Weltenbrand aufweist, wird aus einer Parallele zum fünften Buch ersichtlich (5,206–217):706701 Vgl. Horn (2012), 32.
702 Vgl. van Wageningen (1913), 200: „ aegrotet natura, hominum sortita sepulchrum, quippe cometae non modo hominibus, sed ipsi naturae mortem et perniciem ferunt“; ergänzt in Ders. (1921, 100): „non modo homines et pecora aegrotant, sed sidera, unde morbus in terram quasi fluxit.“ Ihm folgen Housman, Goold und Lühr.
703 Vgl. Lühr (1973), 116 für den Text und 118 für die Übersetzung: „Der Tod kommt mit den Fackeln am Himmel, und diese drohen der Erde mit endlos brennenden Scheiterhaufen, da die Welt und die Menschen selbst krank sind und ihr Schicksal der Tod ist.“ Hübner (2010a, 122 ad versum 210) setzt ebenfalls kein Komma. Bei dieser Interpretation erscheint jedoch das ipsa aus 1,894 nur schwer verständlich: Weshalb wird die Erkrankung der Menschen, die bereits Gegenstand der letzten Verse gewesen ist, erneut hervorgehoben? Wie ist außerdem der Kausalnexus zwischen der Drohung des Himmels und der natura hominum zu verstehen?
704 Vor allem die älteren Herausgeber, außerdem Breiter und Feraboli/Flores/Scarcia.
705 Vgl. verallgemeinernd auch Lapidge (1979), 357. Zur stoischen Ekpyrosis, dem Weltenbrand als Aus-gangspunkt für einen neuen Weltenlauf, vgl. den Kommentar bei Long/Sedley (1987), 278f. und 310–313 inkl. der dort angeführten Quellen.
706 Die Parallele wurde auch von Feraboli/Flores/Scarcia (2001, 476) und Hübner (2010a, 122f.) ange-merkt.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Cum vero in vastos surget Nemeaeus hiatus, exoritur candens latratque Canicula flammas et rabit igne suo geminatque incendia solis. qua subdente facem terris radiosque vomente dimicat in cineres orbis fatumque supremum
Wenn nun der Löwe sich mit seinem ungeheuren Maul erhebt, geht strahlend der Hundsstern auf, atmet bellend Flammen aus, wütet mit seinem Feuer und verdoppelt das Brennen der Sonne. Weil er seine Fackel unter die Erde hält und Strahlen speit, kämpft der Erdkreis bis zur sortitur , languetque suis Neptunus in undis, et viridis nemori sanguis decedit et herbis. cuncta peregrinos orbes animalia quaerunt atque eget alterius mundus; natura suismet aegrotat morbis nimios obsessa per aestus inque rogo vivit : tantus per sidera fervor funditur atque uno cessant in lumine cuncta.
Einäscherung und erfährt sein ihm durch Los zuge- teiltes Schicksal ; Neptun ermattet in seinen Wellen und grünes Blut tropft von Wald und Gräsern. Alle Tiere su-chen fernliegende Teile des Erdkreises auf und die Welt bräuchte eine zweite Erde; die Natur, belagert von der zu starken Hitze, leidet an ihrer eigenen Krankheit und wird lebendig verbrannt : so groß ist das Glühen, das durch die Sterne ausgestrahlt wird, und alles Sein weicht im Leuchten eines einzigen Sterns. An dieser Stelle wird die Wirkung des Hundssterns beschrieben, der in der antiken Litera- tur stets als Symbol großer (Mittags)Hitze genannt wird.707 Bei Manilius gibt diese Hitze eine Kostprobe des Weltenbrands, indem die Erde derart zugerichtet wird ( dimicat in cineres orbis ), dass die Welt eine neue bräuchte ( eget alterius mundus ) – es wird an dieser Stelle dezidiert zwischen orbis und mundus unterschieden; nun ist es am Ende der Seuchenbeschreibung der mundus , der ebenso wie die natura erkrankt (1,894).708 Zum Ausdruck des Erdenleidens wird dasselbe Vokabular verwendet wie am Ende des ersten Buches, weshalb eine Parallele auf der Sachebene naheliegt:709 So wie die Glut des Hundssterns und die darauffolgende Dürre einen Eindruck der Ekpyrosis geben, stellen die Kometen das Weltenende (analog zum historischen
707 Vgl. exemplarisch Plin. nat. 2,107: Nam caniculae exortu accendi solis vapores quis ignorat? cui- us sideris effectus amplissimi in terra sentiuntur: fervent maria exoriente eo, fluctuant in cellis vina, moventur stagna. (‚Denn wer weiß nicht, dass beim Aufgang des Hundssterns die Hitze der Sonne entzündet wird? Die weitreichende Wirkung dieses Sterns spürt man auf der Erde: bei seinem Aufgang kochen die Meere, in den Kellern brodelt der Wein, stehende Gewässer werden unruhig.‘)
708 Vgl. auch den Schluss des Werks, Manil. 5,740–745: sunt stellae procerum similes, sunt proxima pri- mis | sidera, suntque gradus atque omnia victa priorum, | maximus est populus summo qui culmine fertur. | cui si pro numero vires natura dedisset, | ipse suas aether flammas sufferre nequiret, | totus et accenso mundus flagraret Olympo.
709 fatumque supremum | sortitur = novum sortita sepulcrum; natura suismet | aegrotat morbis = et ipsa | aegrotet natura; inque rogo vivit = minantur | ardentis sine fine rogos . Zur Interpretation der Scheiter-haufen im ersten Buch s. im Folgenden.
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exemplum ausgedrückt durch die nie endenden Scheiterhaufen, ardentis sine fine rogos )710 dro- hend vor Augen. Wie wäre nun das novum sepulcrum zu verstehen? Ausgeschlossen werden kann die Überset- zung von Scarcia: „e la sorte le assegna questa insolita tomba .“711 Die Theorie von der Ekpyrosis besagt schließlich, dass der Weltenbrand und die darauffolgende erneute Differenzierung der Welt ein immer wiederkehrender Kreislauf sind. Michel du Fay legt sich in seiner Prosapara- phrase in Richtung von ‚Neuheit‘ fest, ohne jedoch einen ausführlichen Kommentar zu liefern.712 In der Tat erscheint die Erneuerung der Welt nach der letzten Ekpyrosis als Schlüssel zum Ver- ständnis: Mit Blick auf thematisch verwandte stoische Formulierungen713 zeigt sich die renovatio mundi als göttliches Ziel und Resultat des Weltenbrands. Das novum sepulcrum ist demnach deshalb neu, weil es Teil der erneuerten Welt ist und weil es das erneute Ende darstellt.714 Manil. 1,893–895 Leichenfeuer folgen auf Himmelsfackeln … selbst krank sind : Durch die Begriffsüberschneidung in faces , die einerseits die Fackeln der Begräbnisfeier, an- dererseits die Kometen bezeichnen, kommt es erneut (s. o. Komm. zu 1,881) zu einer Analogie zwischen dem prodigium und dem Vorausgesagten, die sich diesmal sogar auf der Wortebene niederschlägt.715 Darüber hinaus hebt Manilius die auf der Ebene des Mikrokosmos getätigten710 Vgl. auch Lucan. 7,814f. communis mundo superest rogus ossibus astra | mixturus . (‚Ein gemeinsamer Scheiterhaufen steht für die Welt bereit, der Sterne und Knochen vermischen wird.‘). Mir ist keine Schrift bekannt, in der die rhythmische und teils lexikalische Parallele zur berühmten Stelle der Ju-piterprophezeiung imperium sine fine dedi (Verg. Aen. 1,279) angemerkt wurde, durch die hindurch womöglich auch Homer (Il. 1,52) rezipiert wird. Nach der hier vertretenen Interpretation erteilte Manilius den Hoffnungen auf eine nie endende römische Herrschaft eine Absage, indem er ihnen die Ekpyrosis entgegenstellte, und entspräche damit möglicherweise der Darstellung des Lukrez (vgl. Nethercut 2020, 127f.). Dass die Parallele zu Vergil gesucht ist, kann auch durch den Hinweis darauf plausibel gemacht werden, dass sine fine im strengen Sinne nicht zutrifft, da nach stoischer Vorstel-lung nach dem Weltenbrand eine Neuentstehung folgt.
711 Feraboli/Flores/Scarcia (2001), 91. Vgl. zum Folgenden bereits Jacob (1846, 42): „sed non novum est mundo, ignibus interire; potius e Stoicorum doctrina proprius et suus hic interitus mundo est.“
712 Du Fay (1679), 200: „Interitus sequuntur flammas istas caeli et minitantur terris pyras perpetuo accensas, siquidem jam universum et tota natura nacta recentem tumulum languescit.“ (Hervorhe-bung FN)
713 Vgl. Cic. nat. 2,118 ita relinqui nihil praeter ignem, a quo rursum animante ac deo renovatio mundi fieret atque idem ornatus oreretur und Sen. dial. 6,26,6 Et cum tempus advenerit quo se mundus reno- vaturus extinguat, viribus ista se suis caedent et sidera sideribus incurrent et omni flagrante materia uno igni quidquid nunc ex disposito lucet ardebit.
714 Vgl. für diese Semantik OLD s.v. novus (7); womöglich ist Fels (1990), 91 dahingehend zu verstehen.
Zur Bedeutung des Bilds der Bestattung in apokalyptischen Vorstellungen vgl. Galzerano (2019), 336f.
715 Vgl. Hübner (1984), 251 Anm. 380. Kazantzidis (2021, 151f.) sieht diese Analogie bereits bei Lukrez angelegt.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Beobachtungen, nämlich das Massensterben der Menschen, in Form des zukünftigen Endes der Welt auf die Ebene des Makrokosmos. Hierfür bedient er sich, wie in der Diskussion zu no- vum in 1,895 festgestellt, zunächst der Vorstellung der Ekpyrosis.716 In diesem Zusammenhang stellt sich die Bedeutungsfrage der Krankheit von Welt und Natur. Lühr hielt es für unwahr- scheinlich, dass es sich um eine konkrete Ausweitung der Pest von der Luft auf den Kosmos handelt.717 Dem ist m. E. zuzustimmen, wenngleich Lührs Reduktion auf ein poetisches Ele- ment womöglich zu weit geht. Die Krankheit der Welt als möglicher Zustand des Makrokos- mos (analog zum Mikrokosmos) wird im Allgemeinen postuliert und erfüllt dahingehend eine argumentative Funktion, dass dessen Vergänglichkeit aufgezeigt wird, die durch die Drohung des Weltenbrandes bereits vorausgesetzt ist.718 2.2.6 Seneca Die Verse 1–201 wurden als erster Akt vollständig in Übersetzung gegeben. Die sich nun anschlie- ßende Kommentierung erfolgt selektiv zu der doppelten Seuchenbeschreibung im Monolog719 des Oedipus und im Chorlied720 sowie den für sie relevanten Bestandteilen der Tragödie. Für eine aus-
716 Mit dieser Interpretation lässt sich auch ein sinnvoller Kausalnexus zwischen der Androhung der nie verlöschenden Scheiterhaufen und der Krankheit von Welt und Natur ziehen (vgl. auch Anm. 703, S. 262). Die ardentes sine fine rogi erneut auf eine Seuchenbeschreibung zu beziehen fiele schwer, weil in der vorangegangenen Beschreibung die Erschöpfung des Elements ( lassus defecerat ignis ) betont wurde. Eine bloße Rekurrenz zugunsten einer Steigerung ist nicht überzeugend.
717 Vgl. Lühr (1973), 124 Anm. 60.
718 Es ist wiederum diese Möglichkeit der Krankheit, die im oben zitierten Passus (5,206–216, Komm. zu Manil. 1,895) unter der Hitzeeinwirkung des Hundssterns besonders zum Vorschein kommt ( Neptunus languet , sanguis decedit ). Womöglich hat dieses Sachfeld auch den Ausdruck radios vome- re bedingt.
719 Dass es sich zunächst um einen Monolog des Königs handelt, wurde gerade im Vergleich mit der sophokleischen Vorlage als Zeichen der Isolation gewertet, die wie eine Klammer am Anfang und am Ende der Tragödie steht, vgl. Chaumartin (2002), 5 und Gardner (2019), 213f.
720 Das Verhältnis des Chors zur dramatischen Handlung ist für Senecas Tragödien umstritten. Die in der Tradition häufig angeführte Vermittlerrolle des Chors, der sowohl nah als auch distant ist (vgl. Seidensticker 2006, 100 Anm. 32), wird in einigen senecanischen Tragödien nicht erfüllt; vielmehr scheint jener nicht selten für sich zu stehen und vor allem strukturelle Aufgaben zu übernehmen (vgl. Häuptli 1983 Komm., 11). Zumindest für die hier behandelte Chorpartie ist jedoch eindeutig eine Ein-bindung in den ersten Akt festzustellen: Am deutlichsten wird dies dadurch, dass die zweite Seuchen-beschreibung durch die kürzere erste eine Vorbereitung erfährt (vgl. Schmitz 1993, 40 und Boyle 2011, 143f.). Zum Vergleich des Chors in den beiden Oedipustragödien vgl. die vielzitierte Aussage von Marx (1932), 7: „Der Gegensatz ist deutlich: bei Seneca berichtet der Chor über die Situation, bei Sophokles ruft er aus der Situation; dort ist diese Situation Gegenstand einer Beschreibung – hier Objekt eines Tuns in Klage und Bitte. Senecas Chor ist kein Subjekt – nach diesem Lied: er hat bloß ein Sujet .“
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führliche sprachliche und inhaltliche Kommentierung wird (wie auch für alle anderen Autoren, vgl. Kapitel 1.4) auf die im Literaturverzeichnis aufgeführten Einzelbeiträge verwiesen. Oed. 1–5 Schon kehrt Titan zögerlich zurück … das die Nacht vollbrachte : Als erste (und einzige) Tragödie der Motivtradition fügt sich der Oedipus mit seiner Schil- derung des Sonnenaufgangs zu Beginn in eine von der griechischen Aufführungspraxis her- rührende Tradition ein.721 Die Verse bilden in mehrerlei Hinsicht eine geeignete Einleitung des Stücks: Mastronarde hat in seinem einflussreichen Essay aufgezeigt, wie sich ausgehend von den ersten Versen gedankliche Linien ( dubius , maestum , squalida , triste ) durch das ge- samte Stück ziehen;722 der häufig genannte Zweck der ‚Schaffung einer Atmosphäre‘ durch die Einleitung wirkt folglich weit über den ersten Akt hinaus. Bemerkenswert ist der Umstand, dass Titan (=Apoll=Sol)723 den Sonnenwagen nur zögerlich über den Horizont lenkt,724 da er fürchtet, das Massaker der Nacht zu beleuchten.725 Nicht nur der antike Rezipient dürfte darin spätestens bei der Nennung der Pest ( pestis 726 ) einen Widerspruch gesehen haben, war doch anzunehmen, dass Apoll selbst die Krankheit gesandt hat.727 Die Lösung dieses Widerspruchs liegt zum einen in der Allmacht des Fatums, das Apoll in seiner Funktion als Orakel zwar721 Vgl. Töchterle (1994), 139f. Owen (1968, 295) sieht hierin mehr als bloße Tradition: „Seneca’s fre-quent opening of the plays at dawn is in fact less convincingly explained as a mechanical adherence to rules, than as a desire for the kind of atmosphere which such an opening afforded.“ Es bleibt offen, ob von der vorliegenden Passung zwischen (mutmaßlich) gewünschter Atmosphäre und Eröffnung auf eine persönliche Präferenz des Dichters geschlossen werden kann.
722 Vgl. Mastronarde (1970), 293f. und Schmidt (2004) 323f. zum reziproken Verhältnis der Akte, dane-ben Iakovou (2020), 169f. mit Literaturverweisen.
723 Die Möglichkeiten allegorischer Deutung, die sich mit der Gleichsetzung von Apoll und dem Son-nengott Sol ergeben haben, hat Horstmanshoff (1989), 58f. dargelegt.
724 Zur Übersetzung ‚zögerlich‘ vgl. die Diskussion bei Töchterle (1994), 141f. Gegen Schmitz (1993, 21) ist hervorzuheben, dass der vermeintliche Schwerpunkt auf der Art des Lichtes stets auch eine Entsprechung in der Stimmung des Sonnengottes findet. Im Text wurde das überlieferte maestum belassen; die Trennung von Titan als dem Lenker des Sonnenwagens und dem Morgenlicht iubar ist problemlos; der zuletzt von Boyle (2011, 105) kritisierte notwendige Subjektswechsel vom Licht zum Wagenlenker ist angesichts des gerens nicht schwerwiegend.
725 In vergleichbarer Weise will der luctificus Titan am Beginn des siebten Buches des Bellum civile nicht aus dem Meer auftauchen und zieht sogar Wolken an sich heran (Lucan. 7,5 attraxit nubes ), um die Schlacht von Pharsalos nicht direkt zu bescheinen. Zur Verwendung des Tragödienanfangs bei Lu-can vgl. Hübner (1976), Narducci (2002), 51f., Schrijvers (2005), 34f. und Ambühl (2015), 78.
726 Nach Manil. 1,884 ist Seneca der nächste Autor der Tradition, der die Krankheit mit diesem Begriff einführt; zur fehlenden begrifflichen Unterscheidung in den hier behandelten Quellen vgl. Anm. 4, S. 11.
727 Vgl. Schetter (1972), 412 mit Anm. 21. In Vers 34 kommt Oedipus angesichts der Orakelsprüche und der Pest selbst zum Schluss, er müsse der Angeklagte des Phoebus sein (s. Komm. zur Stelle).
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung vermitteln, jedoch nicht beeinflussen kann; zum anderen liegt die Ursache der Pest, wie das dritte Chorlied (V. 709–763) zu begründen sucht,728 nicht im Zorn des Sonnengottes, sondern im Labdakidenfluch und der daraus resultierenden Tat des Oedipus.729 Kritisch zu beurteilen ist Töchterles Aussage, dass bereits zu Beginn „das typische ‚Pestwet- ter‘“ abgebildet werde und „die durch den Rauch der Totenfeuer entstandene Düsternis […] mitzudenken [sei]“.730 Die Verse nennen letztlich drei Himmelserscheinungen: den Wagen- lenker, das Licht und die Wolken. An keiner Stelle wird die von Töchterle genannte drückende Atmosphäre beschrieben, nirgendwo ist die Rede von Hitze.731 Ein Bezug zur Motivtradition ist demnach an dieser Stelle für den Rezipienten noch nicht ersichtlich. Der Schwerpunkt liegt eher auf dem fahlen Licht und der damit vermittelten betrübten Grundstimmung ( maestum , squalida , triste , luctifica , dem gegenüber avida peste ).732 Die in dieser Stimmung begründete, häufig benannte Parallele zwischen dem inneren Zustand des Oedipus und der Darstellung der Natur entspricht der von Posch differenzierten Form der sympathetischen Naturdarstellung.733 Oed. 31b–34 Für welches Übel … augenfällig ein Angeklagter des Phoebus : Es ist diese Ahnung des Oedipus, die Senecas Tragödienfassung stets Kritik eingebracht hat – schließlich sei hier die Entwicklung zu Beginn vorweggenommen, die bei seinem Vor- gänger Sophokles Ziel einer schrittweisen Selbsterkennung gewesen war.734 In der Tat: Der Gedanke, dass das eigene Überleben nur eine Bestimmung für noch größeres Übel bedeu-
728 Gärtner (2003), 17f. spricht hierbei von einer Abstraktion im wörtlichen Sinne, da das Geschehen von einer vordergründigen Kausalität (das von Laios angesprochene scelus ) auf eine andere Ebene ‚weggezogen‘ werde.
729 Für die Entwicklung des Motivs des Götterzorns im Oedipus vgl. Schmitz (1993), 35–40, speziell S.39 zur Verbindung von scelus und veteres irae deum . Zur Rolle der Götter im stoischen Determinismus vgl. Fischer (2008), 181–186 und Sen. dial. 1,5,8: Inrevocabilis humana pariter ac divina cursus vehit: ille ipse omnium conditor et rector scripsit quidem fata, sed sequitur; semper paret, semel iussit. (‚Ein unwiderruflicher Lauf trägt gleichermaßen das menschliche und göttliche Los: jener Schöpfer und Lenker aller Dinge selbst hat zwar die Schicksalssprüche verfasst, aber er folgt ihnen; immer ge-horcht er, einmal nur hat er befohlen.‘)
730 Töchterle (1994), 140. Die Rationalisierung nimmt der geschilderten Atmosphäre ihren ominösen Charakter; besser benennt Schmidt (2004, 347) die Szenerie als eine „Unheilslandschaft“.
731 Die seit Lukrez verwendete Markierung der gegenseitigen literarischen Bezugnahme aestus findet sich erst in Vers 39 mit Bezug auf den Hundsstern ( aesti feri canis ), dann jedoch in gewohntem Zu-sammenhang und in direkter Verbindung von Titan und der Pest, vgl. auch Anm. 94, S. 125.
732 Mugellesi (1973), 43 nimmt die Verse als Paradigma des locus horridus .
733 Posch (1969), 99: „Die Natur wird zum Medium, an dem das Gefühl sich seiner erst bewußt wird. Umgekehrt wird das Erlebnis der Natur stark vom Gefühl beeinflußt. Die Einheit ist vollkommen. Das erst ist sympathetisches Naturgefühl.“
734 Vgl. Friedrich (1933), 62f., Zwierlein (1966), 94, der unter anderem diesen Aspekt herausgriff, um die
Auflösung der senecanischen Tragödien in Einzelszenen zu erweisen, und Töchterle (1994), 29. Vgl.
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ten muss, findet sich bei Sophokles am Ende des Stücks.735 Doch ist er dort in Form einer Aussage (sogar von Wissen, οἶδα [ oída ], ist die Rede) formuliert, nicht in der einer ahnenden Frage. Dieser Unterschied gründet auf den unterschiedlichen Wissensbeständen der beiden Protagonisten, wobei Seneca durch bewusste Anspielungen mit dem Informationsvorsprung der Rezipienten gegenüber den handelnden Figuren hantiert.736 Die Anklage des Phoebus ist demnach im doppelten Sinne zu verstehen: Der Rezipient weiß um den Mord an Laios und den Inzest mit Iokaste, während Oedipus die Tatsache, dass er von der Pest verschont wird, als bedeutungsvolle (da durch das fatum bestimmte) Voraussetzung ( reservamur ) für die noch zu begehenden Verbrechen und die ggf. folgende Bestrafung sieht.737 Wie ist nach diesen Perspektiven die Pest, die hier in Form ihres Resultats (‚Trümmer mei- ner Stadt … Scheiterhaufen meines Volks‘) hervortritt, zu verstehen? Der Rezipient weiß wie- derum um das Ursache-Wirkungsverhältnis, während Oedipus die Begründung in den ihm prophezeiten Verbrechen sieht (V. 35f.): sperare poteras sceleribus tantis dari | regnum salubre ? Hiermit wird nicht (wie auf Seiten des Rezipienten) eine Korrelation zwischen den bereits ver- übten Handlungen und der kosmischen Reaktion hergestellt, sondern zwischen solchen Hand- lungen, die zwar vorausgesagt, jedoch nach Meinung des Sprechers noch nicht verübt worden sind. Ein regnum salubre passte aus der Sicht des Oedipus nicht zu seiner Prophezeiung.738 Dass nun das Volk unter der Prophezeiung von Oedipus’ Schicksal zu leiden hat, ist nach dessen Lo- für eine Gegendarstellung den wichtigen Beitrag von Lisa Cordes (2009), aufbauend auf Teilergeb-nissen von Wiener (2006), 103–129, die für das Folgende zugrundegelegt werden.735 Vgl. mit Boyle (2011), 120 Soph. OT 1455–1457: καίτοι τοσοῦτόν γ᾽ οἶδα, μήτε μ᾽ ἂν νόσον | μήτ᾽ ἄλλο πέρσαι μηδέν: οὐ γὰρ ἄν ποτε | θνῄσκων ἐσώθην, μὴ ᾽ πί τῳ δεινῷ κακῷ. Zur methodischen Frage des Vergleichs mit der Vorlage vgl. Braund (2016), 2, die mit ihrer tendenziell vollständigen Absage zu weit geht.
736 Zur diskrepanten Informiertheit (Übers. von discrepant awareness ) zwischen innerem und äußerem Kommunikationssystem als einer der notwendigen Bedingungen für die dramatische Handlung vgl. Pfister (112001), 79–90 und zum Oedipus Wiener (2006), 115: „Seneca führt die ‚Blindheit‘ der Personen auf der Bühne […] dem informierten Zuschauer, der mit seinem Wissensvorsprung jedes Detail deuten kann, geradezu quälend vor Augen.“ Hilfreich ist in diesem Zusammenhang auch die Einteilung dra-maturgischer Zeitphasen von Bohrer (1991, 377) in Erwartungsangst und Erscheinungsschrecken, die den Prozess der Gefühlsentwicklung im Moment der Rezeption nachzuvollziehen suchen.
737 Wie hier und im Folgenden ersichtlich, kann die Ahnung des Oedipus demnach aus einer bestimm-ten Logik heraus erklärt werden, ohne dass an dieser Stelle metatheatralisches Wissen beim Protago-nisten vorauszusetzen wäre, wie bspw. Staley (2014) plausibel zu machen versucht. Es ist vielmehr zu überlegen, ob Deutungen dieser Art nicht das tragische Grundelement der diskrepanten Informiert-heit (vgl. vorherige Anm.) verkennen.
738 Thummers (1972, 193 Anm. 35) Einwand gegen die Position von Friedrich und Zwierlein, dass der König in seiner Verzweiflung durchaus zu einer Ahnung hinsichtlich einer Verbindung des Herrschaftsantritts und des Aufkommens der Pest kommen könnte, trifft deshalb nicht den Kern. Oedipus’ Vorahnung er-gibt sich aus einem logischen Schluss, nicht aus reiner Verzweiflung heraus, vgl. Wiener (2006), 108.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung gik lediglich folgerichtig.739 Mit Blick auf Oedipus’ wissendes Nichtwissen, das die dramatische Spannung bereits im Prolog auf die Spitze treibt,740 ist das sich anschließende fecimus möglichst allgemein zu verstehen: Allein die Anwesenheit seiner Person, der solche Taten prophezeit wur- den, hat die Lage zur Folge – allein sein Auszug aus der Stadt wird am Ende der Beschreibung als Lösung angesehen (V. 77b–80).741 Die Allgemeinheit der Feststellung ist von Bedeutung, wenn es zur Konkretisierung der Ursache in Form der Sphinx kommt (s. Komm. zu Oed. 108f.). Oed. 36 Wir haben den Himmel zum Täter gemacht : Zwei Aspekte der Übersetzung bedürfen einer Rechtfertigung: Dass die erste Person Plural in fecimus tatsächlich eine genaue Entsprechung gefunden hat, soll auf die Doppeldeutigkeit des Plurals aufmerksam machen. Zwar spricht Oedipus auch andernorts (V. 31) von sich allein in der ersten Person Plural, doch kann gerade an dieser Stelle ein Reiz darin bestehen, dass der Rezipient im Plural auch Iokaste mit einschließen kann.742 Das Attribut nocens wird häufig mit ‚vergiftet‘ o.Ä. wiedergegeben, was die antike Miasmentheorie abzubilden versucht. Dem steht jedoch entgegen, dass die in den folgenden Versen beschriebenen Phänomene schlicht keine Vergiftung, sondern zunächst einmal eine große Breite an Himmelsphänomenen beschreiben. Da mit nocens die Schuldhaftigkeit einer Person oder einer Sache bezeichnet wird,743 wird der
739 Vgl. Cordes (2009), 428 und 435–439. Zur zugrundeliegenden Vorstellung, dass die moralische Inte-grität eines Staatsoberhauptes Auswirkungen auf die Untertanen besitzt vgl. Speyer (1979), 31. Gard-ner (2019, 208f.) betont, dass es insbesondere dieses sensible Verhältnis ist, das Seneca zum Gegen-stand der Reflexion seiner Tragödie macht.
740 Vgl. Mans (1984), 103 und Schmitz (1993), 27.
741 Letztlich ist es der Auszug aus der Stadt, der die Heilung bringen soll und am Ende der Tragödie wirkungsvoll inszeniert wird (1058–1061): mortifera mecum vitia terrarum extraho: | Violenta Fata et horridus Morbi tremor, | Maciesque et atra Pestis et rabidus Dolor, | mecum ite, mecum. ducibus his uti libet. (‚Die todbringenden Übel in diesen Landen nehme ich mit mir: Du mein blutbeflecktes Schicksal, du schreckliches Schauern der Krankheit, Auszehrung, unheilvolle Pest, rasend machen-der Schmerz – geht gemeinsam mit mir, jawohl: Diese Führer will ich mir nehmen.‘). Vor diesem Hintergrund wird eine einfache Trennung (vgl. Pisi 1989, 48 Anm. 8) von physikalischer und reli-giös-spiritueller Ursache weder dem Text noch der antiken Vorstellung gerecht, die beides als ver-bunden begreifen kann. Mit Verweis auf Schmitz (1993, 223f.) ist zu betonen, dass es sich bei Oedipus nicht um einen Sündenbock handelt, da keine Sünde des Kollektivs symbolisch auf ihn übertragen wird, sondern er diese selbst begangen hat: „Edipo è la peste, perché Edipo è la colpa.“ (Pisi 1989, 69; ebenso Michelakis 2019, 391 mit Verweis auf Soph. OT 1293). Leider findet sich jene Ungenauigkeit auch noch in jüngeren Publikationen, vgl. z. B. Gardner (2019), 220. Zum Gebrauch des Pharmakos in Zeiten von Epidemien generell vgl. Cohn (2018), 31–35.
742 Vgl. Boyle (2011), 122.
743 Vgl. Heumann/Seckel (91926) s.v. nocens , 368 und Henry/Walker (1983), 132, dagegen jedoch Töch-terle (1994), 164, der annimmt, dass der Schuldcharakter an dieser Stelle zurücktritt.
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Himmel als schuldig am desaströsen Zustand des thebanischen Volkes aufgefasst, freilich aus der Perspektive des Oedipus.744 Oed. 37–51: Wie auch seine römischen Vorgänger beginnt Seneca seine erste Beschreibung mit der Schil- derung der klimatischen Bedingungen.745 Ein großer Unterschied besteht jedoch im Ausmaß, in dem bei Seneca die Natur selbst der Pest zum Opfer fällt (s. die Kommentare im Folgenden). Oed. 37–40 Kein sanfter Luftzug … dem Rücken des Nemäischen Löwen nahesteht : Der Zusammenhang zwischen dem Tierkreiszeichen Löwe und dem Hundsstern wurde bereits im Kommentar zu Manil. 1,895 ersichtlich, in dem eine Parallele zu dessen fünftem Buch aufge- zeigt werden konnte. Es ist möglich, dass Seneca auf die genannte Verbindung anspielt und damit die Assoziation der Ekpyrosis bei seinen Rezipienten hervorruft; dies kann auch den ansonsten nicht weiter sinnstiftenden astrologischen Hintergrund der Beschreibung zufriedenstellender be- gründen.746 Unabhängig von dieser Assoziation besteht wie schon bei Manilius eine Analogie zwi- schen Mikro- und Makrokosmos: Die Brust der Erkrankten brennt ( anhela flammis corda ) und die Umgebung liefert keinen Windhauch zur Kühlung, der noch bei Lukrez geholfen hatte (6,1171), sondern heizt sich auf – die Welt fiebert und der Mensch in ihr.747 Der Zusammenhang zwischen Mensch und Umwelt wird direkt an den Anfang der Wirkung des caelum nocens gestellt, wohinge- gen die konkrete Betrachtung von Mensch und Gesellschaft erst in Vers 52 nachfolgt. Oed. 38 ihre Brust aufatmen, die unter den Flammen keucht : Im Lateinischen stehen anhela corda (‚keuchende Herzen‘), die wohl als pars pro toto zu se- hen sind;748 Töchterle hat auf Parallelen zum gängigeren Ausdruck pectus anhelitum hingewie-744 Vgl. auch mit Kruschwitz (2020, 143) eine algerische Inschrift (CIL VIII 18792), die den Himmel als Mitwisser bezeichnet (V.13f. ei conscius [a]eter ).
745 Vgl. Vallillee (1960), 133f. Es ist insbesondere die Reinigung der Luft, die im Verlauf der Tragödie immer wieder aufgegriffen wird, um eine Heilung in Aussicht zu stellen, vgl. Oed. 220, 650f. und schließlich kurz vor dem Auszug des Oedipus in 1054f. Diese Kontinuität unterstreicht, dass die Pest nicht nur als Motivation der Handlung zu Beginn steht (wie etwa im OT des Sophokles), sondern die gesamte Tragödie durchzieht.
746 Zur Verbindung zum fünften Buch der Astronomica vgl. auch Jakobi (1988), 90 Anm. 135 und Schmitz (1993), 43f. Anm. 103.
747 Die bereits in den Versen 1–5 beobachtete sympathetische Grundstruktur tritt hier erneut hervor. Nach stoischer Kosmologie ist die Hitze demnach mehr als nur ein die Krankheit verstärkender Faktor, denn die Sphäre von Mensch und Natur gehen ineinander über, vgl. Posch (1969), 95.
748 Es ist nicht auszuschließen, dass auch die aristotelische Theorie vom Herzen als Ursprung des kör-pereigenen Feuers im Hintergrund wirkt, vgl. Nutton (22013), 118.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung sen.749 Bereits bei der Besprechung von Verg. georg. 3,506 wurde das Verhältnis zwischen Kör- pertemperatur und Atmung herausgestellt. Das hier beschriebene Symptom ist das einzige aus dem ersten Teil der Seuchenbeschreibung und wird in dieser Form nicht wieder aufgegriffen. Boyles Übersetzung750 ist aus mehreren Gründen mit Vorsicht zu nehmen: Zunächst würde das vermeintlich bezeichnete Organ (Lunge) im Lateinischen durch ein anderes (Herz) aus- gedrückt; der gedankliche Schritt von cor über pectus hin zu pulmo erscheint gewagt bis kaum nachvollziehbar. Weiterhin wird an dieser Stelle nicht expliziert, welche Respirationstheorie zugrundegelegt werden soll – gleichberechtigt neben der Lunge sind je nach Standpunkt Hirn, Haut oder Blut erste Empfänger der eingeatmeten Luft.751 Die unterstellte Prämisse, dass es die Erhitzung der Lunge ist, die das Keuchen verursacht, ist eine Modernisierung der Quelle (vgl. Anm. 10, S. 76). Die Übersetzung durch ‚Brust‘ wird nicht nur dem lateinischen Wortlaut ge- rechter, sondern lässt den Vorstellungsspielraum, der angesichts fehlender weiterer Deutungs- hinweise hinsichtlich der zugrundegelegten Respirationstheorie notwendig ist, bestehen.752 Oed. 41–43 Das Wasser verließ (deseruit) die Ströme … mit seinen dürftigen Wassern : Im Zurückweichen des Wassers und dem Farbverlust des Grases wendet Seneca das in Vergils Seuchenbeschreibung beobachtete Element der Wesensverkehrung (s. o. Komm. zu 3,537–540) auf die Natur an. Neben der naheliegenden physikalischen Kausalität der Dürre, die Gewässer und Gräser austrocknet,753 sollte der Formulierung verstärkte Aufmerksamkeit zukommen: Durch die Verwendung des aktiven Verbums deseruit gewinnen Wasser und Farbe als agentes eine Dynamik, die über die unbeseelte Natur hinausgeht.754 Die ansonsten in der Naturbe-
749 Vgl. Töchterle (1994) 169f. und Jakobi (1988), 90; die aufgrund ihrer Ähnlichkeit zum vorliegenden Passus interessanteste Parallele ist Verg. Aen. 6,48f. über die Sibylle: sed pectus anhelum , | et rabie fera corda tument . Sen. Ag. 713 weist den gleichen Ausdruck im Kontext der Angst auf. Neben dem Verweis auf pectus wäre auch denkbar, dass mit corda eigentlich die praecordia gemeint sind. So findet sich bei Apuleius (met. 8,27): Inter haec unus ex illis ba<c>chatur effusius ac de imis praecor- diis anhelitus crebros referens velut numini<s> divino spiritu repletus simulabat sauciam vecordiam, prorsus quasi deum praesen || tia soleant homines non sui f<i>eri meliores, sed debiles effici vel aegroti . Zur Bedeutung der praecordia vgl. Anm. 586, S. 235.
750 Vgl. Boyle (2011), 7: „No gentle breeze’s cooling breath calms lungs | Gasping with heat, no tender zephyrs blow.“
751 Vgl. Kurz (2005), 122f.
752 So auch Weißenberger zu Thuc. 2,49,3: κατέβαινεν ἐς τὰ στήθη ὁ πόνος μετὰ βηχὸς ἰσχυροῦ. (‚… stieg das Leiden in die Brust hinab, starken Husten auslösend.‘)
753 Vgl. Töchterle (1994), 171f. Die zur Stelle konstatierte Singularität des Ausdrucks color deseruit ist zusätzlich zu der von ihm angeführten Forschungsliteratur auch durch das Zeugma zufriedenstel-lend zu begründen.
754 Zur Naturbeseelung, bei der noch eine Trennung von menschlicher und natürlicher Sphäre bestehen bleibt, vgl. Posch (1969), 92–94.
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schreibung häufig verwendete Personifikation ( Zephyri , Titan , Nemaeus leo , Dirce , Ismenos , Phoebi soror , Ceres ) erfährt hier eine Variation von vergleichbarer Wirkung. Durch die sug- gerierte Selbstständigkeit von Wasser und Farbe wird die Widernatürlichkeit der Phänomene unterstrichen, die nicht mehr bloß als natürliche Reaktion auf die steigende Hitze erscheinen, sondern vor der alles erfassenden Krankheit fliehen (vgl. Komm. zu Verg. georg. 3,541–547). Oed. 44f. Dunkel gleitet am Nachthimmel des Phoebus Schwester dahin, fahl ist die Welt : Die kosmische Dimension der Krankheit wird zum Teil dadurch erreicht, dass die Himmels- körper ihr Leuchten verlieren und die Welt in ein fahles Licht tauchen (s. o. Komm. zu Oed. 1–5).755 Im Kommentar zu Ov. met. 7,530–532, der den Mond in die Motivtradition eingeführt hat, wurde bereits auf die Rolle des Mondes für die medizinische Prognostik und den Bildcha- rakter der Vergänglichkeit hingewiesen. Oed. 45 die: Im Anschluss an Töchterle haben sich Fitch und Boyle für die ( varia lectio aus E ) entschie- den.756 Töchterle entkräftet einerseits die Argumente für das substantivische nubilo , indem er unter anderem die adjektivische Verwendung von nubilus in Senecas Prosaschriften und bei den Augusteern nachweist. Bedenkenswert bleibt dabei das quantitative Verhältnis, nach dem der substantivische Gebrauch klar überwiegt (20:2). Andererseits nennt er mehrere Paralle- len757 und einen Rückverweis in Oed. 219 non ante caelo lucidus curret dies , welche die Lesart im Zusammenhang wahrscheinlich machen. Fitch sieht vom Licht des Mondes über das der Sonne hin zu den Sternen eine „satisfactory sequence“,758 die jedoch denselben Geist atmet wie das Argument der Gegenseite, an dieser Stelle werde ausschließlich die Nacht behandelt. Hin- zuzufügen ist dabei, dass die Sequenz durch antike Kosmologie gestützt wird, indem sich die755 Deswegen wurde an dieser Stelle nicht mit Töchterle (1994), 175 mundus mit ‚Himmel, Atmosphäre‘ übersetzt, da sich die Betrachtung zwar auf Himmelskörper bezieht, die Folge von deren Verände-rung jedoch für die erlebte Umwelt beschrieben wird.
756 Vgl. Töchterle (1994), 175f., Fitch (2004), 136 und Boyle (2011), 124. Das in A überlieferte novo setzen Sluiter, Viansino, Giardina, Häuptli und Zwierlein in den Text.
757 Sen. nat. 5,9,4 und Sen. suas. 3,1. Dagegenzuhalten ist jedoch Sen. nat. 3,27,4 (bei Töchterle 1994, 175 zu mundus als 3,24,4 aufgeführt), das nicht nur eine wichtige sprachliche Parallele darstellt, sondern in der Beschreibung der Sintflut vergleichbar apokalyptische Züge aufweist: Primo immodici cadunt imbres et sine ullis solibus triste nubilo caelum est nebulaque continua et ex umido spissa caligo numquam exiccantibus ventis. (‚Zu Beginn fallen unermessliche Regenschauer und ohne irgendei-nen Sonnenstrahl ist der Himmel trüb unter einem Gewölk, es herrscht anhaltender Nebel und aus der Feuchtigkeit, die Winde niemals austrocknen, entsteht eine dichte Dunkelheit.‘)
758 Fitch (2004), 136.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Beschreibung der Verse 44–46 immer weiter von der Erde entfernt und somit schrittweise eine Ausweitung auf den gesamten Kosmos erfolgt.759 Boyle verweist zur Stelle auf Ov. met. 7,528f., was jedoch nur bedingt eine Parallele darstellt. Angesichts der intensiven Verarbeitung von Ovids Seuchenbeschreibung ist jedoch denkbar, dass sich Seneca auch anderer Passus aus dem siebten Buch bedient hat. Bei der Vorstellung von Medeas Zauberkräften findet sich ein vergleichbarer Gedankengang (Ov. met. 7,207–209):760 te quoque, Luna , traho, quamvis Temesaea labores aera tuos minuant; currus quoque carmine nostro pallet avi , pallet nostris Aurora venenis.
Auch dich, Luna, ziehe ich hinab, mag deine Mü-hen das Erz aus Temessa auch mindern; auch der Sonnenwagen des Großvaters erbleicht durch mei-nen Zauberspruch, bleich wird die Morgenröte durch mein Gift. Akzeptiert man die Lesung die , besteht eine Parallele zwischen der Nennung des Mondes und dem sich anschließenden Leuchten der Sonne. Eine Nutzung von Ovid ist nicht zuletzt des- wegen plausibel, weil die kosmische Dimension der Pest durch eine Widernatürlichkeit erzielt wird,761 die mit derjenigen der Zauberkräfte vergleichbar ist. In Anbetracht von Töchterles Ar- gumenten, der schrittweisen Progression vom Mond über die Sonne zu den Fixsternen und der möglichen Parallele in Ovids Metamorphosen wird deshalb die in den Text übernommen.762 Oed. 46–49a Kein Stern funkelt trotz klarer Nacht … in die Gestalt der Hölle : Die von Töchterle erwogene konzessive Deutung von serenis noctibus als Ablativ wurde von Boyle ohne weitere Begründung als „implausible“ abgetan.763 Nach Töchterle legt der Text fol- gende Kausalität nahe: Schwarzer Dampf lastet auf der Erde, weshalb keine Sterne zu sehen sind. Entsprechend muss micat (‚funkelt‘) aus der Perspektive menschlicher Beobachter ge-
759 Eine visuelle Darstellung des Planetensystems findet sich bei Hübner (2000), 1073.
760 Es bestehen weitere Parallelen zwischen den von Medea beschriebenen Kräften und den unnatürlichen Geschehnissen der Pest, vgl. Ov. met. 7,199–206: quorum ope, cum volui, ripis mirantibus amnes | in fon- tes rediere suos, concussaque sisto, | stantia concutio cantu freta, nubila pello | nubilaque induco , ventos abigoque vocoque, | vipereas rumpo verbis et carmine fauces , | vivaque saxa sua convulsaque robora terra | et silvas moveo iubeoque tremescere montes | et mugire solum manesque exire sepulcris . Jakobi (1988), 94f. macht weitere Rezeptionen aus dem siebten Buch der Metamorphosen wahrscheinlich.
761 Vgl. Schmitz (1993), 59.
762 Auffällig ähnlich ist zudem die Abfolge im Prodigienkatalog bei Lucan (1,538–542a): iam Phoebe toto fratrem cum redderet orbe | terrarum subita percussa expalluit umbra. | ipse caput medio Ti- tan cum ferret Olympo | condidit ardentis atra caligine currus | involvitque orbem tenebris gentesque coegit | desperare diem.
763 Boyle (2011), 124 und Töchterle (1994), 177.
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wertet werden, deren Eindruck mit den tatsächlichen Gegebenheiten nicht übereinstimmt. Das anschließende sed (‚sondern‘) fügt sich gedanklich insofern ein, als incubat (‚senkte sich nieder‘) eine räumliche Nähe zu den Sternen bezeichnet – anstelle von Sternenglanz senkt sich (von der Erde gesehen) aus der Höhe ein schwarzer Dunst hinab.764 Oed. 49b–51 Ceres versagt ihre Frucht … die Saat stirbt ohne Ertrag : Mit einer Ausführung über die Unfruchtbarkeit der Feldsaat kurz vor der Ansteckung der Menschen in der Stadt folgt Seneca dem bereits bekannten Beschreibungsmuster, das die Krankheit vom Land in die Stadt wandern lässt (s. Komm. zu Manil. 1,884) und greift über- dies den gedanklichen Zusammenhang von Hungersnot und Seuche auf.765 Die Hinzufügung der Pflanzenwelt hat Lefèvre vor dem Hintergrund der sophokleischen Vorlage als unpassend bezeichnet; ihm widersprach Schmitz in mehrerlei Hinsicht: Erstens füge sich die Erkrankung der vegetativen Umwelt gut in das Konzept kosmischer Sympathie ein. Zweitens handele es sich nicht um eine Neuerung Senecas, da sich ein Befall der Vegetation bereits in der kurzen Seuchenbeschreibung im dritten Buch von Vergils Aeneis (3,135–142) findet:766Iamque fere sicco subductae litore puppes, conubiis arvisque novis operata iuventus, iura domosque dabam, subito cum tabida membris corrupto caeli tractu miserandaque venit arboribusque satisque lues et letifer annus. linquebant dulcis animas aut aegra trahebant corpora; tum sterilis exurere Sirius agros, arebant herbae et victum seges aegra negabat.
Beinahe bereits waren die Schiffe an die sandige Küste gezogen, die junge Männerschar mit Hoch-zeiten und den neuen Fluren beschäftigt, Gesetze und Heimstatt teilte ich zu, als plötzlich durch ein verdorbenes Klima eine auszehrende, unheilvol-le Krankheit und die todbringende Jahreszeit die Körper, Bäume und Pflanzen befiel. Sie ließen ihre jungen Seelen oder schleppten ihre kranken Körper umher; da verbrannte der Hundsstern die Felder und machte sie unfruchtbar, das Gras brannte und die erkrankte Saat versagte uns die Nahrung.
764 Die Parallele zu Lucr. 6,1143 incubuit tandem populo Pandionis omni ist augenfällig; den Ursprung des Dunstes mit Verweis auf Sen. nat. 6,28,2 als die (aufgebrochene) Erde anzusehen, erscheint auf-grund der durch das Präfix in- vorgegebenen Richtung und der Parallele schwer möglich.
765 Vgl. Pisi (1989), 50 mit Anm. 15, zum Zusammenhang von Hunger und Seuche s. Anm. 180, S. 59.766 Vgl. Grimm (1965), 58–61, Lefèvre (1980), 296 sowie Schmitz (1993), 28 und 50. Als Ursache für die Pest bei Vergil werden erneut die Beschaffenheit der Luft und die Hitze genannt. Die Beschreibung ist auf ein Minimum reduziert und fungiert ausschließlich dazu, die Entscheidung zur Besiedelung Kretas als einen Bruch mit der göttlichen Vorsehung zu markieren.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Auffällig bleibt nichtsdestoweniger die Ausführlichkeit der Beschreibung des Getreides bei Seneca. Diese kann zum einen ihre Begründung in einer näheren Ausführung der Personifi- kation der Ceres und einer damit einhergehenden Rezeption des Sophokles (OT 26f.) erhalten, zum anderen hat Töchterle eine interessante Stelle ausfindig gemacht, in der Seneca das Ge- treidewachstum mit den Lebensabschnitten des Menschen vergleicht.767 Eine Abbildung des Verfalls des Menschen durch die Natur wurde auch in Ovids Seuchenbeschreibung durch das Schwinden des Mondes plausibel gemacht (s. Komm. zu Met. 7,530–532) – sollte der Dichter die Vorstellung der Episteln auch hier zugrundegelegt haben, wäre darin eine Aufnahme sei- nes (auch sonst umfangreich rezipierten) Vorgängers zu sehen. Oed. 52–55 Kein Teil der Gesellschaft … verbrennt Ehepaare : Töchterle hat an dieser Stelle auf die Verkehrung des Konsolationstopos des gemeinsamen Todes hingewiesen.768 Die Unerbittlichkeit des Todes, der keinen Unterschied zwischen Jung und Alt, Stark und Schwach macht, zieht sich durch die gesamte Motivtradition.769 Im Hand- lungszusammenhang der Tragödie gewinnen die betroffenen Personengruppen jedoch eine besondere Bedeutung: In ihnen spiegelt sich zugleich das Verbrechen des Oedipus wider. Die Gegenüberstellung von Jung und Alt, insbesondere die von Vater und Sohn ruft den Vater- mord an Laios vor Augen. Der Ausdruck una fax thalamos cremat (‚eine gemeinsame Fackel verbrennt Ehepaare‘) spielt mit der doppeldeutigen Verwendung der Fackel ( fax ) bei Beerdi- gungen sowie bei Hochzeitsfeierlichkeiten. Ebenso deuten die thalamos (bezeichnet eig. das
767 Vgl. Töchterle (1994), 180 und Sen. epist. 121,15f. Nam et illa herba quae in segetem frugemque ven- tura est aliam constitutionem habet tenera et vix eminens sulco, aliam cum convaluit et molli quidem culmo, sed quo ferat onus suum, constitit, aliam cum flavescit et ad aream spectat et spica eius indur- uit: in quamcumque constitutionem venit, eam tuetur, in eam componitur. Alia est aetas infantis, pue- ri, adulescentis, senis. (‚Denn auch jenes Gewächs, das sich zu einer Feldfrucht entwickeln wird, hat eine andere Beschaffenheit, wenn es jung ist und kaum aus der Ackerfurche ragt, eine andere wenn es erstarkt ist und zwar noch mit weichem Halm steht, aber mit einem, der die ihm zugedachte Last trägt, wieder eine andere, wenn es goldgelb wird, bereits die Tenne vor Augen hat und sich die Ähre härtet: zu welcher Beschaffenheit auch immer es gelangt – es blickt darauf, dafür ist es angelegt. Ein anderes Lebensalter ist das des Kleinkinds, des Knaben, des Jugendlichen, des Greises.‘). Gardner (2019, 210f.) sieht an dieser Stelle eine Inversion der Gabe der Ceres aus dem ersten Buch von Vergils Georgica sowie eine Reminiszenz an Ecl. 4,28 molli paulatim flavescet campus arista . (‚Allmählich wird das Feld goldgelb durch weiche Ähren.‘)
768 Vgl. Töchterle (1994), 183 mit Anm. 63, daneben Anm. 246, S. 154 dieser Untersuchung.
769 Mit Pisi (1989, 51) auf einen direkten Rückgriff auf Thukydides (2,51,3 T XIII) schließen zu wollen, ginge daher etwas weit. Terminologisch bemerkenswert ist die Verwendung von immunis exitio im Zusammenhang einer Krankheit. Mit Blick auf Celsus und Scribonius Largus ist jedoch festzustel-len, dass das Adjektiv immunis keine Verwendung in der Fachsprache gefunden hat. Erst bei Cael. Aur. chron. 4,34 findet sich der Ausdruck siquidem nulla pars ulcerum in intestinis a medicaminis contactu videatur immunis .
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Ehegemach) in Verbindung mit der Betonung bei una den Inzest mit Iokaste an.770 Anhand dieser Verse lässt sich exemplarisch zeigen, dass die vermeintlich starre (und dadurch nach Meinung mancher Kommentatoren zu kritisierende) Topik im jeweiligen Zusammenhang trotz gleichbleibender Elemente andere, in diesem Fall sogar tiefere, Züge annimmt. Oed. 56–59a Bitteres Weinen … unsere Tränen versiegten : Jakobi stellt zu Recht als Vorlage Ovid (Met. 7,611, in Weiterentwicklung von Lucr. 6,1283 lacrimis lassi ) neben die Verse 56–59a.771 Danach wird zunächst deutlich, dass die beiden Dichter ihre Seuchenbeschreibungen mit dem Ende der Tränen beschlossen haben, während Seneca das Motiv mitten in seiner Schilderung verwendet. Damit verbindet er die Gleichheit vor dem Tod mit dem Verfall der Bestattungsriten. Hervorzuheben ist gegenüber Jakobi, dass das Versiegen der Tränen über die Darstellung der Vorgänger hinausgeht. So ordnet Boyle das Element in eine Tradition ein, nach der bestimmte Erlebnisse eine Reaktion mit Tränen auf- grund ihrer Schwere inadäquat erscheinen lassen.772 Eine weitere Deutungsmöglichkeit liefert eine Stelle aus Ovids Epistulae ex Ponto (1,2,25–28):Hic me pugnantem cum frigore cumque sagittis cumque meo fato quarta fatigat hiems.
Fine carent lacrimae, nisi cum stupor obstitit illis et similis morti pectora torpor habet.
Hier zermartert mich, der ich mit der Kälte, mit Pfei-len und meinem eigenen Los kämpfe, schon der vier-te Winter. Kein Ende finden meine Tränen, außer wenn Abstumpfung sie hindert und eine totenglei-che Starre mein Herz in Beschlag nimmt. Die hier zugrundegelegte Vorstellung lässt den endlosen Tränenstrom des Dichters nur da- durch versiegen, dass sich in seiner Brust eine totengleiche Starre ausbreitet.773 Ein Bezug zu
770 Vgl. Mastronarde (1970), 297f. und Boyle (2011), lviii und 125: „The focus here on the literally in-discriminate effects of the plague – viz. its destruction of the distinctions of age, sex, and family categories (father, son, husband, wife) – is not without thematic point.“ sowie Gardner (2019), 216. Zu sozialen Kategorien und deren Außerkraftsetzung in Seuchenbeschreibungen vgl. auch Girard (1974), 833.
771 Vgl. Jakobi (1988), 91f. mit Anm. 138 und bereits Vallillee (1960), 142f; zur Interpunktion vgl. Töch-terle (1994), 183.
772 Vgl. Boyle (2011), 125f.
773 Vergleichbar ist auch die Reaktion in der Seeschlacht vor Massilia, in welcher der Vater des Argos beim Anblick seines sterbenden Sohnes zunächst keine Reaktion zu zeigen vermag (Lucan. 3,733f. und 741f.): non lacrimae cecidere genis , non pectora tundit, | distentis toto riguit sed corpore pal- mis … ut torpore senex caruit viresque cruentus | coepit habere dolor . (‚ Nicht fielen Tränen aus den Augen , nicht schlug er auf seine Brust, sondern er erstarrte mit fortgestreckten Handflächen am ganzen Körper … sobald der alte Mann seiner Betäubung entbehrte und der verwundende Schmerz
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Senecas Tragödie liegt deshalb nahe, weil Oedipus selbst das Versiegen der Tränen als Re- aktion auf äußerstes Leid ( in extremis ) beschreibt. Demnach wäre die Trockenheit der Augen als Symptom nicht die primäre Ursache, sondern ein begleitender Umstand des Mangels an Tränen. Oed. 59–61 Hier trägt ein Vater seinen Sohn, selbst erkrankt … zu holen : Durch die nähere Betrachtung der Umstände der Aufschichtung von Leichen, die in der bis- herigen Motivtradition vor allem vor dem Hintergrund eines Kampfes um die Scheiterhaufen geschildert wurde, gewinnt die Darstellung an Pathos. Dies wird nicht zuletzt durch den neuen Schwerpunkt auf die soziale Rolle von Vater und Mutter bewirkt, die ihre eigenen Kinder auf den Scheiterhaufen werfen. Dabei spiegeln sie durch ihren Akt der pietas das zwecklose Beten für Angehörige bei Ovid (Met. 7,589–592) wider;774 weiterhin erhält in ihnen die Gruppe der optimus quisque (‚der jeweils Beste‘) von Lukrez, die unter Einsatz ihrer eigenen Gesundheit bei ihren Angehörigen bleibt, eine greifbarere Entsprechung – das Resultat ist mit aeger und amens jedoch vergleichbar mit der Beschreibung des Vorgängers.775 In der Erzählung reprä- sentieren diese pii parentes (‚pflichtbewussten Eltern‘) eine Stufe gesellschaftlichen Verhaltens, das in den folgenden Versen zum bekannten Motivelement der Brutalität und Resignation ge- steigert wird. Oed. 63 denn bei der Bestattung bricht das Grabgeleit zusammen : Die Erzählung bewegt sich nun weg von den Scheiterhaufen hin zum Grabgeleit für die Toten, das noch während seines Zugs zusammenbricht. Diese Innovation verbindet in der Erzählung geschickt die Betrachtung der pii parentes aus den vorherigen Versen mit dem sich anschlie- ßenden Verfall der Sitten und dem Verlust des pudor . Grundlage für die Umsetzung ist der bereits bei Thukydides beobachtete und in der Folge gern aufgegriffene Aspekt des plötzlichen begann, an Kraft zu gewinnen.‘). Auch an dieser Stelle ist die innere Starre augenfällig, vgl. Sanni-candro (2010), 58f.
774 Vgl. zur pietas Braund (2016), 62–65. Gardner (2019, 214–217) macht in ihrer Besprechung der Stelle u. a. darauf aufmerksam, dass der Akt der pietas , den die Eltern erweisen, ein Versuch der Aufrecht-erhaltung personeller Distinktion gegenüber der homogenisierenden Kraft der Pest ist, was durch die Gegenüberstellung der Demonstrativa hunc … hunc mit in eundem rogum unterstrichen wird.
775 Ob der Zustand der Mutter ( amens ) mit Töchterle (1994, 186) ausschließlich durch die Trauer oder womöglich auch durch die Krankheit selbst bedingt ist – die Auswirkung der Pest auf die Psyche der Menschen wurde schließlich durch die Modifikationen bei Lukrez grundgelegt (s. Komm. zu Lucr. 6,1158f.) – ist schwer zu sagen. Nach dieser Deutung fände sich in den Attributen aeger und amens die Wirkung der Krankheit auf Physis und Psyche wieder. Neben einem direkten Einfluss durch die Krankheit ist weiterhin die Gesamtsituation der Katastrophe eine mögliche Ursache, vgl. mit Pisi (1989, 51 Anm. 16) Sen. nat. 6,29.
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Kollapses (vgl. auch Kapitel 3.1.3). Durch das sich anschließende tum im Folgevers wird eine zeitliche Entwicklung nahegelegt, die durch einzelne Tote angestoßen und durch die immer neue Trauer ins Unerträgliche gesteigert wird. So hat Boyle zwar Recht, wenn er im zusam- menbrechenden Grabgeleit einen Fall von „plague-irony“776 sieht, doch sollte dieser Umstand nicht über die steigernde Funktion dieser Verse im Gesamtzusammenhang hinwegtäuschen. Oed. 64–68 Dann verbrennen sie die Körper ihrer Angehörigen … die Scheiterhaufen : Als letzte Stufe des Umgangs mit den Leichen steht der Streit um die Scheiterhaufen, der bei Seneca (im Vergleich zu Ovid) durch die Gegenüberstellung von propria mit alienis noch eine Präzisierung erfährt und in eine Schlusssentenz zum Mangel an pudor in Zeiten der Not mündet.777 Der Sinnabschnitt endet (in Anlehnung an Ov. met. 7,613) mit der Feststellung der Ermangelung natürlicher Ressourcen für eine korrekte Bestattung. Besonderes Augenmerk ver- dienen die Verse 66f., in denen Seneca den eigentlichen Bruch der Bestattungsnorm konkreti- siert: Zum einen werden keine Einzelgräber angelegt, sodass an dieser Stelle zum ersten Mal in der Motivtradition eine explizite Nennung von Massengräbern vorliegt.778 Diese bilden vor dem Attribut sancta (‚heilig‘) einen außerordentlich starken Kontrast zwischen tatsächlichem und gefordertem Ablauf.779 Zum anderen wird durch die zynische Frage, wie wenige Leichen tatsächlich vollständig verbrannt werden, auf das Konzept des halbverbrannten Körpers ( corpus semiustum ) angespielt:780 Danach stellte für den römischen Rezipienten nicht nur der Kampf vor den Scheiterhaufen eine Normüberschreitung gegenüber den Lebenden, sondern auch die nicht korrekte Durchführung der Verbrennung des Leichnams eine gegenüber den Toten dar.781 Oed. 69f. Keine Gebete, keine Heilkunst … in den Abgrund : Am Schluss der ersten Beschreibung steht effektvoll das Scheitern von Religion und Me- dizin, dessen Formulierung einen Nachweis für die direkte Verwendung des Manilius durch776 Boyle (2011), 126. Zum schwarzen Humor bei Seneca vgl. Meltzer (1988).
777 Vgl. Jakobi (1988), 92 und Töchterle (1994), 188. Zwar sieht Jakobi richtig in Ov. met. 7,567 passim posi- toque pudore die Vorlage, versäumt jedoch zu betonen, dass es sich bei dem pudor um einen anderen als beim Vorgänger handelt (nach der Systematik von Kaster 2005, 29 handelt es sich um Skript 4, s. ibid. 44).
778 Vgl. mit Vallillee (1960, 155) Lucan. 7,803f. petimus non singula busta | discretosque rogos: unum da gentibus ignem . (‚Wir bitten nicht um einzelne Gräber, nicht um gesonderte Scheiterhaufen: gib der Menge ein einziges gemeinsames Feuer.‘). Zu den vielzitierten puticuli bei Varro vgl. Anm. 638, S. 248, Hopkins (1983), 207f., Kierdorf (1991) und Bodel (2000). Derartige Massenbestattungen sind nicht zu verwechseln mit intendierten Mehrfachbestattungen, vgl. Cortesão Silva (2015), 130f.
779 Dieser Kontrast unterstreicht die Verteidigung der Überlieferung gegenüber Konjekturvorschlägen, vgl. Fitch (2004), 136 und Boyle (2011), 127.
780 Vgl. Noy (2000).
781 Ein drastisches Beispiel findet sich bei der Bestattung des Pompeius in Lucan. 8,786–789.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Seneca liefert.782 Die Subsumierung der vorher differenzierten Bereiche von Gebeten ( vota ) und Wissenschaft ( ars ) unter die Personengruppe der Heiler ( medentes , vgl. Ov. met. 7,561) zeigt das Nebeneinander von religiöser und naturwissenschaftlich orientierter Medizin.783 Mit dem Verlust der Heiler ist jede Hoffnung auf Hilfe ( auxilium ) verloren, was die Bedeutung der Me- dizin im fingierten Katastrophenfall erneut unterstreicht. Bemerkenswert ist der Schwerpunkt auf der Patientenperspektive – nirgendwo wird der Aspekt der Ansteckung der Pfleger auf- gegriffen (wie etwa bei Thukydides und Ovid betont), es geht lediglich um deren Hilflosigkeit. Die Folge ist Resignation, die sich im Todeswunsch des Oedipus äußert. Die sich anschlie- ßenden, kongenial von Iokaste unterbrochenen,784 Überlegungen bezüglich einer Flucht aus Theben lassen sich m. E. in Anbetracht der Imperative ( sperne , linque ) nur schwer als Pläne zur Rettung der Stadt auslegen.785 Oed. 97 concieret: Die lange akzeptierte Lesart conciperet aus E wurde zunächst von Schröder und im An- schluss von Fitch zugunsten von concuteret aus A in Frage gestellt.786 Die ursprüngliche An- nahme, conciperet minas könne als Objekt die bloße Äußerung der Drohungen bezeichnen, wurde von Schröder durch eine lexikalische Analyse als semantisch und syntaktisch proble- matisch erwiesen; auch eine Umdeutung der Drohungen zum Rätsel selbst sei weder lexika- lisch erklärbar noch mit der Erzählfolge vereinbar. Bezugnehmend auf Fitch hat sich auch Boyle für die Lesart concuteret entschieden, das er mit „Hurling her threats“787 wiedergibt. Jedoch hat bereits Fitch Schwierigkeiten der Lesart von A eingeräumt, die er zum einen in der Pragmatik, zum anderen in einer paläographischen Parallele sieht, in der ebenfalls ein Eingriff 782 Vgl. Bühler (1959), 489 und Jakobi (1988), 93 mit Anm. 145 zu Manil. 1,887.
783 Diese Unterscheidung darf ohnehin nicht allzu streng gefasst werden, wie sowohl Untersuchungen der hippokratischen Medizin (vgl. z. B. van der Eijk 2011, 23f.) als auch von Celsus’ De medicina (vgl. Capitani 1972) gezeigt haben.
784 Zum Aufeinandertreffen der lateinischen Begriffe parentes und coniunx , die in der dramatischen In-szenierung von Oedipus und Iokaste mit dem Wissen des Rezipienten spielen, vgl. Töchterle (1994), 197f.
785 Thummers (1972, 194) Konzeption von Oedipus als Retter des Vaterlandes ( salvator patriae ) ist hier nicht vorwegzunehmen, wie bereits bei Müller (1953, 452) geschehen: Es besteht ein wichtiger Unter-schied zwischen dem Handeln des Oedipus an dieser Stelle und zum Schluss der Tragödie. Bereits hier das Handlungsmotiv der Rettung anzunehmen versperrte eine Möglichkeit der Charakterent-wicklung.
786 Vgl. Schröder (2000), 69–73 und Fitch (2004), 137f.
787 Boyle (2011), 10, vgl. auch den Kommentar 138.
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von A vorgenommen worden ist.788 An dieser Stelle wird für einen kleinen Eingriff in den Text argumentiert, mithilfe dessen die genannten Schwierigkeiten behoben werden. In Senecas Hercules furens findet sich folgende Anrufung an Athene (900–902):Te te laborum socia et adiutrix precor, belligera Pallas, cuius in laeva ciet aegis feroces ore saxifico minas .
Dich, ja dich rufe ich als Gefährtin und Unterstützerin mei-ner Mühen an, streitbare Pallas, in deren linker Hand die Aegis mit ihrem versteinernden Gesicht wilde Drohungen bedeutet . Hercules ruft Athene in ihrer Funktion als Kriegsgöttin an, welche die Aegis mit dem Gor- gonenhaupt in ihrer Linken trägt.789 Der Ausdruck ciet … minas bereitet bei der Übersetzung gewisse Schwierigkeiten: Eindeutig ist jedoch, dass es sich dabei nicht um verbale Äußerung von Drohungen handelt;790 die minae implizieren die mögliche Konsequenz der Versteinerung, ohne dass der Schild oder das Gorgonenhaupt sie äußerte. Eine nonverbale Form der Drohung ist auch für die Stelle im Oedipus von Interesse, wie bereits Schröder herausgestellt hat.791 Setzte man anstelle des conciperet nun concieret (von concio ), kann man die eben beobach- tete Semantik für die Drohungen der Sphinx nutzen. Das conciere in seiner Bedeutung ‚in Bewegung versetzen, aufregen‘ entspricht dabei dem Peitschen des Schwanzes, mit dem sich die Sphinx selbst anstachelt.792 Paläographisch lässt sich die Verschreibung zu conciperet zu- friedenstellend als lectio facilior des eher unüblichen Kompositums concieret erklären. Oed. 108f. Eine einzige Rettung bleibt uns jetzt : Nach der Schilderung seines Sieges über die Sphinx kommt Oedipus zu der Überzeugung, dass sie (in V. 107 auffälligerweise durch lues ausgedrückt793) die Ursache für die Pest sein muss. Die vorher grobe Ahnung, die sich aus einem logischen Schluss von den Prophezeiun- gen ableitete (s. o. Komm. zu Oed. 31–34), wird demnach präzisiert: Oedipus nimmt nun eine klare Zuschreibung der Ursache vor, wobei hervorzuheben ist, dass diese mit der ersten groben Ahnung kompatibel ist – die Verursachung der Pest durch die dämonische Einflussnahme der
788 Vgl. Fitch (2004), 137f.
789 Vgl. Fitch (1987), 354.
790 Ebenso Thomann (1961), 125 mit seiner Übersetzung: „in deren Linken die Ägis mit ihrem verstei-nernden Antlitz wilde Drohungen aussendet.“
791 Vgl. Schröder (2000), 71f.
792 Fitch (2004), 137 vergleicht das Löwengleichnis in Lucan. 1,205ff., das Roche (2009), 216 in eine lite-rarische Tradition von Homer über Vergil bis hin zu Lucan einordnet.
793 Eine terminologische Verbindung zwischen Sphinx und Pest hat Michelakis (2019, 394) auch für die Vorlage des Sophokles aufgezeigt.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Sphinx kann sich in das miasmatische Dasein des Oedipus fügen. Darüber hinaus macht die Gewissheit der dämonischen Wirkmacht den Weg dafür frei, dass Oedipus Apoll als Retter ansehen kann, da dieser die Pest augenscheinlich nicht selbst geschickt hat.794 Oed. 109 ostendat: Boyle hat sich gegen den Konjunktiv bei ostendat und für den Indikativ Präsens ausgespro- chen, weil jener die Zuversicht auf Heilung zu sehr ins Ungewisse rücke (noch weiter geht Giardina im Futur ostendet ). Mit Verweis auf die Erklärungen bei Sluiter (Hoffnung) und Fitch (Pessimismus) sowie das Indefinitpronomen ( ali ) quam , das die von Boyle in Frage gestellte Ungewissheit gerade explizit macht, ist jedoch am Konjunktiv festzuhalten.795 Oed. 111–114 mit der gesamten Stadt! Entvölkert von Bauern … dein berühmter Soldat : Zusätzlich zur üblichen Aufteilung nach Land- und Stadtbevölkerung benennt der Chor eine weitere Personengruppe, den Soldaten auf dem Eroberungszug des Bacchus im Osten. Diese Gruppe umfasst gedanklich die beiden anderen, da sich die Thebaner hier mit ihrer mythischen Vergangenheit identifizieren.796 Die Einführung des Soldaten steht, ebenso wie die sich anschließende Aufzählung von dessen Taten im fernen Osten,797 unter dem Gedanken des gestörten Tun-Ergehen-Zusammenhangs.798 Trotz des bewiese- nen Wagemuts, bis ans andere Ende der Welt zu ziehen, rafft die Pest das Volk Thebens unterschiedslos dahin. Insbesondere unter Berücksichtigung der späteren Umsetzung des
794 Vgl. (bis auf den ersten Teilsatz) Schetter (1972), 421: „Oedipus sucht die Schuld an der Pest jetzt nicht mehr bei sich, sondern in einem geisterhaften, dämonischen Racheakt der von ihm überwundenen Sphinx. Deswegen kann er jetzt auch, unter Anspielung auf die bevorstehende Rückkehr des nach Delphi entsandten Creo, Hilfe von dem Gott erwarten, dessen Rechenschaft fordernden Zugriff er zuvor in seinem Ausgenommensein von dem allgemeinen Peststerben zu verspüren geglaubt hatte“. Zum Einfluss dämonischer Kräfte auf die Gesundheit vgl. Leven (2005c), 206f. mit weiterer Literatur. 795 Vgl. Boyle (2011), 141, dagegen Sluiter (1941), 82 und Fitch (2004), 138.
796 Zur Inversion der mythischen Chronologie zu diesem Zweck vgl. Lefèvre (1980), 294f.
797 Die Nennung der fremden Völker zeigt durchaus eine Parallele zu Catull. 11 auf. Wie Boyle (2011, 145 und 157f.) hierin eine Anspielung auf Unheil als Folge von Geschlechtsverkehr sehen zu wollen, geht jedoch m. E. zu weit – nicht zuletzt, weil das Gedicht in einer Absage an Lesbia gipfelt und damit einen anderen Schwerpunkt besitzt. Auch die von ihm festgestellten Übereinstimmungen zwischen dem Symptomkatalog (V. 180–192) und Catull. 51 ergeben sich wohl eher durch die thematische Überschneidung.
798 Im Zusammenhang der Motivtradition ist die Nennung des Indienzugs in seiner Funktion folg-lich nicht überraschend (so Töchterle 1994, 222), wohl jedoch auffällig umfangreich. Häupt-li (1983, Komm. 23) hat die Art der Darstellung als Kontrast zwischen der Blütezeit Thebens und seiner jetzigen Gestalt gedeutet. Diese Gegenüberstellung kultureller Blüte und Zerstörung durch die Pest wurde bereits in Lukrezens Komposition des sechsten Buches beobachtet (vgl. Anm. 97, S. 126).
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Motivs durch Silius Italicus, in dem er den Seuchentod als Schmach für die Soldaten cha- rakterisiert (14,630–632), kann auch für diese Stelle eine subjektiv empfundene Schande des ‚trägen Todes‘ im Kontrast zur heldenhaften Vergangenheit angenommen werden (s. dazu auch im Folgenden). Oed. 124f. ein Geschlecht unbesiegbaren Ursprungs … grausam dahinraffende Schicksal : Die Betonung der eigenen Herkunft dient (wie im vorangegangenen Kommentar bereits herausgearbeitet wurde) der Kontrastierung der eigenen Verdienste ( merita , vgl. auch Gratt. 371f. und Manil. 1,891) mit der Bestrafung durch einen grausamen und unehrenhaften Tod. Weiterhin stellt die Beschreibung des Ursprungs als ‚unbesiegbar‘ die Übermenschlichkeit der Krankheit in Form eines wirkungsvollen Oxymorons heraus. Die Benennung des fatum als grausam ( saevum ) aus der subjektiven Perspektive der Erkrankten wirkt wenig verwunderlich und wiese diese aus stoischer Sicht als Nichtwissende aus. Insbesondere vor dem Hintergrund der problematischen Fatumskonzeption der Tragödie (vgl. Anm. 49, S. 103) gewinnt der Vor- wurf jedoch an Gewicht, selbst wenn die Verbindung mehrmals bei Seneca Verwendung fin- det.799 Schließlich ist mit Boyle darauf hinzuweisen, dass der Wechsel zur ersten Person Plural und die Betitelung als stirps invicta die Identifikation der römischen Rezipienten mit dem Chor erhöht.800 Oed. 126–132 stets aufs Neue zieht der Triumphzug des Todes … dicht an Bestattung : Die Verse ergänzen Oedipus’ Darstellung über den Abfall von den Bestattungsriten (Oed. 55–67).801 Hatte jener die Angehörigen insbesondere durch ihre soziale Rolle und die damit einhergehende Verpflichtung beschrieben, sieht der Chor das Volk lediglich als anonyme Mas- se. Dies zeigt sich anhand der Verwendung des unpersönlichen Passivs ( ducitur, properatur ) und der Erfassung der Menschen in Reihen oder Mengen ( ordo , series , turba ). Ebenso anonym bleiben die Toten, die außerhalb der Stadt auf einen Haufen ( strages 802 ) geworfen werden – was799 Für eine Stellenübersicht vgl. Töchterle (1994), 226.
800 Vgl. Boyle (2011), 148 und zur Selbsterkenntnis im tragischen Motiv Gardner (2019), 208.
801 Zum Verhältnis der beiden Seuchenbeschreibungen vgl. treffend Schmitz (1993), 40: „Auf diese Wei-se schließen sich die einzelnen Aspekte kunstvoll zu einem umfassenden Bild der Pest zusammen. Die doppelte Beschreibung der Pest bot dem Dichter Gelegenheit, denselben Gegenstand aus ver-schiedener Sichtweise zu behandeln.“ Diese Aufteilung der Pest zum Zwecke gegenseitiger Ergän-zung kann, wenn Vallillee (1960, 145) mit seiner Vermutung richtig liegt, Grundlage für Lucans Zersplitterung des Motivs gewesen sein (vgl. Kapitel 2.2.7).
802 Für die semantische Diskussion um strages vgl. Töchterle (1994), 228, dessen konkreter Deutung an dieser Stelle zwar mit Blick auf die Leichenhaufen, nicht jedoch für funus als Leiche gefolgt wird. Vgl. jedoch die Rezeption bei Lucan. 2,204b–206 sed illos | magna premit strages peraguntque cadavera partem | caedis: viva graves elidunt corpora trunci. (‚Aber auf jenen lastet ein großer Leichenhaufen
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung folgt, ist ein notdürftiger Vollzug der Bestattung; eine Anspielung auf Massengräber, wie sie noch vorher in der Klage des Oedipus angeklungen waren, findet sich hier nicht. Der Kollaps während der Begräbniszüge ist in der feinen Zweideutigkeit im Ausdruck ad manes prope- ratur gegeben, der auch das Eilen in den eigenen Tod bezeichnen kann. Ovids Neuerung in der Motivtradition, dass die Stadttore der großen Anzahl an Trauernden nicht standhalten, hat Seneca geschickt an sein Sujet angepasst (sieben Tore in Theben) und zugleich durch die höhere Anzahl eine quantitative Steigerung erreicht.803 Ebenfalls ein neuer Gedanke eröffnet sich durch den Dativ Morti , nach dem der Begräbniszug ( pompa funebris 804 ) zugleich zum Triumphzug des Todes wird.805 Oed. 133f. Zuerst befiel die Krankheit Schafe, machte sie lahm … das sattgrüne Gras : Das Attribut tardas (‚langsam‘) zu den bidentes (‚Schafe‘) wurde bisweilen als allgemeine Charakterisierung der Tiere gedeutet. So verweist Pisi u. a. auf die Krankheitstheorie bei Luk- rez, wo auch auf die Natur der Tiere abgehoben werde.806 Gerade die für die Erklärung anderer Stellen häufig hinzugezogene Beschreibung in Senecas Naturales Quaestiones sollte auch hier Beachtung finden, weil jener darin nicht nur eine Erklärung für das Entstehen von Seuchen gibt (s. u. Kapitel 3.1.1), sondern auch erläutert, aus welchem Grund das Weidevieh zuerst er- krankt: Da die Krankheitsdämpfe aus Spalten in der Erde aufsteigen, sind Schafe und Rinder durch die Nähe ihrer Köpfe zum Boden besonders gefährdet; bei Schafen komme noch ihre ‚weiche (d. h. schwache) Natur‘ hinzu.807 Nun wird aber bei Lukrez und auch im Oedipus nicht die Schwäche der Schafe, sondern deren Trägheit (Lukrez) und Langsamkeit (Seneca) betont. und die Leichen übernehmen einen Teil des Gemetzels: die schweren Körperteile zermalmen die anderen bei lebendigem Leibe.‘) und dazu Pope (2020), 215.
803 Vgl. Jakobi (1988), 95.
804 Zum Verhältnis von römischem Triumph- und Begräbniszug vgl. Kierdorf (1991), 79 und Degel-mann (2018), 39–41.
805 Die gewinnbringende semantische Ambiguität des Dativs haben bereits Töchterle (1994, 226) und Boyle (2011, 149) angemerkt.
806 Vgl. Pisi (1989), 57 zu Lucr. 6,1131f. consimili ratione venit bubus quoque saepe | pestilitas et iam pigris balantibus aegror , nicht eindeutig Boyle (2011), 13 „The scourge first touched our lazy sheep“.
807 Vgl. Anm. 337, S. 175 und Sen. nat. 6,27,4: Facilius autem pecora sentiunt, in quae primum pestilentia incurrere solet, quo avidiora sunt; aperto caelo plurimum utuntur et aquis, quarum maxima in pesti- lentia culpa est. Oves vero mollioris naturae , quo propiora terris ferunt capita, correptas esse non mi- ror, cum afflatus aeris diri circa ipsam humum exceperint. (‚Umso leichter bemerkt es also das Vieh, das eine Pest als erste zu befallen pflegt, je gieriger es ist; sie leben sehr viel unter freiem Himmel und am Wasser, die doch die größte Schuld an einer Pest tragen. Darüber aber, dass Schafe, die ja von ziemlich weicher Natur sind , sich anstecken, je näher sie ihre Köpfe an der Erde halten, wundere ich mich nicht, weil sie die Ausdünstung dieser krankmachenden Luft direkt am Boden aufgenommen haben.‘)
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Letzteres eröffnet zwei Deutungsmöglichkeiten: Entweder dient das Attribut dazu, eine andere Begründung dafür zu geben, dass die Schafe zuerst angesteckt werden – hier würde nicht die Kopfhöhe, sondern deren Laufgeschwindigkeit zugrundegelegt; oder im tardas ist bereits ein Symptom zu sehen. Als Vorlage hierfür wäre die Krankheitstheorie bei Vergil anzunehmen, in der deutlich von einem Schaf die Rede ist, das nur noch in begrenztem Maße Nahrung auf- nimmt und der Herde nicht ganz folgen kann.808 Gerade diese beiden Aspekte werden in der Beschreibung bei Seneca aufgegriffen, weshalb das Attribut tardas hier nicht als allgemeine Charakterisierung, sondern proleptisch als Symptom aufgefasst wird.809 Oed. 135–148 da stand ein Priester … zwischen den verwesenden Jungstieren : Diese erste Hälfte der Tierbetrachtungen knüpft an die vorangegangenen Verse an, indem das Sterben der Nutztiere stets noch in Gesellschaft von Menschen geschildert wird, bevor die Wildtiere in der zweiten Hälfte (149–153) allein in den Blick genommen werden. Hinsichtlich der Reihenfolge (Opfertier,810 Pferd, Stier) orientiert sich Seneca an seinem Vorgänger Vergil, folgt ihm jedoch nicht in der Breite der Darstellung.811 Übereinstimmung in einzelnen Elemen- ten besteht im plötzlichen Kollaps und dem Eiter anstelle von Blut.812 Eine Konkretisierung des808 Vgl. mit Cattin (1963, 46) Verg. georg. 3,464–469: quam procul aut molli succedere saepius umbrae | videris aut summas carpentem ignavius herbas | extremamque sequi , aut medio procumbere cam- po | pascentem et serae solam decedere nocti, | continuo culpam ferro compesce, priusquam | dira per incautum serpant contagia vulgus. (‚Dasjenige Schaf, von dem du siehst, dass es von den anderen entfernt ist oder allzu häufig den angenehmen Schatten sucht oder nur träge die obersten Grashalme abzupft und als letztes nachfolgt oder sich bei der Weide mitten auf dem Feld niederlegt und sich der Kälte der Nacht entzieht – diesen Krankheitsherd unterdrücke sofort mit dem Stahl, bevor sich die unheilvolle Ansteckung durch deine nichtsahnende Herde schlängelt.‘)
809 Vgl. Töchterle (1994), 229. Als weitere Stütze für diese Deutung kann die sich anschließende Be-schreibung des Pferdes fungieren, das segnior cursu auf der Rennbahn zusammenbricht.
810 Das Scheitern des Opfers kann (insbesondere aufgrund der literarischen Vorlage bei Vergil, s. Georg. 3,490) bereits als Vorausweisung auf Opferung und Eingeweideschau im zweiten Akt gedeutet wer-den (vgl. dazu Pratt 1939, 93–99). Ebenso erinnert das Aufbrechen des Tartarus (Oed. 160) an die Totenbeschwörung im dritten Akt, vgl. Boyle (2011), 149 und 152f. Seneca nutzt demnach das Seu-chenmotiv nicht nur dazu, die Tragödienhandlung zu verschiedenen Zeitpunkten zu motivieren (vgl. Anm. 745, S. 270), sondern gestaltet es gleichsam als Ouvertüre des gesamten Stücks (zur Er-läuterung dieses Anachronismus vgl. den Beitrag von Schubert 2004, insbes. 382–387).
811 Für eine tabellarische Übersicht der Quellenbenutzung an dieser Stelle vgl. Vallillee (1960), 136f. Zu-dem sei auf die Kommentare zu Verg. georg. 3,486ff. verwiesen (Kapitel 2.2.2), in denen bspw. auch der medizinische Ursprung des Eiters diskutiert wird.
812 Vgl. Pisi (1989), 57f. und Töchterle (1994), 231f., der auch eine ausführliche Besprechung zum Wort-gebrauch cruor liefert. Anhand der Unterscheidung in der Fachschrift des Celsus (vgl. Anm. 351, S. 178) ist hervorzuheben, dass die hier mit sanies bezeichnete Flüssigkeit keine positive Konnotation zu besitzen scheint. Vielmehr ist als Vergleich einerseits die bereits angeführte Rezeption Vergils durch Calpurnius Siculus heranzuziehen (vgl. Anm. 329, S. 174), nach der sanies eine destruktive
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Motivs liegt beim Pferd vor, dessen Lauf nun im Vollzug der Runde abgebrochen wird;813 eine Erweiterung findet sich beim Tod des pastor , der inmitten seiner Herden stirbt (vgl. Anm. 411, S. 193).814 Beabsichtigt scheint hier eine motivische Inversion: Zunächst fällt der Tausch der Prädikate bei Vergil auf. Dort war vom Pferd labitur , vom Stier concidit gesagt worden, an der hier behan- delten Stelle erfolgt die Zuordnung umgedreht. Darüber hinaus wurde bei Vergil ein Schwer- punkt darauf gelegt, dass die Stiere mitten bei der Arbeit zusammenbrachen und der Bauer sei- nen labor nicht mehr fortführen konnte, während hingegen das Pferd sich zwar mühte, jedoch nur im Zusammenhang von Pflegebemühungen in Kontakt mit Menschen kam (s. Komm. zu Georg. 3,498f.). Seneca hat das Scheitern des labor vom Stier auf das Pferd transferiert, das bei seinem Sturz den Reiter vornüber abwirft und dadurch Verrat an ihm übt ( prodidit ). Was wird nun durch diese Änderung bewirkt? In der Seuchenbeschreibung des Oedipus ergibt sich hier- durch eine klarere Trennung zwischen dynamischem und statischem Bild. Das Pferd behält weiterhin seinen Status als kämpferische Natur, sein Tod ereilt es mitten im Lauf. Die noch bei Vergil betonte Duldsamkeit der Stiere, welche die Vorlage für seine Theodizee bilden konnte, wird in der Tragödie in eine stille Inszenierung des Massensterbens auf dem Feld gewendet. Dabei macht sich der Dichter die wesenhafte Übereinstimmung zwischen Mensch und Tier, die bei seinem Vorgänger zu beobachten war, zunutze und lässt den Hirten (gelassen?) als Teil seiner Herde sterben. Oed. 149–153 Nicht fürchten Hirsche … ihr Gift versiegt : Grundlage dieser Verse sind Verg. georg. 3,539f. (s. o. Komm. zu 3,537–540) und Ov. met. 7,545f. mit ihrer Travestie des Goldenen Zeitalters, deren Einzelbestandteile Seneca effektvoll miteinander verbindet.815 In Vergils Beschreibung konnte von einer Wesensverkehrung ge- sprochen werden, während bei Ovid das natürliche Verhalten der Tiere lediglich außer Kraft gesetzt wurde. Seneca schließt sich in diesem Punkt an seinen jüngeren Vorgänger an, ent- lehnt jedoch die Tiere aus beiden Beschreibungen (Wolf, Hirsch, Schlange: Vergil; Bär, Hirsch: Ovid). Mit Ovid verbindet die vorliegende Umsetzung auch, dass sich die Wesensbeschrei- bung in den speziellen Abschnitt der Tiere neben anderen einordnet, was bei Vergil themen- Kraft im Körper entfaltet. Andererseits mag sanies als Teil des Registers des Ekelhaften in diesem Zusammenhang Verwendung gefunden haben.
813 Eine Konkretisierung liegt nur nach der oben vertretenen Deutung des infelix studiorum vor (s. o. Komm. zu Georg. 3,498f.); ansonsten handelte es sich um eine Neuerung innerhalb der Tradition, die in der Folge von Lucan (6,87 et tremulo medios abrumpit poplite gyros ) wieder aufgegriffen wird.
814 Aus der Lebensgemeinschaft Vergils, in der Mensch und Tier aufeinander angewiesen sind (vgl. Raabe 1974, 50), wird demnach an dieser Stelle eine Sterbegemeinschaft.
815 Vgl. Gardner (2019), 212.
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bedingt entfällt. Senecas Innovation besteht in der Hinzufügung des Löwen, dessen Brüllen verstummt;816 in Anbetracht der von Mastronarde herausgearbeiteten besonderen Stellung des Löwen als Bindeglied zwischen Oedipus und der Sphinx erscheinen die erkrankten Tiere als weitere Stütze für ein die Tragödie durchziehendes Element.817 Im Vergleich mit der Ausge- staltung von Senecas Vorlagen ist hervorzuheben, dass der Verlust furchteinflößender Attri- bute an vorliegender Stelle eine noch größere Wirkung entfaltet; stellt doch die Furcht das bestimmende Gefühl des ersten Aktes dar.818 Damit ähnelt der Passus Vergils Travestie des Goldenen Zeitalters: War die Wesensverkehrung dort mit einem Scheitern des labor verbun- den und damit nur scheinbar eine Erleichterung, besteht die Oedipus ergreifende Furcht auf einer zu tiefen Ebene, als dass die fehlende Bedrohung durch wilde Tiere einen Unterschied in der Grundstimmung zu bewirken vermöchte. Oed. 154–158 Nicht übergießt der Wald … die voll sind mit seinem Wein : Die Verse ergänzen die Darstellung des Oedipus über das Vertrocknen der Feldfrüchte (Oed. 49b–51).819 Die bislang beobachtete Bewegung vom Land in die Stadt wird an dieser Stelle umgekehrt: Nachdem der Blick zuvor von den Menschen der Stadt zu denen auf dem Land und in der Folge zu den Wildtieren schweifte, schließt sich organisch die Schilderung der Wirkung auf die Natur an. Diese wird sowohl syntaktisch als auch semantisch parallel gestaltet: War die vorangegangene Wesensverkehrung der Tiere stets durch non eingeleitet816 Töchterle (1994), 234 verweist auf einen Katalog in Ov. met. 10,537–541, der die hier vorliegende gedankliche Abfolge widerspiegelt. Vallillee (1960, 137) sieht im Löwen schlicht eine Ersetzung des Ebers. Bei Seneca besteht freilich ein gewisser Widerspruch zwischen der Wirkweise der Krankheit (s. Kapitel 3.1.2), die bei Ovid zum Zeitpunkt der Beschreibung des Ebers noch nicht dargelegt wur-de, und der Affektebene: Der Zorn müsste durch die Hitze der Krankheit eigentlich noch vergrößert werden.
817 Vgl. Mastronarde (1970), 304 und ihm folgend Iakovou (2020), 177f. Möglicherweise sollte auch eine engere Anbindung an Verg. ecl. 4,22 nec magnos metuent armenta leones (‚… und nicht wird das Vieh sich vor den großen Löwen fürchten‘) erfolgen, vgl. Boyle (2011), 150f.
818 Vgl. Töchterle (1994), 137f.
819 Vgl. Schmitz (1993), 40. Die ebendort angemerkte ausführlichere Behandlung der natürlichen Um-gebung bei gleichzeitiger Aussparung der himmlischen Sphäre findet ihre Begründung in der gegen-seitigen Ergänzung beider Beschreibungen. Hatte Oedipus in seiner Schilderung das caelum nocens aus dramaturgischen Gründen in den Vordergrund gestellt – schließlich war dies Zielpunkt der Re-flexion –, berichtet der Chor aus seiner Perspektive und ergänzt das Bild des Himmels um das der Erde. Zudem wird hierdurch eine schärfere Trennung zwischen Ursache (Oedipus) und Wirkung (Erkrankte) erreicht. Möglicherweise ist es auch der Wunsch nach dieser klaren Aufteilung, der dazu führt, dass Seneca ein eigentlich festes Element der Motivtradition, die Erkrankung der Vögel (vgl. Töchterle 1994, 234), in seiner Beschreibung nicht erwähnt: Nur Oedipus dürfte nach dieser Logik von der Sphäre des Himmels sprechen, doch dieser schildert in der ersten Beschreibung keine Er-krankung von Tieren.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung worden, wird dies auch im Folgenden für Wald, Erde und Wein vorgenommen.820 Dabei wird die Hauptaussage ‚Nichts wächst mehr‘ in ihren Folgen unterschiedlich beleuchtet. Aus dem fehlenden Blattwerk folgt das Ausbleiben des Schattens auf den Bergen, die karge Erde grünt nicht mehr und die aus landwirtschaftlichen Beschreibungen bekannten von üppiger Frucht gebogenen Äste des Weinstrauchs verschwinden.821 Kann der fehlende Schatten zunächst noch als Verstärkung der Hitze gedeutet werden, macht der folgende Vers deutlich, dass hier nicht die klimatischen Bedingungen im Mittelpunkt stehen, sondern die Relativierung landschaftlicher Ästhetik.822 Dieses Element war bereits bei Vergils Georgica (vgl. Komm. zu 3,520–523 und Anm. 418, S. 194) beobachtet worden, die Vallillee ebenfalls als Grundlage für die Verse im Oedipus erachtete.823 Oed. 159 Alles hat dasselbe Übel zu spüren bekommen wie wir : Der Vers beschließt die Betrachtung der Krankheitsauswirkungen auf die Erde in Form der thebanischen Gesellschaft, der Ländereien, der Tiere und der Natur. Durch die Formu- lierung erhält er seinen spezifischen Charakter, der durch einen Vergleich mit seiner Vorlage (Ov. met. 7,547a omnia languor habet ) ersichtlich wird. Auf ähnliche Art und Weise diente der Halbvers in den Metamorphosen (dort einleitend) zur Bezeichnung einer allumfassen- den Ausbreitung der Krankheit. Hier beginnen jedoch die Unterschiede: Während Ovid die Krankheit, bzw. die durch sie bewirkte Schwäche zum Subjekt machte, setzt Seneca omnia (‚Alles‘) an diese Stelle. Damit einher geht eine Änderung im Prädikat, das von der Inbesitz- nahme ( habet ) zum Gefühl ( sensere ) wechselt. Das notwendig gewordene Objekt bildet die Krankheit ( malum ), die durch das Possessivum ( nostrum ) näher bestimmt wird. An dieser Stelle tritt der Chor aus seiner reinen Berichterrolle heraus und offenbart sich als Teil des Unglücks.824 Die vorgenommenen Änderungen reihen sich folglich gut in die oben beobach- 820 Vgl. Mugellesi (1973), 46f.
821 Töchterle (1994, 239) verweist auf Parallelstellen, aus denen Ov. rem. 175f. hervorzuheben ist: Aspice curvatos pomorum pondere ramos, | ut sua, quod peperit, vix ferat arbor onus. (‚Schau auf die Zweige, die vom Gewicht der Äpfel gekrümmt sind, wie der Baum die Last seiner Erzeugnisse kaum zu tra-gen vermag.‘)
822 Für diese Deutung spricht nicht nur die im Folgenden genannte Parallele in Vergils Georgica , sondern auch die Bezeichnung der silva … decorata , die in der Prophezeiung des Laios (Oed. 651 veniet et silvis decor ) wieder aufgegriffen wird. Mit decor (‚Zier‘) tritt die ästhetische Dimension deutlich hervor. Die hier zugrundeliegende ästhetische Vorstellung der grünenden Wälder und Wiesen darf nicht nur als Selbstzweck verstanden werden, sondern ist zugleich Ausdruck eines intakten Weltgefüges.
823 Vgl. Vallillee (1960), 137, ohne jedoch die Parallele im Folgenden zu erläutern.
824 Vgl. Schmitz (1993), 53f. Zu bemerken ist jedoch, dass durch die Einleitung in Oed. 124f. in der ersten Person Plural ( interimus , labimur ) eine Anteilnahme des Chors am beschriebenen Leiden ersicht-lich geworden ist. Darin unterscheidet sich der Chor bereits dramaturgisch bedingt von Aeacus, der (vergleichbar mit Oedipus) ausschließlich als Beobachter des Übels fungiert.
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tete (Komm. zu Oed. 1–5 mit Anm. 733, S. 267) sympathetische Grundstruktur der Seuchen- beschreibung ein.825 Oed. 160–163 Es brach auf die Riegel der Tiefen des Erebos … den sidonischen Wassern : Ohne weitere Konjunktion wird der Ausbruch der Unterwelt geschildert, weshalb der vo- rangegangene Vers nicht nur als Abschluss, sondern auch als Überleitung gelesen werden kann: Omnia schließt entsprechend nicht nur die Oberwelt, sondern auch die Unterwelt mit ein, wobei deren Erkrankung verständlicherweise nicht durch den Tod bezeichnet werden kann, sondern durch die Überschreitung ihrer natürlichen Grenzen.826 Mit Blick auf die Motivtradition bemüht sich Seneca um eine Steigerung bekannter Elemente: Hatte Vergil (Georg. 3,552f.) allein Tisiphone aus der Unterwelt aufsteigen lassen, ist es im Oedipus die Schwesternschar der drei Furien. Wohl bleibt deren Verhältnis zum Verlauf der Pest unbe- stimmt, während Tisiphone in den Georgica eindeutig steigernde Funktion innehatte (ver- gleichbar mit der Mors atra im Folgenden). Lefèvre betont in seiner Untersuchung, dass die Vermischung der Flüsse von Unter- und Oberwelt nicht real zu denken seien, sondern le- diglich das Bild der ‚Hölle auf Erden‘ evozieren sollten.827 Inwiefern die Beschreibung vom Rezipienten als real empfunden wurde, bleibt Hypothese – sicher ist jedoch, dass der Einfluss göttlicher und dämonischer Mächte auch im ersten nachchristlichen Jahrhundert noch der- art präsent war, dass die Einnahme einer säkularen Perspektive dem Rezipientenhorizont nicht gerecht würde.828 Vor diesem Hintergrund kann, auch ohne Rückgriff auf die Begriffe825 Dies gilt auch für die Ausweitung auf alle Weltteile: Diese fand sich in Ansätzen bereits in Vergils Georgica , war dort jedoch als Bruch mit der eigentlich ortsgebundenen Erzählung gewertet worden (s. Anm. 447, S. 203). In ähnlicher Weise könnte gefragt werden, inwiefern die Zustände der Unter-welt (Oed. 160–179) noch tatsächlich die Situation der Erkrankten im Blick haben. Hervorgehoben werden sollte jedoch, dass dem Dichter trotz der beobachteten Schwerpunktverschiebung eine Rück-kehr zur Betrachtung des Erdenschicksals gelingt.
826 Vgl. Schmitz (1993), 54f. und Töchterle (1994), 238.
827 Vgl. Lefèvre (1980), 297f. Zur passenden Wahl des Phlegethon, des brennenden Unterweltsflusses, als Parallele zu den klimatischen Bedingungen an der Erdoberfläche vgl. Farnaby zur Stelle und Boyle (2011), 153. In der analogen Gestaltung von Ober- und Unterwelt erinnert Senecas Konzeption an die des Manilius, der durch die feurigen Kometen ganz Vergleichbares für Himmel und Erde beschrieb (s. o. zu Manil. 1,881). In der Unterweltsbeschreibung bei Sil. 13,564 ist es der Phlegethon, der über die Ufer tritt.
828 Zu einer solchen Annahme sollte auch nicht die Polemik Ciceros gegen die Epikureer verführen, die bisweilen in vergleichbarem Zusammenhang angeführt wird (Tusc. 1,48): quae est anus tam delira quae timeat ista, quae vos videlicet, si physica non didicissetis, timeretis, ‚Acherunsia templa alta Orci, pallida leti, nubila tenebris loca‘? (‚Welche Alte ist so von Sinnen, dass sie fürchtet, was ihr sicherlich fürchtetet, wenn ihr euch nicht die Physik angeeignet hättet, nämlich „die tiefen Unterweltsgewölbe des Orcus, die dämmrigen und in Dunkelheit eingehüllten Gefilde der Toten“?‘)
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Realität und Fiktion, von einer starken Wirkung des Bildes ausgegangen werden.829 Schließ- lich ist mit Jakobi zu erwägen, dass es sich nicht ausschließlich um ein Bild ohne reale Aus- wirkung innerhalb des Narrativs handelt, sondern die Vermischung der unter- mit den über- irdischen Gewässern die Vergiftung des Wassers versinnbildlicht.830 Zugrundeliegen kann die in den Naturales Quaestiones erläuterte Theorie, dass das sich aus dem Boden speisende Wasser der Flüsse auch unter der Oberfläche seine Eigenschaften zum Negativen verändert.831 Folgt man dieser Annahme, hätte Seneca den Gedanken des ansteckenden Wassers nicht nur nicht ausgespart, sondern neben der Luft noch eine weitere Ursache der Krankheit in Theben ausgemacht, nämlich den Unterweltsfluss.832 Oed. 164f. die schwarze Mors … breitet ihre Flügel vollständig aus : Mit Pisi ist für diese Beschreibung des personifizierten Todes insbesondere die Norische Viehseuche Vergils (3,552f.) als Vorlage anzusehen:833 Die pallida Tisiphone werde durch Mors atra , das avidum caput durch avidi hiatus ersetzt. Da Vergil als erster das Element der Hölle auf Erden in die Motivtradition eingeführt hat, liegt dieser Rezeptionsweg nah. Es bleibt jedoch zu fragen, ob Seneca noch andere Vorbilder gehabt haben könnte, insbesondere für die sprach- liche Ausgestaltung der Beschreibung der Mors . Zunächst greift Seneca (wie bereits mehrfach im Chorlied beobachtet, vgl. Anm. 801, S. 282) seine eigene Darstellung aus dem Monolog des Oedipus auf, in diesem Fall die Drohgebärden der Sphinx (Oed. 95–97). Für die konkrete Vor- stellung des Todes, der seine Flügel ausbreitet, können Horaz bzw. Grattius als Vorlage gedient
829 Die Farben dieses Bildes sind, wie auch die Kommentare belegen, weitestgehend konventionell – doch gerade durch das Einfügen in den neuen Zusammenhang gewinnen die Topoi ihre spezifische Bedeutung, wie Owen (1968) an anderer Stelle gezeigt hat.
830 Vgl. Jakobi (1988), 90. Nicht ganz eindeutig ist, wie Schmitz (1993, 56) zu dessen Position steht. Ihr kommt es zunächst auf eine korrekte Priorisierung an, nach der das Vermischen der Flüsse vor al-lem die kosmische Dimension der Krankheit unterstreiche – dies freilich aus dem Blickwinkel ihrer Untersuchung heraus.
831 Sen. nat. 3,15,4: Ceterum, ut in nostris corporibus, ita in illa saepe umores vitia concipiunt : aut ictus aut quassatio aliqua aut loci senium aut frigus aut aestus corrupere naturam . (‚Im Übrigen: Wie in unseren Körpern, so nehmen auch in ihr [sc. der Erde] Flüssigkeiten häufig Krankheiten auf: entwe-der Stöße oder irgendeine Erschütterung oder das Alter des Ortes oder Kälte oder Hitze haben ihren natürlichen Zustand verdorben.‘); vgl. daneben Sen. nat. 3,20. Im allgemeineren Sinne kann auch die im sechsten Buch dargelegte Seuchentheorie als Vorlage gedient haben, vgl. Töchterle (1994), 239 und unten Kapitel 3.1.1.
832 Die Frage wäre nicht zuletzt deshalb von Interesse, weil an dieser Stelle nicht von einer Vergiftung des Wassers durch miasmatische Luft (wie bei Vergil und Ovid) oder durch einen kranken Festkör-per (etwa durch Leichen, wie in D. H. 10,53,2ff.) erfolgte, sondern allein durch eine andere Flüssig-keit.
833 Vgl. Pisi (1989), 61.
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haben.834 Da eine direkte Bezugnahme von Seneca auf Grattius in der Seuchenbeschreibung nicht nachzuweisen ist, wird hier angenommen, dass sowohl Grattius als auch Seneca die Be- schreibung von Horaz aufgreifen.835 Zu unterstreichen ist der enge gedankliche Zusammen- hang zwischen der zunehmenden Gier der Mors und der im Anschluss beschriebenen Szene um Charon. Oed. 166–170 und er … der hartgesottene Fährmann … ist es müde … hinüberzufahren : Mit seiner Rezeption des Fährmanns aus der Unterweltsbeschreibung in Vergils Aeneis überträgt Seneca das Problem der Massen in die Unterwelt.836 Der Transfer ist auch deshalb bemerkenswert, weil aus ihm ein klares Verständnis für das logistische Problem der Leichen- entsorgung hervortritt und kunstvoll auf die Verhältnisse unter der Erde angewandt wird.837 In der Figur des ermüdeten Charon erkennt man zum einen den defessus arator des Manilius (1,878) der Motivtradition wieder,838 wobei der nicht endende Strom an Toten seine Aufgabe als Unterweltsstrafe (vergleichbar mit Sisyphos oder den Danaiden) erscheinen lässt.839 Oed. 171–179 sogar die Eisenfesseln … rund um die von Amphion erbauten Mauern : Nach der eindrücklichen Szene um Charon, die als Folge des Wütens der Mors an der Ober- welt den Hades betrachtete, wechselt der Blick nun erneut zur Umwelt der Menschen: Es wird „vom Infernalischen auf Ominöses übergeleitet.“840 Die gelieferten Informationen werden durch fama (‚Gerücht‘) in sprecherische Entfernung gerückt, was sicherlich auch durch die ge- steigerte Ungeheuerlichkeit und die damit einhergehende Unglaublichkeit des Geschehens be-834 Hor. serm. 2,1,57f.: seu me tranquilla senectus | exspectat seu mors atris circumvolat alis , Gratt. 347f.: stat Fatum supra totumque avidissimus Orcus | pascitur et nigris orbem circumsonat alis . Töchterle (1994, 241f.) bespricht die Aufnahme des senecanischen Bildes durch die flavischen Epiker und Par-allelen in der Ikonographie.
835 Zum Verhältnis von Seneca und Horaz vgl. Trinacty (2014), 146–164 und Stöckinger et al. (2017). Horaz selbst hat auf griechische Vorbilder zurückgegriffen, wie etwa auf die Beschreibung des Hades bei Eur. Alc. 262; vgl. Muecke (1993), 109 für weitere Parallelen.
836 Vgl. Verg. Aen. 6,302–305, dazu Töchterle (1994), 242 und Boyle (2011), 154.
837 Das logistische Problem im Falle von Massensterben ist bereits in der Attischen Pest des Thukydides impliziert, wird im Laufe der Motivtradition an mehreren Stellen und auf unterschiedliche Art wie-der aufgegriffen, selten jedoch derart explizit wie an dieser Stelle.
838 Zur direkten Benutzung des Manilius durch Seneca s. o. Komm. zu Oed. 69f. mit Anm. 782, S. 279.839 Überträgt man das Bild zurück in die römische Lebenswelt, ist es zum anderen möglich, in ihm einen Repräsentanten der Bestattungsunternehmer ( libitinarii ) und insbesondere von deren nicht häufig erwähnten Angestellten, den Totengräbern, zu sehen, die im Falle eines Massensterbens eben-falls an ihre Belastungsgrenzen stießen; vgl. zur Tätigkeit der Totengräber Bodel (2000), 135–144.
840 Töchterle (1994), 244. Dabei ist zu betonen, dass sich die einzelnen Elemente der Darstellung bündig ineinanderfügen, da das Ominöse seinen Ursprung im Infernalischen besitzt.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung dingt ist.841 Die Funktion der Ereignisse sollte vor allem in der Schaffung einer unheimlichen Atmosphäre und nicht im Zusammenhang naturwissenschaftlicher Diskussion gesehen wer- den. Darüber hinaus kann Seneca in Form der Prodigien eine erneute Bewegung hin zur Stadt unternehmen, zu der ihn die Schilderung der heulenden Hunde führt,842 um dort letztlich das Leiden der Menschen anhand der Krankheitssymptome zu schildern. Es ist auffällig, dass die im Folgenden geschilderten Prodigien fast allesamt Neuerungen für die Motivtradition dar- stellen, wenngleich zahlreiche Vorgänger und Parallelen in der antiken Literatur aufgezeigt werden konnten:843 Dröhnen der Erde, Geistererscheinungen, die Erschütterung des kadmi- schen Hains und das Heulen von Hunden rund um die Stadtmauern. Die Geistererscheinun- gen haben ihre Vorlage in Ovid (Met. 7,611f.), wo sie jedoch anders begründet wurden: Dort waren es Wiedergänger, die aufgrund der nicht korrekt vollzogenen Bestattungsriten nicht ins Jenseits gelangen konnten, sodass sie eher Trauer als Furcht im Rezipienten evoziert haben dürften. Hier hingegen sind es die gesprengten Grenzen der Unterwelt, die neben den Furien und Cerberus auch Geister in die Oberwelt gelassen haben – Furcht ist die Folge, nicht zuletzt aufgrund ihrer (topischen) Größe ( maiora viris ).844 Neben den Metamorphosen ist der erste Buchschluss der Georgica als Vorlagezu nennen: Hatte bereits Manilius eine Verschmelzung der Buchschlüsse bei Vergil in seiner Beschreibung vorgenommen, entnimmt auch Seneca ei- nige seiner Prodigien diesem Passus.845 Oed. 180–192a Welch grässliches, neuartiges Antlitz des Todes … an ihren Gliedmaßen : Der Gedanke, dass der Vorgang des Sterbens durch die Krankheit schlimmer ist als der Tod selbst (und Letzterer somit erstrebenswert erscheint), rahmt den letzten Abschnitt ein.846 Seneca ist der einzige Dichter der Motivtradition, der seine Beschreibung mit dem Element des individuellen Leids enden lässt. Die von Lukrez vorgegebene Reihenfolge des Scheiterns 841 Zur Steigerung und zu den im Folgenden behandelten Prodigien vgl. Schmitz (1993), 57–59.
842 Zum Heulen der Hunde als Vorbote des Todes vgl. Burriss (1935), 35f. In Anschluss an Leo (1879, 381f.) hat Zwierlein (1986, 231f.) anhand von Parallelstellen (hinzuzufügen wäre Verg. Aen. 4,609) wahrscheinlich gemacht, dass es sich bei den Hunden um die der Hekate und damit um Ausgeburten der Unterwelt handelt. Nach dieser Deutung fügte sich das nächtliche Heulen der Hunde sinnvoll in die vorangegangenen Prodigien ein.
843 Vgl. Zwierlein (1986), 231f., Pisi (1989), 60–62, Töchterle (1994), 244–248 und Boyle (2011), 155f. Zur Zuordnung dieser Art von Vorzeichen zum kaiserzeitlichen Geschmack vgl. Braund (2016), 22.
844 Inwiefern Seneca mit seiner Vorliebe für die Beschreibung von Geistern und Unterweltswesen in den Tragödien (insbesondere im Oedipus und Hippolytus ) stilbildend war und eine wichtige Grundlage für Lucan (etwa bei der Totenbeschwörung im sechsten Buch) bildete, hat Morris (1961) herausgear-beitet.
845 Vgl. Hübner (2006) und Gale (2011) zur Rezeption durch Manilius.
846 Vgl. Töchterle (1994), 249.
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der religio und damit einhergehend des Bestattungsbrauches wurde (wenngleich in jeweils an- gepasster Form) von allen Vorgängern (bis auf Grattius) übernommen. Im Oedipus findet sie sich ebenfalls, nämlich in der ersten Beschreibung des Königs (V. 59–70), die analog mit dem Scheitern der Medizin endet, und kurz am Schluss (V.197–201). Damit kann Seneca am Ende der zweiten Beschreibung das Leid der Erkrankten und ihre Reaktion in den Vordergrund rü- cken, das in den anderen Schilderungen tendenziell am Anfang oder in der Mitte, nie jedoch am Schluss steht. Dadurch ergibt sich gestalterisch eine Pendelbewegung des Chorlieds, das von den Menschen ausgeht, sich bis zur kosmischen Ebene steigert, um dann schließlich wie- der zum Leid der Menschen zurückzukehren. Trotz einer ausführlicheren Beschreibung der Symptome folgt Seneca nicht mehr dem Glie- derungsprinzip des a capite ad calcem , sondern beschreibt nach einer allgemeinen Betrach- tung des Körpers zu Beginn insbesondere die Gesichtspartie, bevor mit den quassata viscera und dem sacer ignis wieder der gesamte Körper in den Blick genommen wird. Darin folgt er grob der ovidianischen Vorgehensweise, die sich bei ihm auch durch die Kürze der Darstellung ergibt. Mit der lukrezischen Facies Hippocratica (vgl. oben Komm. zu Lucr. 6,1192b–1196) teilt die Darstellung nicht nur einige Symptome, sondern auch ihre ausschließliche Fokussierung des Einzelnen, d. h. die Nichtbeachtung von Angehörigen, Pflegern oder Ärzten. Für aufgegrif- fene Symptome wird auf die Kommentare zum Vorbild verwiesen, ein ausführlicher Vergleich erfolgt in Kapitel 3.1.3, sodass im Folgenden lediglich auf einige neue oder strittige Aspekte eingegangen wird.SenecaLukrezVergilOvid piger languor, ignavi artus
1157, 1218, 1221, 1248,
1254, 1262: langueba(n)t, languens, languidus 847
547: omnia languor habet
529: ignavos aestus rubor in vultu 1166f.: rubere corpus 555: indicium rubor est maculae leves 564: ardentes papulae vapor flammeus (caput) 1145: caput incensum fervore genae sanguine tentae 1146: oculos suffusa luce rubentes
505: ardentes oculi
847 Pisi (1989, 64 Anm. 54) spricht hierbei von einem Leitmotiv der lukrezischen Seuchenbeschreibung; dennoch erscheint eine Bezugnahme auf Ovid sehr wahrscheinlich, da jener lediglich Verben und Adjektive, dieser das Substantiv verwendet.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung oculi rigentes 523: oculos stupor urget inertis resonantes aures 1185: plenaeque sonori- bus aures niger … cruor naris aduncae
1203: corruptus sanguis expletis naribus
1193f. nasi primoris acumen | tenue
507f. it naribus ater sanguis hiantes venae ruptae intima viscera quassata gemitu stridenti
1159: gemitu commixta querella
506f. spiritus … gemitu gravis, ilia … tendunt sacer ignis 1167: sacer … ignis 566: sacer ignis Tabelle 3: Gegenüberstellung der Symptome (Ausgangspunkt: Seneca) Oed. 184 kleine Flecken haben ihre Haut übersät : Mit Verweis auf Thuc. 2,49,5, Diodor 14,71,2 und Cels. 2,8,33 hat Töchterle wichtige Par- allelen für Ausdruck und Vorstellungshintergrund ausfindig gemacht.848 Gerne würde man das Attribut leves , das keine Parallele in der Motivtradition findet (bei Vergil sind es papulae ardentes ), auf den Ausdruck der kleinen Bläschen (φλυκταίναις μικραῖς) bei Thukydides zu- rückführen. Hierbei handelte es sich jedoch um den einzigen Anhaltspunkt für eine direkte Bezugnahme auf den Archetyp des Motivs, sodass Vorsicht geboten scheint. Das Aufgreifen der bei Celsus beschriebenen Vorstellung ist an dieser Stelle jedoch nicht nur möglich, sondern böte auch eine interessante neue Deutungsmöglichkeit: si os exulceratur, rubet facies et quasi maculis quibusdam colorum omnium distinguitur . (‚Wenn sich Geschwüre im Mund bilden, errötet das Gesicht und färbt sich mit etlichen Flecken in allen Farben.‘). Der von Töchterle zur Stelle geäußerte Einwand, bei Celsus handle es sich nur um das Gesicht der Erkrankten, ist schwer nachvollziehbar: Schließlich wurde bei Seneca im vorangegangenen Vers der Blick auf das Gesicht gelenkt ( rubor in vultu ). Sollte Celsus oder eine inhaltlich vergleichbare Quelle eine verbreitete Vorstellung widerspiegeln, kann dies eine Erklärung dafür liefern, dass in der Beschreibung Senecas (mit Blick auf die Tradition auffälligerweise) kein Bezug auf Mund und Zunge der Erkrankten genommen wurde – aus den Flecken würde dann der Befall des Mund- und Rachenraums deduziert.
848 Vgl. Töchterle (1994), 250.
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Oed. 185 brennende Hitze … Burg des Körpers : Als einziger Autor verwendet Seneca für die innere Hitze den Begriff vapor , der eigentlich eine Ausdünstung bezeichnet, die u. a. von Hitze herrühren kann.849 Dabei ist hervorzuhe- ben, dass in der ersten Beschreibung des Königs V. 47–49 gravis et ater incubat terris vapor : | obtexit arces caelitum ac summas domos | inferna facies (‚… ein schwerer, schwarzer Dampf legt sich auf die Erde: Eingehüllt sind die Burgen und hohen Häuser der Götter in die Ge- stalt der Hölle.‘) eine wichtige Parallele besteht.850 Es handelt sich demnach um eine geschickte Verknüpfung von Mensch und Umwelt als Ausdruck kosmischen Leidens, das sich auch auf lexikalischer Ebene niederschlägt; eine solche wurde bereits bei Ovid in fervor und fervet be- obachtet (vgl. Komm. zu Ov. met. 7,560). Oed. 186 Augen /genas: Bei der Übersetzung des Substantivs genas ergeben sich zunächst zwei Möglichkeiten, näm- lich ‚Wangen‘ und ‚Augen‘.851 Töchterle hat in seinem Kommentar anhand der Motivtradition und anderer Parallelen wahrscheinlich gemacht, dass es sich um die Augen der Erkrankten handeln muss. Demgegenüber steht Boyle auf einem davon abgeleiteten Standpunkt, näm- lich dass mit genas die Augenhöhlen bezeichnet würden.852 Der Schlüssel zur richtigen Deu- tung steckt im (von Töchterle zwar richtig übersetzten, jedoch im Kommentar nicht weiter besprochenen) tendit . Am Ende dieser Handlung muss das, was von tendit betroffen ist, unter Spannung stehen.853 Als affiziertes Objekt sind Augenhöhlen als Hohlraum dementsprechend schwer vorstellbar, da ja ein Abfluss nach außen möglich und zudem eine Beobachtung dieser inneren Spannung unmöglich wäre. Abschließend mag Lucans (6,95) Rezeption seines Onkels als Plausibilitätsargument angeführt werden, in dessen Beschreibung er scheinbar eine will- kommene Vorlage für seine Steigerung entdeckt hat: iam riget arta cutis distentaque lumina rumpit (‚Schon erstarrt die gespannte Haut und lässt die aufgedunsenen Augen platzen‘), wo- bei mit dem Partizip distenta eindeutig auf das senecanische tendit zurückgegriffen wurde. Auch Lucan hat folglich in den genae die Augen der Erkrankten gesehen und seine Vorlage gesteigert (s. Kapitel 3.1.3).849 Vgl. für eine Besprechung der begrifflichen Pragmatik und der zugrundeliegenden naturphilosophi-schen Konzeption bei Seneca Nencioni (2004).
850 Vgl. ebenso Boyle (2011), 158. Bereits Platon beschreibt in seinem Timaios (70a) den Sitz des vernünf-tigen Seelenteils als Akropolis.
851 Für Ersteres vgl. Pisi (1989), 65 und für Letzteres Töchterle (1994), 251.
852 Vgl. Boyle (2011), 15: „Eye sockets bulge with blood“.
853 Illustrativ sind die in diesem Zusammenhang relevanten Einträge (1–7) im OLD s.v. tendo , 1917f., in denen jeweils zu Beginn die Dehnung ( stretch ) des patiens steht.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Oed. 190 bricht die rissigen Venen weit auf : Das beschriebene Symptom würde heute als Hämorrhagie bezeichnet und findet bei Celsus (2,1,21) im Zusammenhang der Zuordnung von Krankheiten zu Lebensaltern folgende Be- schreibung: Adulescentia morbis acutis, item comitia- libus, tabique maxime obiecta est: fereque iuvenes sunt, qui sanguinem exspuunt. Post
Die Jugend unterliegt am ehesten akuten Krankhei-ten, ebenso der Versammlungskrankheit (~Epilepsie) und der Auszehrung: in der Regel sind es junge Leute, hanc aetatem laterum et pulmonis dolores, le- thargus, cholera, insania, sanguinis per quae- dam velut ora venarum, αἱμοῤῥοΐδας Graeci appellant, profusio. die Blut spucken. Nach diesem Lebensabschnitt folgen Schmerzen in der Seite und der Lunge, Schlafsucht, Durchfall, Wahnsinn und Blutfluss sozusagen durch „Quasi-Öffnungen“ der Venen, den die Griechen Hä-morriden nennen. Bemerkenswert ist die Vorstellung, dass der Blutausfluss durch „Quasi-Öffnungen“ der Ve- nen ( velut ora venarum ) erfolgt. Die unnatürlichen Öffnungen der Venen werden durch einen Vergleich mit den als bekannt vorausgesetzten ora venarum erklärt.854 Dieses Krankheitsbild scheint Seneca vor Augen gehabt zu haben, als er das Symptom in die Motivtradition einfügte. Mit hiantes (eig. ‚klaffend‘) ist sowohl die Voraussetzung als auch das Resultat des massiven Blutverlustes benannt.855 Oed. 191 zischendes Seufzen : Die Wirkung des zischenden Seufzens an dieser Stelle hat Töchterle trefflich umschrieben: „ stridens wird von hohen, schrillen Lauten gebraucht, weshalb das Symptom hier besonders unheimlich wirkt.“856 In der Motivtradition greift Seneca demnach das bekannte Element der Atemnot auf und reichert es durch das neue Attribut an. Hier sei noch auf eine Parallele in Senecas Dialog De ira hingewiesen, an dessen Beginn er das Bild eines Zornigen zeichnet, um ihn als krank auszuweisen – es finden sich nicht nur beim Atem Überschneidungen zu den hier besprochenen Symptomen.857 Die vergleichbare Begrifflichkeit kann auch für die Konzeption
854 Vgl. Langslow (2000), 210–214, der den Ausdruck der medizinischen Fachsprache zuweist.
855 Vgl. LHS II, 387.Töchterles (1994, 253) Erwägung dieses Krankheitsbildes als medizinischer Hinter-grund ist folglich zu unterstreichen.
856 Töchterle (1994), 253. Wohl zu weit geht Boyle (2011), 15 mit seiner Übersetzung der gemitus als „Frequent screams“ und raubt dem Symptom den genannten unheimlichen Aspekt.
857 Sen. dial. 3,1,3: Ut scias autem non esse sanos quos ira possedit, ipsum illorum habitum intuere; nam ut furentium certa indicia sunt audax et minax vultus, tristis frons, torva facies, citatus gradus, inquietae manus, color versus, crebra et vehementius acta suspiria, ita irascentium eadem signa sunt: flagrant ac
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der Erkrankten von Belang sein, da Seneca im Dialog immer wieder darauf verweist, dass Zor- nige aufgrund ihrer Erscheinung eher einem Tier als einem Menschen ähneln.858 Auch wenn die Texte es nicht explizit darlegen, steht damit im Raum, dass auch die äußerlichen Verände- rungen, die mit der Krankheit einhergehen, unmenschliche Züge nach sich zogen. Oed. 192bf. Bald umschlingen sie unablässig kalte Steine : Die Übersetzung ‚unablässig umschlingen‘ für fatigant täuscht darüber hinweg, dass an die- ser Stelle eine Naturbeseelung vorgenommen wird: Den Steinen, die zur Kühlung genutzt wer- den, wird ein innerer Zustand dadurch verliehen, dass sie die pausenlose Nutzung ermüdet. Hinsichtlich der Textkonstitution ist hervorzuheben, dass die Überleitung zum Umschlingen der Steine lediglich durch die hier aufgegriffene Transposition von Richter sinnvoll erscheinen kann. Der Wunsch nach Kühlung benötigt das heilige Feuer auf der Haut, um ausreichend begründet zu sein.859 Stünde der Vers dort nicht, müsste sich der Rezipient einen schlüssigen Übergang vom Bluten und Ächzen zum Wunsch nach Kühlung hinzudenken. Auch ein Blick auf die Tradition zeigt die Notwendigkeit eines mittelnden Gedankens: Direkte Vorlage für diese Schilderung ist der Versuch der Kühlung bei Ovid (Met. 7,559f.), bei dem die Menschen sich auf den Boden legen.860 Zwar ist dort die Hitze der Erkrankten in 7,554 – also ebenfalls mit Abstand – expliziert worden, doch wird der Linderungsversuch in 7,558 durch die Aussage ein- geleitet, die Menschen könnten kein Kleidungsstück auf ihrer Haut ertragen. Damit wird zum einen der vorangegangene Gedanke der inneren Hitze wieder aufgegriffen, zum anderen die nächste Szene vorbereitet. Ebendiese Begründung fehlte ohne die Transposition im Oedipus . Oed. 194–196 ihr, die euch euer zu unbewachtes Haus … mehrt nur den Durst : Im Vergleich mit Ovid, der das Element der Erkrankten an den Brunnen bis zur Vergiftung des Wassers, zum plötzlichen Tod und einem moralisierenden Epiphonem gesteigert hat (vgl. micant oculi , multus ore toto rubor exaestuante ab imis praecordiis sanguine, labra quatiuntur, dentes comprimuntur, horrent ac surriguntur capilli, spiritus coactus ac stridens , articulorum se ips os torquenti- um sonus, gemitus mugitusque et parum explanatis vocibus sermo praeruptus et conplos ae saepius manus et pulsata humus pedibus et totum concitum corpus magnasque irae minas agens, foeda visu et horrenda facies depravantium se atque intumescentium nescias utrum magis detestabile vitium sit an deforme.858 Vgl. Bäumer (1982), 104f. zu Sen. dial. 4,31,6.
859 Vgl. Zwierlein (1979), 178 Anm. 44, zur Gegenposition vgl. Boyle (2011), 159 mit Literaturverweisen. Die von Töchterle (1994, 251) festgestellte Parallele in Catulls Carmen 51 kann zwar die Schwierig-keiten an der überlieferten Stelle, nicht jedoch die beim Übergang zum nächsten gedanklichen Ab-schnitt begründen.
860 Vgl. Vallillee (1960), 140, der beide Umsetzungen als gekünstelt abwertet. Gegen den Vorwurf bloßer Replikation ist anzumerken, dass die bei Ovid grundgelegte Wechselwirkung zwischen Erkrankten und Boden bei Seneca durch die Gemütsverfassung der Steine eine Modifikation erfährt.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Komm. zu Ov. met. 7,571), wirkt Senecas Darstellung schlicht; er erwähnt lediglich den unna- türlichen Umstand, dass das Trinken den Durst der Erkrankten vergrößert. Seine Innovation besteht im custos , dem Wächter:Die Nennung eines Wächters ist singulär in der Motivtra- dition; ihn als Pfleger auszulegen ist deshalb nicht möglich, weil dessen Tod explizit die zu große Freiheit ( liberior ) der Erkrankten zur Konsequenzhat.861 Folglich war es die Funktion des custos , den Kranken zu bewachen und ggf. zu verhindern, dass er das Haus verlässt – es handelt sich um eine Quarantänemaßnahme.862 Da die anderen Dichter keine Isolation in ihre Beschreibung eingebaut haben, ist ihre Funktion zu erörtern: Aus den bisherigen Beobach- tungen ist ersichtlich geworden, dass eine Vorstellung von Ansteckung vorhanden war und in der Motivtradition unterschiedliche Ausformung fand (vgl. Komm. zu Lucr. 6,1256f.). Die naheliegendste Deutung ist demnach, dass die Bewachung dazu dienen sollte, die Erkrankten nicht in Kontakt mit gesunden Mitmenschen kommen zu lassen. Dies stellt bereits eine zwar nur folgerichtige, aber dennoch bemerkenswerte institutionelle Maßnahme der Gemeinschaft dar, die sich zumindest im Ansatz als resilient (vgl. Kapitel 3.2) erweist.863 Überdies wurde aus Senecas Vorgängern deutlich, dass Wasser als Trägermedium der Krankheit begriffen wur- de.864 Dass die Kranken bei Seneca unmittelbar nach dem Tod der Wächter ( custode elato ) zu den Quellen eilen, kann auch ein näherer Hinweis auf den Zweck der Bewachung sein. Nach dieser zweiten Lesung hätte diese zum Ziel, die Kranken von den Wasserstellen fernzuhalten, um eine Infektion derselben zu verhindern.865 Als gesicherte Information darf jedoch die ins- titutionelle Maßnahme einer Isolation und Bewachung von Erkrankten aus dieser Stelle ent- nommen werden.
861 Contra Jakobi (1988), 98 in Abgrenzung zu Thuc. 2,49,5. Auffällig ist hier die Stilisierung durch die Personifizierung des Hauses ( domus … sinit ) und die nachfolgende Apostrophe ( petitis ), die Töchter-le (1994, 219) zufolge keine Distanzierung des Chors von den Erkrankten, sondern noch immer eine Reflexion der eigenen Lage darstellt.
862 So auch Boyle (2011, 160): „The guard was probably there to ensure quarantine; but the guards, too, become infected.“ Eine ähnliche Vorgehensweise findet sich in Proc. Pers. 2,22,24: ἔκ τε γὰρ τῶν στρωμάτων ἐκπίπτοντας καὶ καλινδουμένους ἐς τὸ ἔδαφος ἀντικαθίστων αὖθις, καὶ ῥιπτεῖν σφᾶς αὐτοὺς ἐκ τῶν οἰκημάτων ἐφιεμένους ὠθοῦντές τε καὶ ἀνθέλκοντες ἐβιάζοντο. (‚Diejenigen näm-lich, die aus den Betten fielen und sich auf den Boden wälzten, legten sie zurück an ihren Platz, und diejenigen, die aus ihren Häusern stürzten, drängten und zogen sie unter Zwang zurück.‘)
863 Dementsprechend muss Stamatus (2005d, 464) Aussage, in der Antike hätte es keine gezielte Isolie-rung von Kranken gegeben, in ihrer Absolutheit in Frage gestellt werden.
864 Vgl. Verg. georg. 3,481 und Ov. met. 7,567–571.
865 Eine weitere Quelle, etwa ein Gesetz, nach dem Kranke von öffentlichen Quellen fernzuhalten sind, ist nicht überliefert; wenngleich die Charakteristika guten Wassers ( purus , sincerus , salubris ) beim curator aquarum Frontin eine potenzielle Beschmutzung durch Krankheit plausibel machen, wird lediglich physische Beschmutzung des Wassers unter Strafe gestellt (Frontin. aq. 97,5).
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Oed. 197–201 Hingestreckt liegt eine Menge an den Altären … sagt ihnen zu : Das Sterben der Menschen an den Tempeln bildet den Abschluss des Chorlieds und erhält damit ein ähnlich großes Gewicht wie bei Lukrez und Ovid. Es ist nun gerade deren Rezeption, die sich in den Orten der Handlung im Oedipus widerspiegelt: Hatte Ovid (met. 7,602–605) den Selbstmord der Erkrankten bei den Altären ( ante ipsas … aras ) inszeniert,866 weist das Tempelinnere ( delubra ) deutlich auf Lucr. 6,1266. Gleichzeitig mit der Übernahme der Schau- plätze nimmt Seneca erneut eine motivische Inversion vor: In den Metamorphosen dienten die Altäre nicht länger als Gebetsstätte, sondern als Ort der Selbsttötung; in Lukrezens Lehr- gedicht hingegen ist zu vermuten, dass die Menschen, die in die Tempel strömten, Beistand bei den Göttern suchten – so ergibt sich die stärkste Widerlegung des Götterglaubens. Im Oedipus beten die Menschen an den Altären und töten sich im Tempelinnern, um die als erbarmungs- los wahrgenommenen Götter zu sättigen ( satiare ).867 Beiden Handlungen liegt der Wille der Erkrankten zugrunde, zu sterben.868 Seneca geht jedoch dahingehend über seinen Vorgänger hinaus, dass der Akt als innere Befriedigung ( iuvat ) gekennzeichnet wird. Die Selbsttötung ist demnach nicht mehr nur eine Inszenierung göttlicher Ungerechtigkeit, entwickelt nicht nur Bedeutung im Betrachter dieser Szenerie, sondern entfaltet auch eine Wirkung in den Ster- benden selbst. Diese Wirkung kann als groteskes Spiel des stoischen Leitsatzes des secundum naturam vivere (‚naturgemäß leben‘) verstanden werden, der ein glückliches Leben in erster Linie durch eine Fügung in das fatum grundgelegt sieht. 2.2.7 Lucan Lucan. 6,78f. Keine Trompeten ertönen … im Umgang mit dem Wurfspeer übt : Nachdem der Dichter Caesars Schanzarbeiten als Schaffung einer Arena für den Bürger- krieg bezeichnet (6,63)869 und schließlich auch Pompeius auf die Einschließung reagiert hat,866 Vgl. Zwierlein (1986), 232 und Jakobi (1988), 98.
867 Töchterle (1994, 256) bezieht sich bei seiner korrekten Deutung des Freitods als Protest gegen die Götter auf die Vorlage Ovids. Boyle (2011, 161) sieht hierin eine „grim parody“ der devotio . Diese wird nach Versnel (1981, 163) vorgenommen „in critical situations where the salvation of a total so-ciety is at stake; the victim is the highest valued possession of the state (king, leader, or his daughter/son. Also the valiant young warrior or the chaste virgin), who should give his life with an avowed voluntariness.“ Zwar bestehen einzelne Parallelen zum vorliegenden Fall, doch wiegt der Umstand schwer, dass der Opferungsprozess ungeordnet und von Menschenmassen vollzogen wird; auch fin-det sich im Text kein Hinweis auf eine altruistische Intention.
868 Mit diesem Wunsch greift der Chor den des Oedipus (V. 71–74) im Prolog auf.
869 König (1957, 45) betont den Widerspruch zwischen der räumlichen Enge des Bildes mit den beinahe kosmischen Ausmaßen von Caesars Belagerungsanlage und der Verbreitung des Krieges. Ahl (1976,
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung indem er sein Heer nach Petra führte und vereinzelt stationierte, um das feindliche Heer auf- zutrennen, stehen sich die Kontrahenten nun gegenüber.870 Doch wenngleich die Konfronta- tion zum Greifen nah erscheint, werden keine Signale zur Schlacht gegeben.871 Die im folgen- den geschilderten Zufallstreffer bezeugen zum einen die Kampfbereitschaft der Soldaten, zum anderen die Nähe der Heere, die sich augenscheinlich in Wurfreichweite stationiert haben.872 Dementsprechend fungiert die Seuchenbeschreibung auf der Erzählebene als retardierendes Element (vgl. Kapitel 2.1.7 und Anm. 59, S. 113), was nicht zuletzt durch den Umstand bestätigt wird, dass Pompeius unmittelbar im Anschluss an die Beschreibung einen Ausfall gegen den Belagerungsring unternehmen lässt. Dabei ist auffällig, dass für beide Heere keine langfristigen Konsequenzen von Seuche und Hungersnot genannt werden.873 Aufgrund dieser vordergründig fehlenden Integration in die Erzählung sieht Jürgen Grimm den Anlass für die Beschreibung darin, dass Lucan in der his- torischen Quelle (d. h. wahrscheinlich Livius)874 eine kurze Nennung der Pest vorfand und 87f.) hat darauf hingewiesen, dass sich bei dem Bild eine Spannung ergibt, da in der Arena zumeist Kämpfer aus fernen Ländern zu sehen waren: Lucan nutzt demnach die Perversion des kulturellen Ereignisses, um die Unnatürlichkeit des Krieges zwischen Römern zu unterstreichen. Sollte der re-ligiöse Ursprung der Gladiatorenspiele, die im Zusammenhang von Bestattungsfeiern stattfanden, mit anklingen, kann der Bürgerkrieg bei Lucan als munus gladiatorum bei der Totenfeier der römi-schen Republik gedeutet werden.
870 Saylor (1978, 246–249) hat gezeigt, inwiefern Caesars Vorgehen als widernatürlich, Pompeius’ als natürlich beschrieben wird. Dessen Schluss, dass die Pest die Übertretung natürlicher Gesetze wi-derspiegelt, ist angesichts der Ätiologie bei Lucan und dem alleinigen Befall von Pompeius’ Heer nur bedingt nachzuvollziehen.
871 Vgl. zur Rolle der Kriegstrompeten ebenso die Einleitung zur Rede des Pompeius im zweiten Buch und die Reaktion der Soldaten (Lucan. 2,528–530 und 596f.) iamque secuturo iussurus classica Phoebo | temptandasque ratus moturi militis iras | adloquitur tacitas veneranda voce cohortes. || ver- ba ducis nullo partes clamore secuntur | nec matura petunt promissae classica pugnae (‚Als bereits der nächste Tag anbrach und Pompeius im Begriff war, den Befehl zum Trompetensignal zu ge-ben, glaubte er, die Kampfeswut der ausrückenden Soldatenschar wecken zu müssen, und sprach die schweigsamen Kohorten mit ehrwürdiger Stimme an. || Die Abteilungen folgten den Worten ihres Feldherren ohne Kampfgeschrei, nicht machten sie sich eilig daran, das längst überfällige Trompe-tensignal zur versprochenen Schlacht zu geben.‘) sowie die Aussicht auf Ruhe in Lucan. 4,394–397.
872 Zugleich wird die Gewöhnlichkeit des Frevels ( nefas ), d. h. bei Lucan insbesondere der Mord an Familienangehörigen, durch die willkürlichen Treffer auf die Spitze getrieben. Zum zentralen Motiv des nefas vgl. Lucan. 1,1–7 und Fantham (2010a), 214–218.
873 Durch einen Vergleich mit der Umsetzung in Sil. 14,636f. wird der Unterschied besonders deutlich, vgl. Anm. 939, S. 316.
874 Zur Quellenfrage äußerte sich zuletzt ausführlich Radicke (2004, 29–41), der sich beim historischen Stoff für die alleinige Nutzung des Livius aussprach (vgl. jedoch Rutz 1985, 1460–1467). Dass sich Lu-can daneben zahlreicher Dichter bedient hat, ist unumstritten, wenngleich die Bezugnahme jeweils eines Nachweises bedarf (vgl. z. B. für Manilius Hosius 1893, 393–396 und Schwemmler 1916). Im livianischen Geschichtswerk finden sich sowohl ausführliche Seuchenbeschreibungen (Liv. 3,6 und
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sie entsprechend einbaute.875 Inwiefern seine Vorlage die Darstellung des Dichters beeinflusst hat, lässt sich aufgrund des Verlustes der livianischen Bücher nicht mehr rekonstruieren.876 Eine Reduktion der erzählerischen Funktion darauf, dass die Pest nun einmal zur historischen Wahrheit dazugehöre und deshalb eingebaut werden müsse, wird dem Text jedoch nicht ge- recht. Neben der oben genannten retardierenden Funktion des Abschnitts eröffnet sich unter Berücksichtigung des Werkzusammenhangs noch eine weitere Deutungsmöglichkeit: Die demonstrative Fortführung nach Seuche und Hunger in 6,118 durch ut primum libuit ( lib- uit beschreibt hier die subjektive Bereitschaft und Neigung zur Ausführung einer Tätigkeit) führt das Gewöhnliche der Situation und insbesondere ihrer Resultate, d. h. des Todes vieler Soldaten, vor Augen.877 Die Pest verblasst als Teil einer wesentlich größeren Katastrophe, des Bürgerkriegs, der sinnloses Massensterben zum Normalzustand werden lässt.878 Entsprechend findet sich weder Personalisierung noch Anteilnahme – somit erzeugt Lucan eine ähnliche Wirkung, wie sie Herta Klepl bei Lukrez beobachtete: „Was geschieht, ist entsetzlich, aber pro- blemlos. Die unheimliche Gewalt der lukrezischen Pestdarstellung beruht gerade auf diesem: so ist es.“879 25,26,7) als auch zahlreiche kurze bis hin zu bloßen Andeutungen (vgl. Grimm 1965, 61 mit Anm. 1 und Wazer 2016). Darüber, ob Livius überhaupt und, wenn ja, in welcher Form er eine Seuchen-beschreibung eingefügt hat, lässt sich keine Aussage treffen. Radicke (2004, 84) verweist auf Lucans Quellennähe, sodass zumindest plausibel zu machen ist, dass auch bei Livius eine Pest beschrieben wurde.875 Vgl. Grimm (1965), 74f. Ebendort argumentiert Grimm auch dagegen, dass Lucan sich auf einen literarischen Wettstreit mit den Vorgängern der Motivtradition eingelassen hat – der Dichter hätte schließlich gewusst, dass er sich gegen diese niemals hätte behaupten können (vgl. Anm. 15, S. 14). Man halte Radicke (2004, 518) daneben, der von einem Primat der ästhetischen Motivierung aus-geht.
876 Wohl bestehen Überschneidungen zu Caesars Bellum civile (vgl. Bachofen 1972, 147), die jedoch nach Radicke (2004, 38) auf eine andere Vorlage Lucans zurückzuführen sind. In der Tat ließe sich aus der „nicht guten Gesundheit“ ( valetudo non bona , Caes. civ. 3,49,2) allein nicht unbedingt eine Pest beziehen.
877 Kallet (2013, 364) hat solche Erzählstrategien im Zusammenhang ihrer Untersuchung zu Thukydi-des treffend als „life-must-go-on narrative of military activity“ bezeichnet, die vor dem Hintergrund zu erwartender psychischer Erkrankungen (vgl. Toner 2013, 153–170) wohl als Vermittlung eines bestimmten Rollenbildes einzustufen sind. Conte (1974, 23) sieht im Handeln des Pompeius „la ful-mineità dell’azione militare“ bestätigt.
878 Vgl. dazu Glaesser (2018), 157: „Sinnloses Töten und Sterben scheint der Hauptzweck des Lebens zu sein, an dem uns der Dichter in Form eines schaurigen und wenig tröstlichen Schauspiels teilneh-men lässt. Die konkrete Handlung bildet häufig nur den Rahmen für das Grauen, das Ekelhafte und der Wirklichkeit Spottende.“ Zur kosmischen Dimension des Bürgerkriegs bei Lucan vgl. Lapidge (1979), 359–370, Narducci (2002), 42–50 und Wiener (2006), 179–183.
879 Klepl (1940), 69. Schließlich kann die Pest mit Verweis auf Syndikus (1958), 44f. als Pathosszene ein-geordnet werden, die ihren Wert auch in sich trägt.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Lucan. 6,80 Größere Sorge / maior cura: Bereits Farnaby bemerkte in seinem Kommentar zur Stelle die Parallele zur Seuchenbe- schreibung Vergils (Georg. 3,537–539a): non lupus insidias explorat ovilia circum nec gregibus nocturnus obambulat: acrior illum cura domat.
Nicht kundschaftete der Wolf das Gebiet rund um das Schafgehege nach einem Hinterhalt aus, nicht umschlich er nachts die Herden: eine ärgere Sorge zähmte ihn. Angesichts der zahlreichen Reminiszenzen an diese Seuchenbeschreibung kann trotz der quantitativ geringen Überschneidung von einer bewussten Bezugnahme ausgegangen werden. Oberflächlich betrachtet besteht die Entsprechung darin, dass auf der einen Seite der Wolf, auf der anderen Seite die Feldherren von der Tätigkeit abgebracht werden, die ihrem Naturell entspricht. In der Folge stellt jener nicht den Schafen nach, diese lassen die Waffen ruhen. Auf tieferer Ebene lässt sich fragen, ob die im ursprünglichen Bild angelegte Ungleichheit der beiden Parteien sowie das daraus resultierende Ungerechtigkeitsempfinden ebenfalls für die vorliegende Stelle mitzudenken sind. So betrachtet wäre Caesar der Wolf, der den Kampf he- rausfordert und die Belagerung aktiv (sogar bis zur Erschöpfung) vorantreibt, Pompeius das eingekreiste Schaf.880 Problematisch an dieser Deutung bliebe zwar, dass auch Pompeius Ini- tiative zeigt, indem er sein Heer nach Petra führt und im Anschluss an die Pest einen Ausfall wagt;881 jedoch fällt das Verhältnis von Aktivität und Passivität im direkten Vergleich eindeu- tig aus; hatte Caesar doch noch zu Beginn des sechsten Buches drei Mal eine offene Schlacht
880 Den Vergleich von Provokateur und Wolf kennt auch Sil. 7,126–130. Zum Bild von Caesar und Pompeius bei Lucan vgl. u. a. Menz (1952), 215–230, Johnson (1987), 67–134, Galimberti Biffi-no (2002), Narducci (2002), 187–367, Radicke (2004), 109–140, Fantham (2010b) und Glaesser (2018), 124–132. Große Streitfragen betreffen die Implementierung eines stoischen Charakter-modells (Caesar als Tor, Pompeius als proficiens , Cato als sapiens ) oder die Dynamik der Cha-rakterentwicklung (insbesondere des Pompeius). Im Folgenden wird mit Radicke (2004, 106) von einer Statik der Figuren ausgegangen, insofern sie ihre Eigenschaften im gesamten Epos bewahren.
881 Diese Ausnahme hat Menz (1952), 225 als Kontrast zur Schlacht bei Pharsalos plausibel gemacht, vgl. auch Saylor (1978), 256f. Man beachte vor allem den Ausdruck in 6,118f. ut primum libuit … Pompeio (‚Sobald es Pompeius beliebte‘), nach dem der Feldherr trotz der Pest wie gewohnt verfährt (s. o. Komm. zu 6,78f.).
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eingefordert,882 worauf Pompeius nicht einging und in der Folge von seinem Gegner einge- schlossen wurde.883 Lucan. 6,81–83 Pompeius die abgenutzten Landstriche …: War in der Beschreibung von Caesars Schanzarbeiten noch betont worden, dass es Pompeius nicht an Feldern und Futter mangelte (6,43 non desunt campi, non desunt pabula Magno ), sieht sich der Feldherr nun Landstrichen gegenüber, die den Tieren keine Nahrung mehr zu bieten vermögen: Durch den Einsatz von Ross und Mann auf den Wiesen wurde das potenzielle Fut- ter niedergetrampelt. Als notwendige Bedingung für die sich anschließende Ansteckung der Luft unterscheidet sich dieser Umstand von der Ursache der Hungersnot auf Seiten des gegne- rischen Heeres – hier ist es nicht mangelnde Umsicht der Soldaten, sondern die Zeit, die dem Getreide zum Wachstum fehlt (s. u. Komm. zu 6,109f.). Lucan. 6,82 quas: Die Überlieferung bietet für das Relativpronomen zwei Varianten, nämlich quae ( GUV , be- zogen auf gramina ) und quas ( ZMPC , bezogen auf terrae ). Unter inhaltlichen Gesichtspunk- ten fällt die Entscheidung leicht, da mit quae … obtrivit lediglich eine inhaltliche Dopplung zu frondentem campum discussit vorläge, wohingegen quas der Erläuterung eine Differenzierung hinzufügt: Die Reiter zertrampelten die Erde, sodass diese nicht mehr in der Lage ist, Gras hervorzubringen, und zerstörten die zum damaligen Zeitpunkt noch vorhandenen Wiesen. Hier könnte freilich eingewandt werden, es handle sich bei quas um die lectio facilior oder eine Interpolation. Erstens lässt sich die Variante quae neben quas paläographisch befriedigend er- klären, da vermutlich ‚ q ‘ mit einer entsprechenden Abkürzung in der Vorlage gestanden hat.884 Zweitens kann eine Interpolation durch den Blick auf Housmans Einschätzung der Hand- schrift Z (9. Jh.) unwahrscheinlich gemacht werden, die ihm zufolge aufgrund von „careless- ness and stupidity“885 bisweilen Fehler und sehr ausgefallene Lesarten, jedoch selten Interpola- tionen aufweise. Neben Z treten stützend die Commenta Bernensia , die trotz ihrer späteren882 Vgl. Lucan. 6,8–14. Diese wiederholte Bereitschaft schien Lucan wichtig, zeigt sich doch in Cae-sars eigener Darstellung, dass er nur einen Versuch unternahm, vgl. Caes. civ. 3,41,1 und Bachofen (1972), 143.
883 Zur ἀμηχανία ( amechanía ) des Pompeius vgl. Ahl (1974), 306f. Dass dessen Zurückhaltung im Ver-gleich zu Caesar nicht ausschließlich negativ bewertet wird, haben König (1957, 43f.) und Saylor (1978, 246f.) auch hinsichtlich des Eingriffs in die Natur für die Schanzarbeiten des Letzteren he-rausgearbeitet: Während sich Pompeius dem natürlichen Raum anpasst, zerstört ihn Caesar und formt ihn für seine Zwecke um.
884 Vgl. Capelli (21928), 314 für ein aussagekräftiges Beispiel.
885 Housman (1926), viii. Housman selbst spricht sich im kritischen Apparat vorsichtig für quas aus.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Datierung antike Bestandteile aufweisen und deshalb ebenfalls zu berücksichtigen sind.886 Aus inhaltlichen und paläographischen Gründen wird deshalb quas gegenüber quae präferiert. Zusätzlich zu der Frage nach der Einleitung des Relativsatzes stellt sich im Folgenden die nach der Interpunktion vor gradibusque , für die drei Möglichkeiten vorliegen: 1. Teubner: Keine weitere Interpunktion.887 2. Loeb: Leichte Interpunktion (Komma).888 3. Budé: Härtere Interpunktion (Semikolon).889 Mithilfe der Interpunktionen soll das Problem gelöst werden, dass mit frondentem campum ein weiteres Akkusativobjekt auf quae/quas folgt, das im Relativsatz nicht befriedigend an- geschlossen werden kann. Dabei scheint weder die Setzung eines Temporalsatzes (so Duff und Ehlers) noch eine Loslösung (Bourgery/Ponchont) sinnvoll, da der Satzteil ab gradibus inhalt- lich eng und beiordnend an das Vorangegangene anschließt. Deshalb wird an dieser Stelle ein neuer Weg beschritten, indem das Relativpronomen als relativer Satzanschluss aufgefasst und davor hart interpungiert wird.890 Auf diese Weise löst sich einerseits das Anschlussprob- lem von frondentem campum , andererseits führt die Interpunktion zu einem gelungenen Ab- schluss der elliptischen Abschnittseinleitung. Lucan. 6,84–87 Das Kriegsross ermattet … in der Mitte mit zitterndem Knie ab : In seiner Fokussierung auf ein einzelnes Tier schließt Lucan (vermutlich mit Rückgriff auf Ov. met. 7,542–544 und Sen. Oed. 142–144)891 an die Szenentechnik bei Vergil an (vgl. u. a. Komm. zu Georg. 3,486–488), sodass sonipes hier nicht als der sonst übliche Kollektivsingular aufgefasst werden muss.892 Es ist auffällig, dass hier (wie bereits Farnaby zur Stelle anmerkte) 886 Vgl. Esposito (2011), 453f.
887 Bspw. bei Ehlers (21978), 247: „Pompejus machte sich Gedanken, weil das Erdreich zu ausgemer-gelt war, um noch Weideflächen zu bieten, nachdem dahinsprengende Reiter sie niedergetreten und Hornhufe im Galopp die grüne Flur zerstampft hatten.“
888 Duff (1928), 311: „Pompey was prevented by the failure of the district to provide fodder: the horsemen in their speed had trodden it down, when the horny hoofs galloped over the grassy plain and tore it up.“
889 Bourgery/Ponchont (1929), 6: „Pompée songe aux terres, épuisées à fournir les herbages et que le cavalier en courant a piétinées; dans son galop le sabot de corne a morcelé les prairies.“
890 Zu relativen Satzanschlüssen bei Lucan s. bspw. 5,65; 5,706; 6,458; 7,764; 8,328; 9,30; 10,328. In 8,328 hat Shackleton Bailey in seiner Teubneriana ein vergleichbares Satzgefüge mit doppeltem Akkusativ-objekt im Relativsatz mit einem Semikolon vor dem Relativpronomen abgetrennt.
891 Vgl. Vallillee (1960), 147 zur Verarbeitung der beiden Passus an dieser Stelle.
892 Die Beschreibung der Masse in Form des Kollektivsingulars bei Lucan hat Gall (2005, 89) herausge-arbeitet: „Deutlich dominiert mit Begriffen wie miles , eques , sonipes , turba und volgus der kollektive
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eine Rezeption der Beschreibung der Kälber aus Verg. georg. 3,494 ( hinc laetis vituli vulgo moriuntur in herbis | et dulcis animas plena ad praesepia reddunt ) vorliegt, ohne dass das Ge- schehen in ähnlicher Weise durch die Krankheit der Tiere begründet wäre: Das Pferd lehnt das Stroh ab und sucht stattdessen frisches Gras, ohne dass vorher von einer Krankheit die Rede gewesen ist.893 Daher stellt sich die Frage, weshalb sich die paradoxe Spannung zwischen dem Vorhandensein hinreichender Güter zur Stillung eines natürlichen Verlangens bei gleich- zeitiger Missachtung dieser Güter ergibt.894 In jedem Fall erscheint das Verhalten des Pferdes widernatürlich und kann die Aushebelung natürlicher Gesetze vor dem Hintergrund des Bür- gerkriegs widerspiegeln. Möglicherweise findet sich eine weitere Begründung in den jeweiligen Attributen des Futters, nämlich ‚herbeigeschifft‘ ( advectos ) und frisch ( novas ). Letzteres kann auch adverbiell als ‚stets aufs Neue‘ aufgefasst werden, sodass das Pferd, das Gras auf einer kargen Fläche sucht, obwohl ihm reiches Futter in der Krippe bereitet ist, das sinnlose (und unersättliche) Streben nach unerreichbaren Gütern bei gleichzeitiger Missachtung der erreich- baren versinnbildlichte.895 Lucan. 6,88 Während nun Fäulnis ihre Körper auflöste und ihre Glieder zersetzte : Bereits in Ovids Beschreibung (Met. 7,550f.) nahmen die Tierkadaver eine besondere Rolle ein, deren Verwesung hier erneut anhand des Konzepts der Schmelze begriffen wird.896 Ins- besondere die Verbindung digerit artus (‚zersetzte die Glieder‘) hat auf Seiten der Kommenta- toren eine Vielzahl an Umschreibungen nach sich gezogen. Francken wunderte sich über die Singular.“ Ebenso wie bei seinem Vorläufer findet nach der Beendigung der Szene durch das Nieder-sinken des Pferdes ein Sprung ins Kollektiv statt.893 Francken (1897, 6) nimmt hingegen an, dass es sich bei der Ablehnung des Strohs um die ersten Symptome der Krankheit bei den Pferden handelt. Eine Erklärung, woher die Krankheit nach dieser Deutung stammt, bleibt er jedoch schuldig.
894 Die Lösung des van Groot ( editio prima , ihm folgend Burmann), anstelle von cum ein dum zu setzen, ist nur schwer vorstellbar: Die Intention, die durch den finalen Konjunktiv ausgedrückt würde (KS II 615f.), müsste dem Pferd zugeschrieben werden – es suchte nach frischem Gras, bis die Futterkrippen das herbeigeschiffte Stroh tragen würden. Reizvoll wäre die Änderung dahingehend, dass die Ursa-che für die Katastrophe wie auch beim feindlichen Heer (s. u. Komm. zu Lucan. 6,109f.) in fehlender Zeit zu sehen wäre. Wenig zufriedenstellend ist die Idee, die Trockenheit des Strohs sei für die Ab-lehnung desselben verantwortlich (van Groot in der editio secunda , Oudendorp, Haskins, Francken), da jene weder Erwähnung findet noch nahegelegt wird. Auch ist Caes. civ. 3,58 kein geeigneter Ver-gleichspunkt (wie bei Oudendorp), da das Futter hier nicht herbeigeschifft, sondern provisorisch von Sträuchern und Bäumen abgerissen wird.
895 Diese Deutungen verfolgen den Ansatz, dass sich Passus, die auf den ersten Blick nicht oder nur schwer verständlich sind, dennoch sinnvoll in das Gesamtbild des Werkes einfügen; alternativ ließe sich ein Mangel an Kohärenz stets auf eine zu starke Verknappung der Vorlage zurückführen, vgl. Radicke (2004), 83f.
896 Vgl. oben Komm. zu Verg. georg. 3,557 und Loupiac (1998), 106.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung fehlende Erklärung des Ausdrucks und schlug seine Konjektur derigit vor, wobei das Starr- werden der Glieder gerade im Gegensatz zum nachfolgenden fluvidae pestis stünde. Weiter- hin sprach er sich klar gegen die Idee aus, es handelte sich hier um eine Anspielung auf den Verdauungsprozess ( digestio ).897 In der Tat wäre, um eine Verflüssigung wie bei der Verdauung zu bezeichnen, der Begriff der concoctio der einzig passende gewesen (s. o. Komm. zu Lucr. 6,1169); erfolgt doch die Verteilung der Speisen erst nach ihrer Kochung. Allerdings scheint in einem Passus bei Celsus eine vergleichbare Vorstellung zugrundezuliegen: In einem Katalog von Symptomen findet sich der Ausdruck des sudore digeri , der Zersetzung des Körpers durch Schweiß.898 Nach diesem Verständnis bestünde eine sich selbst verstärkende Wechselwirkung zwischen der Auflösung des Körpers durch Fäulnis und der sich daran anschließenden Zer- setzung der restlichen Materie durch ebendiese neue Flüssigkeit, sodass der Kadaver letztlich vollständig aufgelöst wird. Lucan. 6,89f. zog die stehende Himmelsluft den Krankheitsstoff … in eine dunkle Wolke : Gedanklich entlehnt ist die Stelle aus Ovids Ätiologie (met. 7,528f.):899 principio caelum spissa caligine terras pressit et ignavos inclusit nubibus aestus.
Zu Beginn hüllte der Himmel die Erde in dichte Finsternis und schloss in den Wolken den träge machenden Krank-heitsstrom ein. Zugleich werden Unterschiede deutlich, da das Attribut des Krankheitsstroms ( ignavos aes- tus ) bei Lucan auf die stehende Himmelsluft ( iners caelum ) übertragen wird.900 Die größte Diskrepanz liegt darin, dass für Ovid der aestus (Krankheitsstrom) durch göttliche Interven- tion der Iuno bereits in der Luft ist und in der Folge Objekt der Handlung werden kann; bei
897 Vgl. Francken (1897), 6: „Ridiculum est quod ‚cibi digesti in corpore‘ ad illustrandum locum ad-vocantur.“ Andere Erklärungen (etwa Sulpicius oder Oudendorp) beziehen die Semantik des Aus-drucks vor allem aus dem vorhergehenden solvere .
898 Cels. 1 pr. 67 Aliud est enim sanguinem, aliud bilem, aliud cibum vomere; aliud deiectionibus, aliud torminibus laborare; aliud sudore digeri , aliud tabe consumi . (‚Es ist nämlich eines, Blut, anderes, Galle, noch anderes, Essen zu erbrechen; es ist eines an Durchfall, anderes an Magenschmerzen zu leiden; es ist eines, im Schweiß zersetzt zu werden , anderes durch Auszehrung zu vergehen.‘)
899 Vgl. für die Vorstellung der ‚Pestwolke‘ in Inschriften Kruschwitz (2020), 140–143 und den eben-dort genannten wenig nützlichen Abwehrvers des Lügenpropheten in Lucian Alex. 36: Φοῖβος ἀκερσεκόμης λοιμοῦ νεφέλην ἀπερύκει. („Der langhaarige Apoll vertreibt die Seuchenwolke.“) so-wie Jones (2016) zu einer griechischen Amulettinschrift aus London, auf dem sich derselbe Ausdruck findet.
900 König (1957, 49) erklärt überzeugend, dass die Statik der Luft dazu dient, die drohende Kulisse der dunklen Seuchenwolke aufzubauen, obwohl im Nachhinein (6,104) das Wehen der Winde einge-räumt wird.
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Lucan hingegen wird der Krankheitsstoff durch die verwesenden Tierkadaver ausgestoßen und anschließend von der Luft aufgenommen. In dieser Reduktion der Ätiologie auf rein physikalische Ursachen nähert sich Lucan wieder den Ursprüngen der Motivtradition, Thu- kydides und Lukrez, an, was nicht zuletzt durch seinen Verzicht auf den Götterapparat be- gründet ist (vgl. Anm. 55, S. 112). Bemerkenswert bleibt, dass die Infektion der Menschen in der Folge nicht durch die Luft erfolgt, sondern durch das Wasser, sodass der Krankheitsdunst nicht wieder aufgegriffen wird.901 Lucan. 6,90–92 Mit solchem Hauch … des todbringenden Typhon aus : Die Rückführung der Schwefeldämpfe der Insel Nesis auf das schlangenköpfige Ungeheuer Typhon knüpft an die Erzähltradition Hesiods an, nach der Zeus Typhon in den Tartaros warf, von wo aus er zerstörerische Winde verursacht.902 Mit seinem Gleichnis greift der Dichter zu- gleich die seit Vergil in der Motivtradition etablierte Praxis auf, die Unterwelt in die Seuchen- beschreibung mit einzubeziehen. Dabei verzichtet Lucan auf eine ausführliche Darlegung, wie sie etwa bei seinem Onkel Seneca (Oed. 160–170) vorliegt. Dies hat nicht zuletzt seinen Grund im weiteren Verlauf des sechsten Buches: Mit der Nekromantie durch die Hexe Erichtho (Lu- can. 6,570–830) liegt bereits ein Schwerpunkt auf der Interaktion mit der Unterwelt, sodass eine tiefere Auseinandersetzung an dieser Stelle zu einer Dopplung mit der zweiten Buchhälfte geführt hätte. Der kompositorische Höhepunkt der Totenbeschwörung strahlt in dieser Hin- sicht auf die Beschreibung aus und kann als weiterer Grund für ihre Schlichtheit angeführt werden (s. auch unten Komm. zu 6,102f.). Lucan. 6,93 Dann beginnt der Massen Fall : Der altertümelnde Ton der Übersetzung hat seinen Grund in der Ilias-Rezeption, mit der Lucan seiner Überleitung zur Erkrankung und zum Tod der Menschen eine Note archaischer Erhabenheit verleiht.903 Die Einleitung durch inde zu Beginn der eigentlichen Seuchenbe-901 Vgl. Loupiac (1998), 56 und 163. Ein erneuter Vergleich mit Ovid zeigt, dass es das fehlende Wehen der Südwinde ( Austri ) ist, das die Statik der Szenerie verursacht. Möglicherweise findet sich in der Auseinandersetzung mit dem Vorgänger ein weiterer Grund für die nachträgliche Erwähnung der Nordwinde.
902 Vgl. Hes. theog. 820–880 und Stat. silv. 2,2,77f. armiger hac magni patet Hectoris, inde malignum | aëra respirat pelago circumflua Nesis . Zur Verarbeitung von Lehrgedicht und Fachwissenschaft in Lucans Gleichnissen vgl. Schindler (2000) und zur Spiegelung des Bürgerkriegs durch den Mythos bei Lucan Ambühl (2015), 55–178.
903 Vgl. zur Mimesis Poiss/Kitzbichler/Fantino (2016), 388 und mit Sklenář (2003, 46) Hom. Il. 1,10 ὀλέκοντο δὲ λαοί. Der Ausdruck labant (schwanken, ins Fallen geraten) für das Sterben von Massen findet sich bei Lucan nur an dieser Stelle, bildet jedoch auch keine direkte Parallele zu Homer; für die Terminologie des Sterbens in der lateinischen Epik vgl. Weber (1969), 52, der es in seiner Liste jedoch nicht aufführt.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung schreibung erinnert an Lukrez (6,1144), möglicherweise auch an Manilius.904 Die Formulie- rung scheint aus dem Gesamtzusammenhang herauszufallen: Insbesondere die Infektion des Wassers direkt im Anschluss fügt sich gedanklich nur schwer an den Anfang des Verses. In ihm beraubt die Formulierung populi (Mengen905) die Soldaten ihrer Profession und formt sie zu einer anonymen Masse, was der Gleichbehandlung der Menschen durch den Tod auf sub- tile Weise Rechnung trägt. Nun scheint der Tod der Massen aber eine Folge der Aufnahme des krankmachenden Wassers, sodass die Vermutung eines Hysteron-Proteron naheliegt. Lucan. 6,93f. und das Wasser … härtete ihre Eingeweide durch Schmutz : Die Verhärtung der Eingeweide erinnert an das Symptom der Verhärtung des Oberbauchs ( praecordia dura ) bei Ovid (s. o. Komm. zu 7,559). An der vorliegenden Stelle ist es das erste Symptom und erscheint gleichsam als Ursprung der Krankheit im menschlichen Organis- mus.906 Hervorzuheben ist Lucans Aussage, dass das Wasser bereitwilliger ( paratior ) gewesen sei, jede Art von virus (Krankheitsstoff) in sich aufzunehmen. Damit nimmt der Dichter zwei Änderungen vor: Erstens wird die Luft als Hauptüberträgermedium der hippokratischen Tra- dition durch das Wasser abgelöst,907 zweitens ist es nicht ein miasmatischer Dunst, sondern eine pathogene Flüssigkeit ( virus ), eine „schleimige, widerliche Substanz“,908 die das Wasser vergiftet. Mit der Ursache der Verschmutzung, caenum , nimmt Lucan auf das sechste Buch der Aeneis Bezug.909 Dort wird die Trübheit des Unterweltsflusses Acheron mittels des Ausdrucks caenum begründet. Durch die Bezugnahme auf seinen Vorgänger kann der Dichter zum einen
904 Vgl. Vallillee (1960), 148 und Manil. 1,882 und 886 labentisque rapit populos , totasque per urbes … alter in alterius labens cum fata ruebant . In ähnlich einleitender Funktion auch bei Gratt. 369f . inde emissa lues et per contagia morbi | venere in volgum.
905 Vgl. OLD s.v. populus (4), 1405.
906 Unter Berücksichtigung von Seibert (1983, 79) handelt es sich hierbei um eine der seltenen Erwäh-nungen schlechter Wasserqualität als Ursache für Heeresseuchen, wie sie auch Galen in seinem Kommentar zur hippokratischen Schrift De natura hominis (3,132 = 15,119 K) aufführt. Bereits bei Herodot (9,49,2) machen sich die Perser vor der Schlacht von Plataiai (479 v. Chr.) die pathogenen Eigenschaften von Wasser zunutze. In der spätantiken Epitome rei militaris hat Vegetius (mil. 3,2,5) in einem Kapitel zur Erhaltung der Heeresgesundheit explizit auf die Gefahr schlechter Wasserquali-tät hingewiesen: Nec perniciosis vel palustribus aquis utatur exercitus; nam malae aquae potus veneno similis pestilentiam bibentibus generat. (‚Lass das Heer kein gefährliches oder sumpfiges Wasser trin-ken; denn schlechtes Wasser zu trinken wirkt ähnlich wie Gift und verursacht unter den Trinkenden Seuchen.‘)
907 Vgl. ebenso Reitz (2003), 68.
908 König (1957), 50, zur Bedeutungsgeschichte vgl. Thome (1993), 453–455.
909 Verg. Aen. 6,295–297: Hinc via Tartarei quae fert Acherontis ad undas. | turbidus hic caeno vastaque voragine gurges | aestuat atque omnem Cocyto eructat harenam. (‚Hier ist der Weg, der dich zu den Wassern des höllischen Acheron führt. Dieser Strom ist trüb vor Schmutz , brodelt in seinem breiten Strudel und speit den ganzen Sand in den Cocytus.‘). Dem Ausdruck caenum haftet eine Note des
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erneut eine Unterweltskulisse vor Augen rufen (vgl. bereits oben zur Insel Nesis), zum anderen auf die Theorie zurückgreifen, dass krankmachendes Wasser vor allem aus tiefen Erdschichten stammt (vgl. Anm. 831, S. 289). Lucan. 6,95–97: Die im Folgenden beschriebenen Symptome beschränken sich – wahrscheinlich in Anknüp- fung an Senecas Seuchenbeschreibung im Oedipus (vgl. Kapitel 3.1.3), hier noch konsequen- ter – auf den Kopf der Erkrankten.910 Lucan. 6,95 Schon erstarrt die gespannte (arta) Haut und lässt … platzen : Das von den meisten Editoren akzeptierte Attribut arta (gespannt) lässt sich aus zwei Gründen gegen das überlieferte atra (schwarz) verteidigen:911 Da erstens im Folgevers das Feuer erwähnt wird, das den Erkrankten ins Gesicht steigt, müsste nach der Überliefe- rung auf die unnatürliche Schwärzung der Haut nun ihre Rötung folgen, die das innere Feuer nach außen hin sichtbar macht. Zweitens ist die Spannung der Haut eine notwen- dige Begründung dafür, dass cutis in der Folge als Subjekt für das Platzen der Augen an- genommen werden kann.912 Die Augen sind durch die Krankheit distenta (aufgedunsen) und werden durch die Haut, die sich ringsum spannt, zum Platzen gebracht. Das Platzen der Augen stellt eine Steigerung der Beschreibung bei Seneca dar (vgl. oben Komm. zu Oed. 186). Es ist auffällig, dass Lucan, dem sonst das Etikett des „Hyperrealismus“ und der „krude[n] Detailversessenheit“913 im Zusammenhang von Gewalt und körperlicher Entstellung anhaftet, sich in der Symptombeschreibung ansonsten beschränkt. Eine Be- Ekelhaften an, er wird gerne als Schimpfwort gebraucht (vgl. Opelt 1965, 92f. und 139) und von Ver-gil lediglich an dieser einen Stelle im Epos verwendet.910 Zur Einschätzung des Kopfes als körperliches Zentrum, bisweilen als Träger der Seele, vgl. Speyer (2006), 514f. und Sen. Oed. 185 corporis arcem . Für die Bedeutung des Kopfes im Krankheits-fall ist auch die sprichwörtliche Tradition des Mittelalters vielsagend, vgl. Mumprecht (1997), 431–435.
911 So bereits Gottlieb Kortte (bei Weber 1829, 17): „Hic vero atra cutis prorsus importuna et absurda est; neque enim illa lumina rumpit , neque cum Ignea peste , quae mox memoratur, conciliari potest.“ Vgl. jedoch Hp. Coac. 209 (= 5,628 L.).
912 Die Verwendung von cutis (Haut) im Epos findet sich erst bei Ovid (neun Belegstellen), Vergil nutzt das Wort kein einziges Mal. Der Ausdruck hat seinen Ursprung im Griechischen und ist der medizi-nischen Fachsprache zuzuordnen, vgl. André (1991), 200 und Grondeux (2005), 115.
913 Wick 2010, 109, vgl. auch Fuhrmann (1968), 51, für den in Lucan eine Entwicklung ihren (vorläufi-gen) Höhepunkt erreicht, indem die Darstellung der Grausamkeit zum Selbstzweck wird. Dabei ist Lucan zugleich Teil einer Entwicklung: Man denke nur an den Teil in Ovids Beschreibung der Lapi-then und Kentauren (Ov. met. 12,268–270), in dem Gryneus beide Augen verliert, die sich teilweise auf der Waffe des Gegners (einem Votivgeweih) und teilweise im Bart des Sterbenden verteilen; auch
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung gründung für die ausbleibende Detailtiefe kann mit Gotter darin gesehen werden, dass der für Lucan charakteristischen Gewaltinszenierung nur im Zuge der Beschreibung von Bürgerkriegshandlungen eine Funktion zukommt – die Pest jedoch ist durch ihre lokale Begrenzung und die klare Linie zwischen Freund und Feind nicht geeignet, um Verwand- tenmorde zu inszenieren.914 Schließlich kann (wie ebenfalls Kortte nahelegte) die vorliegende Stelle möglicherweise eine direkte Bezugnahme auf Lukrez plausibel machen: Lucr. 6,1194–1196 frigida pellis duraque , molle patens rictum, frons tenta minebat. nec nimio rigida post artus morte iacebant.
Lucan. 6,95 iam riget arta cutis dis tenta que lumina rumpit . Eine solche wäre nicht zuletzt deshalb attraktiv, weil sich Lucan nach dieser Interpretation eines Symptoms der lukrezischen Facies Hippocratica bedient hätte – damit wäre der Indikator für den kurz bevorstehenden Tod bei ihm zu einem gewöhnlichen Symptom verarbeitet wor- den, wodurch auch die Regelhaftigkeit des Todes unterstrichen würde. Lucan. 6,96 die Pest steigt feurig lodernd mit der heiligen Krankheit ins Gesicht : Mit seiner Umschreibung stellt Lucan eine Verbindung zum sacer ignis her, der entweder Vergils (Georg. 3,566) oder Senecas (Oed. 187b) Beschreibung entnommen sein dürfte. Auch an dieser Stelle beschränkt sich der Dichter auf ein Minimum der Symptombeschreibung, aus dem lediglich ersichtlich wird, dass das Wirken der Krankheit durch das Element Feuer be- dingt ist.915 Äußere Erscheinungen wie Bläschenbildung werden ebenso wie der brennende Durst ausgespart. Die Auslassung des Durstes kann mit der hier vertretenen Deutung, nach der die Pest insbesondere die Untätigkeit des pompeianischen Heeres aufzeigen soll (vgl. unten Komm. zu 6,111–116), zufriedenstellend begründet werden, da der Durst eine mit Caesars Heer vergleichbare Aktivität zur Folge gehabt hätte. Daneben läge der Vorwurf einer Dopplung zum vierten Buch (vgl. Anm. 934, S. 315) nahe. Senecas Oedipus ließe sich anführen, ergießt sich doch nach der Selbstblendung ein Schauer aus Blut ( profusus imber , V. 953) über das Gesicht des Königs.
914 Vgl. Gotter 2011, 57–62.
915 Vgl. Loupiac (1998), 136. Die dort angenommene Verursachung der Symptome durch die vergiftete Luft scheint jedoch keine Entsprechung im Text zu finden. Vielmehr bezeugt die Korrelation duravit viscera … riget arta cutis (6,94f., vgl. König 1957, 50) ein Wandern der Symptome von den Eingewei-den nach oben (auch hierbei wider die Motivtradition, vgl. Gardner 2019, 198).
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Lucan. 6,97 das müde Haupt verweigert, sich selbst zu tragen : Das Symptom der Müdigkeit, das bei Lukrez noch explizit durch Schlaflosigkeit induziert wurde, ist hier prägnant in einer Geste der Ermattung umgesetzt. Aufgrund der Kürze der Schilderung wird nicht ersichtlich, ob das Niedersinken des Hauptes bereits den Tod andeutet oder sich gleichrangig zu den anderen Symptomen verhält.916 Lucan. 6,98–100 Schon treibt das Schicksal … Schwächegefühl und Tod fallen ineins : Nach einer Steigerung des Erzähltempos (durch iam … iam ) wird zum ersten und einzigen Mal in Lucans Beschreibung eine äußere Macht angeführt, die auf das Geschehen Einfluss nimmt: das Schicksal ( fatum ).917 Die Nennung erfolgt unmittelbar vor der Steigerung zum Hö- hepunkt der Pest, an der z. B. Vergil Tisiphone aus der Erde hat aufsteigen lassen.918 Für dessen Beschreibung wurde herausgearbeitet, dass die Klimax durch den Fortgang der Heiler bedingt war (vgl. Komm. zu Georg 3,552). Lucan hingegen kennt keinen Widerstand (weder rituell noch pharmazeutisch), der Höhepunkt des Sterbens wird allein durch das Schicksal herbei- geführt, das nun Erkrankung und Tod zusammenfallen lässt.919 Hiermit greift der Dichter die916 Gardner (2019, 197f.) hat eine Parallele zum Anfang der Ursachenforschung plausibel gemacht (Lucan. 1,70–72): invida fatorum series summisque negatum | stare diu nimioque graves sub pondere lapsus | nec se Roma ferens . Neben der ebendort gelieferten komplexen metaphorischen Deutung, die in einem Symptom ein gesamtes politisches System widergespiegelt sieht, ist die schlichtere Möglichkeit einer Parallelität von Makro- und Mikrokosmos zu erwägen, wie sie in dieser Ausarbeitung bereits für viele der Seuchenbeschreibung beobachtet wurde. Vgl. zur Ursachenforschung auch Lebek (1976), 45–74.
917 Schotes (1969, 113) spricht bei Lucan von einem „umrißlosen Begriff des Fatums, aus dem er das meiste des philosophischen Gehalts entfernt und den er in gewisser Weise durch den Fortunabegriff ergänzt. Fatum übernimmt so eine bunte Fülle von Funktionen, vereint die sonst den Göttern an-gehängten Schwächen, Unstetigkeiten, Launen summiert auf sich, nähert sich hier der Tyche, ist dort – und oftmals sehr bestimmt – identisch mit der stoischen Allgottheit.“ Zur mittlerweile häu-fig als synonym eingestuften Verwendung von fatum und fortuna bei Lucan vgl. Radicke (2004), 91f. mit Anm. 35 (Forschungsüberblick) und 36 (Stellensammlung) sowie Glaesser (2018), 116–124. Doch sind zahlreiche Differenzierungsversuche unternommen worden: Kißel (1979, 79) bspw. sieht eine solche insbesondere durch einen höheren Grad an Anschaulichkeit begründet, vgl. auch Walde (2012). Die Implementierung des stoischen fatum in eine negativ-teleologische Geschichtsauffassung vor dem Hintergrund der Theodizee erinnert an die problematische Fatumskonzeption, die oben für den Oedipus beschrieben wurde (vgl. Narducci 2002, 162–164 und Anm. 49, S. 103). Damit stehen Seneca und Lucan in der Tradition eindeutig der Vorstellung des Manilius gegenüber.
918 Mit der Vorlage teilt die Stelle auch das allmähliche Erstarken der Krankheit (Verg. georg. 3,552f.): pallida Tisiphone Morbos agit ante Metumque, | inque dies avidum surgens caput altius effert . (‚Jetzt tobt Tisiphone, die, bleich aus dem stygischen Dunkel ins Licht entlassen, Krankheiten und Furcht vor sich hertreibt, und erhebt das Haupt in ihrer Gier Tag um Tag höher .‘)
919 Dass das gesamte Ereignis (inkl. der Hungersnot) dadurch final motiviert ist, wie Radicke (2004), 96f. für einige der Katastrophen im Werk aufgezeigt hat, kann aufgrund der Parallelen zumindest für wahrscheinlich gehalten werden.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Plötzlichkeit der Krankheit auf, die (als Grundelement des Thukydides) bereits bei Ovid eine Modifikation erfuhr, indem die Kranken am verseuchten Wasser starben (vgl. oben Komm. zu Ov. met. 7,571). Lucan. 6,100f. Mit der Menge an Toten erstarkt die Pest : Angesichts des Umstands, dass die Beschreibung weder eine psychische Reaktion der Be- troffenen noch den Versuch, die Erkrankung durch Medizin zu bekämpfen, enthält, scheint an dieser Stelle das Element der Ansteckung durch gegenseitige Pflege verarbeitet. Doch erhält die Pest durch die Entkopplung des Wachstums von der direkten menschlichen Interaktion eine Eigendynamik, die fast personifizierte Züge aufweist und an Vergils Tisiphone erinnert. Im Zusammenhang mit dieser selbstständigen Verbreitung macht sich Lucan die pathogene Wir- kung der Leichen, die Ovid vorbereitet und er selbst in Form der Pferdekadaver aufgegriffen hat, zunutze und entwickelt den Gedanken konsequent fort. Es ist dabei kaum zu ermitteln, ob der Dichter eine frühe Beobachtung exponentieller Ansteckungsraten verarbeitet oder ledig- lich in einem feinen Sprachspiel den gegenläufigen Niedergang der Menschen (eig. im Prozess des Fallens, cadentum ) und die Erhebung der Krankheit zeichnen wollte. Lucan. 6,102f. ihre beklagenswerten Mitbürger … deren Bestattung : Von einem unpersönlichen Blickwinkel auf die Erkrankten, in dem diese lediglich in Form ihrer Körper genannt werden ( mixta iacent incondita vivis | corpora ), wechselt der Erzähler un- vermittelt zu einer größeren Anteilnahme: In miseri (‚beklagenswert‘) findet sich nicht nur das erste wertende Attribut der Beschreibung,920 sondern die Soldaten werden anstelle in ihrer mi- litärischen Funktion als römische Bürger ( cives ) markiert.921 Paradoxerweise dient dies jedoch nicht ihrer Würdigung – vielmehr unterstreicht der Status als Bürger Roms umso deutlicher,
920 Die Charakterisierung der Kranken und Toten als miseri verbindet sie mit den Soldaten der Gegen-seite, die jedoch als miserabile volgus (‚jämmerlicher Haufen‘) eine Abwertung erfahren. Die von Gall (2005, 104) an anderen Stellen beobachtete Gleichwertigkeit der Heere (jeweils als Ansammlun-gen von Bürgern) scheint folglich an dieser Stelle durch den Kontrast cives – volgus nicht bestätigt. Eine plausible Erklärung für die negative Wertung der Soldaten kann jedoch darin liegen, dass es sich um Caesars Gedanken handelt, der in cernit als Subjekt auftritt, und nicht um die des Erzählers (vgl. König 1957, 52). Ludwig (2014, 115) sieht hier die Sicht der Caesarianer wiedergegeben, was jedoch eine schwer nachvollziehbare Trennung innerhalb des Heeres und eine merkwürdige Selbst-betrachtung nach sich zöge.
921 Zur Bezeichnung cives in Lucans Darstellung der Massen vgl. Delarue (2010), insbes. 134–136. Eine besondere Tragik ergibt sich, wenn man eine Aussage aus Curios Rede an Caesar (Lucan. 1,279) ver-gleicht, nach der dessen Sieg seine Anhänger zu Bürgern machen sollte. Wie im Folgenden deutlich wird (s. Komm. zu 6,106–109), macht der Krieg die Bürger zu hostes , zu Feinden Roms. Die Kraft, welche die Soldaten aus diesem Zustand zu befreien vermag, wird hier jedoch nicht im Sieg einer der Parteien gesehen – sondern im Tod.
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welches Unrecht den Toten widerfährt, wenn sie ohne Befolgung der Bestattungsriten vor die Zelte geworfen werden. Die Ungeheuerlichkeit der Tat strahlt naturgemäß auf die Täter aus, d. h. hier die anderen Soldaten. Es ist bezeichnend, dass der Dichter in diesem Zusammenhang auf jegliche Wertung oder Analyse verzichtet. Schließlich war insbesondere das Motivelement der ausbleibenden Bestattung oder des Kampfes um Scheiterhaufen in der sonstigen Tradition von einer Klage über den mit der Pest einhergehenden Werteverfall begleitet.922 Diese Aus- sparung ist für die Deutung der Beschreibung im Bellum civile von großer Bedeutung: Gerade die Schlichtheit der Darstellung, die nüchtern-deskriptive Schilderung der achtlos aus dem Zelt geworfenen Leichen, ohne dass eine Wertung erforderlich wäre, bildet den Zustand des Bürgerkriegs und seine Wertelosigkeit ab.923 Lucan. 6,103b–105 Dennoch linderten diese Leiden … Ernte aus der Ferne : Bereits in der Einleitung zu Lucan (Kapitel 2.1.7 mit Anm. 61, S. 114) war festgestellt wor- den, dass die Rückkehr zur historischen Erzählung sehr plötzlich wirken kann. Vor dem Hin- tergrund der Motivtradition wurde der jähe Abbruch der Darstellung unmittelbar nach dem Verfall der Bestattungsriten, der bei Lucans Vorgängern nicht selten das grauenvolle Ende darstellte, als Relativierung des Übels aufgefasst.924 Innerhalb der eigentlichen Seuchenbe- schreibungen hatte bislang lediglich Grattius eine Überwindung der Krankheit nahegelegt (Kapitel 2.1.3). Anders als bei ihm ist an der vorliegenden Stelle jedoch kein Ortswechsel von- nöten: Die örtliche Lage des Heers selbst (nicht Pompeius) ist es, die Linderung verschafft.925 In Anbetracht der Fortführung der Handlung durch Pompeius nach seinem Belieben (6,118 ut primum lib uit ), ohne dass noch eine Nachwirkung der Pest ersichtlich würde, erscheint922 Vgl. Ov. met. 7,609 et iam reverentia nulla est , Manil. 1,888 cesserat officium morbis und Oed. 65 nullus est miseris pudor . Dabei ist zu betonen, dass Lucan Ovid und Seneca ansonsten sehr intensiv in seiner Beschreibung rezipiert, vgl. Vallillee (1960), 146–150 und 156.
923 Die Untersuchungen zum Werteverfall bei Lucan sind ausgesprochen zahlreich, vgl. exemplarisch Schmitz (2007) und Ambühl (2015), 44f. mit Anm. 108. Nach der oben ausgeführten Deutung trifft denn auch Grimms (1965, 75) Kritik nicht den Kern, wenn er Lucans Beschreibung vorwirft, sie bilde die menschliche Realität hinter dem (möglicherweise) historischen Ereignis nicht ab.
924 König (1957, 51) begründet die Linderung zum einen mit der Handlung, da eine zu starke Schwä-chung des Heeres die sich anschließende militärische Aktion unglaubhaft hätte wirken lassen, zum anderen mit dem dadurch stärker pointierten Paradox, dass der Belagerer in größerer Not ist als der Belagerte.
925 Dabei kommen ihm alle anderen Elemente gegen das Feuer der Krankheit zu Hilfe, Wasser in Form des Meers ( pelagus ), die Nordwinde als Luft ( Aquilones ) und die Erde durch die Küste ( litora ), die in V.105f. durch collibus , aere , undis aufgegriffen werden. Dass die Aufzählung durch die Versorgungs-schiffe beschlossen wird, liegt nicht nur an deren logistischer Bedeutung, sondern sie versinnbild-lichen auch das Zusammenspiel der Elemente, indem sie, vom Wind über das Meer getragen, die Frucht der Erde ( messis ) zum Heer transportieren.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung die Annahme plausibel, dass in minuere (‚linderten‘) in der Tat die Aufhebung der Krank- heit impliziert wird.926 Es ergibt sich nichtsdestoweniger ein Spannungsverhältnis zwischen der Einleitung zur Pest ( inde labant populi ), dem sich anschließenden Massensterben, der Vermischung von Lebenden und Toten und der unbekümmerten Fortführung der Kriegs- handlungen. Dieses Spannungsverhältnis dient m. E. der Hervorhebung der Gewöhnlichkeit dieses Phänomens im Bürgerkrieg.927 Lucan. 6,106–109 Aber der Feind … von einem engen Belagerungsring eingeschlossen : Der Abschnitt zur Hungersnot in Caesars Lager (6,106–117) wird dadurch eingerahmt, dass der erste und der letzte Vers mit dem Wort hostis (‚Feind‘) enden. Dabei bringt die Begriffs- verwendung den widernatürlichen Konflikt des Bürgerkriegs auf den Punkt:928 Zunächst ist hostis eigentlich eine Bezeichnung für den äußeren Feind des römischen Reiches und wird bis- weilen als ‚Staatsfeind‘ wiedergegeben.929 Im Zuge des Bürgerkriegs wird der Ausdruck jedoch auf die jeweils andere (römische) Partei bezogen, in 6,106 aus der Perspektive des Pompeius, in 6,117 aus der Caesars. Zudem lädt die Rahmung zu einer Gegenüberstellung der Satzum- gebung ein – ist es zu Beginn der Erzählung ein hostis liber , der sich frei bewegen kann, steht am Schluss obsidet hostem , sodass die Soldaten des Pompeius als Gefangene erscheinen. Dieser Grundsituation, die Caesar im Vor- und Pompeius im Nachteil sieht, entspricht jedoch nicht die Heimsuchung des Heeres durch die Hungersnot. Das Paradox wird durch die Rahmung auf die Spitze getrieben, indem sich Caesars Heer als frei und hungernd, dasjenige des Pompei- us als belagert und satt ( saturum tamen ) gegenüberstehen. Lucan. 6,109f. Da die Halme … noch nicht zur Frucht angeschwollen sind : Die Fokussierung auf die Ähren hat Lucan der Beschreibung seines Onkels (Oed. 49b–51) entnommen, bei dem das Getreide trotz Wachstum keinen Ertrag einbrachte. Hieran zeigt sich ein bedeutsamer Unterschied: Handelte es sich im Oedipus um ein Anzeichen der Sympatheia des Kosmos, liefert Lucan sofort eine rationale Erklärung. Mit nondum (‚noch nicht‘) unter- streicht er, dass die Hungersnot kein Ausdruck kosmischen Leidens ist, sondern das Getreide 926 Dies scheint auch Gardner (2019, 199) anzunehmen.
927 Diese Gewöhnlichkeit besitzt einerseits ein Fundament in der historischen Wirklichkeit, anderer-seits im Werk selbst, in dem Massensterben als Alltag erscheint; vgl. Lucans zynische Verarbeitung von Vergils berühmter Lukrezrezeption (Lucan. 4,393f.): felix qui potuit mundi nutante ruina | quo iaceat iam scire loco. (‚Selig ist der, der beim Schwanken des Weltengebäudes bereits einen Platz zu kennen vermochte, an dem er Ruhe fände.‘)
928 Ähnlich prägnant ist auch die thematische Klammer bei Manilius, vgl. Komm. zu Manil. 1,883.
929 So schließt Lucan im ersten Buch (1,23) den Katalog potenzieller äußerer Feinde mit der bitteren Be-merkung nondum tibi defuit hostis . (‚Noch mangelte es dir nicht an [äußeren] Feinden.‘)
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lediglich mehr Zeit bräuchte. Damit knüpft der Dichter möglicherweise auch an das Caesarbild des Epos an, das von allzu großer Hast und Ungeduld geprägt ist (vgl. Anm. 880, S. 301) – so würde die zu lange Dauer, welche die Hungersnot unter seinen Soldaten bedingt, zur Strafe für sein übereiltes Handeln. Neben dieser zeitlichen Dimension nutzt Lucan auch die räumliche Vorstellung, indem er die (erwünschte) Höhe der Ähren mit dem sich anschließenden Nieder- werfen der Soldaten kontrastiert.930 Lucan. 6,111–116 zur Speise des Viehs … bis zu diesem Zeitpunkt unbekannt : Beschreibungen von Soldaten, die in ihrem Hunger alles nur Erdenkliche zu sich nehmen, um ihren Hunger zu stillen, finden sich sowohl innerhalb als auch außerhalb des Epos.931 Vor dem Hintergrund der Motivtradition erinnert die hier explizierte Vertierung der Menschen an Vergils Viehseuche, an deren Schluss (Verg. georg. 3,534–536) die Bauern ihre Feldfrüchte mit eigenen Händen eingruben und ihre Transportwagen auf den Schultern trugen, da all ihre Nutztiere von der Pest dahingerafft wurden. Dabei entspricht das rasende Verhalten auch dem werkintern vermittelten Bild von Caesars Truppe:Bei den Caesarianern akzentuiert Lucan wiederholt ihre Verrohung: Sie sind bereits über
Jahre hinweg Soldaten und haben sich an das Morden gewöhnt. In ihrer schwelgerischen
Neigung zu Mord und Verbrechen spiegeln sie den furor ihres Feldherrn wider.932 Dass sich in der Notsituation das Wesen der Caesarianer offenbart, entspricht den auch sonst in dieser Ausarbeitung getätigten Beobachtungen im Rahmen einer Anthropologie der Katastrophe (vgl. Kapitel 1.6). An dieser Stelle fallen das allgemein Menschliche und das Charakteristikum des Heers ineins. Dies wird insbesondere im direkten Vergleich mit dem des Pompeius deutlich: In der Entscheidungsschlacht bei Pharsalos (7,501f.) charakte- risiert Lucan die Parteien mit den Worten civilia bella | una acies patitur, gerit altera (‚Ein Heer erduldet den Bürgerkrieg, das andere führt ihn‘) und zeichnet damit die Caesarianer als aktiven, die Pompeianer als passiven Part der Grausamkeiten. Diese Rollenverteilung spiegelt sich auch in der Reaktion auf die Katastrophen wider: Während die Pest ertragen
930 Vgl. König (1957), 52.
931 Vgl. mit Chiesa (2005, 35) Lucan. 3,345–348 und 4,410–414, aber auch Sen. dial. 5,20,2f . Eine sprach-liche Untersuchung zeigt, dass sich Lucan bei der Beschreibung der Soldaten kunstvoll des Sach-feldes der Kriegsführung bedient ( spoliare , frangere , diripiens ), um deren eigentliche Profession zu pervertieren.
932 Gall (2005), 105.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung und ausgestanden wird,933 versuchen die Hungernden, ihren Zustand mit allen Mitteln zu ändern.934 2.2.8 Silius Italicus Sil. 14,580–584 Unverzüglich hätte … wenn nicht … hätte : Die Einleitung stellt dem Rezipienten einen alternativen Handlungsverlauf in Aussicht, der jedoch durch die Pest verhindert wird, sodass wie bereits bei Lucan von einer retardierenden Funktion gesprochen werden kann. Konkret handelt es sich um eine abgeschwächte Form von ungeschehenem Geschehen, das ein traditionelles Element der epischen Tradition darstellt und dessen Funktion Heinz-Günther Nesselrath wie folgt beschrieben hat: [O]n the one hand, such an episode might have brought the ultimate objective of the epic action to a much earlier conclusion (as in the case of Patroclus almost conquering Troy), on the other, it might have totally prevented this ultimate objective from happening […].
Moreover, this poetic device can save a narrative (especially one depicting fights, as the
Iliad so often does) from becoming monotonous and enrich an epic tale with a consider-able additional amount of interest and suspense.935 Um eine abgeschwächte Form handelt es sich deshalb, weil die bereits angedeutete Eroberung der Mauern936 von Syrakus durch Marcellus schließlich erfolgt, die Pest demnach tatsächlich lediglich einen zeitlichen Aufschub bedeutet.937 Nichtsdestoweniger wird insbesondere die zweite Funktion, nämlich das Durchbrechen der Monotonie und die Erhöhung der Spannung im Moment der ersten Rezeption, durch die Schilderung erfüllt. Nach dem Sieg der römischen Truppen in der Seeschlacht wäre eine unmittelbar anschließende Einnahme der Stadt flacher
933 Im Zuge einer stoischen Lesart des Epos (vgl. bspw. Wiener 2006 und zur Übersicht Ambühl 2015, 11f.) mag sich hierin auch die Akzeptanz des fatum widerspiegeln, die zur Erduldung der Krankheit und des Todes anhält, vgl. bspw. Sen. epist. 54 und Grimm (1965), 70 zu Manilius.
934 Wie durch den Kommentar zu Lucan. 6,80 und das Zitat von Gall deutlich wird, entsprechen die Heere damit der Disposition der Feldherrn bei Dyrrhachium, vgl. ebenso König (1957), 52: „Lukan ist es also gelungen, im Verhalten der Heere den typischen Gegensatz der beiden Führer durchschei-nen zu lassen.“ Möglicherweise fand Lucan die Opposition von Duldsamkeit und Tatendrang bereits in Vergils Pferd und Stieren angelegt, vgl. Klepl (1940), 74f. und Raabe (1974), 51.
935 Nesselrath (2019), 566, vgl. zum Phänomen generell Ders. (1992).
936 Zur Untersuchung der Rolle von Mauern in den Punica (insbesondere derjenigen Roms) vgl. v. Albrecht (1964), 24–46.
937 Diese Unterscheidung trifft auch De Jong (1987), 262 Anm. 59.
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ausgefallen:938 Beispielsweise hätte die psychologische Motivation, welche die Soldaten nach der Überwindung der Krankheit über die Möglichkeit des Schlachtentods empfinden und der Silius breiten Raum gibt (14,627–637), keinen Platz gefunden.939 Sil. 14,583 Missgunst der Götter : Als eine von zwei Ursachen der Pest wird die Missgunst der Götter ( invidia deum , Wir- kursache) genannt.940 In Abgrenzung von Lucans historischem Epos (vgl. Anm. 55, S. 112) findet bei Silius erneut ein Götterapparat Anwendung.941 Anders als bei Ovid, der mit Juno die göttliche Intervention in die Motivtradition eingeführt hat, wirkt die invidia an dieser Stelle vom Kontext nur bedingt motiviert.942 Neben der bereits genannten Funktion der Span- nungserzeugung wird Marcellus dadurch, dass sein Erfolg vor Syrakus die invidia deum weckt, in eine Reihe mit Regulus und den 300 Fabiern gestellt, da der Ausdruck ausschließlich im Zusammenhang mit ihnen genannt wird.943 Schließlich handelt es sich bei der Zuschreibung einer Katastrophe an die Götter wohl um die gängigste Form der Sinnsuche, wie bereits in der bisherigen Auseinandersetzung mit der Motivtradition deutlich geworden ist. Eine Reduktion938 Dahingehend ist möglicherweise auch die Änderung bei Silius einzuordnen, dass beide Kriegspartei-en gleichermaßen von der Pest heimgesucht wurden, s. u. Komm. zu Sil. 14,614–617.
939 Vgl. Burck (1984), 53. Hierin zeigt sich ein fundamentaler Unterschied zu Lucan: War dort die feh-lende Anbindung an die epische Handlung augenfällig (vgl. oben Kapitel 2.1.7), hat Silius die Pest nicht nur zum Zwecke der Retardation genutzt, sondern auch im weiteren Verlauf aufgegriffen. So verbergen die Soldaten ihre durch die Krankheiten abgemagerten Gesichter in ihren Helmen, auf dass der Feind keine Hoffnung schöpfe (14,636f.; zum Helm als Mittel der Überdeckung vgl. auch Sil. 10,648f. [Alter] und 12,553f. [Tränen]).
940 Zu Seuchen als gottgesandte Kompensation von Erfolgen vgl. Horstmanshoff (1989), 181; der spät-antike Historiker Orosius (Hist. 3,21,7) sieht hierin gar ein Wirkprinzip römischer Geschichte. Die Beschreibung bei Livius (25,26,7–15) kennt keine metaphysische Begründung. Hingegen findet sich bei Diodorus Siculus (14,70,4ff., Rezeption des Philistos von Syrakus) eine Pest bei der Belagerung von Syrakus durch die Karthager im Jahr 396 v. Chr. als Folge des Götterzorns, weil jene den Tempel der Demeter und der Kore geplündert hatten (vgl. Lane Fox 2020, 280). Auf diese Schilderung wird im Folgenden noch mehrfach eingegangen, da Silius bemerkenswerte Parallelen zu ihr aufweist.
941 Vgl. Baier (2006 [2010]).
942 Vgl. Vallillee (1960), 170, der nicht ganz nachvollziehbar von dem Umstand, dass die Pest auf bei-den Seiten wütet, darauf schließt, dass es sich bei der invidia deum hier nicht um ein traditionelles episches Darstellungsmittel handelt. Zum Spannungsverhältnis der Wirkursache und der späteren Ausbreitung, das diese Verwirrung ausgelöst haben mag, vgl. unten Komm. zu Sil. 14,614–617. Die Funktion der Pest vor allem in der Darstellung der virtus des Marcellus sehen zu wollen (vgl. Gard-ner 2019, 225) wird der Gesamtdarstellung nicht gerecht.
943 Vgl. Sil. 6, 400–402 und 7,58–61, möglicherweise auch mit Varro durch Sil. 9,425 ira superum .
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung des Ausdrucks auf ein „rein topische[s] Versatzstück“944 täuscht jedoch über die vielseitigen Implikationen an dieser Stelle hinweg. Sil. 14,583 pelagique labore parata: Der dunkle Ausdruck hat zu unterschiedlichen Interpunktionen, Konjekturvorschlägen und semantischen Diskussionen um das Wort labor geführt.945 Duff hat in seiner Loeb-Aus- gabe versucht, labor als Ursache für die Pest anzusehen und interpretiert es entweder als Aus- druck für die Leichen im Wasser (vor ihm bereits von Ernesti vertreten)946 oder die durch die Anstrengung der Seeschlacht ausgelaugten Soldaten, was in Bailey einen Kritiker fand.947 Deshalb bezieht Bailey (wie bereits Drakenborch) parata auf gaudia und interpungiert nach divum , wodurch jedoch der Ablativ in invidia an inimica nur unbefriedigend angeschlossen wird.948 Heinsius erwog als Konjektur pelagine vapore coorta , sodass der Ausdruck pelagi vapo- re erneut eine Ursache der Pest anzeigen konnte.949 Inhaltlich ist Heinsius zuzustimmen: Eine multiple Verursachung war bspw. auch in Ovids Beschreibung zu beobachten. Es bleibt jedoch zu erörtern, ob eine Änderung von labore in vapore tatsächlich notwendig ist, oder ob nicht auch labor die geforderte Semantik bietet. In dieser Sache ist zunächst festzustellen, dass labores pelagi bei Silius zwei Mal die Gezeiten beschreibt.950 Der Ausdruck kann sich demzufolge auf natürliche Prozesse beziehen, die eine Aktivität des Meeres einschließen. Eine solche Aktivität muss m. E. nicht nur in den Bewe- gungen bei Ebbe und Flut gesehen werden, sondern könnte auch in der Abgabe von Dämpfen bestehen. Weiterhin ruft ein Blick auf die Tradition in Erinnerung, dass bereits bei Vergils Beschreibung ein Ausdruck vorhanden war, der den Kommentatoren ebenfalls Probleme be- 944 So Kißel (1979), 81 Anm. 241.
945 Watt (1985, 279) nimmt sogar einen Versausfall nach 14,582 an und rekonstruiert: pestis | < orta gra- ves multis morbos mortesque tulisset > | invidia divum pelagique … , weil er ebenfalls (s. im Folgenden) den Anschluss von inimica pestis an invidia divum als problematisch ansieht. Delz sieht den Ausfall in seiner Teubneriana zumindest als Möglichkeit an.
946 Vgl. bei Lemaire (1823), 202: „In calamitate pugnae navalis cogitari possunt adfecta ex humoribus marinis, frigore, cadaveribus, quibus pollutum caelum dicitur, corpora: quae omnia per partes mox poeta enumerat.“
947 Vgl. Duff (1934), 314 und Bailey (1959), 179: „I do not know which of these suggestions to call the more implausible.“ Zu Duffs Verteidigung ist anzumerken, dass Leichen im Wasser durchaus Teil von Seuchenbeschreibungen waren (vgl. Amm. 19,4,5).
948 Auch Delz spricht sich im textkritischen Apparat der Teubneriana für einen Bezug von invidia di- vum zu parata aus und verzichtet auf jegliche Interpunktion.
949 Vgl. Ruperti (1798), 391f.: „qui recte monuit, inter causas pestilentiae etiam maris ac fluuiorum exha-lationes recenseri.“ Drakenborch (1717, 732f.) generell zustimmend, jedoch gegen das von Heinsius vorgeschlagene coorta , da parata ausreiche.
950 Vgl. Sil. 3,58 und 14,348, jedoch in 4,53 für Schlachten zu Wasser und zu Lande.
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reitete: der morbus caeli (vgl. Komm. zu Georg. 3,478). Es erscheint durchaus plausibel, dass Silius seinen Vorgänger an dieser Stelle nachgeahmt hat, möglicherweise ebenfalls mit Impli- kationen kosmischer Sympatheia.951 Demzufolge ist dafür zu plädieren, weder eine Änderung der Überlieferung vorzunehmen, noch parata auf gaudia zu beziehen, sondern den gesamten Vers als Apposition zur Pest zu verstehen. Die gaudia sind aus dem Zusammenhang unmittel- bar begreiflich und benötigen keinen erklärenden Zusatz. Sil. 14,586f. hüllte Cyane … in den infernalischen Gestank des Cocytus : Mit der bildhaften Beschreibung des Gestanks (im Lat. eigentlich mit dem Attribut ‚stygisch‘ versehen, hier demnach synekdochisch aufgefasst und substituiert) konkretisiert Silius das in der Einführung genannte vergiftete Klima ( polluto caelo ) und verbindet Elemente der Motiv- tradition mit der Miasmentheorie. Dass der Fluss Cyane (und nicht etwa der für sein sumpfiges Mündungsgebiet berüchtigtere Anapus) in einer derart redundanten Beschreibung mit der Un- terwelt verbunden wird, muss nicht nur der etablierten Einbindung derselben in die Motivtradi- tion geschuldet sein (vgl. oben Komm. zu Sen. Oed. 160–163);952 vielmehr kann es sich auch um eine Anspielung auf den ätiologischen Mythos des Flusses handeln, wie er bei Ovid beschrieben wird.953 Das Sumpfgebiet als Ursache für eine Heeresseuche nennt bereits Thukydides bei der Belagerung von Syrakus durch die Athener, was wiederum von Diodor für die Karthagerkriege aufgegriffen wurde.954 In der Schilderung des Silius ist der Sumpf ebenfalls nicht von sich aus pathogen, sondern nur in Verbindung mit der Hitze (personifiziert in Titan=Apoll=Sol).955 Sil. 14,588 entstellte die Jahreszeit des Herbstes : Die explizite Nennung des Herbstes knüpft an Vergil (Georg. 3,479) an, der in der für Seu- chen typischen Jahreszeit die Ursache für die Aktualisierung des Krankheitspotenzials sah.956951 Auch Spaltenstein (1990, 330f.) schließt eine Verbindung der Ausdrücke nicht aus. Zur semantischen Überschneidung von labor und morbus vgl. Lumpe, TLL VII,2 (1970), s.v. labor , 792, 64.
952 Zur Redundanz vgl. Spaltenstein (1990), 331. Ansonsten wird die Unterwelt von Silius ausgeklam-mert. Diese Beschränkung kann wie bei Lucan durch den Gesamtzusammenhang erklärt werden: Am Ende des 13. Buches befindet sich die Totenbeschwörung Scipios im Anschluss an die literari-sche Tradition (vgl. Ahl 2010), sodass der Einbezug der Unterwelt im Folgenden nicht nur sachlich, sondern auch kompositorisch fern liegen musste.
953 Den Mythos, nach dem Cyane Plutos Raub der Proserpina zu verhindern sucht und aufgrund ihres Misserfolgs in Tränen zerfließt, beschreibt Ovid (Met. 5,409–437); vgl. dazu Krebs (2021), 343f.
954 Vgl. mit Seibert (1983, 80–85) Thuc. 7,47,2 und Diodorus Siculus 14,70,5, daneben Liv. 25,26,7 ( locis natura gravibus ), ungenau daher Breitwieser (2018), 143.
955 Damit reiht sich die Darstellung in die Vorstellungswelt der Rezipienten ein, vgl. die bekannte Be-schreibung bei Varro rust. 2,5,14 mit Leven (1998), 157.
956 Ebenso möglich ist eine Bezugnahme auf Liv. 25,26,7 nam tempore autumni et locis natura gravibus .
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Silius hingegen beschreibt den Herbst für sich genommen als positiv, da er reich an Gaben ist. Diese werden jedoch durch die verpestete Luft, die durch die Hitze aus den Sümpfen hinü- berzieht, entstellt und unbrauchbar gemacht ( foedavit ).957 Hierdurch kann Silius neben Vergil auch an Seneca anknüpfen, bei dem das Leiden der Natur selbst eine größere Rolle gespielt hatte, und verzichtet darauf, die allgemeine Vorstellung des Herbstes als Krankheitsmonat aufzugreifen (vgl. Anm. 302, S. 169).958 Sil. 14,589 so schnell wie ein Blitz : Das Genitivattribut ( fulminis ) zum instrumentalen Ablativ ( rapido igni ) wurde an dieser Stelle als Adjektiversatz (‚blitzartig‘) aufgefasst, sodass es als Vergleichsebene zum Entzünden des Herbstes dient.959 Eine interessante Parallele findet sich in der Beschreibung der Belage- rung von Syrakus, wenn der römische Soldat Cimber eine Fackel auf einen Turm wirft, der als technisches Meisterwerk beinahe wie ein Organismus wirkt. Auch an dieser Stelle nutzt Silius den Vergleich der Schnelligkeit des Blitzes, um den Einsturz und die Einäscherung des Turmes zu versinnbildlichen, wohlgemerkt in Form eines direkten Vergleichs.960
957 Eine nicht nur konzeptuelle, sondern sprachliche Parallele sieht Vallillee (1960, 172) zu Sen. Oed. 154–158.
958 Bemerkenswert ist vor diesem Hintergrund auch eine Formulierung bei Vegetius (mil. 3,2,12): Si au- tumnali aestivoque tempore diutius in isdem locis militum multitudo consistat, ex contagione aqua- rum et odoris ipsius foeditate vitiatis haustibus et aere corrupto perniciosissimus nascitur morbus, qui prohiberi non potest nisi frequenti mutatione castrorum . (‚Wenn die Soldatentruppe zur Herbst- oder Sommerzeit länger am selben Ort Halt macht, entsteht aus der Verderbnis der Gewässer, aus der Scheußlichkeit ihres Gestanks, aus der Tatsache, dass jene das krankmachende Wasser trinken, und aus der vergifteten Luft eine sehr gefährliche Krankheit, die man nur verhindern kann, indem man den Lagerplatz häufig wechselt.‘)
959 Vgl. LHS II 64, anders Spaltenstein (1990), 331, der fulmen als Metapher auffasst.
960 Sil. 14,305–315: huic procul ardentem iaculatus lampada Cimber | conicit et lateri telum exitiabile figit. | pascitur adiutu<s> Vulcanus turbine venti, | gliscentemque trahens turris per viscera labem | perque altam molem et totiens nascentia tecta | scandit ovans rapidusque vorat crepitantia flammis | ro<bo>ra et, ingenti simul exundante vapore | ad caelum, victor nutantia culmina lambit. | implentur fumo et nebula caliginis atrae, | nec cuiquam evasisse datur, ceu fulminis ictu | correptae rapido in cineres abi<e>re ruinae. (‚In diesen Turm schleuderte von weitem Cimber eine brennende Fackel und durchbohrte seine Flanke mit dem tödlichen Geschoss. Vulkan (=Feuer) frisst sich hindurch, unter-stützt vom Wehen des Windes, und zieht das wachsende Unheil durch die Eingeweide des Turms, erklimmt jubelnd das hohe Ungetüm und die immer von Neuem auftauchenden Stockwerke; in Eile verschlingt er mit seinen Flammen das knackende Eichenholz und er züngelt unter gewaltigem Aus-stoß von Qualm in den Himmel siegreich über das schwankende Dach. Dieses füllt er mit Rauch und schwarzem Nebeldunst und niemand erhält die Gelegenheit zur Flucht – wie von einem schnellen Blitz getroffen stürzte der Turm zu Asche zusammen.‘)
321
Sil. 14,590 Die Luft war dunkel durch dichte Nebelschwaden : Nach der ortsbezogenen Angabe der Erwärmung der Sümpfe im Gebiet des Cyane und der dar- aus resultierenden Verpestung der Luft folgt eine allgemeine Beschreibung derselben. Silius spricht als einziger der Dichter explizit von Nebel,961 der sich in der Luft bildet, wenngleich die Dunkelheit in der Naturbeschreibung Senecas eine bedeutende Rolle spielte (vgl. oben Komm. zu Sen. Oed. 1–5). Im Erzählzusammenhang gewinnt der Nebel ähnlich ominösen Charakter wie bereits im Oedipus : Seneca hatte zuvor in seinen Naturales Quaestiones geschrieben, Sonne und Wärme ver- trieben Nebel,962 weshalb es plausibel erscheint, dass der trotz der großen Hitze auftretende Nebel den Rezipienten die Widernatürlichkeit der göttlich verursachten Pest vor Augen führen sollte. Sil. 14,591 die glühende Erde bekam auf ihrem erkrankten Rücken Risse : Die Konzeptionalisierung der Erde mittels menschlicher Körperteile hat Silius bereits bei der geographischen Beschreibung Siziliens zu Beginn des Buches angewandt.963 Vor dem Hin- tergrund der Motivtradition wirkt eine Erkrankung der Erde wie eine Reminiszenz an die kos- mische Sympathie, die insbesondere im Zusammenhang mit Senecas Schilderung beobachtet worden ist. Die Vorlage für dieses konkrete Bild scheint jedoch nicht bei Seneca, sondern bei Ovid zu liegen, dessen Boden als vermeintlich kühlendes Element durch die Erkrankten eben- falls zu glühen ( fervet ) begann (vgl. Anm. 593, S. 236). Sil. 14,592 gab … weder irgendeine Nahrung noch irgendeinen Schatten : Dass die Erde den geschwächten Kranken keinen Schatten spendet ist eine implizite Aus- drucksweise für das ausbleibende Wachstum von Bäumen, die einen solchen Schatten spenden können, wodurch sich eine Parallele zu Seneca ergibt.964 Die Unfruchtbarkeit der Erde war bereits Element vieler Darstellungen und erhob stets hohe Ansprüche an das zeitliche Vorstel-961 Nur Lucan. 6,91f. hatte die dunkle Wolke, die sich aus den Pferdekadavern erhoben hat, mit dem Hauch von den nebelbedeckten Felsen ( nebulosis saxis ) auf Nesis verglichen. Bruère (1959), 239 und Vallillee (1960), 170 sehen Ovid (Met. 7, 528–532) als Vorlage.
962 Sen. nat. 5,9,5 Etiamnunc natura calor omnis abigit nebulas et a se repellit; ergo sol quoque idem facit. (‚Ferner vertreibt von Natur aus jede Hitze Nebel und stößt ihn von sich; also tut auch die Sonne dassel-be.‘)
963 Sil. 14,76–78 at qua diversi lateris frons tertia terrae | vergit in Italiam prolato ad litora dorso , | celsus harenosa tollit se mole Pelorus. Hierbei mag es sich um einen Einfluss römischer Geographie han-deln, die nicht nur Teile des menschlichen Körpers, sondern auch Formen von Gegenständen ver-wendete, um Inseln zu beschreiben, vgl. Borca (2000). Zu Silius’ großem Interesse an der Geographie vgl. v. Albrecht (32012), 813.
964 Sen. Oed. 154f. Non silva sua decorata coma | fundit opacis montibus umbras . (‚Nicht übergoss der Wald mit seiner Blätter Zier die Berge mit dunklem Schatten.‘)
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung lungsvermögen der Rezipienten; die größte Ähnlichkeit im Ausdruck scheint mit der kleineren Seuchenbeschreibung im dritten Buch von Vergils Aeneis zu bestehen.965 Sil. 14,593 schwarzer Dampf entwich im pechschwarzen Äther : An dieser Stelle findet sich der einzige Hinweis darauf, dass Silius womöglich auch die Be- schreibung des Grattius (Gratt. 375f.) kannte und als Vorlage verwendet hat: atque ater picea vapor expirabat in aethra . seu vitium ex alto spiratque vaporibus aether pestiferis.
… schwarzer Dampf entwich im pechschwarzen
Äther.
… oder dass die Krankheit aus der Höhe stammt und der Aether seuchenbringende Dämpfe aus-dünstet. Das Attribut pestifer wird weiter unten aufgegriffen (vgl. Anm. 997, S. 328). Über die sprach- liche und inhaltliche Anspielung hinaus scheint keine tiefere Referenz vorzuliegen. Denkbar ist höchstens, dass der Dichter an dieser Stelle eine Ablehnung der bei Grattius anempfohlenen Abkehr von der Ätiologie vornimmt. Sil. 14,594b–597 als erste … Bald … Daraufhin … Dann : Es ist auffällig, in wie rascher Aufeinanderfolge Silius den Tod der Tiere beschreibt, nur um schließlich zur Ansteckung der Menschen zu gelangen. Gerade mit Blick auf die Beschreibun- gen von Ovid und Lucan, die jeweils die Tierkadaver nutzten, um die Verbreitung der Krank- heit zu begründen, erscheint diese labes Tartarea bei Silius als selbstständige und lebendige Entität, was auch durch die Fortbewegungsart des Kriechens ( serpere ) unterstrichen wird.966 Diese Art der Darstellung dürfte nicht zuletzt ein Mittel gewesen sein, um Spannung zu erzeu- gen, und steht damit in deutlichem Gegensatz zu der von Grimm für den historischen Typus behaupteten „nüchterne[n] Registrierarbeit“.967
965 Vgl. (mit Vallillee 1960, 168) Verg. Aen. 3,142 arebant herbae et victum seges aegra negabat . (‚… das Gras brannte und die erkrankte Saat versagte uns die Nahrung.‘). Bemerkenswert ist auch die Be-zeichnung der seges als aegra , was bei Silius durchaus im vitiato dorso eine Entsprechung gefunden haben mag.
966 Vgl. Verg. georg. 3,468f.: continuo culpam ferro compesce, priusquam | dira per incautum serpant contagia vulgus. (‚… diesen Krankheitsherd unterdrücke sofort mit dem Stahl, bevor sich die unheil-volle Ansteckung durch deine nichtsahnende Herde schlängelt .‘)
967 Grimm (1965), 228.
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Sil. 14,594 Ihre Macht spürten als erste die Hunde : Zur besonderen Rolle der Hunde, die in der Motivtradition damit einhergeht, dass sie zu- meist als erste sterben, vgl. Komm. zu Lucr. 6,1222b–1224.968 Sil. 14,594 nubibus atris: Otto Zwierlein schlug in einer Miszelle vor, anstelle des überlieferten atris müsse altis ge- lesen werden. Dies begründete er zum einen mit dem Referenztext der Georgica (3,546f.), zum anderen aufgrund der nach der Korrektur gelungeneren gedanklichen Abfolge; die Verschrei- bung wurde u. a. durch das Textumfeld ( ater , aethra ) begründet und Parallelen wurden auf- gezeigt.969 Nun zeigt sich Silius aber an gerade dieser Stelle in seiner Formulierung fast voll- ständig unabhängig sowohl von Lukrez, der in seiner Schilderung zum Avernersee (6,743f.) ebenfalls ein Vorbild geliefert hätte, als auch von Vergil selbst.970 Weiterhin lässt sich die von Zwierlein postulierte Polarität (Luft, Erde, Äther) nicht konsequent auf die Tiere (Erde, Luft, Erde) anwenden;971 stattdessen macht es den Eindruck, als wäre hier die bei Vergil beobachtete Gliederung nach Weltteilen (vgl. oben Komm. zur Stelle) in den Nachfolger projiziert worden. Die vielleicht anstößige Wiederholung von atris ist in der Sache begründet: Wurde vorher von der Ursache gesprochen, nämlich der Ausdünstung der Erde, die zur Bildung von schwarzem Dampf führte, wird dies in der Folge (logisch stringent und doch durch nubibus variiert) wie- der aufgegriffen. Aus diesen Gründen wurde an der Überlieferung nubibus atris festgehalten. Sil. 14,598 eiskalter Schweiß strömte aus dem Innern des Körpers : Bei diesem Symptom ergeben sich zwei Fragen, nämlich hinsichtlich seiner Stellung im Ka- talog und der Übersetzung des Ausdrucks per viscera . Während (erneut gemäß dem Katalog-968 Für den Humanisten Claudius Dausqueius Sanctomarius (1618, 633) erklärt sich das Hundesterben mit ihrem spezifischen Verhalten: „Est et in canibus peculiaris ratio, quia narem mergunt odoribus, et auram vitiatam uberius sibi inspirant“ (‚Es gibt für die Hunde eine eigene Erklärung, nämlich dass sie sich mit ihrer Nase in Gerüche stürzen und die vergiftete Luft in größerem Maße einatmen‘), s. außerdem die Diskussion bei Nardi (1647), 580f. Zur möglichen Inspiration dieser Vorstellung durch geogenetische Gasseen vgl. Anm. 337, S. 175.
969 Vgl. Zwierlein (1978), 62. Die Änderung wurde in der Teubneriana von Josef Delz im textkritischen Apparat unterstützt.
970 Die Unabhängigkeit in der Formulierung kann dennoch nicht über die Überschneidung in der Sache hinwegtäuschen: Beide Dichter beschreiben einen plötzlichen Tod der Vögel. Spaltensteins (1990, 332) Differenzierung in die Ansteckung in der Luft und den Kollaps verkennt, dass ein plötzlicher Tod bereits Teil der Tradition ist.
971 In der Reihenfolge folgt Silius eher Ovid (Met. 7, 536f.): strage canum primo volucrumque oviumque boumque | inque feris subiti deprensa potentia morbi (‚Zuerst wurde an Leichenhaufen der Hunde , Vögel , Schafe, Rinder und an wilden Tieren die Wirkmacht der plötzlich auftretenden Krankheit ersichtlich‘), vgl. bereits Drakenborch (1717), 733 und Bruère (1959), 239.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung prinzip a capite ad calcem , vgl. Kapitel 1.5.4 2a)972 der Fortgang von der Zunge über den Hals zur Lunge nachvollziehbar erscheint, wirkt der Schweiß, der über die Glieder strömt, fehl am Platz. Möglicherweise wurde die Aufnahme des Symptoms von Lukrez (6,1147 sudabant etiam fauces ) inspiriert, wo der Prozess des Schwitzens jedoch als Analogie Verwendung fand. Zu jener Stelle wurde bereits Theophrasts Theorie zu unterschiedlichen Formen von Schweiß er- läutert (vgl. Anm. 108, S. 128), die auch den Ausdruck per viscera erläutern kann – es handelt sich um den Schweiß, der aus dem Inneren des Körpers (durch die Eingeweide) nach außen tritt.973 Bei der Temperatur des Schweißes handelt es sich um eine Steigerung von Vergil, der durch einen Zusatz erklärt hatte, dass es jener kalte Schweiß ist, der den Tod ankündigt (vgl. oben Komm. zu Georg. 3,500–502).974 Sil. 14,600 verschriebenen Speisen /iussorum … ciborum: Um diesen Vers besteht sowohl in Fragen der Semantik der Satzbestandteile, der Syntax als auch der Textkonstitution Uneinigkeit. Die Notwendigkeit von Konjekturvorschlägen, welche die Konstruktion des AcI umzudrehen gedenken, wird mir auch nach mehrmaliger Prüfung nicht ersichtlich.975 Die trockenen Hälse sind problemlos als Subjekt aufzufassen, descendere kann absolut stehen und die Objektperiphrase alimenta ciborum iussorum er- scheint ebenso unproblematisch.976 War die Überlieferung akzeptiert, regten sich dennoch Unsicherheiten hinsichtlich der Bedeutung des iussorum . Bei Celsus ist eindeutig belegt, dass die Empfehlungen des Behandelnden mit iubere ausgedrückt werden, obwohl sich das Partizip nicht nachweisen lässt;977 das Tätigkeitsfeld von Militärärzten unterschied sich in Friedenszeiten nicht von dem normaler Ärzte und auch eine Behandlung von Wunden
972 Unter Berücksichtigung von Sil. 2,461–474, wo Silius die Symptome einer Krankheit in Sagunt voll-kommen losgelöst von diesem Gliederungsschema beschreibt, kann dessen Verwendung an dieser Stelle ebenfalls als Markierung der Bezugnahme auf die Tradition gesehen werden.
973 Vgl. ebenso Spaltenstein (1990), 332.
974 Vallillee (1960), 167 stellt außerdem Lucr. 6,1172 und Sen. Oed. 37 neben Silius, die jedoch lediglich lexikalische Überschneidung aufweisen.
975 Vgl. etwa Watt (1997–98), 154, der mit Drakenborch siccae zu siccas und iussorum zu haustorum ändert.
976 Vgl. Vetter, TLL V,1 (1911), s.v. descendo , 642,2ff. Ob es sich dabei um eine ‚banale‘ Ausdrucksweise handelt (so Spaltenstein 1990, 332), mögen andere beurteilen – ästhetisches Unbehagen bildet jedoch keine zureichende Grundlage für einen textkritischen Eingriff.
977 Vgl. Cels. 6,11,4 Sed inprimis nutrix cogenda est exerceri et ambulationibus, et iis operibus, quae superiores partes movent: mittenda in balneum, iubenda que ibi calida aqua mammas perfundere. (‚Aber insbesondere die Amme muss man dazu zwingen, sich sowohl durch Spaziergänge zu be-tätigen als auch durch Aktivitäten, die ihren Oberkörper in Bewegung bringen: Man soll sie ins Bad schicken und sie dazu anhalten , dort warmes Wasser über ihre Brüste zu gießen.‘), daneben 7,14,6 und 7,26,2c.
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schloss wohl die Verabreichung bestimmter Nahrungsmittel ein.978 Der explizite Verweis auf eine diätetische Maßnahme ist in der Motivtradition einzigartig, wenngleich in der Be- sprechung von Vergils Georgica (vgl. Komm. zu 3,527–30) eine Bezugnahme auf die Diätetik festzustellen war. In Anbetracht von Silius’ intensiver Vergilrezeption überrascht das Ele- ment daher nicht. Dass die Erkrankten nicht in der Lage sind, das Essen hinunterzuschlu- cken, kann (neben einer Rezeption von Lucr. 6,1148) eine Bezugnahme auf die Hungersnot bei Lucan sein, bei der die Caesarianer sich durch ihre ungewöhnliche Kost die Hälse von innen zerschneiden.979 Sil. 14,601 erschütterte die Lunge (pulmonem): An dieser Stelle findet sich die erste und damit einzige Nennung des Ausdrucks pulmo in der Motivtradition; entsprechend wird nur hier expliziert, dass die Lunge als für die Atmung zuständiges Organ angesehen wird.980 Dies ergibt sich zum einen durch die Verknüpfung mit dem Husten, zum anderen dadurch, dass der Symptomkatalog erneut a capite ad calcem (Zun- ge, Hals, Lunge) vorgeht, jedoch mit dem Atem den Weg aus der Lunge zurück bis zum Mund nimmt und danach wieder im Gesicht verweilt. Der Begriff wird in den Epen der Vorgänger (Vergil: 2, Ovid: 3, Lucan: 4) selten und beinahe ausschließlich in Schlachten zur Illustration von Verletzungen verwendet.981 Sil. 14,603 das als unangenehm empfundene Tageslicht : Die Lichtempfindlichkeit der Erkrankten ist in dieser Form ein neues Symptom in der Tra- dition, wenngleich bspw. die Rötung bei Lukrez (6,1146) oder das Brennen bei Vergil (3,505)978 Vgl. Wilmanns (1995), 125–128, Salazar (2013), 304 und Steger (2021), 357–360. Aussagekräftig ist Veg. mil. 3,2,6 (nach Einnahme schlechten Wassers): Iam vero ut hoc casu aegri contubernales opor- tunis cibis reficiantur ac medicorum arte curentur , principiorum tribunorumque et ipsius comi- tis, qui maiorem sustinet potestatem, iugis quaeritur diligentia. (‚Ferner bedarf es dafür, dass die nach einem solchen Fall erkrankten Kameraden durch gesundheitsfördernde Speisen gestärkt und durch die Heilkunst behandelt werden, der beständigen Sorgfalt der Anführer, der Tribunen und des Gruppenführers.‘)
979 Lucan. 6,115–117 quaeque per abrasas utero demittere fauces, | plurimaque humanis ante hoc incog- nita mensis | diripiens miles … (‚… was sie durch die aufgerissenen Hälse in den Magen herunter-bekommen – der Großteil war auf den Tischen der Menschen bis zu diesem Zeitpunkt unbekannt – reißen die Soldaten an sich …‘). Danach ist die Absolutheit von Vallillees (1960, 173) Aussage, eine Rezeption Lucans sei bei Silius nicht nachzuweisen, zumindest in Frage zu stellen, vgl. auch Spalten-stein (1990), 332.
980 Illustrativ ist ein Vergleich mit Verg. georg. 3,505f., den Spaltenstein (1990), 332 gar als Vorlage an-sieht.
981 So auch in Sil. 5,257 und 10,162.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung sie vorbereitet haben düfte.982 Möglicherweise hatte die Unfähigkeit, Licht zu ertragen, medizi- nische Implikationen. In seiner Abhandlung über die Krankheit insania schildert Celsus eine Diskussion, ob die Erkrankten dem Licht ausgesetzt werden sollten oder nicht:983 Nun hielten die Alten solche Kranken in der Regel deshalb in der Dunkelheit, weil es ihnen schadete, sich zu erschrecken, und weil sie meinten, gerade die Dunkelheit trage etwas zur Beruhigung des Gemüts bei. Aber Asklepiades sagte, als würde die Dunkel-heit selbst die Kranken in Schrecken versetzen, sie müssten im Hellen gehalten werden.
Nichts von beiden ist jedoch allgemeingültig: Denn den einen beunruhigt eher Licht, den anderen Dunkelheit; man findet auch solche, bei denen sich kein Unterschied in die eine oder andere Richtung feststellen lässt. Deshalb ist es das Beste, beides zu erproben und denjenigen, der sich im Dunkeln fürchtet, im Licht, und denjenigen, der sich im
Licht fürchtet, im Dunkeln zu halten. Wo aber kein solcher Unterschied besteht, muss man einen Kranken, wenn er bei Kräften ist, an einem hellen, wenn aber nicht, an einem dunklen Ort halten. Entscheidend ist an dieser Stelle der letzte Satz, da er nach der Diskussion um psychische Kon- sequenzen Licht und Schatten eine grundsätzliche Wirkung zuzuschreiben scheint. Sollte man beim Erkrankten keinen Unterschied feststellen, formuliert Celsus die Regel, dass der Ent- kräftete ( si non [ vires ] habet ) in der Dunkelheit behalten werden soll, die offenbar im Zweifel bei Schwäche vorzuziehen war.984 Die Unerträglichkeit des Lichtes kann demnach ein Indiz für den jetzigen oder künftigen Zustand des Kranken darstellen.
982 Vallillees (1960, 169) Idee, hier werde die Sterbeszene des Stiers aus Verg. georg. 3,523 aufgegriffen, ist nicht naheliegend.
983 Cels. 3,18,5: Fere vero antiqui tales aegros in tenebris habebant, eo quod is contrarium esset exterreri, et ad quietem animi tenebras ipsas conferre aliquid iudicabant. At Asclepiades, tamquam tenebris ipsis terrentibus, in lumine habendos eos dixit. Neutrum autem perpetuum est: alium enim lux, alium tenebrae magis turbant; reperiunturque, in quibus nullum discrimen deprehendi vel hoc vel illo modo possit. Optimum itaque est utrumque experiri, et habere eum, qui tenebras horret, in luce, eum qui lucem, in tenebris. At ubi nullum tale discrimen est, aeger, si vires habet, loco lucido; si non habet, obscuro continendus est.
984 Eine Parallele findet dieses Vorgehen laut Veg. mul. 2,95 in der Behandlung der Hydrophobie bei Pferden: Cui hac ratione succurres: sanguinem ei de inferioribus detrahes et a cibariis abstinebis, in loco clauso ut lumen videre non possit constitues , magno silentio aquam in situla vel alveo ita ap- ponis, ne audiat sonitum. Zur Parallele von Hydrophobie und Wahnsinn beim Menschen vgl. May (2014), 120.
327
Sil. 14,606f. Den ausgezeichneten Krieger … raffte der Tod in Untätigkeit dahin : Mit dem ausgezeichneten Krieger tritt (neben Marcellus) der einzige Personentypus unter den sterbenden Massen hervor.985 In ihm wurde in erster Linie die Szene des Pferdes verarbei- tet, das ausschließlich bei Lucan. 6,84 als belliger sonipes mit dem Krieg verbunden wurde. Hinsichtlich der Motivelemente scheinen jedoch eher Vergil und Ovid als Vorbilder gedient zu haben.986 Auffällig ist dabei, dass die szenische Gestaltung bei Silius nur bedingt wieder aufgegriffen wird, da insbesondere die Inszenierung des gewaltsamen Sterbens ausgespart wird.987 Pferd und Krieger verbindet der starke Kontrast zwischen den Errungenschaften der Vergangenheit, der damit verbundenen Tatkraft und der durch die Krankheit hervorgerufe- nen Situation, die nur einen Tod in Untätigkeit zulässt.988 Diese Todesart steht in besonderem Spannungsverhältnis dazu, dass der Krieger bereits kampfbereit ist; die Rüstung ( arma ), die er trägt, ist dabei aber nicht nur Signal seiner Kampfbereitschaft, sondern auch kennzeichnend dafür, dass nichts vor der Krankheit zu schützen vermag.989 Die Unwürdigkeit des Sterbens durch die Pest wird nach ihrer Überwindung erneut aufgegriffen, wenn die Soldaten mit Freu- de in den Kampf ziehen, um in der Schlacht zu sterben – ihre Kameraden, die unehrenhaft dahinsiechten, werden bemitleidet.990985 Bezeichnenderweise wird der bellator im Gegensatz zu den anderen Personentypen der Tradition (vgl. Anm. 411, S. 193) ausschließlich durch seine Leistungen im Krieg charakterisiert, ohne dass weiter auf seinen inneren Zustand hingewiesen würde. Hierdurch lässt sich auch eine Verbindung zu dem bereits in Lucr. 6,1245 beobachteten gestörten Tun-Ergehen-Zusammenhang ziehen.
986 Vgl. Gardner (2019), 230f.
987 Vor dem Hintergrund, dass Silius eigentlich „rich in the grotesque and ingenious treatment of de-ath“ (Hutchinson 1993, 289) ist, können hierfür zwei Gründe angeführt werden: Erstens wurde das Sterben der Menschen bereits unmittelbar vorher ausgemalt, sodass eine gewisse Eintönigkeit droh-te. Zweitens liegt der Schwerpunkt nun eindeutig auf der Entwertung der Verdienste und des Kriegs-ruhms, den Silius damit unterstrich.
988 Dass Silius an die Stelle von Ovids (Met. 7,544) letum iners ein letum ignavum gesetzt hat, weist eine chiastische Vorgehensweise zu Lucan auf, der die ignavos aestus bei Ovid (7,529) zum caelum iners verändert hat (vgl. oben Komm. zu Lucan. 6,89f.).
989 War bereits auf die Kriegsmetaphorik insbesondere im Zusammenhang der Beschreibung medizi-nischer Behandlungsversuche hingewiesen worden (s. Komm. zu 14,609), steht an dieser Stelle ein Soldat der Krankheit gegenüber und trägt das Bild auf die Handlungsebene.
990 Vgl. Sil. 14,627–634. In der Vorlage bei Livius (25,26,11) führt der Wunsch nach dem Tod in der Schlacht sogar dazu, dass die Soldaten vereinzelt unter die Feinde stürmen. Silius greift diesen As-pekt jedoch nicht auf, wenngleich damit eine Parallele zum Motivelement der Selbsttötung (Lukrez, Ovid, Seneca) hätte hergestellt werden können. Bei Diodorus Siculus (14,71,3) findet sich Neid auf den Schlachtentod aufgrund der großen Schmerzen der Erkrankten. Interessant ist auch ein Ver-gleich der Soldaten mit den Meuterern bei Lucan, die darum bitten, dass es ihnen erlaubt sei, im Alter an Krankheiten zu sterben (Lucan. 5,282 liceat morbis finire senectam ) – eine bewusste Verkehrung epischen Heldentums. Schließlich ist noch auf Parallelen in der Darstellung der Erkrankten und von Soldaten in der Schlacht hinzuweisen, vgl. Erbig (1931), 60f.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Sil. 14,607f. Ins Feuer geschleudert wurden die Abzeichen der Männer : Spaltenstein deutet das Verbrennen der militärischen Abzeichen (vermutlich torques , armilla , phalerae o.Ä.)991 als Mittel zur Verdeutlichung der Unwürdigkeit des Todes.992 Darüber hinaus ist das Handeln der Soldaten jedoch als Ausdruck einer Relativierung bisheriger Wertungsmaßstäbe und Hierarchien zu verstehen, wie oben auch in der Be- schreibung des Soldaten deutlich wurde: Ebenso wie die Rüstung keinen Schutz gegen die Krankheit gewährte, kann kein Verdienst davor bewahren. Vor diesem Hintergrund gewinnt superba neben der Bedeutung des Stolzes auch die des Übermuts, da im Ange- sicht der Krankheit ein Spannungsverhältnis zwischen der vermeintlichen Bedeutung der Abzeichen (und damit des militärischen Erfolgs) und ihrer tatsächlichen Nichtigkeit ent- steht.993 Sil. 14,609 Die Medizin ging vor dem Übel in die Knie : Die Personifikation der Medizin teilt Silius mit Lukrez (6,1179), wählt mit succubuit jedoch ein Bild der Unterlegenheit, das auch im militärischen Zusammenhang Verwendung findet.994 Mit der gedanklichen Abfolge ‚Scheitern der Medizin – Verfall des Bestattungsritus‘ schließt Si- lius an Manilius (1,887–890) an.995 Insgesamt reiht sich der Dichter nahtlos in die Tradition ein, indem im Scheitern der Medizin eine Grundvoraussetzung dafür gesehen wird, dass Mensch und Gesellschaft kein Mittel mehr zur Verfügung steht, um der Krankheit zu begegnen. Bei Silius ist das Massensterben die Folge, ohne jedoch die Drastik Lucans aufzugreifen, der die Sol- daten Kranke und Leichname aus den Zelten werfen ließ (Lucan. 6,103 spargere funus erat ).996 991 Vgl. Maxfield (1981), 86–95.
992 Vgl. Spaltenstein (1990), 332.
993 Dass es sich bei dem Verbrennen der Abzeichen um einen symbolischen Akt handelt, wird auch durch einen Vergleich mit der Belagerung von Sagunt deutlich (2,600–608), wo dessen Einwohner all ihre Habseligkeiten (inklusive ihrer Waffen) auf einem großen Scheiterhaufen verbrennen, weil Iuno mit Tisiphone den Wahnsinn in die Stadt gebracht hat. Nichtsdestoweniger begründet Silius das Vorgehen der Menschen damit, dass dem Feind nichts in die Hände fallen solle.
994 Vgl. OLD s.v. succumbo (3a), 1858. Damit erinnert die Szenerie an das Schlagen einer Schlacht zwischen Krankheit und Medizin, wie es bereits für Thukydides und Ovid beobachtet wurde (vgl. Anm. 535, S. 223).
995 Bemerkenswert ist auch die Parallele im Bild zu Manil. 4,73–76, in denen es um die Unberechenbar-keit von Krankheiten geht: ecce levis perimit morbus graviorque remittit; | succumbunt artes (‚am Boden sind die Künste‘) , rationis vincitur usus, | cura nocet, cessare iuvat, mora saepe malorum | dat pausas; laeduntque cibi parcuntque venena ,vgl. dazu auch Lühr (1969), 129f. Der Gedanke der Un-berechenbarkeit von Krankheiten und der daraus resultierenden Machtlosigkeit der Medizin findet sich bereits bei Solon (frg. 13, 57–62 2West) und noch bei Prokop (Pers. 2,22,32–34).
996 Vgl. Spaltenstein (1990), 333.
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Sil. 14,609b–612 Hoch häuften … die Krankheit übertrugen : In vier Versen skizziert Silius zwei mögliche Reaktionen der Soldaten, indem er die jewei- ligen Resultate ihrer Handlungen zeichnet: Auf der einen Seite stehen in Entsprechung zu den stets höher werdenden Leichentürmen riesige Haufen von Asche, wenn die Soldaten sich dazu entscheiden, ihre Kameraden zu verbrennen und zu bestatten. Auf der anderen Seite sieht man unbestattete Leichname, wie sie in allen Beschreibungen als Indiz des Werteverfalls Verwendung gefunden haben. Ein wichtiger Unterschied zu den Vorgängern besteht in der Explizierung des Wissens um die Ansteckung: War bereits in der Beschreibung des Thuky- dides deutlich geworden, dass die Athener die Erkrankten mieden und ein Erfahrungswissen hinsichtlich der Ansteckungsgefahr bezeugten (vgl. Kapitel 1.5.3), wird an dieser Stelle zum ersten und einzigen Mal in der Motivtradition geäußert, dass die Bestattungen aufgrund der Furcht vor Ansteckung über Berührung unterbleiben.997 Das Wissen um die Ansteckung, das bislang tendenziell auf der Ebene des Erzählers verblieb, wird demnach in die Handlungsträ- ger verlegt.998 Das Interesse des Dichters liegt dabei weniger in der Darstellung medizinischen Wissens als in der Zeichnung der Psychologie der Soldaten, die auch im Anschluss an die Pest breiten Raum einnimmt (vgl. Komm. zu 14,580–584). Sil. 14,613 Das Unheil des Acheron … wuchs mit seiner Nahrung : Die Vorstellung, dass die Pest mit der Zeit und ihren Opfern wächst, wurde von Vergil (Georg. 3,552f.) durch Tisiphone begründet, die ihr Haupt höher und höher in die Luft empor- hebt. Das Element dient hier nicht dazu, innerhalb des römischen Lagers das Sterben noch zu vergrößern (wie etwa bei Lucan. 6,100f.), sondern der zusätzlichen Begründung der Aus- breitung der Krankheit, die eine wichtige Voraussetzung für die sich anschließende Gleich- heit beider Seiten bildet. Dabei tritt die Eigendynamik der Krankheit im Vergleich mit Ovid oder Lucan, bei denen die Ausbreitung im Zusammenhang mit der Verwesung von Tierka- davern stand, deutlich hervor. Die Fortbewegungsform der sich ausbreitenden Krankheit, das Kriechen ( serpere ), weckt nach 14,596 erneut die Assoziation einer Schlange ( serpens , vgl. Anm. 555, S. 228) und damit verbunden den Gedanken an eine unberechenbare Bedrohung, die erst dann sichtbar wird, wenn es zu spät ist. Die Wahl desselben Verbums ( serpere ) zeugt dabei nicht nur von einer einheitlichen Vorstellung, sondern suggeriert neben der gleichen Be- troffenheit der Parteien auch eine gleiche Abfolge des Geschehens.997 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Verwendung des Attributs pestifer , das sich in der Motivtradition außer bei Silius nur bei Gratt. 376 findet, der bereits oben (Komm. zu 14,593) als mögliche Quelle aufgezeigt wurde.
998 Wohl zu weit geht daher Harper (2017, 109), wenn er von einer Gesellschaft spricht, der „no prior social learning“ in Hinsicht auf Seuchenbewältigung zuteilwurde.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Sil. 14,614–617 erschütterte die Mauern … dasselbe Antlitz des Todes : Die auffällige Betonung der gleichen Betroffenheit von Römern, Syrakusanern und Kartha- gern hat Burck zusammen mit anderen Abweichungen zu der Annahme verleitet, dass Silius an dieser Stelle nicht Livius zugrundegelegt haben kann, in dessen Darlegung die Karthager von der Pest heftiger betroffen sind als die Römer.999 Mit Nesselrath ist jedoch eher davon aus- zugehen, dass die Abänderung der Vorlage als Ergebnis der Bezugnahme auf die Motivtradi- tion anzusehen ist:1000 Beinahe alle Vorläufer haben das Motivelement der Gleichheit der Men- schen vor dem Tod verarbeitet. Dass es Silius an der vorliegenden Stelle insbesondere darum ging, dieses Element aufzugreifen, zeigt das dafür in Kauf genommene Spannungsverhältnis zur invidia deum am Anfang der Beschreibung, die eine gleiche Betroffenheit beider Parteien durch eine Verselbstständigung der Krankheit zumindest nicht nahelegt.1001 Sil. 14,618–620 Dennoch bricht … ein einziges unversehrtes Haupt : Diese Verse sind m. E. entscheidend für das Verständnis der Seuchenbeschreibung: Sie wer- den hier als Gnome ( fregit als gnom. Perfekt daher im Präsens übersetzt) aufgefasst, die sich aus dem unmittelbaren Zusammenhang herauslösen lässt und Anspruch auf überzeitliche Gültigkeit erhebt.1002 Gardner hat in ihrer Besprechung der Stelle zu Recht betont, dass sich die Figur des Marcellus der gleichschaltenden Kraft der Pest widersetzt und als Individuum inmit- ten anonymer Leichenhaufen hervortritt.1003 Doch es geht nicht primär um die Darstellung der virtus des Marcellus1004 – seine clementia wird erst am Schluss des Buches bei der Verschonung
999 Vgl. Burck (1984), 46 und Liv. 25,26,12 multo tamen vis maior pestis Poenorum castra quam Romana <adfecerat; nam Romani> diu circumsedendo Syracusas caelo aquisque adsuerant magis . (‚Viel stär-ker aber traf die Gewalt der Pest das Lager der Punier als das der Römer; denn die Römer hatten sich durch die lange Belagerung von Syrakus in größerem Maße an Klima und Wasser gewöhnt.‘)
1000 Vgl. Nesselrath (1986), 220f., der einen weiteren Grund darin sieht, dass die Leistung der römischen Eroberer nicht dadurch geschmälert werden sollte, dass vor allem die Feinde dezimiert wurden. Spaltenstein (1990, 333) bleibt mit seiner Aussage „[l]’idée tragique de l’égalité devant le malheur aura paru à Sil. plus efficace“ allgemein.
1001 Gardners (2019, 223) Konzentration auf eine metatextuelle Bezugnahme auf Lucan in Form des ea- dem leti imago ist angesichts ihrer These verständlich, aber dennoch als selektiv einzustufen. Vgl. Vallillee (1960), 173, der im Gegenteil überhaupt keine Rezeption Lucans annimmt (was ebenso zu relativieren ist, vgl. Appendix A2).
1002 Vgl. LHS II 318f. Eine solche Doppelbödigkeit liegt angesichts der Verbindung zwischen Marcellus und dem Kaiser nah, vgl. Ripoll (1998), 460f.
1003 Vgl. Gardner (2019), 227f. Die von ihr im Folgenden getätigten Beobachtungen zur Vereinigung der Mengen unter der Leitung des caput treffen freilich ebenso für die hier vertretene Deutung zu.
1004 Burck (1984, 52–57) hat herausgearbeitet, dass bei der Einnahme der Stadt sogar eher die Soldaten mit Rückgriff auf die Seuchenbeschreibung in den Blick genommen werden als ihr Anführer.
331
von Syrakus in Szene gesetzt.1005 Vielmehr liegt der Schwerpunkt auf dem Verhältnis des Kol- lektivs zum leitenden Individuum und der Feststellung, dass die Römer auch in größter Not durchzuhalten vermögen, solange ihr Kaiser unversehrt an der Spitze des Staates steht.1006 Die Äußerung ist insbesondere im Vergleich mit den Beschreibungen Ovids und Senecas bemer- kenswert, die in Form zweier Könige beide das Potenzial eines ähnlichen Gedankens aufwie- sen, das jedoch keine Umsetzung fand. Es handelt sich bei Silius um Herrscherpanegyrik,1007 die jedoch Grenzen kennt: Im Folgenden wird ersichtlich, dass es nicht Marcellus ist, der die Pest überwindet – wie der Fischer vom Meer abhängig ist, so kann auch jener nur günstigere Bedingungen abwarten; dennoch ist es seine Führung, die es den Römern ermöglicht, bis zur Änderung der widrigen Umstände auszuharren.1008 Sil. 14,620–622 Sobald also das Sinken des Sirius … Pest weniger ansteckend : Die Hitze des Hundssterns und die mit dem Aufgang des Sternbilds verbundenen Hunds- tage wurden bereits mehrfach im Zuge der Tradition aufgegriffen (vgl. Komm. zu Manil. 1,895 und Sen. Oed. 37–40), eine direkte Nennung des Sirius findet sich in der kleineren Seuchen- beschreibung in Vergils Aeneis .1009 Waren es bei Lucan günstige Sekundärfaktoren (Wind, Mee- resluft, Warentransporte), die den Pompeianern eine Krankheitslinderung verschafften, ist es hier die Hitze selbst, die nachlässt. Von der ursprünglichen Wirkursache, der Missgunst der Götter ( invidia divum ), ist keine Rede mehr. Anders als bei Grattius und bei Lucan ist die Überwindung der Pest nicht an die eigene Souveränität oder die Willkür der Fortuna gebun-1005 Vgl. Pomeroy (1990), 134f. und Ripoll (1998), 452–462, für unser Vorhaben insbesondere 460: „De plus, l’association seruator - conditor renvoire à la phraséologie du culte impérial: le princeps est con-sidéré à la fois comme le conservateur de l’État et comme son refondateur, à l’égal de Romulus.“
1006 Zum Haupt als politische Metapher speziell bei Silius vgl. Marks (2008) und generell zum Staat als Körper Walters (2020). Die Verbindung von Marcellus und Domitian (auch durch das Lob in 14,684–688) hat auch Stocks (2014, 161) herausgearbeitet.
1007 Möglicherweise lässt sich vor diesem Hintergrund auch die abweichende Charakterisierung des Marcellus im vierzehnten Buch erklären, die Burck (1984, 72) und Fucecchi (2010, 231) beobachtet haben. Zur kontrastreichen Konzeption von Marcellus und Claudius Nero im Moment des Sieges vgl. Ahl/Davis/Pomeroy (1986), 2536–2542.
1008 Die Bedeutung des Katastrophenmanagements der Kaiser (vgl. auch Anm. 203, S. 68) hat Toner (2013, 3) pointiert formuliert: „Disasters, whether in the form of events such as fires, floods or earth-quakes, gave emperors a tremendous opportunity to bring into operation that key Roman social force, patronage.“ Toner betont die selektive Durchführung dieser Maßnahmen, die stets im Blick behielten, welche Region sozialpolitisches Gewicht besaß.
1009 Verg. Aen. 3,140–142 linquebant dulcis animas aut aegra trahebant | corpora; tum sterilis exurere Sirius agros, | arebant herbae et victum seges aegra negabat . (‚Sie ließen ihre jungen Seelen oder schleppten ihre kranken Körper umher; da verbrannte der Hundsstern die Felder und machte sie unfruchtbar, das Gras brannte und die erkrankte Saat versagte uns die Nahrung.‘). Die Verse wurden oben bereits als Vorlage für die Unfruchtbarkeit des Bodens wahrscheinlich gemacht.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung den, sondern hängt einzig und allein vom Durchhaltevermögen der Betroffenen unter ihrem unbeschadeten Anführer ab. Der Erfolg des Unternehmens liegt demnach in den Händen des Feldherrn (Kaisers).1010 Sil. 14,623f. wie der Fischer : Das Gleichnis des Fischers, der nach dem Ende eines Sturms in See sticht, ist eines von drei- en im gesamten Werk mit grob vergleichbarer Thematik.1011 Es ist auffällig, dass der Fischer mit keinem Attribut versehen und die Affektebene ausgeklammert wird. Dadurch konzentriert sich das Gleichnis vollständig auf die Situation und das dargestellte Verhalten. Der Fischer bildet den Vergleichspunkt zu Marcellus, der den richtigen Zeitpunkt abgewartet hat, um nach der Abschwächung der Pest (~Abflauen des Sturms) den Angriff auf die Stadt zu beginnen (~in See zu stechen). Die Vergleichsebene strahlt dabei auf das Gleichnis aus, indem die Tätigkeit des Fischers mit Kriegsvokabular wiedergegeben wird ( invadit ).1012 Die Parallele zwischen Pest und Sturm besteht in erster Linie in der Machtlosigkeit des Betroffenen, der sich einer größe- ren Macht ausgeliefert sieht, aber die erste Möglichkeit zur Tat ergreift.1013 Sil. 14,625f. so bewaffnete schließlich Marcellus … dem Brauch gemäß gereinigt hatte : Bereits gegen Ende der Seuchenbeschreibung in Homers Ilias (1,314–317) gibt Agamem- non den Griechen den Auftrag, sich im Meer von der Befleckung der Pest zu reinigen. Unter der Reinigung ( lustratio ), die Marcellus durchführt, ist wohl nicht die lustratio exercitus zu verstehen, bei der vor dem Aufbruch des Heeres oder der Übernahme durch einen ande- ren Feldherrn mithilfe von Opfertieren (den sog. Suovetaurilia ) ein Kreis um das Heer ge- zogen wurde.1014 Worin genau die Reinigungsmaßnahmen bestehen, bleibt unklar. Wichtiger
1010 In diesem Prinzip sieht Harper (2017, 63) die Grundlage für den militärischen Erfolg im zweit-en Jahrhundert: „When aligned behind unified leadership, concentrated in a specific theater, and plugged securely into imperial supply lines, the Roman armies of the second century were an insu-perable force, even against the empire’s most formidable rival.“
1011 Vgl. v. Albrecht (1964), 193. Spaltenstein (1990, 333) will im Gleichnis eine Vertrautheit des Autors mit der Arbeit des Fischers entdecken.
1012 In seiner Verwendung des Ausdrucks cumba (Kahn, Nachen) für das Fischerboot kann Silius durch-aus von Sen. Oed. 166 inspiriert worden sein – es handelt sich um die einzige Verwendung des Wor-tes in den Punica .
1013 Die Konzentration auf diese Elemente lässt außer Acht, dass das Meer Voraussetzung und Hemm-nis für die Fischertätigkeit zugleich ist, was keine Entsprechung auf der Vergleichsebene findet. Es handelt sich nach v. Albrechts (1964, 116) Kategorisierung folglich um ein abstrakt-synthetisches Gleichnis.
1014 Zur Diskussion, ob es sich dabei um einen kathartischen oder apotropäischen Ritus handelt, bzw. zur Frage, ob dieses Begriffspaar an dieser Stelle nicht ohnehin einer Überarbeitung bedürfte, vgl. Rüpke (1990), 144–146; daneben von Osten (2011), 223–225, Rich (2013), 547 und Scheid (2016).
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als die religionsgeschichtliche Frage ist für das Verständnis zum einen die Betonung, dass Marcellus die Durchführung der Riten dem Brauch gemäß vornimmt ( rite ),1015 zum anderen der Umstand, dass es nicht Marcellus ist, der die Pest beseitigt: Vielmehr erweist er sich als Mensch, der sich in das Gesetz der Götter fügt und die rechten Maßnahmen zur rechten Zeit ergreift.10161015 Vgl. Spaltenstein (1990), 333f.
1016 Darin zeigt er sich erneut als Gegenbild zu Hannibal, der in seinem Kampf gegen die Götter die Hybris in Person darstellt, vgl. Tipping (2010), 63f. Für eine sehr ausführliche Literaturübersicht zu Hannibal u. a. in den Punica vgl. Siepe (2019), 23 Anm. 99.
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478 Eine aktuelle Diskussion der Überlieferungsgeschichte bietet Reeve (2016).
479 Kenney (1965), 15. Kenneys Vorschlag omni (in Verbindung mit cura est , vorher bereits von Heinsius geäußert) greift jedoch unnötig stark in den Text ein, da Baehrens’ leichte Änderung dieselbe Seman-tik ermöglicht (vgl. OLD s.v. ullus [3], 2084). Ein Einwand gegen die Konjektur könnte die Wiederho-lung von ullis in V. 372 sein. Für gleiche Versschlüsse in kurzer Abfolge vgl. Gratt. 1 und 8 ( artes ), 235 und 242 ( ferarum ), 301 und 304 ( fetae ), 333 und 337 ( armis ) sowie 505 und 511 ( illi ). Nicht aufgeführt wurden die zahlreichen Stellen, die zwar gleiche Wörter, jedoch in anderen Kasus in dichter Abfolge am Versende aufweisen. Zur Häufigkeit gleicher Versschlüsse bei Grattius vgl. bereits Kraffert (1883), 151.
480 Vgl. Formicola (1985), 158 und Catull. 76, 23–26: non iam illud quaero, contra me ut diligat illa , | aut, quod non potis est, esse pudica velit: | ipse valere opto et taetrum hunc deponere morbum. | o di, reddite mi hoc pro pietate mea!
481 Enk (1918), 104. Formicola (1985, 157f.) sieht in Enks Übersetzung Grund zur Annahme, dass curis illis als Dativ der Beziehung zu altior zu ziehen sei und schlägt selbst einen Ablativus comparationis vor; Letzterer ist jedoch auch aus Enks Paraphrase zu lesen.
482 Dies setzt voraus, dass Pithous Lesung cura est für überliefertes curas zugunsten von van Vliets curis abzulehnen ist. Die Grenzüberquerung als notwendige Voraussetzung für das Wirken der auxilia scheint sich von den vorher und nachher beschriebenen curae zu unterscheiden, vgl. zum Begriff der cura auch die Untersuchung von Hauser (1954).
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung dass vor einer wirkungsvollen Behandlung zunächst eine Grenze zwischen der Krankheit und dem Rudel liegen muss (s. Komm. zu Gratt. 378–380) – erst dann könnten die Mittel überhaupt einen Nutzen ( usus quidam ) entfalten. Mit der Lesung ullis (Baehrens) gewönne der Vers daher zusätzlich an Gewicht und zugleich wäre die von Kenney monierte sprachliche Auffälligkeit behoben. Gratt. 367f. zunächst im Verborgenen vollständig … sich erst zu spät … zeigt : Dass Krankheiten in ihren Anfängen zu behandeln sind, ist unter Ottos Überschrift prin- cipiis obsta als sprichwörtlich zu bezeichnen.483 Die Unterteilung der Krankheit in unter- schiedliche Phasen, die ihren Ursprung möglicherweise in den Fachschriften besitzt, wurde oben bereits angesprochen (s. Anm. 378, S. 185). Die Erweiterung, dass sich die Krankheit im Verborgenenan ihrem Wirt labt, hat ihre inhaltliche Vorlage vermutlich in Vergils Georgica (3,454–456):484 alitur vitium vivitque tegendo, dum medicas adhibere manus ad vulnera pastor abnegat et meliora deos sedet omina poscens.
Die Krankheit nährt sich und lebt im Verborgenen, solange der Hirte sich weigert, heilende Hände an die Wunden zu lassen, untätig herumsitzt und bessere Vorzeichen von den Göttern einfordert. Ein großer Unterschied besteht darin, dass es bei Vergil die Schuld des Hirten ist, der nach Meinung des Sprechers eine unnötige Verzögerung des medizinischen Eingriffs in Kauf nimmt, da er sein Handeln noch von der religiösen Sphäre abhängig macht.485 Bei Grattius ist
483 Vgl. Otto (1890), 287 und Ov. rem. 91f. Principiis obsta; sero medicina paratur, | cum mala per longas convaluere moras . (‚Wehret den Anfängen; zu spät wird eine Medizin bereitet, wenn das Übel durch zu lange Verzögerung erstarkt ist.‘). Daneben auch Gratt. 383–385 zur rabies : pluruma per catulos rabies invictaque tardis | praecipi<t>at letale malum: sit tutius ergo | antire auxiliis et primas vince- re causas (‚Sehr häufig und für die Säumigen nicht zu verhindern stürzt die Tollwut, das tödliche Übel, Welpen ins Verderben: Es dürfte demnach sicherer sein, mit Hilfsmaßnahmen vorzubeugen und die ersten Ursachen zu beseitigen .‘) und Verg. georg. 3,468f.: continuo culpam ferro compesce, priusquam | dira per incautum serpant contagia vulgus. (‚… diesen Krankheitsherd unterdrücke sofort mit dem Stahl, bevor sich die unheilvolle Ansteckung durch deine nichtsahnende Herde schlängelt.‘)
484 Als sprachliche Vorlage für den Dativ der Richtung kann mit Verweis auf Hey, TLL I (1904), s.v. ago , 1376, 42–44, der auch die Semantik des agere durch per corpora erläutert, Verg. georg. 3,482f. ( sed ubi ignea venis | omnibus acta sitis miseros adduxerat artus) plausibel gemacht werden; vgl. daneben Gratt. 214 Glympice, te silvis egit Boeotius Hagnon .
485 Diese Fokussierung auf die Schuld des Patienten bzw. des Verantwortlichen im Falle einer inneren Erkrankung entspricht auch der Argumentation der hippokratischen Schrift De arte , vgl. Holmes (2018), 77f.
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es die Eigenheit des Krankheitstyps, die es unmöglich macht, im Vorhinein zu reagieren, und in der Folge spezielle Maßnahmen erfordert, um reguläre Behandlungsmethoden wirksam werden zu lassen. Eine Prognostik, die als zentrale Aufgabe des Arztes in vielen hippokrati- schen Schriften genannt wird, kann angesichts des latenten Verlaufs erst dann vorgenommen werden, wenn sich die Krankheit vollständig ausgebreitet hat. Gratt. 369 Dann ist die Pest schon entfesselt / Inde emissa lues: Grattius knüpft in Ausdruck und Gedanken an Vergil an.486 Der lateinische Begriff lues um- schreibt etymologisch einen Krankheitszustand, der den Körper der Erkrankten zersetzt.487 Zuerst belegt ist lues für eine Pest in den Liedern des Priesterkollegiums der Arvalbrüder, danach in einem Nonius-Fragment der Annalen des Licinius Macer.488 Bei den von uns be- handelten Autoren tritt die Bezeichnung einer Pest als lues zuerst in Verg. Aen. 3,139 auf und wird dort sowohl mit den Menschen ( membris , 3,137)als auch mit der Flora verbunden ( ar- boribusque satisque ), weshalb es am ehesten mit Fäulnis zu übersetzen ist (s. auch den Komm. zu Georg. 3,481). Das Verhältnis zwischen der Aeneis , Grattius und der Benennung der Pest durch Ovid als dira lues ist unklar. Es bleibt festzustellen, dass Ovid zuerst als einführenden Terminus seiner Schilderung lues wählt. Eine Steigerung von Vergil und Grattius (ohne Attri- but) zu Ovid (ursachenbedingtes Attribut, s. Komm. zur Stelle) wäre denkbar, bleibt jedoch spekulativ, da die Chronologie von Ovids Metamorphosen und den Cynegetica nicht eindeutig festzustellen ist (s. Anm. 26, S. 91). Gratt. 369 morbi: Anstelle des überlieferten morbis hat Johan van Vliet morbi von Sannazaro aufgegriffen, das von Verdière, Cacciaglia und Formicola übernommen wurde. Auf der anderen Seite steht der Vorschlag mortes von Reinhard Stern, der sich daran störte, dass mit emissa lues eine erregte Rede begonnen werde, die durch den Ausdruck morbi venere verkomme.489 Zwei Argumente können für contagia morbi angeführt werden: Erstens ergibt sich eine sinnvolle gedankliche486 Vgl. Verg. georg. 3,551f. saevit et in lucem Stygiis emissa tenebris | pallida Tisiphone Morbos agit ante Metumque und den Komm. zu Gratt. 373–376.
487 Die Herleitung vom griechischen Wort λύω (auflösen) war bereits in der Antike geläufig, vgl. Paul. Fest. 89, 4: Lues est diluens usque ad nihil, tractum a Graeco λύειν. Enks (1918, 105) Erklärung, unter lues werde insbesondere der Krankheits stoff bezeichnet, bedürfte einer genauen Untersuchung und ist für die Motivtradition nicht zu belegen. Der Ausdruck ist in erster Linie dichterisch und wird schrittweise von Historikern übernommen, vgl. Pisi (1989), 46 Anm. 5.
488 Zu dem unverständlichen Fragment des Macer vgl. Cornell (2013), 676f., zu den Arvalbrüdern Nor-den (1939), 121–133 und Kruschwitz (2002), 211–220.
489 Vgl. Stern (1832), 134: „At vero in tam vivido et incitato genere dicendi augeatur pondus necesse est sequentis sententiae“; seiner Konjektur folgen Postgate, Duff, Serra und Sestili.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Abfolge nur durch morbi , da die in einem Hund herangereifte Krankheit diesen verlässt ( emis- sa ), dann zum Rest der Meute übergeht ( per contagia … venerunt ), die daraufhin stirbt ( ruit ). Durch die Konjektur mortes lieferte aequali sub labe ruit schwerlich eine neue Information. Zweitens scheint Grattius an dieser Stelle einen Passus aus Lukrez aufzugreifen, in dem jener (in Anknüpfung an Thukydides) die Ansteckung unter den Menschen mit derjenigen zwi- schen Weidevieh beschrieb.490 Insbesondere der analoge Zusammenhang der Ansteckung über Berührung lässt eine bewusste Anspielung naheliegend erscheinen. Gratt. 370 iuxtaque: Vollmers Vorschlag fusaque für das in A überlieferte Iusaque als (für Grattius so nur hier belegter) verkürzter Ablativus absolutus, i. S. v. „cum labes diffunditur vel serpit per canes“491 ergibt im Zusammenhang mit der Lesung per contagia morbi ein Problem: Nach dem Sub- jektswechsel von lues zu morbi sollte nun im Syntagma erneut das erste Subjekt aufgegriffen werden – eine äußerst gewagte Konstruktion, die für den Rezipienten auch nicht unbedingt nachvollziehbar ist (s. auch Komm. zu Gratt. 366). Darüber hinaus muss man sich die Fra- ge stellen, welche Information fusa dem Text hinzufügte: Die Ausbreitung der Krankheit ist bereits durch per contagia erfasst, wodurch fusa höchstens eine zeitliche („nachdem“) oder modale („indem“) Komponente beisteuerte. Hingegen böte iuxtaque (zeitlich: „unmittelbar danach“, räumlich: „nahebei“492), das in der Abschrift des Sannazaro steht, in der Tat eine sinnvolle Erweiterung des Texts:493 Attraktiv wird die Lesung nicht zuletzt dadurch, dass der plötzliche Kollaps in Folge der Ansteckung von Lukrez (6,1218) und Vergil (3,486ff.) eben- falls behandelt worden ist. Paläographisch lässt sich das überlieferte iusaque mit der häufig in Handschriften belegten Verschreibung iusta für iuxta erklären.494 Aus diesen Gründen wird Sannazaros Lesung iuxtaque übernommen.
490 Lucr. 6,1234–1236 quippe etenim nullo cessabant tempore apisci | ex aliis alios avidi contagia morbi , | lanigeras tam quam pecudes et bucera saecla . Auch die von Verdière angeführte Parallele aus Ne-mesians Cynegetica (195f.) besitzt Gewicht: nam tristes morbi, scabies et sordida venis | saepe venit. (‚Denn oft leiden sie [sc. die Welpen] an tödlichen Krankheiten, oft sucht ihre Venen die dreckige Räude heim.‘)
491 Enk (1918), 106.
492 Vgl. v. Kamptz, TLL VII,2 (1970), s.v. iuxta , 749,65–750,31.
493 Zur Bewertung dieser Abschrift des Kodex A vgl. Schenkl (1898), 391: „Die Züge der alten Hand-schrift sind mit unverdrossener Geduld entziffert und der Text durch wohlüberlegte und häufig tref-fende Änderungen lesbar gemacht.“
494 Vgl. v. Kamptz, TLL VII,2 (1970), s.v. iuxta , 748, 41f.
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Gratt. 371 unter dem gleichen Leiden : Grattius greift an dieser Stelle auf keinerlei Symptome aus der Motivtradition zurück und gestaltet das Sterben anders als seine Vorgänger bemerkenswert nüchtern. Dieser Unterschied ist sicherlich durch den expositorischen Charakter des Passus bedingt, da die nachfolgende Beschreibung der einzelnen Krankheiten ausgewählte Aspekte aus Lukrez und Vergil aufgreift (s. Kapitel 3.1.3). Nichtsdestoweniger gilt hier wie dort Bernd Effes Feststellung:Dem Jagddichter geht es nicht darum, ein mitleiderregendes Bild der dem Tod verfallenen
Kreatur zu malen, er sieht die Krankheiten vielmehr mit dem nüchternen Interesse des sachlich Betroffenen und legt entsprechenden Wert auf eine adäquate Beschreibung.495 Die Verwendung der Vorgänger macht der Dichter im Folgenden ausreichend deutlich, ohne jedoch mit seiner Beschreibung ähnliche Ziele zu verfolgen. Diese Abkehr von der Tradition wird in den Versen 373–376 expliziert. Gratt. 371f. Weder Körperkraft noch Verdienst … kein Flehen lässt … erhoffen : In ihrer Kürze und im sprachlichen Ductus erinnern die eineinhalb Verse an Manil. 1,887 nec locus artis erat medicae nec vota valebant , der an dieser Stelle wiederum Ovid (Met. 7,613, s. Komm. zu Manilius) rezipiert. Grattius greift in seiner Formulierung einen Aspekt von Lukrez und Vergil, womöglich sogar des Thukydides auf. Bei der Besprechung von Lukrez (6,1245) konnte festgestellt werden, dass in Form der Personengruppe des optimus quisque eine Störung des Tun-Ergehen- Zusammenhangs aufgezeigt wurde, um den Rezipienten nach einer anfänglichen Erfüllung sei- ner normativen Erwartung zu enttäuschen. Dieses rhetorische Mittel wurde wiederum in Vergils Georgica (3,525f.) durch die Klage nach dem Tod des Jochbruders verarbeitet. Bei Grattius wird das Element auf den Ausdruck merito (‚Verdienst‘) beschränkt und in einem Atemzug mit der Zweck- losigkeit des Flehens genannt, die in beinahe sämtlichen Seuchenbeschreibungen unterstrichen wird.496 Mit Vergil verbindet den Dichter, dass an dieser Stelle unklar ist, ob noch von den Tieren oder vom Menschen die Rede ist. Einen Unterschied bildet die Nennung der Körperkraft der Er- krankten, die jedoch keine Neuheit in der Tradition darstellt: Bereits bei Thukydides (2,51,3) wurde auf die Konstitution der Menschen abgehoben und geschildert, dass die Pest Starke und Schwache ohne Unterschied dahinraffe. Ob Grattius direkten Zugriff auf Thukydides hatte, eine andere Quel- le vermittelnd fungierte (s. Komm. zu Verg. georg. 3,527–30) oder er schlichtweg selbst das Element eingebaut hat, ist (auch aufgrund der Kürze des Ausdrucks) nicht mehr zu ermitteln.
495 Effe (1977), 160, contra Formicola (1988), 181.
496 Bei Vergil ist an genannter Stelle nicht von merita , sondern benefacta die Rede, vgl. jedoch Georg. 2,514f.: hic anni labor, hinc patriam parvosque nepotes | sustinet, hinc armenta boum meritosque iuvencos .
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Gratt. 373–376 Sei es, dass (sive) … die Erde ihre eigenen Gaben zugrundegehen lässt : In nur vier Versen stellt Grattius die Ätiologien seiner Vorgänger in Form einer sive … seu -Kons- truktionzusammen:497 Hatte Lukrez die Möglichkeit der Pathogenese aus der Luft und der Erde in einem eigenen Abschnitt zur Krankheitstheorie geschildert (6,1098–1102), vermischte Vergil physikalische (Hitze, Luft) und mythische Erklärung (Unterwelt) in seiner Beschreibung. Es ist auffällig (wenngleich in der Sache nicht verwunderlich), dass Grattius die Leerstelle, die Vergil bei der göttlichen Urheberschaft gelassen hatte (s. Komm. zu Georg. 3,552), gefüllt hat. Auf die Ätio- logien als solche wird in Kapitel 3.1.1 eingegangen werden, hier soll die Urheberin der Krankheit, Proserpina, genauer in den Blick genommen werden. Die älteren Editoren haben unterschiedliche Erklärungen hinzugezogen, um Plutos Gattin als sinnvolle Urheberin der Krankheit auszuweisen. Es bestand die These der Gleichsetzung von Proserpina mit Diana und einer Bestrafung der Hunde im Zusammenhang des Actaeon-Mythos, die jedoch von Burmann widerlegt werden konnte.498 Dessen Idee, furtum commissum in den Text zu setzen und damit die Pest als Rache für den Dieb- stahl der Proserpina zu nehmen, erscheint inhaltlich verlockend. Doch dürfte die enge Anlehnung an Vergil an dieser Stelle für Johnsons furiis sprechen, wie von den meisten Editoren angenommen; schließlich hatte dieser die Furie Tisiphone aus der Unterwelt aufsteigen lassen. Ob das zu süh- nende Verbrechen ( ira als Resultat weist auf die Strafe hin)499 tatsächlich Plutos Diebstahl gewesen sein soll, ist nur schwer festzustellen – eine unmittelbare Verbindung zu den Hunden ergäbe sich dadurch immer noch nicht. Nichtsdestoweniger ist Proserpina die Gottheit, die als Verursacherin der Pest aus der Unterwelt am naheliegendsten erscheint. Möglicherweise ergibt sich ein Wortspiel durch die Etymologie von proserpere , da ja auch die Ausbreitung von Krankheiten (insbesondere solcher auf der Hautoberfläche) in einer schlängelnden Bewegung beschrieben wird.500 Schließlich vermag Sestilis Hinweis auf die Benennung der Proserpina als Iuno der Unterwelt ( Iuno inferna ) eine Brücke zu Ovids Pest zu schlagen, die von der eifersüchtigen Iuno verursacht wird,501 und die Notwendigkeit eines Anlasses zur Wut zu relativieren.
497 Damit rezipiert Grattius vermutlich Lukrezens epikureische Methode multipler Erklärungen (πλεοναχὸς τρόπος, pleonachós trópos ), wie es auch für Lucan beobachtet worden ist (vgl. Schrijvers 2005, 36–39 und Verde 2020, 84–92); ähnlich auch der Aetna-Dichter (V. 110–117) zur Ursachensuche unterirdischer Ka-näle mit dem bemerkenswerten Abschluss: non est hic causa docenda | dum stet opus causae . (‚Nicht muss man hier die Ursache lehren, solange nur das Resultat der Ursache vor Augen steht.‘). Die Bedeutung der vorliegenden Stelle für das Verhältnis zu Lukrez und Vergil generell betont Effe (1977), 164 Anm. 21.
498 Vgl. Burmann (1731), 239f.
499 Vgl. Hiltbrunner/Stiewe, TLL VII,2 (1962), s.v. ira , 365, 82ff., jedoch ohne unsere Stelle.
500 Zur Etymologie vgl. Varro ling. 5,68 (Benennung des Mondes): dicta Proserpina, quod haec ut ser- pens modo in dexteram modo in sinisteram partem late movetur (‚Genannt wurde sie Proserpina, weil sie sich wie eine Schlange mal auf die rechte, mal auf die linke Seite bewegt.‘), für die Verwendung von serpere im Zusammenhang mit Krankheiten vgl. OLD s.v. serpo (3), 1745 und Kapitel 3.1.2.
501 Vgl. Sestili (2011), 200.
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Gratt. 377 Wende dich ab von der Quelle des Übels : Der Ausdruck fons mali für die Quelle des Übels ist vor Grattius lediglich bei Liv. 39,15,9 belegt und wird auch in der weiteren Motivtradition nicht erneut verwendet. Die kurze Do- xographie der Ätiologien, in der die Krankheitsursachen in der Luft, der Unterwelt und der Erde angerissen werden, wird durch die knappe Anweisung zur Abkehr abgeschlossen. Die Abwendung502 bezeichnet hier sowohl die konkrete Maßnahme der räumlichen Veränderung als auch den methodischen Verzicht auf die Besprechung der Krankheitstheorie.503 In seiner Konzentration auf die Behandlung der Pest anstelle ihrer theoretischen Ergründung zeigt sich der Dichter konform mit den Forderungen der Empiriker (und mit Thukydides, s. Kapi- tel 1.5.3).504 Die Beschränkung auf die Aufforderung zur Grenzüberschreitung (s. Komm. zu Gratt. 378–380) ergibt sich auch aus der Plötzlichkeit und Geschwindigkeit der Ansteckung. Für den Ausdruck fontem averte mali ist darauf hinzuweisen, dass der Dichter hier nicht nur auf Georg. 3,210 caeci stimulos avertere amoris (s. dazu auch im Folgenden), sondern auch auf den victor equus (‚das siegreiche Pferd‘)aus der Norischen Viehseuche des Vergil (Georg. 3,499) zurückgreift. Gratt. 377 calles: Die Editoren entscheiden sich entweder für valles aus Summontes505 und Sannazaros Ab- schriften (u. a. Logus, Pithou, Burmann, Raynaud, Verdière, Cacciaglia) oder das in A über- lieferte calles (Baehrens, Vollmer, Enk, Formicola, Sestili, Green). Verdière stört sich zunächst am Ausdruck trans … calles , übergeht jedoch, dass sich für seine Variante ebenfalls kein Beleg502 Für die besondere Konstruktion des reflexiven averte vgl. Bickel, TLL II,2 (1904), s.v. averto , 1321, 53–64 und die dort angeführte Stelle Verg. Aen. 1,104f. franguntur remi, tum prora avertit et undis | dat latus.
503 Die Absage an jede Form der theoretischen Ergründung der Pest kann zusätzlich als metapoetische Aussa-ge gedeutet werden: Für fons als Quelle eines Werkes oder von dessen Inhalt vgl. Vollmer, TLL VI,1 (1921), s.v. fons , 1025, 8ff. Nach dieser Deutung beschriebe mali nicht die konkrete Pest im Werkzusammenhang, sondern die Pest als Motiv der literarischen Tradition, bzw. konkret die Darstellungsart der Vorgänger. Mit der Aussage unterstriche der Dichter seine Eigenständigkeit in der Verarbeitung des Stoffes.
504 Vgl. zu den Empirikern Kapitel 1.2 und Cels. 1 pr. 38: Neque enim se dicere, consilio medicum non egere, et irrationale animal hanc artem posse praestare; sed has latentium rerum coniecturas ad rem non pertinere; quia non intersit, quid morbum faciat, sed quid tollat, neque quomodo, sed quid optime digeratur. (‚Nicht nämlich sagten sie, dass der Vernunft ein Arzt nicht bedürfe und ein vernunftloses Tier diese Kunst ausüben könne; sondern dass Vermutungen über verborgene Ursachen nichts zur Sache täten; weil es nicht von Interesse sei, was die Krankheit verursache, sondern was sie beseitige, und nicht wie, sondern was am besten verdaut werde.‘)
505 Zur Neubewertung der ehemals Sannazaro zugeschriebenen Abschrift vgl. Reeve (2016), 194f. mit Anm. 4/5.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung finden lässt.506 Seine Überlegungen hinsichtlich der Krankheitsursache sind für die Deutung der Vorschrift nicht von Belang, war doch durch den Sprecher unmittelbar vorher eine Absa- ge an die Theorie getätigt worden. Formicola macht sich die von van Vliet aufgezeigte Paral- lele zu Georg. 3,209–214 zunutze und will auf der Grundlage eines komplexen Verarbeitungs- vorgangs Grattius’ Arbeitsweise nachvollziehen.507 Für die hier vorgeschlagene Deutung (vgl. Komm. zu den Versen 378–380) ist es nur bedingt von Interesse, ob es sich um hohe Berge oder tiefe Täler handelt, da es um die Überschreitung einer Grenze geht, welches Kriterium in beiden Fällen erfüllt wäre. Gegen die Konjektur valles spricht jedoch, dass sehr selten le- diglich auf die Tiefe von Tälern hingewiesen wird, sondern eher auf deren Schattigkeit und Kühle. Dieser (in anderen Zusammenhängen durchaus denkbare) Zug spielt an der vorlie- genden Stelle jedoch keine Rolle. Eine ausschließliche Höhenangabe bei Bergpfaden scheint kaum verwunderlich; außerdem ist calles eindeutig die lectio difficilior , weshalb es in den Text übernommen wird. Gratt. 378 einen breiten Strom sollt ihr bei der Flucht überqueren : In Anbetracht der Übersetzungen von Formicola und Green, die dem Wechsel zur zweiten Person Plural des Futurs ( superabitis ) durch eine Wiedergabe im Futur möglichst genau zu entsprechen suchen, ist für die vorliegende Übersetzung auf den Ersatz des Imperativs durch das Futur hinzuweisen.508
506 Vgl. Verdière (1963), 359. Man würde sich (ebenso wie Verdière bei calles ) per … valles wünschen, wie etwa in Ov. met. 14,423–425: sex illam noctes, totidem redeuntia solis | lumina viderunt inopem somnique cibique | per iuga, per valles , qua fors ducebat, euntem . Die von Burmann (1731, 241) angeführten Stellen, der mit van Vliet eine semantische Austauschbarkeit von valles und montes annehmen möchte, unterscheiden sich vom besprochenen Vers dadurch, dass in ihnen stets eine statische Ortsangabe und keine Bewegung ausgedrückt wird.
507 Vgl. Formicola (1988), 181f. und Sestili (2011), 201. Folgende Ursprungsverse werden genannt: aver- tere sei entnommen aus Georg. 3,210, der Gedanke von Berg und Fluss aus 3,213 und superare aus 3,270, wobei auch dort die natürlichen Grenzen genannt werden. Der Ausdruck trans … flumen werde zu trans … calles , post sei im superare verarbeitet. Die Rezeption der Vergilstelle liegt nicht nur in der Parallelisierung von der Liebesglut und dem Feuer der Krankheit bei Vergil selbst begründet (vgl. Ross 1987, 150), sondern liegt auch aufgrund der analogen Struktur nahe: Ebenso wie Berge und Flüsse einen Keil zwischen die Tiere treiben sollen, muss nun eine Grenze zwischen der Krankheit und dem Rudel gezogen werden.
508 Formicola (1988), 106 „Ti consiglio di trasferire i cani oltre gli alti sentieri montuosi e in fuga traver-serete l’ampio fiume.“ und Green (2018), 45 „I advise leading them over the high mountain tracks and you will overcome a wide river in your flight.“ Zum Ersatz des Imperativs durch das Futur vgl. LHS II, 311: „In der 2. und 3. Person wird der Ind. des Fut. zum Ausdruck eines Befehls gebraucht, wenn die seelische Grundstimmung des Sprechenden vorwiegend die einer sicheren Erwartung der Ausführung der Handlung ist“. Ebendort ist auch für Fachschriftsteller ein Nebeneinander von Im-perativen und Futurformen beschrieben.
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Gratt. 378–380 deine Hunde über hohe Gebirgspfade … Hilfsmaßnahmen wirken : Während von Beginn an die textkritischen Fragen um calles und superabitis ausführliche Behandlung in den Kommentaren erfuhren, ist die inhaltliche Besprechung der Verse erst spä- ter durch den Verweis auf Columella (7,5,2) angestoßen worden:Si aegrotat universum pecus, ut et ante prae- cepimus et nunc, quia remur esse maxime salutare, iterum adseveramus, in hoc casu quod est remedium praesentissumum, pa- bula mutemus et aquationes totiusque re- gionis alium quaeramus statum caeli cure- musque, si ex calore et aestu concepta pestis invasit, ut opaca rura, si invasit frigore, ut eligantur aprica.
Wenn das gesamte Vieh erkrankt (wir beharren erneut auch an dieser Stelle auf dem, was wir vorher vorschrie-ben, weil wir es für das Heilsamste halten), lass uns in diesem Fall, weil das Heilmittel direkt zur Hand ist, Fut-ter und Trank austauschen; lass uns ein anderes Klima in einer ganz anderen Gegend suchen und dafür sorgen, dass wir, wenn die Krankheit von gleißender Hitze herrührte und eindrang, schattige Ländereien, wenn sie durch Kälte eindrang, sonnige aussuchen. Wie Verdière bereits feststellte, will Grattius im Gegensatz zum späteren Columella nicht auf die Ursache der Krankheit eingehen.509 Es bestehen jedoch noch weitere Unterschiede: Im An- schluss an die vielzitierte Stelle warnt Columella davor, man solle das Vieh bei der Wanderung nicht überanstrengen; diese Perspektive auf die erkrankten Tiere fehlt in den Cynegetica voll- ständig, was von den Kommentatoren womöglich durch den Hinweis auf die unübliche Art der „Transhumanz“510 angesprochen werden sollte. Der Dichter nimmt weiterhin nicht schwer- punktmäßig das Gebiet in den Blick, in das der Lehrling vordringen soll, sondern lediglich die zu überschreitenden natürlichen Grenzen.511 Schließlich sind es nicht veränderte klimatische Bedingungen,512 die zur Heilung der Tiere beitragen, sondern ficta auxilia , d. h. in jedem Fall
509 Vgl. Verdière (1963), 359. Inwiefern aus Grattius’ oder Columellas Darstellung abgeleitet werden kann, dass es sich beim Ortswechsel um die „prima misura per sfuggire ad un’epidemia“ (Cacciaglia 1970,70) handelt, bleibt unklar; das remedium praesentissumum betont, dass die im Anschluss ge-nannten Vorgehensweisen in der Verfügungsgewalt des Hirten oder Bauern selbst liegen.
510 Die bei den Kommentatoren vorgenommene Bezeichnung ‚transhumance, transumanza‘ ist für die hier beschriebene Überquerung von Berg und Fluss nur bedingt geeignet. Die Transhumanz ist in erster Linie eine Wirtschaftsform, die eine räumliche Verschiebung des Weideviehs in regelmäßigen Abständen vorsieht. Diese Verschiebung kann über weite Entfernungen erfolgen (horizontale Trans-humanz, vgl. Waldherr 1999, 564f.). Die vorliegende Stelle handelt jedoch weder von Weidevieh noch von einer Wirtschaftsform, weshalb auf den Begriff verzichtet wurde.
511 Zu Bergen und Flüssen als natürliche Grenzen und ihre Einbeziehung durch Mensch und Gesell-schaft vgl. Sonnabend (1999), 160f. und Schön (1999), 148f.
512 Bei der Behandlung der scabies (Gratt. 419–424) geht der Dichter hingegen auf die Nutzung der kli-matischen Verhältnisse für die Prävention ein.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Kulturleistungen des Menschen.513 Die Überquerung der natürlichen Grenzen schafft ledig- lich die Grundlage für die sich anschließende Behandlung: Berg und Fluss fungieren wie ein Schutzwall gegen die Krankheit.514 An dieser Stelle wendet sich der Dichter gegen seinen Vor- gänger Vergil, der in der Norischen Viehseuche (Georg. 3,548) noch betonte, dass ein Orts- wechsel keine Abhilfe schaffen konnte. 2.2.4 Ovid Met. 7,517–520 Aeacus seufzte … Der Reihe nach will ich mich nun erinnern : Ovids bedeutendste (und auch gattungsbedingte) Neuerung in der Motivtradition ist die Einbettung der Pest in einen erzählerischen Zusammenhang:515 Gab es bei Lukrez und Vergil, die das Motiv beide an einem Buchschluss platzierten, scheinbar kein ‚Danach‘ für die Be- troffenen,516 besitzt sie wie bei Grattius auch bei Ovid eindeutig Expositionscharakter für die darauffolgende Erzählung über die Verwandlung der Myrmidonen.517 Durch den Gesamtzu- sammenhang ergibt sich für den Dichter die Zwischenschaltung einer weiteren Erzählebene:518
513 Vgl. Gratt. 13–15 tu trepidam bello vitam, Diana, ferino | qua primam quaerebat opem, dignata re- pertis | protegere auxiliis (‚hilfreiche Erfindungen‘) orbemque hac solvere noxa . In Abgrenzung von cura scheint das auxilium bei Grattius die konkrete Behandlungsmaßnahme zu bezeichnen, wäh-rend jene das Bemühen um die Heilung im Allgemeinen beschreibt.
514 Begreift man dies nicht bloß symbolisch, könnte es sich bei dieser Vorstellung um eine Entlehnung aus der Magie handeln. Den häufigen Wunsch nach magischem Schutz im Angesicht einer bevor-stehenden Katastrophe bespricht auch Wolfenstein (1998 [1957]), 18. Dass unser Dichter der Magie nicht abgeneigt ist, wird an den priscae artes in Gratt. 399–405 ersichtlich, wenngleich der Bezug der Verneinung in V.400 umstritten ist (vgl. Verdière 1963, 371). Für die Verbindung magischer Vorstel-lung und Ansteckung vgl. Grmek (1984), 62: „Les observations empiriques de jadis sur la contagiosité des pestilences, de la phtisie et de quelques autres maladies étaient embourbées dans un magma de suppositions magiques“.
515 Vgl. Vallillee (1960), 103. Zur narrativen Struktur und Erzähltechnik in Ovids Metamorphosen vgl. exemplarisch Nagle (1989), 97–100 (allgemein) und 110 (zur Pest), Pechillo (1990), Rosati (2002) m. Literaturverweisen sowie die entsprechenden Einträge in Ulrich Schmitzers Bibliographien ‚Neue Forschungen zu Ovid‘ I–III.
516 Diese Einschränkung ist deshalb hervorzuheben, weil viele Kommentatoren gerade auf den Um-stand hingewiesen haben, dass Vergil sein Werk nicht (wie Lukrez) mit der Pest beschließt, sondern mit dem vierten Buch eine positive Wendung habe folgen lassen. Solche Interpretationen sind auch im Zusammenhang von Deutungstraditionen (Optimisten/Pessimisten) zu sehen, deren Genese Zanker (2011) dargelegt hat.
517 Vgl. Grimm (1965), 67 und Heerink (2011), 467. Die Pest als Exposition, die zugleich das Resultat einer Ehrverletzung und Anstoß einer neuen Handlung ist, findet sich bereits in Homers Ilias , vgl. Horstmanshoff (1989), 27 und die Besprechung von Senecas Oedipus in Kapitel 2.2.6.
518 Zur möglichen Mehrstufigkeit von Ebenen der Rede vgl. De Jong (1987), 149–194.
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Aeacus erkrankte zwar nicht selbst an der Pest (wie es Thukydides von sich selbst sagt), bringt jedoch dem Rezipienten die Geschehnisse aus seiner eigenen Perspektive nahe. Das Konzept dieses ‚letzten Menschen‘, der in der Lage ist, über die Katastrophe zu reflektieren, und dessen spezifische Funktion im Zusammenhang apokalyptischer Szenarien wurde bereits besprochen (s. o. Kap. 1.6). Mit dem reichen Potenzial der Subjektivität unterliegt der Dichter zugleich be- stimmten narrativen Zwängen, die er bspw. durch die Vorgabe, der Reihe nach ( ordine ) zu be- richten, expliziert. Es gelingt Ovid im Folgenden, die Erzählung räumlich derart zu beschrän- ken (anders als bei seinem Vorgänger Vergil), dass die Fokalisierung des Aeacus authentisch wirkt. Insbesondere die Verse 582–613 schildern dessen Erfahrungen aus nächster Nähe und gewinnen dadurch an Pathos. Met. 7,523 Eine unheilvolle Pest / dira lues: Ovid verwendet neben lues zahlreiche Ausdrücke (u. a. malum , morbus , vitium ) für ein und dieselbe Krankheit, jedoch ohne das Attribut dirus . Bömer betont zu Recht,519 dass der Dichter sich durch die Junktur von seinen Vorgängern abzuheben versucht: Bereits durch dirus wird für den antiken Rezipienten ersichtlich, dass es sich bei der Pest um eine Katastrophe göttli- chen Ursprungs handelt;520 wenngleich bei Vergil am Höhepunkt der Erzählung Tisiphone aus der Unterwelt auftaucht, erschien die metaphysische Verursachung eher als Deutungspoten- zial einer gewissen Doppeldeutigkeit und wurde nicht eindeutig an den Beginn der Seuchen- beschreibung gestellt. Ovid legt sich dementsprechend als erster Autor der Motivtradition in seiner Ätiologie auf den Einfluss einer bestimmten Gottheit fest (vgl. den folgenden Kommen- tar und Kapitel 3.1.1). Met. 7,523 aufgrund des Zorns der ungerechten Iuno : Die Eifersucht von Jupiters zänkischer Gemahlin auf die Liebhaberinnen ihres Gatten ist sprichwörtlich und findet sich in mehreren Episoden der Metamorphosen .521 In der Seuchen- beschreibung wird dieses Element aufgegriffen, um die Krankheit als das Resultat göttlicher519 Vgl. Bömer (1976), 334f.
520 Zur Etymologie vgl. de Vaan (2008), 171, besonders prägnant in diesem Zusammenhang ist auch die Bezeichnung der Dirae (‚Furien‘). Für eine Übersicht über antike Erklärungen für dirus vgl. Maltby (1991), 190, bspw. Serv. Aen. 2,519: DIRA modo proprie: ‚dira‘ enim est deorum ira . Vielleicht wurde es erst durch die gehäufte Verwendung des Attributs möglich gemacht, dass Seneca in seinen Natu- rales Quaestiones (6,27,4) im Zusammenhang der Seuchenentstehung von einem aer dirus sprach.
521 Vgl. Otto (1890), 179 und u. a. Ov. met. 1,588ff. (Io); 3,253–315 (Semele), woneben andere Geschich-ten treten, in denen sich Iuno ungnädig gegenüber anderen Frauen zeigt (4,416–542 Ino). Der Vers-schluss Iunonis iniquae findet sich auch in Verg. Aen. 8,292, der Gedanke bereits in Aen. 1,4. Zur Junodarstellung im römischen Epos vgl. Häußler (1978), 187–206.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Intervention zu motivieren.522 Verglichen mit den Beschreibungen bei Thukydides, Lukrez und Vergil ist dies das erste Mal, dass dezidiert keine naturwissenschaftliche Erstursache angege- ben wird. Dies lässt sich zum einen mit dem Werkzusammenhang erklären: Dadurch, dass Ovid die Pest in eine mythhistorische Zeit versetzt, ist der Handlungsraum für Göttinnen und Götter gegeben. Zum anderen ist die Idee, dass Unglücksfälle (darunter auch Epidemien) einen Sinn besitzen müssen und somit auf eine intentionale Ursache zurückzuführen sind, ureigenes Charakteristikum menschlichen Denkens. Die Krankheit fungiert als Strafe für eine vorange- gangene Tat, die damit auch Gegenstand menschlicher Beurteilung wird: Da im vorliegenden Fall jedoch keine menschliche Verfehlung zugrundeliegt, kann Iuno als iniqua (‚ungerecht‘) charakterisiert werden.523 Met. 7,525–527 dum visum … victa iacebat: Bereits Bothe argumentierte in seinen Vindiciae dafür, dass die Verse an der überlieferten Stelle nicht zu halten sind, indem er auf eine inhaltliche Dopplung ab Vers 561 verwies.524 Weiterhin bereitete der Ausdruck mortale malum einigen Kommentatoren Schwierigkeiten.525 Außerdem fände die hier implizierte Einsicht der Menschen in die göttliche Verursachung
522 Dass darüber hinaus Junos Motiv der Eifersucht dem Massensterben eine besonders zynische Note verleiht, teilt Ovids Beschreibung mit der des Silius Italicus (14,583 invidia divum ). Während bei Si-lius jedoch keine individuelle Gottheit als Ursache genannt wird, reiht sich Iunos Verhalten bei Ovid in das soeben beschriebene Vorstellungsmuster ein, nach dem Jupiters amor zur ira seiner Gattin und daraufhin zur Bestrafung der Sterblichen führt, vgl. Nagle (1984), 239.
523 Mit kleinen Abstrichen entspricht die Beschreibung bei Ovid mit der sich anschließenden Ver-wandlung der Myrmidonen der von Walter (2010, 248) gelieferten Grundstruktur von Katas-trophenfilmen: Zu Beginn „eine unvorhersehbare Katastrophe; die Zerstörung, mit der eine maßlose, nur im Wettlauf nach Vergnügungen und Geld befangene Gesellschaft bestraft wird; eine Handlung mit Guten und Bösen; Mut, Solidarität, moralische Besserung des Bösen; die Zeit nach der Katastrophe als Phase von Reinigung und Wiedergeburt mit dem Elan des Wiederauf-baus“.
524 Bothe (1818), 72: „Inculcandi mihi videntur, ne bis idem generatim dicat poeta hoc loco et 561, sed haec ad mulomedicos et id genus artifices referantur, sicut versu 561.“ Zwar ist die Annahme hin-sichtlich der Veterinärmediziner willkürlich (wenngleich für Bothes Argumentation notwendig), doch der Hinweis auf die inhaltliche Dopplung bleibt aktuell: Auch Bömer (1976, 335) sieht eine solche, nimmt jedoch eine Intention an, das Scheitern der Medizin direkt an den Beginn der Be-schreibung zu stellen.
525 Eine der einflussreichsten Erklärungen ist die von Gottlieb Erdmann Gierig (1804, 459), der die Krankheit als ein Übel „usitatum inter mortales, adeo naturale“ definiert. Ähnlich auch Bömer (1976, 335): „malum, quod non nisi ad mortales pertinet“. Anderson (1972, 299) spricht knapp davon, dass die Pest als Gegenstand menschlicher Sphäre, d. h. wie eine ‚normale‘ Krankheit er-schien.
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keine Entsprechung in der Seuchenbeschreibung.526 Folglich werden die Verse von einigen Edi- toren entweder transponiert oder vollständig getilgt.527 Doch es lohnt ein zweiter Blick: Die fehlende Wiederaufnahme der Einsicht in die göttliche Verursachung hat ihren Grund in ihrer Selbstverständlichkeit vor dem Hintergrund antiken Denkens. Dabei ist diese Erkenntnis keine aktive Ergründung der Gottheit (geschweige denn eine exakte Zuordnung), sondern aus Sicht des Rezipienten und der antiken Ärzte eine logi- sche Folgerung aus der Unbehandelbarkeit der Krankheit und der Masse an Erkrankten.528 Der Ausdruck mortale malum kann mit Verweis auf das zweite Buch von Ovids Metamorpho- sen als zwar ungewöhnlich, jedoch nicht unverständlich ausgewiesen werden.529 Schließlich handelt es sich bei den Versen 525–527 und 561–564a nicht um eine exakte Dopplung, wie von Bothe behauptet; vielmehr wird zu Beginn der erfolglose Kampf der Medizin gegen die Krankheit im Allgemeinen vorweggenommen, wohingegen später konkret das Scheitern der Behandelnden ausformuliert wird.530 Mit den Versen 525–527 knüpft Ovid an den Archetyp Thukydides (2,47,4, T I A) an, auf welche Grundlage Moritz Haupt zu Recht verwiesen hat:531 dum visum mortale malum tantaeque latebat causa nocens cladis, pugnatum est arte medendi : exitium superabat opem, quae victa iacebat.Solange das Übel menschlich schien und die bös-willige Ursache des derart großen Unheils verbor-gen blieb, kämpfte man mit der Heilkunst; der Tod überwältigte jedoch ihr Heer , das besiegt darnie- derlag .
526 Vgl. Tarrant (1982), 357, dessen Beurteilung der Verse an manchen Stellen primär auf ästhetischem Unbehagen zu beruhen scheint. Der Ausdruck causa nocens cladis dürfte bspw. trotz seiner Eigen-tümlichkeit jedem Rezipienten unmittelbar verständlich gewesen sein; causa cladis findet sich als beliebte Alliteration bei Livius (2,36,4; 2,51,6; 6,20,15; 28,13,2).
527 Bothe mit seiner Transposition vor 561 wurde bereits genannt, Tarrant athetiert, Kenney (2011, 278) nimmt zwar an, dass es sich um Verse Ovids handelt, diese jedoch an falscher Stelle stünden – die ursprüngliche Stellung der Verse sei aber nicht mehr zu ermitteln.
528 Vgl. Crawfurd (1914), 63. Entsprechend wäre zu überdenken, ob an dieser Stelle nicht sogar eine Argumentationsstrategie antiker Ärzte zu Tage tritt, das Scheitern der eigenen Behandlung auf die Götter zurückzuführen. Die gleiche Reihenfolge findet sich auch in der zweiten von Ovids Seuchen-beschreibungen (Met. 15,626ff.): Zuerst versuchen sich die Ärzte an der Behandlung; nach dem Scheitern der Medizin wenden sich die Menschen an die Götter.
529 Vgl. Ov. met. 2,56 non est mortale quod optas ! Mit diesem Ausruf verurteilt Apoll den Wunsch seines Sohnes Phaeton, den Sonnenwagen zu lenken. Mortale bezeichnet an dieser Stelle das, was einem Menschen zukommt, was Teil der menschlichen Sphäre ist, bzw. gerade nicht ist.
530 Diese (auch bei Thukydides vorliegende) Aufteilung nach ars und artifex entspricht dem bereits von Eduard Norden (1905, 508–515) herausgearbeiteten Gliederungsprinzip von Fachschriften unter-schiedlicher Disziplinen.
531 Vgl. Haupt in Ehwald (91915), 394. Delcuve (1936), 206 geht mit der Behauptung, es handle sich um eine reine Übersetzung, etwas zu weit, später zurückhaltend Vallillee (1960), 128f.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung οὔτε γὰρ ἰατροὶ ἤρκουν τὸ πρῶτον θεραπεύοντες
ἀγνοίᾳ , ἀλλ᾽ αὐτοὶ μάλιστα ἔθνῃσκον, ὅσῳ
καὶ μάλιστα προσῇσαν … πάντα ἀνωφελῆ ἦν,
τελευτῶντές τε αὐτῶν ἀπέστησαν ὑπὸ τοῦ
κακοῦ νικώμενοι.
Weder nämlich konnten Ärzte, die ohne Kenntnis der Erkrankung diese zum ersten Mal behandeln mussten , etwas ausrichten, starben vielmehr selbst am ehesten, da sie ja am meisten zu den Kranken gingen … alles war nutzlos, und am Ende gaben sie es auf, von der Katastrophe gebrochen . Argwohn hat vermutlich die Tatsache hervorgerufen, dass die vorrangige Erkrankung der Be- handelnden aufgrund ihrer Nähe zu den Patienten (Kursivdruck), die an ebendieser Stelle bei Thukydides genannt wird, von Ovid nach hinten gezogen worden sein soll, obwohl doch das Scheitern im Allgemeinen bereits vorher Erwähnung fand. Die implizierte Prämisse einer li- nearen Vorgehensweise des Dichters ist jedoch zu bezweifeln. Ein Blick auf 7,567 utile enim nihil est (~ πάντα ἀνωφελῆ ἦν in 2,47,4) zeigt, dass Ovid Elemente seiner Vorlage entnahm und über diese in freier Komposition verfügte.532 Unter Annahme der Echtheit der Verse ergibt sich noch ein weiteres Detail in der ungewöhnlichen Verwendung des Imperfekts bei iacebat :533 Es könnte sich dabei um eine Anspielung auf Lukrez handeln, der in seiner Beschreibung fast aus- schließlich das Imperfekt nutzte (vgl. Anm. 102, S. 127). Unabhängig davon dürfte ersichtlich geworden sein, weshalb die Verse weder zu transponieren noch zu tilgen sind.534 Met. 7,526f. großen Unheils … kämpfte man … Heer … besiegt darniederlag : Die im Lateinischen verwendeten Wörter cladis , pugnatum est , opem und victa iacebat er- zeugen vor dem Auge des Rezipienten eine Schlacht zwischen Ärzten und der Krankheit.535
532 Zwar ist die Bezugnahme auf Verg. georg. 3,549 quaesitaeque nocent artes evident, bietet jedoch kein Argument dagegen, dass der Gedanke des Wütens der Krankheit gegen die Ärzte von Thukydides entnommen wurde. Vielmehr zeigt sich in der kunstvollen Verarbeitung aller drei Vorgänger das ingenium Ovids (eine Rezeption des Grattius ist, wenn überhaupt, im Bild der herrschenden Krank-heit gegeben, Met. 7,553 und Gratt. 463).
533 Ungewöhnlich deswegen, weil in der gesamten Seuchenbeschreibung lediglich dann das Imperfekt genutzt wird, wenn es durch die Subjunktion dum ausgelöst oder eine Nebeninformation geliefert wird.
534 Abschließend mag noch ein Plausibilitätsargument für die Echtheit der Verse angeführt werden: Angenommen, die Verse wären von einem Interpolator gefertigt, so hätte dieser nicht nur (die auch sonst bisweilen bloß dürftig gelöste) Aufgabe der Versdichtung vor sich gehabt, sondern hätte die Verse zusätzlich aus dem Griechischen auf eine solche Art entlehnen müssen, dass die Vorlage noch erkennbar wäre. Ganz zu schweigen von den erforderlichen Griechischkenntnissen stellte sich auch schlicht die Frage nach der lokalen Verfügbarkeit des Thukydides.
535 Vgl. OLD s.v. clades (2), 330 „A military disaster, defeat, reverse.“ Der Begriff ops wird im militäri-schen Sinne für Truppen zwar i. d. R. im Plural verwendet, findet sich aber selten auch im Singular, vgl. mit OLD s.v. ops (1), 1258 Verg. Aen. 8,685. Das Bild der Schlacht gegen eine Krankheit war in
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Zwar ist dieser Kampf in Grundzügen bei Thukydides angelegt (primär durch das νικώμενοι, ‚besiegt‘), wird jedoch vom Dichter über die beiden Verse ausgeführt. Das Ergebnis im Gesamt- zusammenhang ist identisch mit dem der Vorlage: Direkt zu Beginn der Seuchenbeschreibung wird dem Rezipienten das Scheitern der Medizin vor Augen geführt. Mit Blick auf Lukrez und Vergil ist festzustellen, dass die Behandelnden in ihrem (wenngleich ergebnislosen) En- gagement hervorgehoben werden. Hatte Lukrez noch vom beschämten Murmeln der Medizin gesprochen und Vergils Arznei lediglich Schaden verursacht, sieht sich das Bemühen der Ärzte an dieser Stelle keiner Kritik oder Häme gegenüber, ja wirkt vielmehr heldenhaft. Met. 7,529–532 träge machenden Krankheitsstrom … mit ihrem todbringenden Strom : Die dichte Aufeinanderfolge von aestus und aestibus hat Herausgeber früh dazu bewogen, in V. 532 die Variante flatibus in den Text zu übernehmen.536 Als Erklärungsversuche der Dopp- lung (zum Zweck ihrer Beibehaltung) wurde zum einen die Rhetorisierung in der Assonanz von aestibus … Austri (Bömer), zum anderen das Bedeutungsspiel mit aestus als Hitze und als Krankheitsstrom (Kenney) angeführt.537 Gerade das letztere Argument und mit ihm die Frage nach der Semantik der aestus bedarf m. E. einer erneuten Betrachtung. Anderson vergleicht mit den letiferis aestibus den Ausdruck mortifer aestus (Lucr. 6,1138) und behauptet, Lukrez und Vergil hätten beide mit aestus Krankheitsströme bezeichnet.538 Für Vergil ist hier eindeu- tig zu widersprechen, da aestu in Georg. 3,479 an autumni und incanduit gebunden und damit rein thermischer Natur ist (s. o. den Komm. zur Stelle). Ovids Vorgänger hat der Tradition dementsprechend die ursprüngliche Wortbedeutung ‚Hitze‘ hinzugefügt. Wie steht es nun um die Semantik bei Ovid? In Vers 533 wird erläutert, die Krankheit wandere auch in Quellen und Seen ( constat et in fontes … lacusque ) – dies macht notwendig, dass vorher auch die Infektion der Luft bezeichnet wurde.539 Nähme man beide aestus als Wärme, wäre dies nicht gegeben. Nach dieser Prämisse ist mindestens unter einem der beiden aestus der Krankheitsstrom nach der Antike weit verbreitet (vgl. Lupton 32012, 61–64 und King 2013, 688), fand daneben bis in die Spätmoderne Verwendung und wurde nicht nur von Literaten bemüht, wie eine Rede des französi-schen Staatspräsidenten Emmanuel Macron an die Nation im Zuge der SARS-CoV-II-Pandemie vom 18.03.2020 bezeugte, in der er eindringlich wiederholte: „Nous sommes en guerre.“, vgl. dazu Füller/Dzudzek (2020), 170–173.536 Vgl. Heinsius (1758), 575.
537 Vgl. Bömer (1976), 336 und Kenney (2011), 278. Pisi (1989, 49) sieht die Stelle als „pura variazione fantastica sul tema della calura“. Im Folgenden wird sich zeigen, dass Ovids Gedankengang weder Selbstzweck noch unschlüssig ist.
538 Vgl. Anderson (1972), 300.
539 Dazu ist zu bemerken, dass diese Einsicht diejenigen, die flatibus in den Text übernehmen, eigentlich dazu verpflichtet, das erste aestus als Infektion der Luft anzunehmen.
226
2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Lukrez zu verstehen, obwohl der fehlende theoretische Unterbau der Atomistik einen Beige- schmack hinterlässt.540 In 7,529 wird beschrieben, wie der aestus in Wolken eingeschlossen wird: Solche ‚hohlen Wolken‘ ( nubes cavae ) werden sowohl bei Lukrez als auch in Senecas Naturales Quaestiones für die Erklärung von Wetterphänomenen hinzugezogen – hierbei wird jedoch Wind in den Wolken eingeschlossen.541 Weder aus dem beschriebenen Naturphänomen noch aus dem At- tribut ignavus kann dementsprechend eine Entscheidung für die Semantik des aestus getroffen werden.542 Für Vers 532 scheint die von Bömer zur Stelle vertretene These, der Auster sei weder heiß noch kalt, einen ersten Ansatz zu liefern. Wenn der Auster durch calidus zu klassifizieren ist, kann durch die letiferis aestibus eine Begründung dafür geliefert werden, warum der sonst vor allem feuchte Wind derart heiß ist. Diese Erklärung steht jedoch auf wackligem Funda- ment, da die Südwinde (wie Bömers Stellenverweise selbst zeigen) nicht selten ohnehin als heiß bezeichnet werden. Auf der anderen Seite ist es möglich, dass mit letiferis aestibus der Begleit- umstand eines Wetterphänomens, hier des Windes, angegeben wird.543 In diesem Fall wäre es redundant (wenngleich nicht unmöglich), aestibus als Wärme anzusehen, da dann das Wehen der warmen Winde von der todbringenden Wärme begleitet würde: Dies spräche dafür, das zweite aestus als Krankheitsstrom anzusehen. Daher wird hier für beide aestus angenommen, dass mit ihnen ein Krankheitsstrom be- zeichnet werden soll, und zwar aus Gründen der Textkohärenz. Ginge man davon aus, dass der erste aestus ‚Hitze‘ bezeichnet, muss nach der Motivation dieses Verses gefragt werden, da das Einschließen des aestus in den Wolken eine nicht mehr genutzte und damit überflüssige Information darstellte. Nimmt man die Wolken jedoch als ‚Transportmedium‘ der Krankheit, ergeben beide Verse eine sinnvolle Abfolge. Es handelt sich folglich bei den aestus letiferi um genau den Krankheitsstrom, der vier Verse zuvor in den Wolken eingeschlossen wurde.544
540 Doch ebenso wird Lucan (6,89f.) ohne weitere theoretische Erläuterung schreiben: traxit iners cae- lum fluvidae contagia pestis | obscuram in nubem. (‚Zog die stehende Himmelsluft den Krankheits-stoff dieses flüssigen Unheils in eine dunkle Wolke zusammen.‘)
541 Vgl. bspw. Lucr. 6,121–131 und Sen. nat. 2,27. Die Aufnahme von drückender Hitze durch Wolken (vgl. dazu auch im Folgenden) wäre außergewöhnlich; bei Lukrez ist das Feuer ( ignis ), das in die Wolken fährt (z. B. Lucr. 6,150), Grundlage für Blitze.
542 Vgl. Skutsch, TLL VII,1 (1936) s.v. ignavus , 280, 55ff. Der Eintrag zeigt, dass ignavus i.S.v. ‚träge machend‘ lediglich dreimal bei Ovid in den Metamorphosen belegt ist. Die anderen beiden Belege befinden sich in kurzer Abfolge in Ov. met. 2,763 und 821, wobei einmal frigor , einmal gravitas die Ursache ist. Durch diese beiden Bezugswörter kann die eine Parallele zu aestus als ‚Hitze‘, die andere zum ‚Krankheitsstrom‘ angeführt werden.
543 Vgl. LHS II § 76c.
544 Wenngleich ohne Begründung scheint auch Vallillee (1960), 104 diese Position zu vertreten.
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Met. 7,530–532 und während der Mond … verschmälerte : Die hier vorliegende ausführliche und durchaus typische Beschreibung der Mondphasen wur- de von den Kommentatoren in erster Linie als Zeitangabe für die Dauer der Pest ausgelegt;545 dass es sich um eine solche handelt, ist unbestritten. Doch muss auf weitere Deutungspotenziale hingewiesen werden: Wilhelm Gundel hat herausgearbeitet, dass nach einer Aussage bei Pseu- do-Galen der Arzt Diokles v. Karystos (4./3. Jh. v. Chr.) dem Mond eine außerordentliche Wirk- macht auf die menschliche Gesundheit im Zusammenhang möglicher Prognostik zuschrieb.546 Es erscheint deshalb durchaus möglich, dass Ovid in der ärztlichen Praxis eine Inspiration fand. Eine weitere Deutung eröffnet sich durch die von Manilius benannte Symbolkraft des Schwin- dens und Wachsens des Mondes.547 In ihrem Werden und Vergehen spiegelte sich das Schicksal ( fatum ) von Mensch und Welt, das im Folgenden in Form des Exodus durch die Pest und die Wiedergeburt des Volkes mittels der Verwandlung der Ameisen wieder aufgegriffen wird. Met. 7,533 Krankheit : Der Begriff für ‚Krankheit‘ im Lateinischen lautet vitium , der in der Motivtradition aus- schließlich an dieser Stelle im Singular verwendet wird, um das einzelne Phänomen der Pest zu bezeichnen. Für die Semantik ist auf eine Stelle in Vergils Eklogen zu verweisen, die von Kommentatoren auch gerne zur Erläuterung des morbus caeli zu Beginn der Seuchenbeschrei- bung der Georgica angeführt wird.548 Das Wort vitium bezeichnet hier die Besetzung der Luft mit dem (wie auch immer vorgestellten) Krankheitsstoff und ist dementsprechend nicht, wie Bömer es vorschlug, mit ‚Gift‘ zu übersetzen.549 Dessen Verwunderung über den Wortgebrauch545 Eine Rezeption fand diese Zeitangabe in Girolamo Fracastoros Syphilis 1,319ff.: In primis mirum illud erat, quod labe recepta, | saepe tamen quater ipsa suum compleverat orbem | luna prius, quam signa satis manifesta darentur (‚Jenes war besonders verwunderlich, dass oft nach einer Ansteckung der Mond trotzdem noch vier Mal seinen Kreis vollendet hatte, bevor die Erkrankten ausreichend sichtbare Symptome zeigten.‘), deren zahlreiche Bezüge zu den hier behandelten Seuchenbeschrei-bungen noch zu untersuchen sind, vgl. den Ansatz bei Glei (2013).
546 Vgl. Gundel (1933), 103f mit Verweis auf [Gal.] progn. decub. 901 (= 19,530f. K.): Διοκλῆς δὲ ὁ Καρύστιος καὶ ῥήτωρ οὐ μόνον αὐτός φησιν, ὡς καὶ σὺ γινώσκεις, ἀλλὰ καὶ τοὺς ἀρχαίους ἱστορεῖ, ἀπὸ φωτισμοῦ καὶ τοῦ δρομήματος τῆς ☾ τὰς προγνώσεις τῶν νόσων ποιουμένους . (‚Diokles von Charistos spricht nicht nur als Redner, wie du selbst weißt, sondern untersucht auch die Prinzipien, indem er Krankheitsprognosen auf der Grundlage des Lichtes und des Mondlaufs vornimmt .‘)
547 Vgl. Manil. 2,913–915: et dominam agnoscit Phoeben, fraterna videntem | regna per adversas caeli fulgentia partes | fataque damnosis imitantem finibus oris .
548 Vgl. Verg. ecl. 7,57 Aret ager, vitio moriens sitit aëris herba (‚Trocken ist das Feld und aufgrund der kranken Luft welkt das dürstende Gras dahin.‘) und Georg. 3,478.
549 Vgl. Bömer (1976), 337, womöglich in der Tradition von Meineke (1825), 380, der es mit Fäulnis über-setzen will. Besser haben v. Albrecht (1994) und Holzberg (2017) vitium in ihren Übersetzungenmit ‚Seuche‘ wiedergegeben.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung an dieser Stelle ist nachvollziehbar, da er für seine Argumentation u. a. auf die Dissertation von Fritz Schoknecht zu vitium und dessen Entwicklung zurückgreift. Dieser wiederum geht auf der Grundlage von Ciceros Tusculanen von einer klaren Scheidung von morbus und vitium vor Celsus aus.550 Die vorliegende Stelle sowie der angegebene Eklogenvers ergeben jedoch ein anderes Bild, zumal der Bezug auf die Krankheit an einzelnen Gliedern, wie er bei Cicero für vitium geschildert wird, im vorliegenden Zusammenhang keinen Sinn ergibt.551 Der Schritt zu Bömers ‚Gift‘ liegt ferner als schlicht anzunehmen, dass die Ausweitung des Begriffs (zumin- dest in der Dichtung) früher stattgefunden hat als u. a. von Schoknecht angenommen. Deshalb wird vitium im allgemeinen Sinne als ‚Krankheit‘ übersetzt. Met. 7,533–535 Es ist bekannt … mit ihrem Gift verdarben : Mit diesen Versen fügt Ovid der Übertragung der Krankheit durch die Luft auch dieje- nige über das Wasser hinzu.552 Mit diesen beiden Elementen umfasst die Beschreibung die beiden Überträgermedien, welche die Motivtradition kennt.553 Zwar war bereits bei Lukrez (6,1126 in aquas cadit ) und Vergil (Georg. 3,481 corrupitque lacus ) die Rede von einer In-
550 Vgl. Schoknecht (1930), 32–37 mit Cic. Tusc. 4,28: Quo modo autem in corpore est morbus, est aeg- rotatio, est vitium, sic in animo. morbum appellant totius corporis corruptionem, aegrotationem mor- bum cum imbecillitate, vitium, cum partes corporis inter se dissident , ex quo pravitas membrorum, distortio, deformitas. (‚Wie es nun im Körper Krankheit, Übelbefinden und vitium gibt, so auch im Geist. Mit Krankheit bezeichnet man die vollständige Verdorbenheit des Körpers, mit Übelbefin-den Krankheit, die mit Schwäche einhergeht, mit vitium (~Mangel) den Zustand, wenn Teile des Körpers nicht zueinander passen , worunter Verkümmerung, Verdrehung, Entstellung der Glieder zählen.‘)
551 Daneben ist auch Verg. georg. 3,454ff. zu nennen, wo ebenfalls im Krankheitskontext vom vitium die Rede ist: alitur vitium vivitque tegendo, | dum medicas adhibere manus ad volnera pastor | abnegat et meliora deos sedet omina poscens . (‚ Die Krankheit nährt sich und lebt im Verborgenen, solange der Hirte sich weigert, heilende Hände an die Wunden zu lassen, untätig herumsitzt und bessere Vor-zeichen von den Göttern einfordert.‘)
552 Der von Anderson (1972, 300) gesehene Widerspruch besteht m. E. nicht – es handelt sich nicht um zwei widerstreitende Erklärungsansätze, sondern um die Schilderung der zwei Infektionsmöglich-keiten, zum einen über die Luft, zum anderen über das Wasser.
553 Lucan (6,93f.) erhebt das Wasser sogar in seiner Eignung als Überträgermedium über die Luft (s. u. Komm. zur Stelle). Den umfassenden Charakter von Ovids Ätiologie hob Georg Sabinus, ein Schüler Philipp Melanchthons, im Jahr 1555 in einem Kommentar hervor und gab damit zugleich eine Zu-sammenfassung zeitgenössischer Theorie: „Physici tradunt vicium seu corruptionem aeris esse cau-sam pestilentiae, ipsumque aera corrumpi et venenato terrae vapore et multorum cadaverum foetore. Interdum etiam ex vicio aquarum gigni pestilentem morbum. Quas Physicas causas omnes Ovidius erudite complectitur.“ (‚Die Ärzte lehren, die Krankheit oder Vergiftung der Luft sei Grund für eine Pest, die Luft selbst werde verdorben durch giftige Dämpfe aus der Erde und den Gestank vieler Lei-chen. Bisweilen entstehe eine Pest sogar aus der Krankheit von Gewässern. All diese Ursachen der Ärztezunft gibt Ovid auf gelehrte Art vollständig wieder.‘)
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fektion des Wassers, jedoch wird an der vorliegenden Stelle eine Erklärung gegeben, die über den Krankheitsstrom oder ein Wetterphänomen hinausgeht: Das Wasser wird (zusätz- lich?) durch das Gift von Schlangen verdorben.554 Schlangen genossen in der griechisch-rö- mischen Antike einen ambivalenten Ruf, da ihnen einerseits (insbesondere im Zusammen- hang mit Asklepios) heilende Kräfte zugeschrieben werden konnten; andererseits wurden sie als chthonische Wesen mit der Unterwelt verknüpft und galten als unheilvolle Dämonen.555 Letztere Konnotation liegt hier vor und kann bei genauerer Betrachtung ein Verständnis- problem der inculti agri lösen: Diese führten bei manchen Interpreten zu Verwunderung über eine gewisse zeitliche Inkohärenz, da es sich hier doch um den Anfang der Pest handeln müsse; es sei nicht nachvollziehbar, dass die Äcker bereits an dieser Stelle nicht bestellt wür- den.556 Dafür gibt es einen plausiblen (textimmanenten) Lösungsvorschlag – in incultos liegt m. E. ein sog. Partizip mit Möglichkeitsbedeutung vor, die Felder sind folglich unbestellbar und nicht unbestellt.557 Die Unbestellbarkeit wiederum kann mehrere Ursachen haben: Ent- weder verwüstet die schiere Anzahl der Schlangen ( multa milia serpentum ) die Felder und die Menschen sind schlichtweg verängstigt oder das Schlangengift tritt auch an dieser Stelle554 Die Kommentatoren vergleichen Hyg. fab. 52, wo ebenfalls die Pest auf Ägina beschrieben wird, Iuno jedoch nur eine einzige Schlange schickt, um das Wasser zu vergiften. Eine Interpolation, wie Rohde (1929, 36 Anm. 11) sie annehmen wollte, ist trotz der unüblichen Form des errasse (vgl. Bömer 1976, 337) nicht nachzuweisen. Kenney (2011, 279) macht zu Recht darauf aufmerksam, dass die Ver-giftung (535 fluvios temerasse venenis ) an die Vorlage des Thukydides (2,48,2, T III A) erinnert. An-gesichts der Übereinstimmung, die zu Beginn von Ovids Beschreibung festgestellt wurde, erscheint eine direkte Bezugnahme durchaus möglich.
555 Vgl. Crawfurd (1914), 2f., Rosenberger (1998), 115, Ritzmann (2005), 777f. und Hartmann (1921), 507–514, aus dessen Beschreibung der Schlange auch die Übertragbarkeit auf Seuchen schlüssig erscheint (509): „Gemeinsam ist allen diesen und noch vielen anderen Völkern nur der Ausgangs-punkt, der Eindruck nämlich, den der unheimliche Charakter der S[chlange] auf den primitiven Menschen macht, ihr lautloses Dahingleiten, ihr rätselhaftes Verschwinden und Erscheinen, ihr faszinierender Blick […], ihr schneller und tödlich-wirkender Angriff.“ Ähnlich urteilen auch Fin-negan (1999), 40 und Barton (2000), 101 Anm. 209. Vergleichbar ist die Vorstellung der Krankheit als Wurm, wie sie für die ägyptische Medizin belegt ist (vgl. Steger 2021, 21). Als böses Omen treten Schlangen auch in Obseq. 68 auf, wo sie den Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius ankündi-gen. Nennenswert ist vor diesem Hintergrund auch Greg. Tur. Hist. 10,1, wo bei einer Tiberüber-schwemmung vor dem Seuchenausbruch am Ende des 6. Jahrhundert Schlangen in die Stadt gespült werden.
556 Anderson (1972, 300) übergeht die Problematik und geht von einer zeitlichen Aufeinanderfolge aus. Kenney (2011, 279) deutet die Vorwegnahme so, dass der Dichter die Schlangen eher als Verschlim-merung der ohnehin bestehenden Problematik ansieht. Fickelscherer (81920, 92f.) erklärte die un-bestellten Felder mit der Trägheit der Menschen ( ignavos ) und der Dürre. Gardner (2014, 18 und erneut 2019, 154) sieht in den inculti agri eine Anspielung auf den Zustand des Goldenen Zeitalters. Im Folgenden wird ein simplerer Lösungsweg unterbreitet.
557 Zum Partizip Perfekt mit Möglichkeitsbedeutung (belegt seit den Augusteern) vgl. LHS II § 209b.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung aus, sodass neben dem Wasser auch die Erde (und mit ihr die Feldfrüchte)558 vergiftet wird. Letztere Variante ist auch deshalb attraktiv, weil neben Luft und Wasser auch die dritte Sphäre, die Erde, umfasst würde.559 Met. 7,536f. Zuerst wurde an Leichenhaufen der Hunde … und an wilden Tieren : Die ersten beiden Verse der Infektion heben zum einen die Vielfalt der Tierrassen und die Quantität der Kadaver, zum anderen die bereits mehrmals angesprochene Plötzlichkeit der Krankheit (Rapidität, vgl. Kapitel 1.6) hervor. Ovid lässt das Sterben mit den Tieren beginnen, die er zunächst in einer Aufzählung unspezifisch nebeneinanderstellt, um sie im Folgenden in einzelnen Schritten zu behandeln. Von den anfangs genannten Tieren werden zunächst die Schafe ( oves )und Rinder ( boves ) expliziert; das Pferd kommt hinzu, bevor die wilden Tiere ( ferae ) und deren abweichendes Verhalten geschildert werden. Die Gesamtanlage der Verse 536–546 ist von Vergils Seuchenbeschreibung inspiriert, wobei Ovid die Reihenfolge variiert (in der Vorlage Opfertier – Pferd – Stiere – Wildtiere hin zu Stiere – Schaf – Pferd – Wildtiere). Trotz dieses ersten Eindrucks ist die Rezeption nicht rein linear, da in den Versen 596–601 er- neut Aspekte aus Vergils Darstellung verarbeitet werden. Met. 7,541 fiel ihre Wolle von allein und ihre Körper magerten ab : Gardner sieht an dieser Stelle zu Recht eine Anspielung auf Beschreibungen des Goldenen Zeitalters.560 Ovids Vorgänger Vergil hatte mit seiner ‚Travestie‘ (s. o. Komm. zu Verg. georg. 3,537–540) ein Motivelement in die Pest eingeführt, das aus dem Schrecken des Todes eine Relativierung der Mühelosigkeit (Beseitigung des labor improbus ) und des Überflusses welt- licher Güter herleitet. Diese Güter, die der Mensch nunmehr von der Natur erhält, ohne dass sie ihr durch seine Arbeit abgetrotzt werden müssten, verlieren ihren Wert im Massensterben. Diesen Gedanken hat Ovid mithilfe eines neuen Elementes auf einen Vers verdichtet:561 Der vermeintliche Gewinn der Wolle wird sogleich durch die Abmagerung der Tiere aufgewogen; dabei ist auf die künstlerisch geschickte Umsetzung hinzuweisen, dass der Rezipient den Ein-
558 Damit wäre nebenbei Vallillees (1960, 106) Verwunderung darüber hinfällig, dass Ovid dieses in beinahe allen Vorlagen vorhandene Motiv nicht verarbeitet hat.
559 Die Erde als Krankheitsträger tritt auch in Sil. 14,591 squalebat tellus vitiato fervida dorso auf (s. Komm. zur Stelle).
560 Vgl. Gardner (2019), 156f. und Verg. ecl. 4,21f. ipsae lacte domum referent distenta capellae | ubera . (‚Von sich aus werden die Ziegen ihre mit Milch prall gefüllten Euter nach Hause bringen.‘)
561 Die von sich aus abfallende Wolle scheint weder Vorgänger noch Nachfolger gefunden zu haben. Bömer (1976, 338) verweist lediglich für die Stellung des sponte sua auf Ov. met. 1,90, ebenso Kenney (2011), 280. Auch ein Blick auf Sprichwortsammlungen der Antike und des Mittelalters führt zu keiner Parallele – es handelt sich folglich um eine Eigenheit Ovids.
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druck erhält, das Abfallen der Wolle mache gleichsam den eigenen Blick auf die Auszehrung der Tiere frei. Met. 7,542–544 das Pferd, einst mutig und ruhmreich … einem trägen Tode geweiht : Das Pferd erhält mit drei Versen eine Sonderstellung in der Aufzählung der Nutztiere.562 Dies findet (ähnlich wie bei Vergil) sicherlich auch seine Begründung im Status, den dieses Tier für die griechisch-römische Gesellschaft besessen hat.563 Im Vergleich mit Vergil fällt nichtsdestoweniger auf, dass die Übersteigerung des dem Pferd eigenen Kampfesmuts zur Ra- serei einer absoluten Erschöpfung gewichen ist. Ovid legt den Schwerpunkt auf die Opposition des ursprünglichen, energischen Wesens und der Todesart ( mors iners ). Met. 7,545f. Nicht gedachte der Eber zu zürnen … auf das kräftige Weidevieh loszugehen : Bei der Verarbeitung des Abschnitts zur Wesensverkehrung in Zeiten der Pest (=Verg. georg. 3,531–547) nutzt Ovid von Vergil an anderer Stelle beschriebene Tiere,564 vermutlich auch, um eine bloße Wiederholung zu vermeiden. Die einzige Überschneidung besteht im scheuen und schnellen Wild, das nicht mehr davonläuft, wobei der Prodigiencharakter aus den Georgica keine Entsprechung findet (s. Anm. 442, S. 201). Ausgetauscht wird der Wolf durch den wüten- den Eber, der Aspekt der Gefährdung der Herde wird mit der Einführung der Bären in die Rei- he aufgenommen.565 Bömer hat in seinem Kommentar Motivation und mögliche Vorlagen für Ovid dargelegt, wobei er die Ungewöhnlichkeit dieser Verbindung von wilden Bären und Wei- devieh hervorhob.566 Mit Blick auf seine Aussage, die Formulierung armenta fortia sei „reiner poetischer Schematismus“,567 da doch in der Situation der Pest keines der Tiere noch als fortis zu bezeichnen sei, ist ihm zu widersprechen. Diese Bewertung geht nämlich dahingehend fehl, dass der Dichter hier nicht die konkrete Situation vor Augen hat, sondern dem Rezipienten anhand des Epithetons das übliche Charakteristikum der Tiere aufzeigt – das entspricht auch562 Für die Argumentation gegen eine Athetese von Vers 543 vgl. Marahrens (1971), 115f.
563 Klingner (1967, 286) sieht in Vergils drittem Georgicabuch, auf das Ovid mit seiner Beschreibung Bezug nimmt, das Bestreben, das Pferd als göttliches Wesen zu zeichnen. Zur Prestigeträchtigkeit des Pferdes, das stets auch Zeichen ökonomischer Unbeschwertheit ist, vgl. Kitchell (2014), 88–91.
564 Vgl. Verg. ecl. 4,22 nec magnos metuent armenta (‚Weidevieh‘) leones und Verg. georg. 3,247–249: tam multa informes ursi (‚hässliche Bären‘) stragemque dedere | per silvas; tum saevus aper (‚der wilde Eber‘), tum pessima tigris; | heu male tum Libyae solis erratur in agris (s. auch Anm. 428, S. 197). Bei der Besprechung der Georgica wurde bereits auf die enge Verbindung des Abschnitts zur Sexuali-tät und der Pest hingewiesen – eine motivische Entlehnung von dort für die Neuverarbeitung der Pest legt nahe, dass eine solche auch in der Antike gesehen wurde.
565 Vgl. Toynbee (1973), 93–100 zu Bären, 131–136 zu Ebern und Schweinen.
566 Vgl. Bömer (1976), 339f.
567 Ibid., 340.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung dem allgemeinen Erzählmodus der Wesensverkehrung.568 Schwierig bleibt die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Eber und Bär: Da beide für ihre (vermutlich) sprichwörtliche Wut und Gefährlichkeit angeführt werden, entsteht eine gewisse Redundanz. Met. 7,550f. sie zerfielen und schmolzen … und trugen die Ansteckung in die Ferne : Anhand der Zuschreibung einer aktiven Tätigkeit an die ‚schmelzenden‘569 Tierkadaver ( agunt 570 contagia late ) führt der Dichter mit dem miasmatischen Leichnam ein neues Element in die Motivtradition ein.571 Bei Lukrez war die Ausbreitung durch den atomaren Krankheits- strom und bei Vergil durch die vergiftete Luft von vornherein ausreichend begründet; dennoch konnte bei der Betrachtung von Vergils Seuchenbeschreibung ein Innovationsdrang beim Übergang der Krankheit vom Vieh auf den Menschen festgestellt werden, indem er sich nicht auf die Übertragung durch das Fleisch beschränken wollte (s. o. Komm. zu Georg. 3,561–563). In vergleichbarer Weise liefert Ovid mit den miasmatischen Kadavern nun eine eigene Be- gründung dafür, wie die Krankheit (und mit ihr die Erzählung) von den Nutz- und Wildtieren zu den Menschen übergeht.572 Folglich ist Vallillee, der Ovid aufgrund von dessen Rückgriff auf eine Vielfalt literarischer Vorlagen (und deren vermeintlich unvereinbare narrative Sys- teme) zu dieser Neuerung gezwungen sieht, nicht zuzustimmen; vielmehr ist mit Anderson anzunehmen, dass es sich um eine bewusst gesetzte und geschickte Innovation handelt, die
568 Vergleichbar Kenney (2011), 280. Für das Bild vgl. Sil. 4,563 ut subigente fame diversis rupibus ursi | invadunt trepidum gemina inter proelia taurum . (‚Wie unter dem Zwang des Hungers in zerklüfteten Gebirgen Bären den zitternden Stier in eine Schlacht von zwei Seiten drängen.‘). Die Furcht des Stiers ergibt sich durch die Bedrängnis durch gleich zwei hungrige Bären.
569 Zur Konzeption der Verwesung anhand verflüssigender Fäulnis vgl. oben Komm. zu Verg. georg. 3,557.570 Die Diathese tritt insbesondere durch einen Vergleich mit der Rezeption bei Lucan. 6,88–90 hervor, bei dem syntaktisch nicht die Leichen selbst die Verbreitung der Krankheit verursachen, sondern die Luft ( caelum ), s. auch unten den Komm. zur Stelle.
571 Den Leichnam als Krankheitsüberträger hat bereits Thukydides (2,50,1) vorbereitet, als er beschrieb, wie die wilden Tiere nach dem Leichenfraß selbst verendeten, vgl. auch Demont (1983), 347 und Soph. OT 180f.
572 Bodel (1994, 36) spricht in seiner Untersuchung zur Lex Lucerina von einer späteren Entwicklung dieses Wissens: „Awareness of the sanitary risks caused by the exposure of decomposing human flesh in areas of human activity does not seem to be explicitly attested before the last quarter of the second century AD, but there is some reason to believe that Romans of an earlier day, whatever their understanding of the mechanics of transmission, recognized an association between rotting corpses and poor health.“ (Hervorhebung FN) Die Unbestimmtheit sowohl des Zeitpunkts als auch der Vor-stellungsart lässt sich mit Ovids expliziterÄußerung konkretisieren: In der ersten nachchristlichen Dekade findet sich die Idee einer Vergiftung der Luft durch verwesende Leichen, die zur Verbrei-tung von Krankheiten beitrug; Gegenmaßnahmen finden sich ebenfalls in diesem Jahrhundert, s. Anm. 67, S. 356.
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unabhängig von ihrer narrativen Funktion auch eine wichtige Vorstellung von Krankheits- übertragung widerspiegelt.573 Met. 7,552f. zu den armen Bauern … in den Mauern meiner großen Stadt : Anderson ist etwas ungenau in seiner Behauptung, Ovid habe sich hier von Lukrez inspi- rieren lassen, der die Bauern bereits krank in die Stadt wandern ließ.574 Bemerkenswerterweise greift Ovid die Wanderung der Bauern überhaupt nicht auf, sondern spricht nur von der An- steckung auf dem Land und in der Stadt. Die Trennung von Stadt und Land entspricht zwar der des Lukrez (im Gegensatz zu Thukydides), jedoch auch dem typischen Beschreibungsmo- dus von Geschichtsschreibern, bei denen Seuchen in der Regel Ländereien und Städte heim- suchen (s. Anm. 99, S. 126), und damit wohl einer generellen Vorstellung; darüber hinaus wird, als logische Konsequenz der Auslassung der Wanderung, auch keine kausale Zuordnung vor- genommen. Spuren des Lukrez sind dementsprechend kaum auszumachen. Angesichts der unmittelbar vorausgehenden Formulierung des agunt contagia late (dazu s. o.) erscheint die Verbreitung der Krankheit vielmehr auch ohne die Annahme einer Landflucht plausibel und dem Text näher.575 Met. 7,554–557 Die Eingeweide brannten zuerst … wurde gierig eingesogen : Wie bereits oben bei der Verarbeitung der Tierszenen ersichtlich wurde, fasst Ovid die von seinen Vorgängern behandelten Elemente häufig zusammen; so wird auch die Aufzählung der Symptome der Menschen, die von Thukydides und Lukrez beschrieben wurden, stark gerafft: Brennen der Eingeweide ( viscera torrentur ), Rötung der Haut ( rubor ), heißes Keuchen ( ductus anhelitus igni ), Schwellung der rauen Zunge ( aspera lingua tumet ), Mundtrockenheit ( arentia ora , vgl. auch Anm. 397, S. 190) und Durst, Verhärtung des Oberbauchs ( praecordia dura ) wer- den in rascher Folge aneinandergereiht. An diesem Katalog fallen mehrere Aspekte auf: Zu- nächst beschränkt sich der Dichter ausschließlich auf die obere Körperhälfte,576 eine Beschrei- bung von Magenbeschwerden oder gar Ausscheidungen (s. Komm. zu Lucr. 6,1200) bleibt aus. Auffällig ist weiterhin, dass die von Lukrez sehr umfänglich dargelegten signa mortis auf ihren dramatischen Kern, das letzte Verdrehen der Augen, reduziert werden (s. u. zur Stelle).573 Vgl. Vallillee (1960), 111 und Anderson (1972), 301.
574 Vgl. Anderson (1972), 302. Womöglich formulierte er aus den im Folgenden skizzierten Gründen sehr vorsichtig: „ To some extent , he may be inspired to this transition“ (Hervorhebung FN).
575 So auch Kenney (2011), 281: „I due versi di Ovidio danno l’impressione di una devastazione totale e quasi simultanea“.
576 Mit dieser Schwerpunktsetzung prägt Ovid die Symptomatik seiner Nachfolger, die den Erkrankten ebenfalls weitestgehend ins Gesicht blicken, vgl. auch Kapitel 3.1.3.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Met. 7,555 igni: In den meisten Handschriften findet man igni / igne überliefert, aegre ist hingegen eine Konjektur von Heinsius, die sich zudem nach Tarrants Oxford-Ausgabe mindestens in ei- ner Renaissancehandschrift findet. Tarrant druckt entsprechend aegre , ebenso einige neuere Herausgeber wie Hill und Kenney. Letzterer sieht hierin den Vorteil, dass ein lukrezischer Versschluss (6,1223) entstehe und eine unnötige Betonung des igni vermieden werde.577 Die Überlieferung sei als Glosse zu erklären. Aus dieser Lösung ergeben sich nicht zuletzt inhalt- liche Schwierigkeiten, da nicht unmittelbar ersichtlich wird, wie eine schwergängige Atmung (so die bisherige Interpretation) eindeutiges Anzeichen eines inneren Feuers ist. Anderson druckt igni , sieht darin jedoch einen Ablativus causae und den Beginn des neuen Satzes.578 Problematisch an dieser Lösung ist die unnachvollziehbare Betonung des igni als Enjambe- ment, die Kenney zum Anlass für die Übernahme der Konjektur nahm. Hier wird ein anderer Weg beschritten, indem die Interpunktion der alten Teubneriana von Merkel wieder aufge- griffen wird. Dieser druckt igni und setzt danach eine harte Interpunktion. Wie ist dies aber zu verstehen? Bislang wurde der ductus anhelitus als schwergängige Einatmung oder nicht näher differen- ziert als Atmung aufgefasst. Dieses Verständnis ist nicht zwingend: Bei Gellius (12,5,2) findet sich folgende Beschreibung des erkrankten Taurus: Et ubi ad aedes, in quis ille aegrotus erat, pervenimus, videmus hominem doloribus cru- ciatibusque alvi, quod Graeci κόλον dicunt, et febri simul rapida adflictari gemitusque ex eo conpressos erumpere spiritusque et anhelitus e pectore eius evadere non dolorem magis indicantes quam pugnam adversum dolorem. Daraus wird ersichtlich, dass anhelitus nicht nur das stoßweise Einatmen, sondern auch analog ein keuchendes Ausatmen bezeichnet. Die Tätigkeit der Ausatmung kann ebenfalls durch du- cere ausgedrückt werden.579 Nach dieser Interpretation wäre igni entweder als Ablativus modi oder als Angabe des räumlichen ‚Woher‘ zu deuten,580 das die vorher bereits genannten Flam- men im Innern nach außen treten lässt: Es handelt sich um ein heißes Keuchen, aus dem das
577 Vgl. Kenney (2011), 281.
578 Vgl. Anderson (1972), 302.
579 Vgl. Auct. ad Herenn. 4,45 A pluribus unum sic intellegetur: ,Atrox calamitas pectora maerore pulsa- bat; itaque anhelans ex imis pulmonibus prae cura spiritus ducebat .‘
580 Vgl. KSt II,1 361 und 408f. Der Wegfall der Präposition (bei Abl. sep.) wäre der dichterischen Sprach-freiheit zuzuschreiben.
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innere Feuer für den Beobachter ersichtlich wird.581 Damit können die von Kenney genannten Schwierigkeiten durch die Änderung der Interpunktion und der semantischen Deutung des anhelitus behoben werden. Ein weiteres Argument für die Beibehaltung der Überlieferung kann auch eine Rezeption in der Seuchenbeschreibung des Silius (14,601) liefern: aspera pulmonem tussis quatit, et per anhela igneus efflatur sitientum spiritus ora.Ein rauer Husten erschütterte die Lunge und der Atem der Dürstenden trat wie Feuer mit einem Keuchen aus ihrem Mund. Freilich ist Ovid an dieser Stelle nicht die einzige Bezugsquelle des Silius (vgl. Appendix A1), doch scheint der Gedanke des feurigen Atems ausschließlich eine Parallele in der überlieferten Textfassung der Metamorphosen zu finden.582 Für sich genommen ist dies zwar kein belast- bares Argument für die Beibehaltung (der Vorwurf der petitio principii läge nah), kann jedoch in Verbindung mit der obigen Argumentation als Plausibilitätsargument angeführt werden. Met. 7,558 keine Decke, keine Art von Verhüllung : Die Unfähigkeit der Erkrankten, Kleidungsstücke an ihrer Haut zu ertragen, wurde auch von Thukydides (2,49,5 T V) erwähnt. Ein im Zusammenhang mit Lukrez (s. o. Komm. zu Lucr. 6,1163–1165) mehrfach herangezogener Passus des Celsus über das Brennfieber be- schreibt, dass die Kranken in Gewänder eingehüllt werden sollen.583 Met. 7,559 dura: Tarrant übernimmt in der Oxford-Ausgabe Scheppers Konjektur nuda in den Text,584 der die These aufstellte, aus dem Zusammenhang werde ersichtlich, dass nuda zu lesen sei. In der Folge ent-
581 Ein vergleichbares Symptom beschreibt auch Galen im vierten Buch seiner Schrift De locis affec- tis 471 (= 8,275 K.): ἔτι δὲ καὶ τοῦτο πρόσεστι τῇ διὰ θερμασίαν πολλὴν δυσπνοίᾳ κατὰ μέγεθος καὶ πυκνότητα καὶ τάχος γινομένῃ, τὸ μετ’ ἐκφυσήσεως γίνεσθαι τὴν ἐκπνοὴν θερμοῦ καὶ ζέοντος πνεύματος· (‚Weiterhin kommt dies noch hinzu, wenn wegen zu viel innerer Hitze Atemschwierig-keiten in Hinblick auf die Tiefe, die Frequenz und die Schnelligkeit entstehen, dass der ausgeatmete Hauch kochend heiß wird.‘); s. im Extrem auch Anm. 592, S. 236.
582 Inwiefern die in Platons Timaios (79b–e) geschilderte Respirationstheorie einen unmittelbaren oder mittelbaren Einfluss auf diese Konzeption ausgeübt hat, lässt sich nicht rekonstruieren. In jedem Fall ist dessen Darstellung illustrativ für die Sonderrolle, die der Wärme bzw. dem Feuer im Atemvor-gang zugeschrieben werden konnte.
583 Vgl. Cels. 3,7,2c Ubi utrumlibet factum est, multa veste operiendus est, et collocandus ut dormiat. (‚Sobald eines von beidem [s. Anm. 157, S. 137] geschehen ist, muss der Patient mit zahlreichen Ge-wändern bedeckt und gelagert werden, damit er schläft.‘)
584 Vgl. Burmann (1727), 517.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung schied sich die Mehrzahl der Herausgeber dennoch für den consensus codicum , dura . Nichtsdesto- weniger steht die Konjektur durch Tarrants Entscheidung zur Diskussion, die durch einen Blick auf medizinische Fachschriften entschieden werden kann. Dort findet sich nämlich die Verbindung praecordia dura wiederholt als Fachausdruck für die Verhärtung (und die damit häufig einherge- hende Schwellung585) eines bestimmten Abschnittes des Bauches unterhalb der Brust.586 Zur Illust- ration kann insbesondere Cels. 3,20,6 mit seinen diätetischen Maßnahmen herangezogen werden: Si praecordia mollia sunt, cibis utendum plenioribus; si dura, in isdem sorbitionibus subsistendum, inponendumque praecordiis quod simul et reprimat et molliat.
Wenn der obere Bauch weich ist, muss man reichere Kost verschreiben; wenn er hart ist, muss man bei der oben genannten Brühe bleiben und dem Bauch etwas auflegen, das ihn zugleich abschwellen lässt587 und weich macht. Es handelt sich folglich bei den praecordia dura zum einen um eine Innovation im Bereich der Symptome. Zum anderen scheint es sich eindeutig um eine Entlehnung aus der Fachsprache
585 Mehrfach wird die Schwellung (ἔπαρσις, éparsis) oder Spannung (ἔντασις, éntasis) in diesem Bereich im Corpus Hippocraticum beschrieben, vgl. exemplarisch Hp. Prorrh. 2,4 (= 9,20 L.) und Epid. 3,1,2 (= 3,32–38 L.).
586 Vgl. OLD s.v. praecordia (1b), 1426 und Cels. 2,7,30; 2,17,4; 3,7,2c; 4,15,1; 5,18,7a sowie Scrib. Larg. 265. Caelius Aurelianus spricht später vorwiegend von der tensio praecordiarum , welche die oben genannte Schwellung bezeichnet. Bömer (1976, 343) nimmt m. E. unnötigerweise an, dass der Aus-druck an der vorliegenden Stelle eine andere Semantik besitzen müsse als in den medizinischen Fachschriften. Insbesondere der Zusammenhang legt nahe, dass sich Ovid medizinischen Vokabu-lars bedient hat, um eines seiner Symptome zu beschreiben. Es ist gerade der Zusammenhang, der nach André (1991, 220f.) und Langslow (2000, 276) betrachtet werden muss, um die Bedeutungsviel-falt des Begriffes einzugrenzen.
587 Die Bedeutung des reprimat ist an dieser Stelle anders aufgefasst als in der Übersetzung von Thomas Lederer (2016, 209), der es im Zusammenhang von Wickeln konsequent mit ‚der Krankheit Einhalt gebieten‘ übersetzt. Mit Blick auf Cels. 2,9,2, wo eine Kategorisierung therapeutischer Maßnahmen vorliegt, tritt reprimere als Gegensatz zu evocare hervor: Omne vero auxilium corporis aut demit aliquam materiam aut adicit, aut <e>vocat aut reprimit, aut refrigerat aut calefacit, simulque aut durat aut mollit: quaedam non uno modo tantum sed etiam duobus inter se non contrariis adiuvant. (‚Jedes Hilfsmittel für den Körper nimmt entweder etwas von seiner Substanz oder fügt etwas hinzu, lockt entweder hervor oder reprimit , kühlt entweder herab oder heizt auf und entsprechend härtet es entweder oder macht weich: Manche Mittel helfen nicht nur auf eine Art, sondern auch auf zwei Weisen, die nicht zueinander im Gegensatz stehen.‘). Die beiden Verba scheinen eine klare räum-liche Vorstellung zu implizieren (auch unabhängig vom Präfix e -), nach der das Übel entweder nach außen gelockt (und damit ausgeschieden) oder nach innen gedrückt (und damit gehemmt) werden soll. Entsprechend hat Lederer mit seiner Übersetzung zwar Recht, doch hat letztlich jede der in 2,9,2 genannten Therapien das Ziel, der Krankheit Einhalt zu gebieten – das reprimere sollte dennoch auch in seiner räumlichen Vorstellung erfasst werden und wird entsprechend mit ‚abschwellen‘ wieder-gegeben.
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zu handeln, die jedoch früh im übertragenden Sinne für cor und damit den Sitz von Gefühlen und Tugenden gebraucht wurde.588 Met. 7,560 sondern der Boden glühte von ihren Körpern : Der Erde werden von Aristoteles die Primärqualitäten ‚trocken‘ und ‚kalt‘ zugeschrieben, die ihr auch im entwickelten Viererschema zukommen.589 Von Seiten der Pharmakologen wird zu Ovids Lebzeiten die heilende Wirkung von Erde unterschiedlicher Ursprungsorte differenziert betrachtet, wie in der zweiten Hälfte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts durch Pedanios Dioskurides, der deren Wirkung ebenfalls der Kühlung zuschreibt.590 Vor dem Hintergrund der technisch fortgeschrittenen Nutzung von Erde im pharmakologi- schen Bereich schiene der Versuch der Selbsthilfe an dieser Stelle umso verzweifelter – ob der gebildete Rezipient jedoch derartige Fachkenntnisse besaß (und sei es durch die Er- fahrung als Patient), bleibt im Dunkeln. Unabhängig davon unterstreicht das Adynaton des Sieges der Krankheit über die Primärqualität der Erde ihre über- oder widernatürlich wirkenden Kräfte.591 Dabei führt der lateinische Begriff fervet (‚glüht‘), der auch für das menschliche Fieber Verwendung findet, zu einer Parallele zwischen Erkrankten und Ele- ment,592 die möglicherweise über die Wärmeübertragung hinausgeht und eine Sympathie grundlegt.593588 Vgl. Keudel, TLL X,2 (1985), s. v. praecordia , 512, 22ff. Keudels Eintrag führt die vorliegende Stelle nicht auf und ist dahingehend zu ergänzen.
589 Vgl. Arist. GC 330b und Schöner (1964), 66: „Eminent wichtig ist aber die Ausgestaltung, die das Viererschema im ‚Corpus Aristotelicum‘ (C. A.) erfuhr und die infolge der Autorität des Aristoteles auf philosophischem Gebiet auf die Viersäftelehre übertragen wurde: Es ist die bewußte und aus-drückliche Zuordnung von vier Qualitätenpaaren zu den vier empedokleischen Elementen.“
590 Vgl. u. a. Dsc. 5,169 und Stamatu (2005c), 267f.
591 Wenngleich in Dutoits Auflistung der Adynata in griechischer und römischer Dichtung kein vergleichbares aufgeführt ist, zeugen insbesondere solche von der Art ‚Wasser bringt Feuer her-vor‘ oder ‚Feuer bringt Eis hervor‘ vom Spiel mit Elementen und Primärqualitäten (vgl. Dutoit 1936, 169). Rowe (1965, 390 und 396) nimmt an, dass es ganze Listen mit Adynata für den lite-rarischen Gebrauch gegeben haben muss, da sie als eine Unterart des Sprichworts verstanden wurden.
592 Eine bemerkenswerte Parallele zu dieser Vorstellung findet sich noch in der ‚Deutschen Encyclopä-die oder Allgemeinen Real-Wörterbuch aller Künste‘ unter dem Lemma Kausos (1796, 440; Hervor-hebung FN): „Die Kennzeichen dieser Krankheit sind: ein harter und voller Puls, der hier merkli-cher ist, als in andern Krankheiten; starke Hitze, ein heftiger Durst, der zuweilen plötzlich nachläßt, eine außerordentliche Trockenheit der Augen, Nase, Lippen, Zunge und des Halses, heftiger Kopf-schmerz, und zuweilen in den Anfällen des Fiebers, Verwirrung der Sinnen; Heißwerden der Luft im Zimmer durch den Odem des Kranken “.
593 Zur Verwendung von fervor vgl. bspw. Cels. 2,7,28 post magnos fervores corporis nervorum rigor aut distentio (‚Nach starkem Glühen des Körpers folgt Steifheit oder Krampfen der Muskeln‘) und zur
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Met. 7,561–567a Keiner war da, der Einhalt gebot … Nützlich war nämlich nichts : Bereits in der obenstehenden Diskussion zur Tilgung der Verse 525–527 wurde für diesen Abschnitt eine große Nähe zu Thukydides festgestellt.594 Folgende Elemente sind als Gemein- samkeiten herauszustellen: a) Keiner war da, der Einhalt gebot,595 insbesondere gegen die Heiler brach das Wüten der Katastrophe los und die Heilkünste schadeten ihren Herren:
Denn je näher ein jeder einem Kranken war und je treuer er ihn pflegte, desto schneller trat er auf die
Seite des Todes;596a1) 2,47,4: Weder nämlich konnten Ärzte, die ohne Kenntnis der Erkrankung diese zum ersten Mal behandeln mussten, etwas ausrichten, starben vielmehr selbst am ehesten, da sie ja am meisten zu den Kranken gingen …b) und sobalddie Hoffnung auf Rettung vergangen war und die Kranken das Ende der Krankheit in ihrem Tod erkannten,b) 2,51,4 Das Schrecklichste an der ganzen Mise-re war aber die Verzweiflung, sobald einer spür-te, dass er krank war (denn da sie innerlich sofort jede Hoffnung verloren, gaben sie sich umso mehr auf und hatten der Krankheit nichts entgegenzu-setzen) …c) ergaben sie sich ihren Begierden und keiner kümmerte sich mehr darum, was von Nutzen sein könnte:c) 2,53,1 Auch anderweitig war diese Krankheit für die Stadt der Anfang einer zunehmenden Auf-lösung von Brauch und Gesetz. Leichter wagte nämlich jetzt so mancher, nach Lust und Laune zu machen, was er vorher geheim zu halten ver-sucht hatte, da man ja sah, wie die Dinge abrupt umschlugen …
Untersuchung sympathetischer Naturbeschreibung Posch (1969), 92–101. Diese stoische Form der kosmischen Sympathie wird im Zusammenhang von Senecas Tragödie weiter unten besprochen (s. u. a. Komm. zu Oed. 1–5).
594 Vgl. auch Nardi (1647, 538) in der 37. animadversio seines Lukrezkommentars.
595 Die lateinische Bezeichnung moderator wird in der Motivtradition nur noch in Lucr. 6,1247 ver-wendet, dort jedoch speziell für den Bauern ( moderator aratri ). Fickelscherer (81920, 94) sieht im moderator das Bild des Wagenlenkers angedeutet (vgl. etwa Ov. met. 4,245 nil illo fertur volucrum moderator equorum ), sodass die Krankheit mit einem ungehorsamen Pferd verglichen würde. Sollte für den Rezipienten ein solches Bild erkennbar gewesen sein, läge hierin möglicherweise auch eine Rezeption der Tisiphone aus Vergils Seuchenbeschreibung, die Krankheiten und Furcht vor sich her-treibt.
596 Hutchinson (2013), 212f. weist auf die pointierte Formulierung und das grotesk anmutende Spiel mit den Komparativen hin, die das Dilemma der Pfleger aufzeigen; im servit (‚dient‘) liegt möglicherwei-se ein Hinweis auf die soziale Realität, in der die beschriebene Tätigkeit tendenziell die von Sklaven gewesen wäre.
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d) Nützlich war nämlich nichts.a2) 2,47,4 … alles war nutzlos – am Ende gaben sie es auf, von der Katastrophe gebrochen. Die Erkrankung der Behandelnden führt bei den Menschen zur absoluten Hoffnungslosigkeit und erinnert darin an Lucr. 6,1179, wo das ratlose Murmeln der Medizin kurz vor die signa mortis gestellt war (s. Kommentar zur Stelle). Auch auf die Rezeption von Vergils Viehseu- che wurde bereits hingewiesen (s. Anm. 532, S. 223). Dementsprechend ist der Abschnitt aus- nehmend gut geeignet, um die literarische Verarbeitung aller drei Vorlagen aufzuzeigen – auf sprachlicher, inhaltlicher und struktureller Ebene. Met. 7,567b Ihr Schamgefühl einmal abgelegt / passim positoque pudore: Der aus Lukrez bekannte Abschnitt zu den Wasserstellen wird eingeleitet durch den Aus- druck passim positoque pudore , der unterschiedlich erklärt wurde. Neben der wenig zufrie- denstellenden Idee, der Dichter wolle lediglich eine Alliteration fabrizieren, gab es folgende Argumentationsansätze: Burmann ging recht weit, indem er im haerent einen Hinweis auf Geschlechtsverkehr sehen wollte.597 Kenney erkannte (mittels Thuc. 2,53) im pudor einen Hinweis auf den Zuwachs an Kriminalität oder eine Vorausdeutung auf den später beschrie- benen Freitod der Erkrankten (7,604f.). Die opinio communis geht davon aus, dass sich der Ausdruck auf die bloße Nacktheit der Menschen bezieht.598 Jedoch beruht diese Idee entwe- der auf 7,558 und Scheppers Konjektur nuda in 7,559, gegen die oben zur Stelle argumentiert worden ist, oder dem Prätext des Lukrez. Es finden sich in diesen Versen selbst keine An- haltspunkte dafür, dass sich pudor auf die Nacktheit bezieht – es ist vielmehr auffällig, dass der Abschnitt überhaupt keine Aussage über Hitzeempfinden macht, wie man es vielleicht erwarten würde. Deshalb ist m. E. pudor als Schamgefühl auf die Vorstellung des rechten Maßes zu beziehen, das durch das hemmungslose Trinken der Erkrankten überschritten und von den Mitmenschen beobachtet wird.599 Dieses wird zunächst durch das haerent na- hegelegt und durch inde graves expliziert. In Anknüpfung an den Prätext des Lukrez, in dem die Gier nach Wasser nicht zuletzt anthropologische Wesenszüge aufdecken sollte, liegt auch597 Vgl. jedoch zum gesteigerten Sexualverhalten in Krisensituationen Wolfenstein (1998 [1957]), 36.
598 Vgl. Burmann (1727), 517, Kenney (2011), 282. Anderson (1972, 304) geht von dem Wunsch nach einer Alliteration aus oder begründet mit Nacktheit und den Kämpfen um die Wasserstellen (Krimi-nalität). Bömer (1976, 345) spricht vom pudor publicus (=?).
599 In Kasters Taxonomie des pudor handelte es sich um Skript 6, wobei pudor hier als „your habit-ual sensitivity to the emotion and your inclination to anticipate and avoid the circumstances in which you would experience its fully embodied form“ (Kaster 2005, 30, zum Skript: 47) aufgefasst wird.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung hier ein Schwerpunkt auf der Moral, der durch das Epiphonem in 7,571 abgerundet wird (s. u. Komm. zur Stelle). Met. 7,570 (=571 Anderson) trotzdem trank mancher selbst jenes : Die steigernde Funktion des et i.S.v. ‚selbst, sogar‘ hebt den Umstand hervor, dass auch die im Wasser treibenden Leichen die Menschen nicht davon abhalten, es zu trinken.600Es ist schwer abzuschätzen, ob die vorliegende Stelle eher die Pietätlosigkeit gegenüber den Toten, die fehlende Weitsicht der Erkrankten mit Blick auf die Wirkung des Wassers oder schlicht deren Verzweiflung ins Visier nimmt.Für den antiken Rezipienten dürfte das Wasser durch das Miasma (im kultischen wie medizinischen Sinne) eindeutig verdorben gewesen sein. Aus medizinischer Sicht zeigt sich hier das Wissen um den Zusammenhang von Leichen, verdorbe- nem Wasser und daraus resultierender bzw. sich verschlimmernder Krankheit, das in diesem Fall übersteigert wird (s. u.). Eine solche Konzeption findet sich nicht nur bei Ovid: Illustrativ ist der Bericht seines Zeitgenossen Dionysius v. Halikarnass über eine Pest in Rom im Jahre 451 v. Chr., bei der ab einem bestimmten Punkt Leichen aufgrund von Platz- und Zeitmangel in Gräben und in den Tiber geworfen werden. Das Resultat ist, dass das Wasser ungenießbar wird und die Menschen krank macht.601 Met. 7,571 (=569 Anderson) nec sitis est … bibendo: Der Vers wird von den Herausgebern unterschiedlich beurteilt. Der Großteil der jüngeren Editoren tilgt ihn in der Tradition von Rudolf Merkel, die älteren lassen ihn an Ort und Stelle stehen.602 Hiergegen wendet Kenney ein sprachliches und ein inhaltliches Argument ein:603 Der Vers antizipiere auf unpassende Weise das folgende Verspaar und sei überdies sprachlich auffällig. In der Tat ist die Verbindung sitim extinguere (anstelle v. sedare ) sonst zuerst bei Se- neca belegt;604 die Abweichung von der sprachlichen Norm kann hier jedoch durch die speziel- le Funktion des Verses eine Begründung erhalten. Diese wiederum geht einher mit der Frage nach der Position des Verses, die zweifelsohne zu ändern ist, wenn eine Athetese vermieden werden soll – eine Beibehaltung nach Art der älteren Kommentare erscheint inhaltlich aus- geschlossen. Mit Bothe wird deshalb die Transposition des Verses nach 571 vorgeschlagen,605 sodass diese gedankliche Abfolge entsteht: 600 Zum Gebrauch von et anstelle von etiam vgl. KSt II, 9.
601 Vgl. D. H. 10,53,2f.
602 Die Tilgung findet sich bei: Hill, Kenney, Merkel, Tarrant. Nicht getilgt haben: Anderson, Boissona-de, Burmann, Gierig, Haupt, Lemaire.
603 Vgl. Kenney (2011), 282.
604 Vgl. bspw. Sen. dial. 12,10,2 und epist. 8,5.
605 Vgl. Bothe (1818), 74f. und ergänzend Jakobi (1988), 98 mit Anm. 163.
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1. Die Kranken verspüren einen ungeheuren Durst, werfen sich in die Brunnen und sterben dort. 2. Das Wasser wird durch die Leichen vergiftet und wird dennoch von anderen Menschen (ob gesund oder krank, wird nicht gesagt) getrunken.606 3. Die Einnahme des Wassers führt rasch zum Tod. An dieser Stelle bildet der Vers einen gelungenen Abschluss der Steigerung des Schreckens in Form eines moralisierenden Epiphonems.607 In vergleichbar bedrückender Weise schließt nec prius … quam die Erzählung von der Schlacht der Lapithen gegen die Zentauren (Ov. met. 12,534f.). Vor dem Hintergrund, dass der Dichter mithilfe des Verses einen starken Abschluss des Abschnitts (in der Folge wechselt der Schauplatz der Erzählung) erzielen wollte, erscheint das semantisch komplizierte Zeugma ein Element gelungener Rhetorik.608 Deshalb ist m. E. keine Tilgung, sondern die Transposition nach Bothe vorzunehmen. Met. 7,572 So großer Ekel … vor ihrem verhassten Lager : Vom Verdruss über das eigene Krankenbett war bei Ovids Vorgängern keine Rede: Hin- sichtlich des Handlungsablaufs ergibt sich hieraus eine weitere Begründung für die sich an- schließende Szene auf den Straßen, die bei Lukrez nach der Beschreibung der Wasserstellen nicht gesondert motiviert war. Dort reichte der Durst der Erkrankten und deren Anzahl in der Enge der Stadt aus, um sie auf die Straßen zu bringen, hier kommt der Ekel ( taedia , eine starke Empfindung) hinzu. Für die Rezipienten dürfte einsichtig gewesen sein, dass das Streben der Sterbenden nach draußen für eine weitere Verbreitung der Krankheit gesorgt hat, war doch bereits in 7,551 die Rolle der miasmatischen Leichen erläutert worden. Bemerkenswert ist, dass die von Ovid eingeführte Bettflucht nach dem Handbuch Palliativmedizin als ein typisches Verhalten in der terminalen Phase angegeben wird.609 Ob die Menschen der Antike ein solches Verhalten beobachtet haben und dies eine Inspiration für Ovid geliefert hat, bleibt ungewiss.606 Vallillee (1960, 130) hebt den Umstand, dass die Menschen sogar das Wasser tranken, in dem ihre toten Mitmenschen trieben, als eigenen Beitrag des Dichters zur Motivtradition hervor.
607 Zum Begriff vgl. Anm. 201, S. 145. Inge Marahrens (1971, 119), wenngleich gegen Bothes Transposi-tion, liefert letztlich selbst ein gutes Argument für die Schlussstellung der Verse, da der Vers „die ganze Tragik in prägnanter Kürze zusammen[fasse]“. In ihrer Argumentation gegen die Umstellung (S. 118) scheint Marahrens den steigernden Charakter des aliquis tamen haurit et illas zu verkennen (s. Anm. 600, S. 239). Mechanisch lässt sich die fehlerhafte Überlieferung am ehesten durch die Kor-rektur einer Auslassung am Rand mit einer sich anschließenden falschen Einordnung begründen.
608 Dementsprechend ist von einer beabsichtigten Spannung auszugehen, vgl. dazu Lausberg (2008), 351f. und zum Verhältnis von Ovid zur Rhetorik generell Auhagen (2007).
609 Vgl. Saraga/Stiefel (32015), 40.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Met. 7,575 sein eigenes Haus als Grab : Bömers These, Ovid habe nicht die Bedeutung des kultischen Konzepts der domus funesta zugrundegelegt, ist zu widersprechen.610 Das Possessivpronomen sua modifiziert domus hier m. E. nicht nur als reine Besitzanzeige, sondern gibt in Verbindung mit dem Attribut funesta den subjektiven Eindruck der Erkrankten wieder, dass es diese vier Wände wären, die durch den eigenen Tod verunreinigt würden – es handelt sich demnach um die Konfrontation mit dem eigenen Tod auf konkreter, räumlicher Ebene. Diese Deutung wäre insbesondere für die- jenigen Herausgeber attraktiv, die 7,576 athetieren, da die domus dann auch nicht mehr als Verursachung für die Krankheit gälte. Nach dieser Überlegung wäre das videtur nicht nur als Medium zu einem reinen Dativobjekt cuique , sondern auch ein Dativus auctoris in Verbindung mit einem Passiv i.S.v. ‚erkennen‘ zu erwägen.611 Eine mögliche Übersetzung nach diesem Ver- ständnis lautete: ‚Sie springen davon auf oder, wenn ihre Kräfte ihnen das Aufstehen versagen, wälzen ihre Körper auf den Boden und flüchten alle vor den eigenen Hausgöttern, ein jeder erkennt sein Haus als das eigene Grab.‘ Ein solches Verständnis wäre auch bei nicht erfolgter Tilgung möglich, da in diesem Fall 7,576 eine ganz neue Information erhielte: In 575 werden die Erkrankten mit ihrem Tod konfrontiert, im Folgevers wird eine kausale Zuordnung vorgenom- men. Unabhängig davon, ob videtur als sich aufdrängender Eindruck oder als eigene Erkenntnis gedeutet wird, handelt es sich um ein Hysteron-Proteron – zu Beginn steht der Eindruck bzw. die Erkenntnis der domus funesta und daraus resultiert die Flucht der Erkrankten. Met. 7,576 et, quia causa latet, locus est in crimine parvus: Aufgrund der zahlreichen Überlieferungsvarianten und Konjekturvorschläge zu parvus (insbesondere notus ,daneben natus , parvo , magno , morbi 612 ) und der vermeintlich unver- ständlich starken Emphase, die auf dem letzten Wort liege, haben sich mehrere Herausgeber für eine Tilgung des Verses entschieden.613 Ob es sich um eine Glosse am Rand handelte, ist schwer zu entscheiden: Sprachlich ist der Vers bis auf seinen Schluss nicht weiter auffällig, sämtliche Bestandteile sind auch sonst an der entsprechenden Stelle im Vers bei Ovid be-
610 Vgl. Bömer (1976), 346. Als funesta galt die domus nach einem Todesfall, deren Bewohner sich im Anschluss sozial isolieren und bestimmte Schutzmaßnahmen befolgen mussten (vgl. Lindsay 2000, 154f. und Hope 2009, 71). Eine davon war die Kennzeichnung des Hauses mit Zypressen- oder Rot-tannenzweigen, um Amtsträger wie etwa Priester vor einer Befleckung zu schützen, vgl. Schrumpf (2006), 34f.
611 Für videre i.S.v. ‚erkennen‘ vgl. OLD s.v. videre (14), 2059.
612 Eine erschöpfende Übersicht findet sich bei Marahrens (1971), 117.
613 So Tarrant in der Nachfolge von Merkel, s. auch Kenney (2011), 283 zu parvus : „[L]a sua posizione, però, crea un’enfasi irrilevante e il verso dovrebbe essere espunto come glossa marginale.“
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legt.614 Der Stein des Anstoßes, der locus parvus , wurde von Anderson als Kontrast zur wei- ten Ausbreitung der Krankheit gesehen; anders hat ihn Haupt erläutert, der hierin die Ver- arbeitung der Enge des Raums sieht, die bereits bei Thukydides und Lukrez eine große Rolle gespielt hat.615 Problematisch bleibt dabei, dass die Enge bei den Vorgängern durch den Zu- sammenhang motiviert war: Im Athen des Thukydides drängten sich die Menschen nach der Evakuierung auf dem Land, bei Lukrez waren es die kleinen Hütten der Bauern, die zu Enge und Krankheitsverbreitung führten – hier jedoch fehlte eine solche Begründung. Marahrens ist möglicherweise auf dem richtigen Weg, wenn sie im parvus keine objektive Größe, son- dern eine subjektive Empfindung im Sinne einer Klaustrophobie versteht.616 Daneben kann (in Anlehnung an Anderson) durchaus eine Opposition von Groß und Klein angelegt sein, jedoch mit einer Hervorhebung der causa ( nocens ): An dieser Stelle spricht Aeacus aus der Position desjenigen, der um die göttliche Verursachung weiß; die causa ist – das weiß auch der Rezipient – niemand anderes als Iuno, deren Wirken von den unwissenden Erkrankten auf einen kleinen Ort reduziert wird.617 Met. 7,580f. membraque pendentis … exhalantes: Die beiden Verse werden von Tarrant getilgt, Rudolf Merkel athetiert in der alten Teub- ner-Ausgabe den Vers 580 im Anschluss an Capoferreus.618 Gründe für die Tilgung werden zunächst auf sprachlicher Ebene angeführt: Der Ausdruck membra tendere ist nur hier be- legt, pendentis caeli ist zumindest gewagt,619 exhalantes ohne Objekt ist erst wieder in der Spätantike belegt und auch mors deprenderat ist selten.620 Darüber hinaus durchbricht ge-614 Ov. met. 4,287b causa latet , vis est notissima fontis ; 5,603 et, quia nuda fui, sum visa paratior illi; fast. 2,497 luctus erat, falsaeque patres in crimine caedis [sc. essent]. Allerdings wird gerade dieser Umstand von Tarrant (1982, 358) als Argument gegen die Echtheit angeführt.
615 Vgl. Anderson (1972), 304 und Haupt in Ehwald (91915), 397, daran anschließend Bömer (1976), 346.616 Vgl. Marahrens (1971), 119. Weniger weit ginge die Deutung, dass die Enge des Raums nicht als be-klemmend wahrgenommen, sondern lediglich als Ursache für die Krankheit angenommen wird. In diesem Fall handelte es sich um die subjektive Ätiologie der Erkrankten, die nicht selten im Wider-spruch zur Aussage der Ärzte stand, vgl. Lloyd (2021), 50.
617 Das Spiel mit Groß und Klein ist gerade bei Vergleichen sprichwörtlich, vgl. Otto (1890), 204f.
618 In der Praefatio zu seinen Quaestiones Ovidianae hatte Merkel (1835, XVII) noch versucht, den Vers mithilfe der Variante einer ihm vorliegenden Handschrift in membraque pendentis ad sidera tendere coeli zu ändern.
619 Die Junktur caelum pendens findet jedoch im späteren (vgl. Tränkle 1990, 183) Panegyricus Messalae Verwendung, [Tib.] 3,7,22f.: Huic et contextus passim fluat igneus aether | pendentique super clau- dantur ut omnia caelo . Zur Argumentation gegen membra tendere vgl. Tarrant (1982), 359.
620 Ovid nutzt stets animam exhalare als Ausdruck für das Sterben, was Heinsius in seinem Konjek-turvorschlag Hic ubi mors animam deprenderat exhalantes umgesetzt hat. Vgl. mit entsprechenden Verweisstellen Marahrens (1971), 121 Anm. 7; ihre Argumentation für die Möglichkeit des absolut
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung rade der Vers 580 die Konstruktion von Partizipien und Infinitiven, die Ovid zur Vergegen- wärtigung der Situation verwendet.621 Dieser Vers ist es auch, der von inhaltlicher Seite widersinnig erscheint; wurde in 579 durch supremus motus die pathetische Mimik aus Lucr. 6,1181 aufgegriffen, ist ein Ausstrecken der Glieder im nächsten Moment unwahrschein- lich. Deshalb ist Vers 580 aus sprachlichen wie inhaltlichen Gesichtspunkten zu tilgen. Für den folgenden Vers erscheint die Entscheidung schwieriger, da hier weder eine Unterbre- chung des Gedankengangs noch eine der partizipialen Konstruktion vorliegt. Es bleibt die Feststellung aus Anm. 620, dass Ovid stets animam als Objekt zum Ausdruck des Sterbens hinzunähme; als Argumente für die (hier vorgenommene) Beibehaltung des Verses kann zum einen das Streben nach dem abbildenden Versus Spondiacus, zum anderen angeführt werden, dass das fehlende Objekt eine intendierte Ambiguität in 7,551 darstellen könnte. Dort hatte Ovid den Tierleichen eine ungewöhnlich aktive Rolle ( agunt contagia late ) zu- geschrieben, die auch für die Leichen der Menschen anzunehmen ist und worauf exhalantes möglicherweise anspielt. Met. 7,582f. Wie fühlte ich mich … das Leben hasste und Teil meines Volkes sein wollte : Der in 7,582 beginnende Abschnitt eröffnet den Teil der Erzählung, der in größerem Maße von persönlicher Erfahrung geprägt ist ( ipse ego … cum facerem ; ante sacros vidi … postes) und viele Neuerungen für die Motivtradition enthält.622 Die im Verhältnis stärkere Bezug- nahme auf Vergil in diesem Teil wurde bereits von Vallillee herausgearbeitet.623 Aus der oben festgestellten Innovation eines über das Geschehen reflektierenden, zugleich daran partizi- pierenden Erzählers in Form des Aeacus ergeben sich andere Möglichkeiten der emotionalen Reaktion. Der Wunsch, selbst zu sterben und ebenfalls ein Teil der Leichenhaufen zu sein, ist ein Element, das vorher allein durch den Aufbau der Erzählungen nicht vorstellbar gewesen gebrauchen exhalare anhand von defungi bleibt nicht ohne Zweifel. Die Überraschung durch den Tod wird auf ähnliche Weise erst bei Curt. 8,4,14 und Lact. Inst. 1,17,5 ausgedrückt.
621 Ähnlich gestaltet ist die Rede des Aiax gegen Odysseus in Ov. met. 13,73–76: conclamat socios: ad- sum videoque trementem | pallentemque metu et trepidantem morte futura; | opposui molem clipei texique iacentem | servavique animam. (‚Er ruft nach seinen Gefährten – schon bin ich da und sehe ihn: bebend, bleich vor Angst, zitternd im Angesicht des Todes; ich stellte meinen wuchtigen Schild vor ihn, bedeckte den Liegenden und rettete sein Leben.‘). Zudem bezieht sich Ovid in der Überbe-stimmung durch Partizipien womöglich auch auf Lucr. 6,1181, was auch das Bild des Augenrollens nahelegt.
622 Bernbeck (1967, 74) sieht im Verweis auf den Tempel (587 templa vides ) eine „überraschende Aus-weitung der gegebenen Szene“, die ebenfalls im Zusammenhang der persönlichen Bezugnahme zu sehen ist.
623 Vgl. Vallillee (1960), 113–115 und zur Zweiteilung in tendenziell nüchterne und empathisch-teilneh-mende Erzählung Simpson (2001), 331.
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ist: Hatte Vergil in seiner Seuchenbeschreibung lediglich die Relativierung einer ästhetischen Naturbetrachtung und daraus resultierend die fehlende Freude des Beobachters geschildert, nimmt Aeacus (nicht zuletzt aufgrund seiner Verantwortung als König) eine aktivere Rolle in der Bewertung der Situation ein. Diese Aktivität, diese Positionierung gegenüber dem Un- heil ist eine (dem Archetyp Thukydides entnommene) Neuerung der ovidianischen Beschrei- bung. Dennoch besteht kein Anlass anzunehmen, dass die vorangegangenen Schilderungen als weniger anrührend empfunden wurden, nur weil kein Mensch über das Leid in der Welt reflektierte – an jener Stelle waren es die Sprecher selbst, die das emotionale Kapital der Verse ausschöpften. Met. 7,585f. wie wenn faule Äpfel … und von der geschüttelten Eiche die Eicheln : Bömer verweist auf den berühmten Vergleich des Glaucus bei Homer, der das Kommen und Gehen menschlicher Generationen mit dem Laubwechsel an Bäumen in Beziehung setzt, und sieht Ovids Bild der Äpfel als Variante desselben; dieses werde in der Folgezeit bspw. in metri- schen Inschriften aufgegriffen.624 Grinda macht außerdem auf vergleichbares Gedankengut bei Plautus und Cicero aufmerksam und differenziert mehrere Unterarten des Bildes.625 So unter- scheiden sich die Darstellungen dahingehend, ob die Äpfel im reifen oder unreifen Zustand vom Baum fallen. In keiner Darstellung faulen die Äpfel jedoch bereits am Baum: Hierin liegt die künstlerische Innovation des Dichters, indem Elemente der Erzählung (Auszehrung der Menschen) auf die Bildebene (Fäulnis der Äpfel) ausstrahlen. Nichtsdestoweniger soll das Bild nicht nur den Verfall der Erkrankten, sondern auch die Streuung und die Menge der Leichen auf den Wegen vor Augen führen. Bei den Eicheln vermutet Gardner eine komplexe Verweis-624 Vgl. mit Bömer (1976, 348) CE 465,20f. (= CIL XII 533) und 1490 (= CIL VI 7574), in dessen Nachfol-ge Kenney (2011), 284 sowie generell zu Naturgleichnissen bei der Darstellung des Sterbens Lange (1956), 36–38 und von Symptomen Roselli (2018), 193. Ein Blick auf Homer liegt auch deshalb nah, weil der Vergleich neben der räumlichen Ausdehnung der Leichen auch deren Quantität hervor-hebt.
625 Vgl. Grinda (2002), 1034f. Einen ähnlichen Vergleich nutzt Accius bei Gellius (13,2,4–6), hier jedoch mit dem Ziel, seinen Stil zu rechtfertigen: ‚Ita est,‘ inquit Accius ‚uti dicis; neque id me sane paenitet; meliora enim fore spero, quae deinceps scribam. Nam quod in pomis est, itidem‘ inquit ‚esse aiunt in ingeniis; quae dura et acerba nascuntur, post fiunt mitia et iucunda; sed quae gignuntur statim vieta et mollia atque in principio sunt uvida, non matura mox fiunt, sed putria .‘ (‚Accius sagte: Es ist so, wie du sagst; und ich bereue das überhaupt nicht; denn ich hoffe, dass besser wird, was ich in Zukunft schreiben will. Denn was für Äpfel gilt, so sagt man, gelte auch bei Talenten; diejenigen, die hart und herb erwachsen, werden danach mild und lieblich; diejenigen aber, die sofort verschrumpelt und weich entstehen und zu Beginn feucht sind, werden in der Folge nicht reif, sondern faulig .‘). Die Vielzahl der gedanklichen Parallelen relativiert Galinskys (1975, 125) Kritik, das Gleichnis sei über-flüssig und thematisch unpassend.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung struktur auf Elemente des Goldenen Zeitalters, das an dieser Stelle der unbarmherzigen Reali- tät gegenübergestellt wird.626 Met. 7, 588b–592 Wer bot nicht … noch unverbraucht : Der Abschnitt steht zunächst unter dem Zeichen der insbesondere bei Thukydides her- vorgehobenen, aber auch bei Vergil inszenierten Plötzlichkeit der Krankheit und des da- raus resultierenden Kollapses. Das Motiv des plötzlich zusammenbrechenden Opfertiers wird direkt im Anschluss erneut (und das sogar doppelt) verwertet, davor jedoch abgewan- delt auf die opfernden Menschen übertragen. Es besteht dennoch ein wichtiger Unterschied zwischen diesen Versen: Im Moment des Sterbens sind die Menschen im Gegensatz zu den Tieren alleine; der Standpunkt des Erzählers wird durch das reperta est in 7,592 deutlich – erst im Nachhinein werden die Menschen aufgefunden, die ihre Opferhandlung noch nicht einmal bis zum Schluss durchführen konnten ( turis pars inconsumpta ). Neu (wenngleich nicht fernliegend) ist der Gedanke, dass nicht nur die gegenseitige Pflege innerhalb der Familie aus Pflicht- oder Schamgefühl erfolgt, sondern auch die Durchführung kultischer Handlungen.627 Mit Lukrez teilt Ovid zwar die Auffassung, dass solches Verhalten letztlich zwecklos ist ( non exoratis aris 628 ), doch verzichtet er auf die von Lukrez ausgeschöpfte Idee der egoistischen Flucht.629 Auch auf pathetischer Ebene macht sich Ovid einen Kunstgriff des Epikureers zunutze: Die Beschreibung von Leichen anhand von deren sozialer Funk- tion hat Lukrez in den Versen 6,1250–1252 mit Blick auf Familien vorgelegt. Hier wird die Dramatik ebenfalls dadurch erzielt, dass der letzte Moment im Leben der Verstorbenen in 626 Vgl. Gardner (2019), 164.
627 Bei Thukydides (2,52,3) sind die Leichen in den heiligen Bezirken durch die Evakuierung der Län-dereien in der ersten Hälfte des Buchs begründet (2,13,2). Die Leichenhaufen in den Tempeln bei Lukrez (6,1266–1268) könnten hingegen einen Versuch widerspiegeln, die pax deorum zu erwirken. In diesem Fall wäre zumindest die Motivation der pietas für die Kulthandlungen in ihrer expliziten Form eine Neuerung Ovids. Gebete wie Pflege hat Gardner (2019, 150) zu Recht als einen Schwer-punkt der Seuchenbeschreibung ausgemacht: „Ovid contextualized and Romanizes his plague nar-rative by intensifying Aeacus’ focus on familial bonds of pietas “.
628 Bömers (1976, 350) Erklärung der Brachylogie für ein prosaisches precibus in cassum missis ad ipsas aras mortem occubuit ist m. E. nicht zuzustimmen. Besser an dieser Stelle Haupt (in Ehwald 91915, 398): „Die Unerbittlichkeit des Gottes ist auf seine Altäre übertragen.“ Diese Übertragung ist auch Resultat von Ovids psychologischem Feingefühl: Für die betenden Menschen gelten die kalten Stein-altäre als einzige Verbindung zu den Göttern, deren Reaktion jedoch ausbleibt – damit sind die Al-täre das für sie greifbare Element, nicht die Götter.
629 Zur Zwecklosigkeit moralischen Handelns bei Lukrez vgl. Komm. zu Lucr. 6,1238–1245; insbeson-dere der ausbleibende Erfolg religiöser Pietät kann als lukrezischer Reflex gedeutet werden.
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der Haltung des Leichnams eingefangen und der Interpretation der Beobachter überlassen wird.630 Met. 7,596–599 Als ich selbst … mit einer dürftigen Menge Blut : Ovid bringt das bei Vergil (Georg. 3,490) beobachtete Hysteron-Proteron wieder in die rich- tige Reihenfolge, wobei er nur den Versuch der Schlachtung und die Eingeweideschau, nicht jedoch die Verbrennung erwähnt.631 Die Verse bilden eine Wiederholung der vorangegangenen Verse 593–595, mit Ergänzung der subjektiven Perspektive des Aeacus. Neben der Steigerung der Dramatik durch die Personalisierung des anonymen sacerdos verleiht der Erfahrungsbe- richt seiner Position gesteigerte Authentizität,632 wie es bereits für Thukydides zu verzeichnen war. Insbesondere bei überlebenden Vätern scheint im Zusammenhang von Seuchen ein er- höhter Legitimationsdruck zu bestehen, ihr Pflichtbewusstsein gegenüber der Familie (und in Aeacus Fall auch seinem Königreich) zum Ausdruck zu bringen.633 Die Opferhandlung dient folglich auch zu einem gewissen Grad der Selbstdarstellung als liebender Vater und gewissen- hafter König, illustriert auf der anderen Seite die Machtlosigkeit weltlicher Herrschaft im An- gesicht der Pest. Zur Frage um die dürftige Menge Blut s. o. Komm. zu Georg. 3,492. Met. 7,601 penetrant ad: Anstelle des penetrant ad schlug Kenney in seinem Kommentar penetrarant vor, um den Bruch in der Tempusgebung von perdiderant aufzuheben. Doch er selbst stellt fest, dass die Konstruktion mit ad für Ovid gängig ist – ein Blick auf Celsus zeigt, dass auch er das Durch- dringen der Krankheit (bei ihm zumeist ein Geschwür) mit usque oder usque ad ausdrückt.634630 Vgl. dazu auch Andersons (1972, 305) Paraphrase: „ At the very moment of supreme pietas , while praying for each other selflessly, husbands, wives, and parents suddenly collapse dead before they have had opportunity to offer all the incense they brought“ (Hervorhebung FN).
631 Die von Pechillo (1990, 38f.) dargelegte Interpretation (auf Grundlage von Galinsky 1975, 114–126), nach der Ovid die Seuche primär nutze, um zu amüsieren und epische Konventionen zu untergra-ben, stellt eine nicht treffende Reduzierung der Beschreibung dar und nimmt die Abhängigkeit von Vergil nur einseitig in den Blick.
632 Vgl. Anderson (1972), 306.
633 Ein bekanntes, vergleichbares Beispiel ist das Selbstzeugnis des Chronisten Agnolo di Tura del Gras-so, der zur Zeit des sog. Schwarzen Todes seine fünf Kinder begraben musste und dies in seiner Chronik festhielt.
634 Vgl. Kenney (2011), 284f. und Cels. 7,7,7a Idque adsidue male habet oculum; nonnumquam etiam exesso osse usque nares penetrat . (‚Diese Krankheit trifft das Auge besonders hart; manchmal zer-frisst sie sogar den Knochen und dringt bis in die Nase hindurch.‘). Die Aussage, bei penetrare + Akk. handle es sich um eine Ausdrucksweise des Lukrez, ist ungenau. Gerade Lucr. 3,470f., die wohl nächste Parallele, wählt die Präpositionalphrase: quare animum quoque dissolvi fateare necessest, | quandoquidem penetrant in eum contagia morbi .
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Wie aber wäre der Wechsel zum Präsens zu verstehen? In den meisten Übersetzungen wurde das Präsens als historisch gedeutet.635 Anders wurde es in der Loeb-Ausgabe wiedergegeben, nach der penetrant eine allgemeine Regel ausdrückt.636 Die Interpretation als historisches Prä- sens birgt die Problematik, dass das Eindringen der Krankheit dem Verlust der Aussagefähig- keit der exta eigentlich vorausgehen müsste. Dementsprechend müsste penetrant als ein histo- risch-resultatives Präsens gedeutet werden, das eine Handlung der entfernten Vergangenheit bezeichnet, deren Resultat in der Vergangenheit noch aktuell war und das durch die Wahl des Präsens vergegenwärtigt werden soll. Ein solcher Fall wird in den Grammatiken nicht ange- führt. Deshalb ist das Präsens mit Miller/Goold als allgemeine Regel aufzufassen. Met. 7,602–605 ante … fata: In diesem Abschnitt divergiert die Interpunktion in den Ausgaben von Anderson und Tar- rant dahingehend, dass Tarrant nach Vers 603 einen Punkt setzt.637 In Abhängigkeit von der Interpunktion ändert sich auch das Verständnis der vier Verse. Im Folgenden werden zunächst die beiden Möglichkeiten zusammengefasst und anschließend diskutiert: Version A (Tarrant): Die harte Interpunktion nach Vers 603 versteht die Verse 602f. als eng miteinander verbundenes Paar. Vers 603 bildet eine Erweiterung des vorangegange-nen Verses, die anhand der Wiederaufnahme des ante Ausdruck findet, ebenso durch die parallele Stellung von postes und aras . Die Verse 604f. bilden einen Sinnabschnitt, der unabhängig von den proiecta cadavera vor den Tempeln bezeichnet, dass Menschen dem nahenden Tod durch Freitod zuvorzukommen suchten. Es handelt sich dabei um eine allgemeine Aussage ohne räumlichen Bezug.
Version B (Anderson): Die leichte Interpunktion nach Vers 602 und die durchgehende
Syntax von 603–605 stellen dem Rezipienten eine Gesamtszene vor Augen: Nicht nur sieht Aeacus proiecta cadavera vor den Pforten der Tempel, sondern darüber hinaus ha-ben sich Menschen vor den Altären mit laquei selbst getötet, um ihr Schicksal vorwegzu-nehmen und die Götter anzuklagen.
635 Vgl. De Martignac (1697), 227: „dont la violence avoit penetré jusqu’aux intestins“, Hill (1992), 93 „the grim disease penetrated to the bowels.“, Paduano (2000), 311: „il triste morbo ha invaso la visce-re“, Chiarini in Kenney (2011), 55: „fin nei visceri entrava il tristo morbo.“
636 Miller/Goold (1912), 385: „for to the very vitals does the grim pest go“.
637 Die beiden jüngeren Herausgeber folgen damit bereits bestehenden Deutungstraditionen, für die sie hier repräsentativ genannt werden. Eine starke Interpunktion setzen bspw. Burmann, de Martignac und Merkel, keine setzen Regius, Boissonade, Bach und Lemaire.
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Anders als in den Versen 589–592 sind die hier beschriebenen Leichen nicht diejenigen der pflichtbewussten Familienmitglieder, die vor den Altären während der Opferhandlung ster- ben, sondern sind bereits tot, als sie vor die Tempel geworfen ( proiecta cadavera ) werden.638 Unabhängig davon, welche Version zu präferieren ist, steckt im invidiosior folglich die Inten- tion dieser Menschen: Sie wollen ihrer Indignation den Göttern gegenüber Ausdruck verlei- hen, indem sie deren Heiligtümer beflecken.639 Sie tun dies entweder, indem sie die Leichen vor die Pforten und sogar vor die Altäre werfen (Version A), oder indem sie sowohl Leichen vor die Pforten werfen als auch sich selbst vor den Altären aufhängen (Version B). Es handelt sich entsprechend um indignierten Trotz, welcher der Einsicht entspringt, dass die Götter den Menschen keine Hilfe gewähren – diese Auflehnung stellt unabhängig von der Entscheidung für eine der Versionen eine Neuheit in der Motivtradition dar.640 Vor einer Entscheidung ist festzuhalten, dass beide Interpretationen möglich sind. Die hier ver- tretene Präferenz für Version B hat ihren Grund in folgendem Nachteil von Version A: Diese isoliert das Verspaar 604f., sodass ein starker Bruch zur vorangegangenen Beschreibung der Leichen vor den Altären die Folge wäre; die bloße Nennung einer weiteren Gruppe von Menschen ohne eine räumliche Einbindung wäre ein kraftloser Schluss vor dem Finale. Version B hingegen integriert die Selbsttötung in eine grausige Szenerie und steigert das Pathos (und die Entrüstung) noch durch die explizite Nennung des laqueus . Die Selbsttötung durch den Strick war zwar, so weit es feststellbar638 Eine interessante Parallele findet sich in der Lex Lucerina (Z. 2f. Bodel): neve cadaver | proiecitad . Illustrativ für das vermutliche Vorgehen bei massenhaftem Sterben ist Varros vielzitierte Beschrei-bung der puticuli (ling. 5,25): extra oppida a puteis puticuli, quod ibi in puteis obruebantur homines, nisi potius, ut Aelius scribit, puticulae, quod putescebant ibi cadavera proiecta , qui locus publicus ultra Exquilias. (‚Außerhalb der Städte gibt es nach Löchern [ putei ] benannte puticuli , weil dort in Gruben Menschen verscharrt werden, wenn sie nicht eher, wie Aelius schreibt, puticulae genannt werden, weil darin hingeworfene Leichen verfaulen [ putescebant ] – ein öffentlicher Ort jenseits des Esquilin.‘). Belegt ist eine Häufung solcher Massengräber für die Justinianische Pest im sechsten und siebten nachchristlichen Jahrhundert, vgl. Harper (2017), 230f.
639 Nach dieser Deutung wäre das Verhalten keine „grotesque variation on pietas “ (Anderson 1972, 306), sondern Akt der Selbstermächtigung (vgl. Beagon 2005, 113f.). Eine Diskussion unterschiedlicher Deutungen bietet Bömer (1976), 353.
640 Freilich lasen wir bei Lukrez von den mit Leichen gefüllten Tempeln, die als Höhepunkt der Pest die Niederlage der religio zur Folge hatten (6,1266–1271) – doch dienten jene in der Situation dem Dichter als Beweis und waren vermutlich nicht willentlich dorthin geschleppt worden, um den Zorn auf die Götter auszudrücken. Die Bezugnahme auf Lukrez ist dennoch sehr bedeutsam: Neben der Inspiration durch den Suizid der Pferde bei Vergil ist es möglich, dass die Selbsttötung durch die Selbstverstümmelung in Lukrezens Seuchenbeschreibung motiviert worden ist. Darüber hinaus wiesen Jacobson (2007, 649) und Kenney (2011, 285) auf die gedankliche Parallele zu Lucr. 3,79–82 hin. Ovid scheint hier eine bewusste Steigerung (gleichwohl ganz im Geiste) seiner Vorlage vorzu-nehmen, indem die Erkrankten eben nicht voreilig in den Tod eilen, sondern ihren Tod bzw. den von anderen aufgrund der räumlichen Platzierung von Leichen inszenieren .
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung ist, in Rom verbreitet, galt jedoch als unehrenhaft.641 Es ist zumindest mit einer ablehnenden ersten Reaktion auf Seiten des Rezipienten zu rechnen. Geht man tatsächlich von einer moralischen Ver- urteilung dieser Selbsttötung aus, gewönne sie nach Version B als Ausdruck des oben festgestellten Trotzes eine noch größere Wirkung. Aus diesen Gründen wurde Andersons Interpunktion gefolgt. Met. 7,606f. Die toten Körper … Nicht nämlich haben die Stadttore dem standgehalten : Für neci ist bereits festgestellt worden, dass es hier nicht den gewaltsamen, sondern einen schrecklichen Tod bezeichnet.642 In diesem Zusammenhang ist noch auf Verg. georg. 3,480 genus omne neci pecudum dedit zu verweisen, das als sprachliche Vorlage gedient haben kann. Wichtig für den Gedankengang ist, dass es sich eben nicht nur um die kurz vorher genannten Suizidenten handelt, da ansonsten die folgende Äußerung keinen Sinn ergäbe. Es ist nun eben diese Äußerung, in der Ovid das bereits bekannte Element der Überhand nehmenden Menge an Leichen architektonisch versinnbildlicht.643 Jakobi hat in seiner Untersuchung zu Ovids Einfluss auf Senecas Tragödien das Bild „als Inversion des Topos von den alle Völkerscharen fassenden Toren der Unterwelt“644 wahrscheinlich machen wollen. Met. 7,610 deque rogis pugnant, alienisque ignibus ardent: Im Vers 610 hat der vermeintliche Subjektswechsel von pugnant zu ardent , d. h. von denjeni- gen, die um die Scheiterhaufen kämpfen, zu denjenigen, die auf ihnen verbrennen, Anstoß erregt. Merkel tilgte die Verse 609b–610 und beließ den Text mit einem Halbvers. Siegfried Mendner de- klarierte die Hemistichen 609b und 610a in seiner Dissertation als Erläuterungen des alienis und tilgte entsprechend, sodass sich der neue Vers indotata rogos alienisque ignibus ardent ergab.645 Neben Eingriffen in den Text wurden auch semantische Diskussionen geführt, um ardent bspw. als glühendes Verlangen auszuzeichnen; selten wurde angenommen, es gebe keinen Subjekts- wechsel, vereinzelt wurde von einem rhetorischen Kunstgriff Ovids ausgegangen.646 Dabei gehen
641 Vgl. van Hooff (1990), 64–72 und Serv. Aen. 12,603 et nodum informis leti: alii dicunt, quod Amata inedia se interemerit. sane sciendum quia cautum fuerat in pontificalibus libris, ut qui laqueo vitam finisset, insepultus abiceretur: unde bene ait ‘informis leti’, quasi mortis infamissimae.
642 Vgl. Bömer (1976), 353. Dort auch die Erläuterung zum Ausdruck missa neci , s. außerdem OLD s.v. nex (1), 1175.
643 Die Bewertung des Bildes fiel unterschiedlich aus. Anderson (1972, 307) sieht hier „the fantastic rea-son for the absence of customary funerals“, Kenney (2011, 285) bezeichnet das Bild als „un concetto piuttosto bizzarro“.
644 Jakobi (1988), 95, Anm. 153 mit Verweis auf Ov. met. 4,439f.
645 Vgl. Mendner (1939), 49, dem zufolge es sich um eine Collage aus Lucr. 6,1282ff. und Sen. Oed. 64f. handelt.646 So muss wohl auch Vallillee (1960), 140 verstanden werden, der es ohne weitere Erläuterung als Wortspiel bezeichnet, vgl. auch Marahrens (1971), 123f. Auf S.123 Anm. 2 findet sich eine Übersicht der gegebenen Erklärungen, auf die hier verzichtet werden kann.
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Haupt, Anderson und Kenney auf die spezifischen Eigenheiten der Erzählung ein, in der sich die Ereignisse überstürzten und sich dies auch im Erzähltempo widerspiegele.647 Grundsätzlich ist ein Subjektswechsel aus den genannten Gründen denkbar und stimmt auch mit der Einschrän- kung überein, dass ein solch archaischer Duktus zu klassischer Zeit höchstens aus stilistischen Gründen Verwendung fand.648 Doch hier werden (aufbauend auf der Paraphrase von Magnus, der keinen Subjektswechsel annimmt) zwei Alternativen vorgeschlagen: 1. Mit dem ardent werden in der Tat dieselben Menschen bezeichnet, die kurz vorher noch um Scheiterhaufen für ihre verstorbenen Angehörigen kämpfen; doch fallen diese nicht, wie von Magnus angenommen, während des Kampfes ins Feuer.649 Vielmehr handelt es sich bei ardent um ein Praesens pro futuro, das dem Rezipienten an dieser Stelle erneut den Umstand vor Augen führt, dass, wer im letzten Moment noch kampfbereit war, beim nächsten Wim- pernschlag (nun selbst tot) auf erbeuteten Scheiterhaufen liegt und brennt.650 Darüber hinaus würde nach dieser Interpretation die Zwecklosigkeit des Streits hervorgehoben, die sich in die von Medizin und Kult einreihte. Diese Variante wurde der Übersetzung zugrundegelegt. 2. Mithilfe der dritten Person im Plural wird die Handlung auf eine unpersönliche Ebene ge- hoben: Man kämpft … man brennt. Vorbereitet würde dies durch die allgemeine Aussage, dass es keine Ehrfurcht mehr gebe. Zudem reihte sich die unpersönliche Handlung gut in die sich anschließende Beschreibung des unbestimmten Mangels ( qui lacriment, desunt ). Insgesamt würde die Darstellung mit dieser Lösung jedoch in ihrer Drastik entschärft. Met. 7,611f. Es fehlte an Menschen … streiften die Seelen … umher : Ein Ausbleiben des ordentlichen Bestattungsritus galt als Inbegriff des schlechten Todes und war als Strafe für Schwerverbrecher vorgesehen.651 Der Hintergrund der Strafe war die Über- zeugung, dass nicht ordentlich oder gar unbestattete Menschen ( insepulti ) nicht den Übergang647 Ehwald (91915), 400: „In gewöhnlicher Rede würde bei ardent ein neues Subjekt ( mortui ) stehen, aber Ovid faßt die Verwirrung in lebhafter Kürze zusammen“. Anderson (1972, 307): „It is perhaps to heighten the sense of disorder that he abruptly changes subjects in 610 without expressly telling us that in pugnant he talks of the living mourners, in ardent of the corpses.“ Kenney (2011, 286) geht in seiner Diktion insbesondere auf die Kürze der Formulierung ein („Ovidio condensa […] L’espressio-ne abbreviata “ [Hervorhebung FN]).
648 Vgl. LHS II, 733.
649 Vgl. Magnus (1885), 86.
650 Vgl. LHS II, 308: „In allen diesen Fällen wird durch das Praes. die Unmittelbarkeit der Ausführung bzw. Nichtausführung einer Handlung kräftig unterstrichen“. Nach diesem Verständnis verschwim-men die Grenzen zwischen Gesunden, Kranken und Toten, was das von den Kommentatoren an-gesprochene Durcheinander konkretisierte.
651 Vgl. Hope (2009), 60.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung in das Jenseits bewältigen, sondern gezwungen sind, ein Dasein zwischen den Welten zu fristen, entweder auf der Erde oder in einem Bereich der Unterwelt.652 Es sind denn auch diese insepulti , die als die schädlichsten Geister angesehen wurden und vor denen die größte Furcht bestand.653 Mit der Verarbeitung der Geistererscheinungen bringt Ovid ein neues übernatürliches Element in die Motivgeschichte ein.654 Der Dichter greift als Ursache wohl nicht auf die unbestatteten Körper zurück, sondern legt seinen Schwerpunkt auf die nicht vergossenen Tränen der eben- falls an der Pest verstorbenen Angehörigen. Darin dürfte das im römischen Bestattungswesen ebenso wichtige wie charakteristische Element der conclamatio bezeichnet werden.655 Anderson spricht in seiner Argumentation für virum (anstelle von Heinsius’ Konjektur pa- trum oder der vereinzelt übernommenen Variante matrum 656 ) von vier Altersstufen, die Ovid beschreiben wollte.657 Die von Kenney festgestellte Parallele zu Lucr. 6,1250–1252 (s. Anm. 654) eröffnet ein weiterführendes Verständnis: Während die ersten beiden Glieder erneut die soziale Rolle der Verstorbenen in den Blick nehmen, sieht der Rezipient in iuvenumque senumque aus- schließlich das Alter hervorgehoben.658 Ohne die pathetische Wirkung des Lukrez zu reprodu- zieren – diese wurde ja bereits durch die pietas im Tempel erreicht – wird die Gleichheit vor dem
652 Galinsky (1975, 121) spricht von „one of the typical quick turns of the Ovidian narrative“, da die Perspektive hier rasch zwischen Unter- und Oberwelt wechsle. Dabei handelt es sich jedoch vor dem Hintergrund der skizzierten Vorstellung um eine nicht notwendige Annahme.
653 Vgl. Cumont (1922), 64f. Bekannt ist etwa die Geistergeschichte in Plin. epist. 7,27.
654 Kenney (2011), 286 sieht die Unterwelt der Aeneis (6,305–308) als Vorlage für eine Umarbeitung des Lukrez: „[L]a descrizione di Lucrezio di intere famiglie che giacciono insieme nella morte (VI 1256–8) è trasformata in una vignetta virgiliana delle anime degli insepolti che vagano per il Limbo“. Darin fände sich erneut eine kunstvolle Verarbeitung beider Vorgänger. Geistererscheinungen nach einer Pest beschreibt jedoch auch Diod. 13,86,3, im sechsten Jahrhundert (Proc. Pers. 2,22,10) finden sie sich gar als Auslöser der Pest in Träumen; zur Einordnung vgl. Meier (2021), 429.
655 Vgl. Schrumpf (2006), 23 und Hope (2019), 69. Das mehrmalige Rufen des Verstorbenen fand sowohl am Totenbett als auch am Scheiterhaufen statt und fügte sich passend in die Erzählung, die soeben noch bei den gestohlenen Flammen verharrte. Kierdorf (1991, 76f.) differenziert unterschiedliche Arten der Totenklage im römischen Brauch in Abhängigkeit von Alter und Geschlecht, dem durch das unterschiedlose Dahinraffen der Pest nur schwerlich hätte entsprochen werden können.
656 Die Tatsache, dass ausschließlich Männer in der Aufzählung genannt werden, führt Kenney (2011, 286) korrekt auf den Erzählzusammenhang zurück. Aeacus wendet sich zum Schluss seiner Erzählung wieder ihrem Beginn zu: der Nachfrage des Cephalus, weshalb ihm so viele Gleichaltrige begegneten und zugleich so viele Bekannte zu fehlen schienen. Entsprechend ungeeignet erscheinen Varianten und Emendationen wie natarum matrumque (Heinsius) und natarum nuruumque (Burmann), wenngleich der Wunsch nach einer Angleichung an Lukrez auf den ersten Blick verständlich ist.
657 Anderson (1972), 308: „[N]amely, to distinguish four ages of men (child, young man, mature man, old man) and to pair them alternately“, bekräftigt von Gardner (2019), 171.
658 Die Nennung von nati in Ovids Metamorphosen ohne einen Bezug auf die soziale Rolle des Kindes, son-dern lediglich auf das Alter, wie es nach Andersons Interpretation nötig wäre, findet m. E. keine Paralle-le. Dass neben der oben vertretenen Aufteilung dennoch das Alter mitbezeichnet wird, ist unbestritten.
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Tod sowie die Unerbittlichkeit der Pest umgesetzt (s. auch oben Kommentar zu Lucr. 6,1272). Ungeachtet der Familienbande wütet die Krankheit und tötet gleichermaßen Jung und Alt.659 Met. 7,613 Weder reichte der Platz für Gräber noch das Holz für Feuer : Ein letztes Mal setzt der Dichter die schier überwältigende Menge an Toten auf der Sachebene um, dem Zusammenhang entsprechend mit Rückgriff auf die Bestattungspraxis. Mittels dieser Neuerung steigert Ovid die Beschreibung seiner Vorgänger dahingehend, dass den Menschen bei Lukrez zumindest noch die Möglichkeit offenstand, ihre Angehörigen auf gestohlenen Scheiter- haufen zu begraben.660 Doch im fehlenden Platz auf den Friedhöfen und im zur Neige gehenden Holz kann ebenso ein Verweis auf logistische Probleme zu Zeiten von Seuchen wie eine Recht- fertigung für den Normbruch gesehen werden; Grimms Beurteilung, die Beschreibung sei „ohne allen Anstoß aus der Wirklichkeit“661 verfasst, erhält dadurch eine gewichtige Relativierung. 2.2.5 Manilius Manil. 1,874 Oder unser Gott erbarmt sich : Die Überzeugung, die Welt sei durch bzw. als eine Gottheit geordnet,662 stellt die zentrale Annahme des in den Astronomica grundgelegten Weltbildes dar.663 Mit der Überlegung, dass Kometen Ausdruck göttlichen Erbarmens sind, knüpft Manilius an das stoische Prinzip der 659 Hutchinson (2013), 215 sieht an dieser Stelle eine Bezugnahme auf Soph. OT 175–185.660 Andersons Überlegung (1972, 308), der Schlussvers passe besser nach 7,610 trifft zwar zu, ist aber keineswegs zwingend. Wenn die Bockemüllersche Transposition korrekt ist (s. o. Komm. zu Lucr. 6,1282f.), kann es sich hier um eine Bezugnahme auf den Schluss bei Lukrez handeln (1285f. nec poterat quisquam reperiri, quem neque morbus | nec mors nec luctus temptaret tempore tali. ).
661 Grimm (1965), 108. Logistische Herausforderungen aufgrund des hohen Leichenaufkommens wer-den auch aus Ovids Nachfolgern (s. z. B. Komm. zu Oed. 166–170) und spätantiken Quellen ersicht-lich, vgl. Leven (1995), 397.
662 Vgl. Reeh (1973), 177–179. Long/Sedley (1987, 331) liefern in ihrem Kommentar folgende Definition: „The Stoics’ god is, first, an immanent, providential, rational, active principle imbuing all matter, sometimes identified with nature or with fate; second, the whole world, or its constituent elemental massed; and third, the traditional gods of the Greek pantheon, interpreted allegorically as symboliz-ing the Stoic immanent deity in these various aspects.“ [Quellen zugunsten der Lesbarkeit ausgelas-sen, FN] Vgl. ebenso deren Quellen zur stoischen Theologie, 54 A–U.
663 Vgl. im Grundsatz Manil. 1,474–531. Volk (2009, 225f.) fasst die philosophischen Axiome der Astro- nomica übersichtlich zusammen: 1) Der Kosmos ist göttlich. 2) Alle Teile des Kosmos sind miteinan-der verbunden und wirken aufeinander ein. 3) Alles ist vorherbestimmt (strikter Determinismus). 4) Mensch und Kosmos stehen in einem parallelen Verhältnis zueinander (Mikro- und Makrokos-mos). 5) Der Kosmos enthüllt sich selbst, er will erkannt werden. 6) Die Betrachtung und Deutung des Himmels ist die Sinnerfüllung der menschlichen Existenz.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Vorsehung der stoischen Gottheit ( providentia dei ) an und stellt die für die römische Republik charakteristische Deutung des Himmelsphänomens als prodigium vor einen neuen Hinter- grund.664 Zwar ändert sich nichts an dem Umstand, dass das Himmelsfeuer Unheil verkündet (wie z. B. Krieg), doch verliert es seinen unheimlichen (weil unerklärlichen) Charakter da- durch, dass es dem Willen einer sorgenden Gottheit entspringt.665 Mit Blick auf die anderen Seuchenbeschreibungen (insbesondere Vergil, der die Prodigien als Störung der natürlichen Ordnung nutzte) gewinnt das prodigium der Kometen daher eine völlig andere Funktion – sowohl im Weltbild als auch in der Erzählung.666 An dieser Stelle bleibt unausgesprochen, ob Manilius ein Kausalitätsverhältnis zwischen den Kometen und den physikalischen Phänome- nen auf der Erde annimmt. Der Text scheint jedoch eher eine Korrelation denn eine Kausalität nahezulegen (Kometen als signa ). Manil. 1,875 Erscheinungen / affectus: Frühere Editoren haben anstelle des affectus , das in den Codices überliefert ist, effectus in den Text übernommen, da die Semantik des Ersteren schwerer fassbar ist. Die häufig aufgegriffene Interpretation von Breiter,667 der affectus caeli bezeichne „Erscheinungen am Himmel“,668 ist zwar aus dem Zusammenhang gut verständlich (und, wie sich im Folgenden zeigen wird, kor- rekt), geht dem Ausdruck jedoch nicht auf den Grund. Ein Blick auf die anderen fünf Verwen- dungen von affectus bei Manilius ergibt ein gemischtes Bild und kann an dieser Stelle nur be-
664 Vgl. Rosenberger (1998), 7 und 116 Anm. 147 für eine Stellensammlung. Zur gedeuteten Verbindung von Kometen und Seuchen, insbes. in Spätantike, Mittelalter und Neuzeit, vgl. Gundel (1921), 1147.
665 Vgl. auch Grimm (1965), 70: „Die heilsame Folge dieser Erkenntnis ist, daß der Mensch sich in das Unab-änderliche fügt und sein Los mit Gelassenheit trägt. Die am Ende des ersten Buches erwähnten Katastro-phen hätten also nicht vermieden, aber doch erkannt und als unabwendbar eingesehen und darum besser ertragen werden können“. In starkem Kontrast zu dieser Darstellung stehen die Prodigienam Ende des ersten Buches von Lucans Bellum civile , vgl. insbes. Lucan. 1,526–529 und dazu Engels (2007), 650–652.
666 Auf philosophischer Ebene dient die Zuordnung der Kometen zur providentia dei der Auseinan-dersetzung mit den Epikureern und damit insbesondere Lukrez, der im fünften und sechsten Buch seines Lehrgedichtes vertreten hatte, dass die Ereignisse am Himmel kein Werk der Götter seien, vgl. Gale (2011), 214.
667 Vor Breiter erklärte bereits Du Fay (1679, 105): „Affectiones, i.e. alterationes, mutationes, &c. Gallice disposition, changement dans le ciel , Cic. Fat. et. Divin.“ Welche Stelle Du Fay im Sinn hatte, ist nicht festzustellen, da in den genannten Werken weder affectus noch affectio Verwendung findet.
668 Breiter (1908), Komm. 37. Im Anschluss daran Liuzzi (1983, 63) „manifestazioni ed incendi del cielo“, Lühr mit vermeintlichem Zitat (1973, 117 Anm. 18) „ adfectus = ‚Veränderungen (sic!) am Himmel‘ (Breiter 37)“, in der Folge Abry (1999, 128 Anm. 33) „travers ces altérations et ces incendies célestes“ und Feraboli/Flores/Scarcia (2001, 89) „mandi dei segni mediante questi incendi che alterano il cie-lo“. Daneben Goold (1977), 75 „moods and conflagrations of the sky“.
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dingt weiterhelfen.669 Versteht man mit dem OLD affectus als „[t]he position of a heavenly body relative to that of others“,670 passte der Begriff zumindest zu den Stellen, welche die Beziehungen der Sterne zueinander beschreiben und deren Position miteinschließen – zumal gerade dies auch im Zusammenhang mit tri- oder hexagonaler Systematik von Bedeutung ist.671 Dennoch führt das OLD lediglich den vorliegenden Vers in dieser Bedeutung an. Die Lösung ist, wie be- reits Joseph Scaliger in seinem Kommentar zeigte,672 im Griechischen zu suchen: Der Audruck der πάθη ( páthe )bezeichnet an mehreren Stellen ‚Ereignisse am Himmel‘, insbesondere, wenn es um den Gegenstand der Astronomie als Wissenschaft geht.673 Manilius hat folglich den grie- chischen Begriff durch affectus caeli wiedergegeben – Breiter hatte die Interpretation vermutlich Scaliger entnommen, setzte sie in der Folge voraus und gab deshalb keine weitere Erklärung.674 Manil. 1,878f. zwingt der erschöpfte Pflüger seine betrübten Jungstiere … nutzlose Joch : Manilius greift das Motiv des tristis arator (s. Anm. 411, S. 193) für seine kurze Schilderung der Dürre auf. Er verbindet mit der Positionierung dieses Motivs im Zusammenhang mit der Seuche mehrere Elemente aus den Beschreibungen seiner Vorgänger. Die (statische) Klage der coloni erinnert an den zweiten Buchschluss bei Lukrez, wo Pflüger und Winzer die mangeln- de Fruchtbarkeit der Erde beklagen (s. o. Komm. zu Lucr. 6,1246f.); die (dynamische) Szene des erschöpften Pflügers lässt an diejenigen bei Vergil und Ovid denken, in denen die Arbeit der Menschen nicht durch die Trockenheit des Bodens erschwert, sondern durch den Tod der Nutztiere beendet wird. Daneben gibt es einen Unterschied in der Ausgestaltung: Die Trauer ist nicht länger Empfindung von Mensch und Tier im Zuge einer Sympatheia (wie bei Vergil), nicht nur des Menschen (wie bei Ovid), sondern wird allein den Stieren zugeschrieben ( mae- rentis … iuvencos ). Auslöser der Trauer kann nun nicht mehr der Tod des Jochbruders oder beider Stiere sein, sondern liegt allem Anschein nach in der Einsicht in die Zwecklosigkeit des669 2,147f.: Eine angenehme Regung, die sich auf akustischen Reiz hin im Empfänger einstellt. 2,340f.; 2,476; 4,812: Die Beziehungen zwischen den Sternbildern. 4,854: Zustand der Sterne hinsichtlich ihrer Leuchtkraft.
670 OLD s.v. affectus (3a), 77. Vollmers Einordnung im TLL (I 1903 s.v. 1185,22f.) unter generaliter kann die Stelle schwerlich erklären.
671 Zur Darstellung des Verhältnisses der Sternzeichen anhand geometrischer Muster (Dreieck, Vier-eck, Sechseck, Strecke), vgl. Goold (1977) xli–li und (darauf basierend) Volk (2009), 83–87.
672 Vgl. Scaliger (31655), 96.
673 Vgl. LSJ s.v. πάθος (III, 2) und exemplarisch Plat. Hp. Ma. 285c und Ph. 96b–c.
674 Ungeklärt bleibt, ob Manilius im affectus caeli (in Anbetracht der Verse 894f.) mehr sah als reine Fachterminologie, nämlich ein Symptom für eine Erkrankung des Himmels. Sollte dies der Fall ge-wesen sein, hat Manilius den oben besprochenen morbus caeli bei Vergil (Georg. 3,478) vermutlich als Ausdruck stoischer Sympathie gedeutet (vgl. Mugellesi 1973, 51 Anm. 44) und an dieser Stelle in eine neue sprachliche Form gebracht.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung eigenen Tuns ( iuga … frustrata ).675 Vor diesem Hintergrund gewinnen der defessus arator und sein Tun ( cogit ) ein bemerkenswert starrköpfiges Profil gegenüber der Einsicht der Tiere. Manil. 1,880 Oder mit schwerer Krankheit und schleichender Zersetzung : Als zweites Beispiel bevorstehenden Unheils nennt Manilius Epidemien, die syntaktisch im Subjekt der tödlichen Flamme ( letalis flamma ) konkretisiert und durch die Adverbiale morbis und lenta tabe ergänzt werden. Der Singular im Deutschen darf nicht über den Plural morbis hinwegtäuschen, der eine Vielgestaltigkeit der Symptome impliziert. Ge- meinsam mit dem Ausdruck der schleichenden Zersetzung ( lenta tabe ) haben wir an dieser Stelle den einzigen expliziten Verweis auf äußere Symptome. Gerade im Vergleich mit sei- nen Vorgängern (vgl. Kapitel 3.1.3) ist das eine bemerkenswerte Reduktion: Es scheint dem Dichter nicht um die Darstellung individuellen Leids zu gehen, nicht um das Evozieren von Pathos; hierin steht die Beschreibung der des Grattius nah (s. Komm. zu Gratt. 371). Bei den Versen 880–883 handelt es sich vielmehr um eine deskriptive Charakterisierung der Krankheit vom Moment der Ansteckung ( corripit ) über die Symptome ( gravibus morbis, lenta tabe; exustis medullis ) und die Ausbreitung ( populos, totasque per urbes ) hin zum Ergebnis ( publica fata succensis sepulcris peraguntur ). Dieser systematische und nüchterne Beschreibungsmodus stellt die Pest als ein regelhaftes Phänomen dar, das von Kometen an- gekündigt wird.676 Manil. 1,881 tödliche Flamme : In seiner Untersuchung zu Vergils Georgica hat Ross das Feuer als Hauptelement des dritten Buches und die Pest als Paradebeispiel für die destruktive Kraft desselben herausgestellt.677 Bislang hat unsere Untersuchung ergeben, dass die Seuchenbeschreibungen das Feuer zumeist als Wirkursache der Krankheit im Organismus beschreiben (vgl. dazu in der Rekonstruktion Kapitel 3.1.2). Bei Manilius ergibt sich für diesen Gedanken eine eigene Motivation, nämlich eine Analogie zwischen dem göttlichen Zeichen des Kometen ( ignis , fax ) und den durch ihn
675 Vgl. Bühler (1959), 488 und Landolfi (1990), 232f. Durch diese Fähigkeit des logischen Schlusses geht die Beschreibung über die stoische Tierpsychologie, die auf der Selbstwahrnehmung und dem von der Naturgottheit eingegebenen Wissen basiert, hinaus, vgl. Dierauer (1977), 205–211 und zur These von der Tiervernunft 253–273.
676 Eine Ausnahme bildet das rapit labentis populos , das die Plötzlichkeit des Untergangs hervorhebt; der Schwerpunkt auf dem jähen Wüten der unerklärlichen Krankheit war bereits bei Thukydides ersichtlich und ergibt an dieser Stelle weiterhin ein feines Spiel mit Kompositum ( corripit ) und Sim-plex. Hübner (1984, 251 Anm. 380) sah in der Plötzlichkeit der Ausbreitung eine Entsprechung zur spontanen Erscheinung des Kometen am Himmel. Es wird sich im Folgenden zeigen, dass dies nicht die einzige Parallele zwischen Zeichen und Bezeichnetem darstellt.
677 Vgl. Ross (1987), 181–186, dazu Finnegan (1999), 31.
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angezeigten Phänomenen. Ebenso wie die Dürre werden Krankheit und die im Anschluss be- handelten Kriege konzeptuell häufig durch das Feuer erfasst.678 Hierdurch gewinnt der Dichter einen erneuten Beweis für die enge Verbindung von Mikro- und Makrokosmos, die ihre ein- deutigste Ausformung in den Buchschlüssen von Buch 4 und 5 erfährt.679 Manil. 1,881 brennt sich … bis ins Mark : Mit flamma medullis greift Manilius einen vergilischen Versschluss aus einem Abschnitt des dritten Buches der Georgica auf (3,271), der den Einfluss der Venus (hier metonymisch als Ver- körperung der aus dem Fortpflanzungstrieb resultierenden Leidenschaft) auf Tiere und Men- schen beschreibt.680 Diese Verwandtschaft zwischen Liebe und Krankheit hinsichtlich ihrer Ursache und Wirkweise wurde bereits am Ende des vierten Buchs bei Lukrez ausgeschöpft, nach dem Liebe eindeutig als Krankheit einzustufen ist.681 Doch ist bei dieser Anspielung nebst einem ämulatorischen Eigenwert keine bedeutungsvolle Übertragung auf inhaltlicher Ebene festzustellen – die Parallele im Ausdruck bietet sich schlicht durch die analoge Konzeptualisie- rung durch das Element Feuer an.682 Stilistisch ergibt das die Menschen durchdringende Feuer einen feinen Kontrast zum Ermatten des Feuers in 1,889 und den nie erlöschenden Scheiter- haufen in 1,894.683678 Im Ansatz findet sich dieser Gedanke bereits bei Hübner (1984), 251 Anm. 380 und Abry (1999), 124; Pisi (1989, 50) sieht hierin eine Parallele zu den klimatischen Voraussetzungen von Seuchen.
679 Vgl. Volk (2009), 102–115 und zum Prinzip in der stoischen Kosmologie Wright (1995), 63.
680 Vgl. Landolfi (1990), 234 und Feraboli/Flores/Scarcia (2001), 279. Letztere führen noch Verg. Aen. 4,66f. an, wo Didos Liebeswahn beschrieben wird.
681 Vgl. Caston (2006), Kazantzidis (2017), 155–157 mit Anm. 57 und (2021), 51–60 sowie Schauer (2018), 71f. und Kanellakis (2021). Eine weitere Parallele ist in lenta tabe auszumachen – das langsame Ab-magern war fester Bestandteil elegischer Topik, vgl. McKeown (1989), 126. Zusätzlich zu Krankheit und Affekt wird auch die Wirkung von Gift in vergleichbarer Weise ausgedrückt, vgl. Sannicandro (2010), 54f. Anm. 10.
682 Dass neben der subjektiven Erfahrung der Liebe auch die der Wut in die Terminologie des Feuers gekleidet wurde, zeigen mit der gleichen Formulierung Petr. Sat. 121,105bf.: nec enim minor ira rebel- lat | pectore in hoc leviorque exurit flamma medullas (‚Nicht weniger nämlich begehrt der Zorn in dieser Brust auf, nicht verbrennt er mit schwächerer Flamme das Mark.‘) und zahlreiche Beispiele in Senecas Dialog De ira (s. bspw. Anm. 857, S. 295).
683 Der häufig vorgenommene Vergleich (vgl. etwa Breiter 1908 Komm., 38) mit Ov. met. 7,613 trägt daher nur eingeschränkt zur Erläuterung des Verses 889 bei, da Manilius hier gerade nicht auf das fehlende Material abhebt, sondern die kosmische Dimension der Krankheit unterstreicht; diese Deu-tung erklärt womöglich den ‚bizarren Ausdruck‘ (vgl. Lühr 1973, 122), der nicht als Metonymie ver-standen werden muss ( contra Landolfi 1990, 238).
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Manil. 1,883 fata peragere: Nach der opinio communis ist an der Überlieferung fata in O festzuhalten.684 Housman kritisierte, der Ausdruck fata peragere sei inkompatibel mit sepulchrum , da nicht durch die Bestattung, sondern durch den Tod selbst dem menschlichen Schicksal entsprochen werde und die Völker nach der Überlieferung lebend verbrannt werden müssten;685 mit seiner Kri- tik weist Housman auf eine tatsächlich vorliegende Spannung im Ausdruck hin.Dass eine solche vom Dichter hingenommen wurde, dürfte der Klammer dienen, die durch die Ver- wendung des Begriffes zustandekommt: Beide allgemeinen Teile der Beschreibung (880–883 und 892–895) schließen mit einer Form von sepulcrum , sodass bereits auf der Wortebene eine Verbindung zwischen den sterbenden Völkern einerseits und der erkrankten Welt an- dererseits hergestellt wird. Die so miteinander verknüpften Passus (zu Mensch und Welt) ergänzen sich inhaltlich: Steht zu Beginn die bloße Feststellung von Epidemien, erhalten diese in der Krankheit des mundus ihre Begründung – und andersherum wird diese im Vergleich mit den Menschen als fatum mundi begriffen. Die von Housman zu Recht festge- stellte Spannung im Ausdruck dient folglich einer kunstvollen Verklammerung der beiden Außenpartien. Manil. 1,884 Wie die Pest : Der Vergleich durch qualis (in V. 892 aufgegriffen durch talia ) impliziert, vor der Pest in Athen sei ebenfalls ein Zeichen am Himmel zu sehen gewesen, was jedoch weder durch Thuky- dides noch durch andere Beschreibungen der Attischen Pest zu belegen ist. Nun bestünde die Möglichkeit, die Vergleichspartikel nicht auf die Überschrift des numquam futtilibus excand- uit zu beziehen, sondern als Ausführung der vorher im Allgemeinen skizzierten Epidemien zu verstehen. Der Schwerpunkt der Beschreibung läge dann auf der Erläuterung der Krankheit, die übergeordnete These rückte etwas in den Hintergrund. Dabei wäre überdies zu überlegen, ob die Anspielung auf Lukrez den Rezipienten überhaupt an die Schilderung des historischen Ereignisses bei Thukydides hat denken lassen – in diesem Fall gäbe Manilius schlicht eine neue Information, die auf der Grundlage seines deterministischen Weltbildes keineswegs An- lass zur Verwunderung gibt. Dieses Gedankenspiel ist jedoch angesichts der Funktion von exempla bei Manilius im Zusammenhang induktiver Beweise zu verwerfen.686 Vielleicht ist
684 Zur Verteidigung gegenüber Bentleys Konjektur iusta vgl. Lühr (1973), 115 Anm. 11 und ergänzend Lucan. 6,820 und Mart. epigr. 4,18,5.
685 Housman (21937), 78: „librorum scriptura, peraguntur fata , significat populum uiuum comburi; morte enim, non sepultura, fata peraguntur.“ Die Verwendung von sepulchrum für den Scheiter-haufen ist selten belegt, vgl. OLD s.v. sepulcrum (b), 1740.
686 Diese Form des Beweises wird auch in dem auf die Seuche folgenden Abschnitt zum Krieg ersicht-lich, vgl. Reeh (1973), 201–203.
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mit Benario anzunehmen, dass Manilius bei vielen exempla die Ankündigung durch Kometen hinzugedichtet hat, um sie als Beweisstücke nutzen zu können und ein kohärentes Weltbild zu schaffen.687 Bühler führt die Ergänzung darauf zurück, dass der Schwerpunkt an dieser Stelle auf der literarischen Bezugnahme liegt und der Dichter deshalb die Ungenauigkeit in Kauf nimmt.688 Daneben besteht stets die Möglichkeit, dass der Dichter auf Quellen zurückgegriffen hat, die nun verloren sind und deren Darstellung nicht anderweitig Verbreitung gefunden hat. Manil. 1,884 die erechthëischen Bauern : Van Wageningen hat zu Recht eine Trennung zwischen den Bauern und der Stadt vorgenom- men, sodass sich das bereits bei Lukrez, Vergil und Ovid beobachtete Bewegungsmuster der Pest vom Land in die Stadt ergibt.689 Im Zuge der Besprechung von Lucr. 6,1139–1143 wurde die Erwähnung der legendären Könige Kekrops und Pandion behandelt. Mit Erechtheus führt Manilius einen weiteren mythhistorischen Würdenträger der attischen Königslisten an und nutzt dies als eindeutige Markierung der im Folgenden ausgeführten Anspielung auf Lukrez- ens Seuchenbeschreibung.690 Dabei ist die Wahl gerade dieses Königs womöglich kein Zufall: Erechtheus ist über den Mythos mit den Töchtern des Kekrops verbunden, denen er von Athe- ne in einem Korb überreicht wird, und wird als der Sohn des (älteren) Pandion geführt.691 Für seine Anspielung wählte sich der jüngere (und innovative) Manilius entsprechend den jün- geren König. Angenommen, der Dichter sah in Kekrops und Pandion jeweils nicht die erste, sondern die zweite Generation, stellte er sich höher als Lukrez, indem er Erechtheus als Vater (von Kekrops II.) und Großvater (von Pandion II.) erwählte. Manil. 1,885 Leichenzüge im Frieden / funera pacis: Der Ausdruck funera pacis wurde von Interpretatoren unterschiedlich gedeutet. Breiter übersetzt in Analogie zu funera belli mit „das Sterben im Frieden“.692 Die Problematik liegt auf der Hand: Die Pest, auf die Manilius hier allem Anschein nach anspielt, ist die von Thukydi-687 Vgl. Benario (2005).
688 Vgl. Bühler (1959), 487 Anm. 1., ebenso Hübner (2010a), 7 Anm. 49.
689 Vgl. van Wageningen (1921), 99, ihm folgend Lühr (1973), 117 Anm. 24; dagegen Bühler (1959), 489.690 Das Verhältnis des Dichters zum Mythos ist zwiespältig, vgl. Lühr (1969), 106–111, Hübner (1984), 236f. und Volk (2009), 39f. Lehoux (2011, 49f.) hat hervorgehoben, dass es sich hierbei nicht um eine Kritik am Mythos an sich, sondern an der Suggestion einer Abhängigkeit des Himmels von der Erde handelt, vgl. Manil. 2,37f.: quorum carminibus nihil est nisi fabula caelum | terraque composuit mun- dum quae pendet ab illo . (‚In deren Gedichten ist der Himmel ein einziger Mythos und die Erde hat die Welt erschaffen, die doch eigentlich von ihr abhängt.‘)
691 Vgl. Jacoby (1902), 421 und Kron (1976), 67–72 und 104f.
692 Breiter (1908), Komm. 38, daran anküpfend Lühr (1973, 117 Anm. 25): „Die Hyperbel funera pacis
(‚ein Sterben im Frieden‘ […]) soll besagen, daß die Zahl der Menschenopfer in den Mauern größer
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung des beschriebene Pest von Athen zur Zeit des Peloponnesischen Krieges. Es bieten sich zwei Erklärungsmöglichkeiten: Entweder dachte der Dichter tatsächlich, dass Athen sich zu dieser Zeit im Frieden befand oder der Ausdruck muss anders verstanden werden als bislang. Die Ar- gumentation für ein Missverständnis könnte daran ansetzen, dass Manilius als ersten Bezugs- punkt Lukrez wählte und von ihm ausgehend auch Vergil und Ovid verarbeitete. An keiner Stelle der Seuchenbeschreibung lässt sich ohne Zweifel nachweisen, dass ein direkter Zugriff auf Thukydides stattgefunden hätte.693 Lukrez wiederum hat seine Pest dem historischen Zu- sammenhang enthoben, die Kriegssituation tritt dort nicht hervor. Die primäre Bezugnahme auf Lukrez könnte deshalb dazu geführt haben, dass Manilius sich des historischen Ursprungs des Motivs nicht mehr bewusst war, was ein bemerkenswertes Eigenleben in der Tradition be- zeugen würde. Doch obwohl der Dichter vereinzelt historische Ungenauigkeiten aufweist,694 ginge solches Unwissen wohl darüber hinaus. Deshalb wird im Folgenden angenommen, dass der Ausdruck anders verstanden werden muss als bisher. Einen Hinweis auf ein anderes Verständnis können ein paar Zeilen geben, die Petrarca im Jahr 1348 zur Zeit des ‚Schwarzen Todes‘ an seinen Freund Sokrates (Ludwig van Kempen) schreibt.695 Hierin stellt er die Frage, ob die Nachwelt ihnen glauben sollte, dass ohne sicht- baren Einfluss von außen eine derart große Menge von Menschen in den Tod gerissen wurde. Unter diesen Einflüssen zählt Petrarca auch den Krieg auf ( sine bellis aut alia clade visibili ). Mit den funera pacis könnte Manilius demnach den bei Seuchen paradox anmutenden Umstand war als im Kampf gegen den Feind.“ Ebenso van Wageningen (1921, 99): „per exsequias tempore pacis factas.“
693 Die von Johannes Tolkiehn (1897) angeführten Stellen sind nur bedingt überzeugend, da die darge-legte Schnittmenge durch die Entlehnung aus Lukrez oder der restlichen Tradition herrühren kann. Nur Vers 887 weist in der Tat eine Parallele zum Gedankengang zu Thuc. 2,47,4 auf – eine Überein-stimmung allein darf jedoch nicht zu einem solch weitreichenden Schluss führen, wie bereits im Komm. zu Gratt. 371 angemerkt wurde. Im vorliegenden Fall erlaubt die knappe Ausdrucksweise keine Annahme des direkten Bezugs auf Thukydides, da das Scheitern von Religion und Kult bei allen Vorgängern verarbeitet wurde, s. dazu auch den Kommentar zum Vers.
694 So wird die Schlacht am Trasimenischen See (217 v. Chr.) von ihm stets nach Cannae (216 v. Chr.) genannt, vgl. Goold (1977), 225.
695 Petr. fam. 8,7,12f.: Quando hoc posteritas credet fuisse tempus, sine coeli aut telluris incendio, sine bellis aut alia clade visibili, quo non haec pars aut illa terrarum, sed universus fere orbis sine ha- bitatore remanserit? Quando unquam tale aliquid visum aut fando auditum ? Quibus hoc unquam annalibus lectum est, vacuas domos, derelictas urbes, squalida rura, arva cadaveribus angusta, hor- rendam vastamque toto orbe solitudinem? Consule historicos, silent: interroga physicos, obstupescunt; quaere a philosophis, humeros contrahunt, frontem rugant, et digitulo labiis impresso, silentium iubent . Credet ista posteritas, cum ipsi qui vidimus vix credamus, somnia credituri, nisi experrecti apertis haec oculis cerneremus, et lustrata urbe funeribus suis plena, domum reversi, exoptatis pig- noribus vacuam illam reperientes, sciremus utique vera esse quae gemimus? Zur Rezeption u. a. des Lukrez in diesem Brief vgl. Passannante (2011), 23–36.
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bezeichnen, dass ohne jede Kriegshandlung eine (mit Kriegszeiten vergleichbar) große Menge an Menschen in kurzer Zeit durch die Krankheit starb.696 Vor dem Hintergrund, dass auch seinen Rezipienten der historische Zusammenhang bekannt gewesen sein dürfte, erzielt der Ausdruck als Aprosdoketon eine wirkungsvolle Überraschung, gerade weil funera pacis auf den ersten Blick im Kontrast zur historischen Realität und damit zur eigenen Erwartung steht. Manil. 1,886 die Menschen einer auf den anderen in den Tod stürzten : Breiter verglich in seinem Kommentar zur Stelle Met. 7,604f.: mortisque timorem morte fug- ant (‚Ihre Todesfurcht vertrieben sie durch den Tod.‘), wobei die postulierte Ähnlichkeit nicht unmittelbar einleuchtet.Lühr schloss sich an van Wageningens Paraphrase an; „der dichte- rische Ausdruck scheint gelungen: die Menschen gleiten gewissermaßen in ein gemeinsames Geschick“.697Van Wageningen nimmt die Szene bildlich, die Präposition in wird bei ihm räumlich aufgefasst, sodass die sterbenden Menschen übereinander fallen und einen großen Leichenhaufen bilden. Nach dieser Interpretation würde womöglich Lukrezens Szene auf dem Land (6,1246–1252) bzw. der Kampf um die Scheiterhaufen (6,1282) verarbeitet. Vielleicht ist die Präposition auch vor dem Hintergrund von Ovids Einbindung der Leichen in die miasma- tische Theorie (Met. 7,550f., s. auch Komm. zur Stelle) final zu deuten: Dann stürzte nicht der eine über den Körper des anderen, sondern der Tod des einen bedeutete den des anderen auf- grund seines ansteckenden Potenzials; nach dieser Deutung kann Manilius auch eine gedank- liche Vorlage für Silius (14,609–612, s. Kommentar zur Stelle) geboten haben. Dies bedeutete wohl eine sehr starke Verdichtung des Textes, die jedoch angesichts der sonstigen Rezeptions- art des Dichters nicht unbedingt verwunderlich erschiene. Manil. 1,887 es keinen Platz (locus) für die Heilkunst gab und die Gebete nichts halfen : Die Form des Verses erinnert (auch durch die wörtl. Entsprechung von nec locus ) an den Schlussvers von Ovids Seuchenbeschreibung, Ov. met. 7,613: nec locus in tumulos, nec sufficit arbor in ignes .698 Waren es dort die natürlichen Ressourcen, die dem Massensterben nicht ge- nügen konnten, wird an dieser Stelle der Misserfolg von Medizin und Kult prägnant in einem696 Vgl. Feraboli/Flores/Scarcia (2001), 279. Bemerkenswert wäre diese Deutung insbesondere vor dem Hintergrund, dass eine enge Verbindung von Krieg und Seuchen bestand, vgl. Seibert (1983) und Breitwieser (2018).
697 Lühr (1973), 117 Anm. 26. Paraphrase bei van Wageningen (1921, 99): „alter in alterius corpus mor-tuum prolabens concidit.“
698 Zum Verhältnis zu Ovid vgl. v. Albrecht (32012), 823. Ein vergleichbarer Ausdruck findet sich in einer Beschreibung von Hannibals Augenkrankheit (Liv. 22,2,10f.): ipse Hannibal, aeger oculis ex verna primum intemperie variante calores frigoraque, elephanto, qui unus superfuerat, quo altius ab aqua exstaret, vectus, vigiliis tamen et nocturno umore palustrique caelo gravante caput, et quia medendi nec locus nec tempus erat , altero oculo capitur. Im locus von Manilius dürfte das bei Livius explizier-
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Vers verarbeitet. Deren Scheitern steht als Begründung zentral zwischen der vorangehenden Beschreibung des Massensterbens und dem darauffolgenden Werteverfall; man kann eine Zu- ordnung von Medizin-Massensterben und Religion-Werteverfall vornehmen (zum Verhältnis von Religion und Werten in Zeiten der Krise s. Anm. 274, S. 163), obwohl durch die Beschrei- bungen der Vorgänger bereits ersichtlich wurde, dass der Verfall der Moral auch durch die Konfrontation mit dem eigenen (unausweichlichen) Ende bedingt ist. Manil. 1,888f. Das Pflichtgefühl wich … noch Tränen : Nach Landolfi handelt es sich im Vergleich zu Lukrez hierbei um eine Steigerung des Schre- ckens: Die Vernachlässigung der pietas und die ausbleibenden Bestattungsriten seien bei die- sem über die Pest verteilt worden, während Manilius sie „in un unico blocco d’immagini“699 verarbeite. Dem ist zum einen die hier vertretene Textfassung entgegenzuhalten, nach der eine solche Aufteilung auch bei Lukrez nicht vorlag (vgl. Kapitel 2.1.1), zum anderen ist zu bemerken, dass der Dichter hier insbesondere auf Ovid (Met. 7,609–613) zurückgreift (was Landolfi auch selbst konzediert). Der Abschnitt zielt darauf ab, unterschiedliche Elemente der vorangegangenen Beschreibungen zu verbinden und auf engem Raum zu verdichten. Neben der argumentativen Funktion des historischen exemplum zeigt der Dichter somit anhand der Aufnahme des Motivs seine literarische Souveränität. Manil. 1,891 fand kaum einen Erben / vix contigit heres: Der Ausdruck vix contigit heres bewirkt einen starken Kontrast mit der einstigen Bedeu- tung und Größe des Volks ( tantus quondam populus )und bildet eine gelungene Verklam- merung zum mythischen Ursprung der antiquae Athenae in 1,884f.700 Diese Klammer ent- spricht wiederum derjenigen aus Lukrezens sechstem Buch (s. Anm. 97, S. 126) auf kleinstem Raum. Das Bild des fehlenden Erben (und damit der fehlenden Zukunft) ist innerhalb der Motivtradition einzigartig, wenngleich der Gedanke bereits in Aeacus’ Klagen angelegt scheint. In den Astronomica gibt es noch eine weitere Stelle, in der von einem Erben die Rede ist: Am Ende des vierten Buches werden die Weltuntergangsmythen von Sintflut und Weltenbrand im Zusammenhang mit der schwindenden Kraft der Sterne verarbeitet. Dort wird Deucalion als solus heres humani generis (‚einziger Erbe des Menschengeschlechts‘) te tempus auch mit anklingen – eine Begrenzung auf die Räumlichkeiten erscheint im Zusammen-hang der Enge der Stadt zu genau.
699 Landolfi (1990), 238.
700 Die Ehrbezeugung durch das Attribut des Alters bei Manilius lässt sich in 5,452f. zeigen: pascentur curis veterumque exempla revolvent | semper et antiqui laudabunt verba Catonis (‚Sie werden sich an den Sorgen laben, immer wieder die altbekannten Beispiele wälzen und die Worte des altehrwürdi-gen Cato loben.‘), wenngleich die Überhöhung an dieser Stelle der Verspottung dient.
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bezeichnet – es ist exakt diese Rolle, die Eva Horn in ihren Forschungen zur Katastrophenli- teratur als „den letzten Menschen“ bezeichnet hat.701 Es scheint daher wenig verwunderlich, dass die Formulierung des ‚letzten Erben‘ in der Seuchenbeschreibung bei Manilius eben- falls angedeutet wird, um die Pest in einen Zusammenhang mit dem Weltenbrand zu stellen (s. dazu im Folgenden). Manil. 1,895 novum … sepulcrum: Die Überlieferung bietet in diesem Vers die Lesarten omnium ( M ) und novum ( LG ). Da omnium gegen das Metrum verstößt, wurden früh Konjekturen vorgenommen, wobei sich nur van Wageningens Vorschlag mit hominum langfristig halten konnte.702 Lühr nimmt in der Aufnahme von dessen Position eine Sonderrolle ein, da er van Wageningens Interpunktion nicht teilt, sondern den Genitiv hominum auf natura bezieht.703 Neben der Konjektur hominum entschieden sich einzelne Editoren für die Variante novum .704 Breiter hat den Ausdruck auf die Ekpyrosis beziehen wollen, was van Wageningen in seinem Kommentar zur Stelle ablehnte.705 Im Folgenden wird zum einen dafür argumentiert, dass der Ausdruck tatsächlich eine Ver- bindung zum Weltenbrand aufweist, zum anderen werden Überlegungen zur Semantik des Begriffs novum angestellt. Dass der vorliegende Passus eine Verbindung zum Weltenbrand aufweist, wird aus einer Parallele zum fünften Buch ersichtlich (5,206–217):706701 Vgl. Horn (2012), 32.
702 Vgl. van Wageningen (1913), 200: „ aegrotet natura, hominum sortita sepulchrum, quippe cometae non modo hominibus, sed ipsi naturae mortem et perniciem ferunt“; ergänzt in Ders. (1921, 100): „non modo homines et pecora aegrotant, sed sidera, unde morbus in terram quasi fluxit.“ Ihm folgen Housman, Goold und Lühr.
703 Vgl. Lühr (1973), 116 für den Text und 118 für die Übersetzung: „Der Tod kommt mit den Fackeln am Himmel, und diese drohen der Erde mit endlos brennenden Scheiterhaufen, da die Welt und die Menschen selbst krank sind und ihr Schicksal der Tod ist.“ Hübner (2010a, 122 ad versum 210) setzt ebenfalls kein Komma. Bei dieser Interpretation erscheint jedoch das ipsa aus 1,894 nur schwer verständlich: Weshalb wird die Erkrankung der Menschen, die bereits Gegenstand der letzten Verse gewesen ist, erneut hervorgehoben? Wie ist außerdem der Kausalnexus zwischen der Drohung des Himmels und der natura hominum zu verstehen?
704 Vor allem die älteren Herausgeber, außerdem Breiter und Feraboli/Flores/Scarcia.
705 Vgl. verallgemeinernd auch Lapidge (1979), 357. Zur stoischen Ekpyrosis, dem Weltenbrand als Aus-gangspunkt für einen neuen Weltenlauf, vgl. den Kommentar bei Long/Sedley (1987), 278f. und 310–313 inkl. der dort angeführten Quellen.
706 Die Parallele wurde auch von Feraboli/Flores/Scarcia (2001, 476) und Hübner (2010a, 122f.) ange-merkt.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Cum vero in vastos surget Nemeaeus hiatus, exoritur candens latratque Canicula flammas et rabit igne suo geminatque incendia solis. qua subdente facem terris radiosque vomente dimicat in cineres orbis fatumque supremum
Wenn nun der Löwe sich mit seinem ungeheuren Maul erhebt, geht strahlend der Hundsstern auf, atmet bellend Flammen aus, wütet mit seinem Feuer und verdoppelt das Brennen der Sonne. Weil er seine Fackel unter die Erde hält und Strahlen speit, kämpft der Erdkreis bis zur sortitur , languetque suis Neptunus in undis, et viridis nemori sanguis decedit et herbis. cuncta peregrinos orbes animalia quaerunt atque eget alterius mundus; natura suismet aegrotat morbis nimios obsessa per aestus inque rogo vivit : tantus per sidera fervor funditur atque uno cessant in lumine cuncta.
Einäscherung und erfährt sein ihm durch Los zuge- teiltes Schicksal ; Neptun ermattet in seinen Wellen und grünes Blut tropft von Wald und Gräsern. Alle Tiere su-chen fernliegende Teile des Erdkreises auf und die Welt bräuchte eine zweite Erde; die Natur, belagert von der zu starken Hitze, leidet an ihrer eigenen Krankheit und wird lebendig verbrannt : so groß ist das Glühen, das durch die Sterne ausgestrahlt wird, und alles Sein weicht im Leuchten eines einzigen Sterns. An dieser Stelle wird die Wirkung des Hundssterns beschrieben, der in der antiken Litera- tur stets als Symbol großer (Mittags)Hitze genannt wird.707 Bei Manilius gibt diese Hitze eine Kostprobe des Weltenbrands, indem die Erde derart zugerichtet wird ( dimicat in cineres orbis ), dass die Welt eine neue bräuchte ( eget alterius mundus ) – es wird an dieser Stelle dezidiert zwischen orbis und mundus unterschieden; nun ist es am Ende der Seuchenbeschreibung der mundus , der ebenso wie die natura erkrankt (1,894).708 Zum Ausdruck des Erdenleidens wird dasselbe Vokabular verwendet wie am Ende des ersten Buches, weshalb eine Parallele auf der Sachebene naheliegt:709 So wie die Glut des Hundssterns und die darauffolgende Dürre einen Eindruck der Ekpyrosis geben, stellen die Kometen das Weltenende (analog zum historischen
707 Vgl. exemplarisch Plin. nat. 2,107: Nam caniculae exortu accendi solis vapores quis ignorat? cui- us sideris effectus amplissimi in terra sentiuntur: fervent maria exoriente eo, fluctuant in cellis vina, moventur stagna. (‚Denn wer weiß nicht, dass beim Aufgang des Hundssterns die Hitze der Sonne entzündet wird? Die weitreichende Wirkung dieses Sterns spürt man auf der Erde: bei seinem Aufgang kochen die Meere, in den Kellern brodelt der Wein, stehende Gewässer werden unruhig.‘)
708 Vgl. auch den Schluss des Werks, Manil. 5,740–745: sunt stellae procerum similes, sunt proxima pri- mis | sidera, suntque gradus atque omnia victa priorum, | maximus est populus summo qui culmine fertur. | cui si pro numero vires natura dedisset, | ipse suas aether flammas sufferre nequiret, | totus et accenso mundus flagraret Olympo.
709 fatumque supremum | sortitur = novum sortita sepulcrum; natura suismet | aegrotat morbis = et ipsa | aegrotet natura; inque rogo vivit = minantur | ardentis sine fine rogos . Zur Interpretation der Scheiter-haufen im ersten Buch s. im Folgenden.
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exemplum ausgedrückt durch die nie endenden Scheiterhaufen, ardentis sine fine rogos )710 dro- hend vor Augen. Wie wäre nun das novum sepulcrum zu verstehen? Ausgeschlossen werden kann die Überset- zung von Scarcia: „e la sorte le assegna questa insolita tomba .“711 Die Theorie von der Ekpyrosis besagt schließlich, dass der Weltenbrand und die darauffolgende erneute Differenzierung der Welt ein immer wiederkehrender Kreislauf sind. Michel du Fay legt sich in seiner Prosapara- phrase in Richtung von ‚Neuheit‘ fest, ohne jedoch einen ausführlichen Kommentar zu liefern.712 In der Tat erscheint die Erneuerung der Welt nach der letzten Ekpyrosis als Schlüssel zum Ver- ständnis: Mit Blick auf thematisch verwandte stoische Formulierungen713 zeigt sich die renovatio mundi als göttliches Ziel und Resultat des Weltenbrands. Das novum sepulcrum ist demnach deshalb neu, weil es Teil der erneuerten Welt ist und weil es das erneute Ende darstellt.714 Manil. 1,893–895 Leichenfeuer folgen auf Himmelsfackeln … selbst krank sind : Durch die Begriffsüberschneidung in faces , die einerseits die Fackeln der Begräbnisfeier, an- dererseits die Kometen bezeichnen, kommt es erneut (s. o. Komm. zu 1,881) zu einer Analogie zwischen dem prodigium und dem Vorausgesagten, die sich diesmal sogar auf der Wortebene niederschlägt.715 Darüber hinaus hebt Manilius die auf der Ebene des Mikrokosmos getätigten710 Vgl. auch Lucan. 7,814f. communis mundo superest rogus ossibus astra | mixturus . (‚Ein gemeinsamer Scheiterhaufen steht für die Welt bereit, der Sterne und Knochen vermischen wird.‘). Mir ist keine Schrift bekannt, in der die rhythmische und teils lexikalische Parallele zur berühmten Stelle der Ju-piterprophezeiung imperium sine fine dedi (Verg. Aen. 1,279) angemerkt wurde, durch die hindurch womöglich auch Homer (Il. 1,52) rezipiert wird. Nach der hier vertretenen Interpretation erteilte Manilius den Hoffnungen auf eine nie endende römische Herrschaft eine Absage, indem er ihnen die Ekpyrosis entgegenstellte, und entspräche damit möglicherweise der Darstellung des Lukrez (vgl. Nethercut 2020, 127f.). Dass die Parallele zu Vergil gesucht ist, kann auch durch den Hinweis darauf plausibel gemacht werden, dass sine fine im strengen Sinne nicht zutrifft, da nach stoischer Vorstel-lung nach dem Weltenbrand eine Neuentstehung folgt.
711 Feraboli/Flores/Scarcia (2001), 91. Vgl. zum Folgenden bereits Jacob (1846, 42): „sed non novum est mundo, ignibus interire; potius e Stoicorum doctrina proprius et suus hic interitus mundo est.“
712 Du Fay (1679), 200: „Interitus sequuntur flammas istas caeli et minitantur terris pyras perpetuo accensas, siquidem jam universum et tota natura nacta recentem tumulum languescit.“ (Hervorhe-bung FN)
713 Vgl. Cic. nat. 2,118 ita relinqui nihil praeter ignem, a quo rursum animante ac deo renovatio mundi fieret atque idem ornatus oreretur und Sen. dial. 6,26,6 Et cum tempus advenerit quo se mundus reno- vaturus extinguat, viribus ista se suis caedent et sidera sideribus incurrent et omni flagrante materia uno igni quidquid nunc ex disposito lucet ardebit.
714 Vgl. für diese Semantik OLD s.v. novus (7); womöglich ist Fels (1990), 91 dahingehend zu verstehen.
Zur Bedeutung des Bilds der Bestattung in apokalyptischen Vorstellungen vgl. Galzerano (2019), 336f.
715 Vgl. Hübner (1984), 251 Anm. 380. Kazantzidis (2021, 151f.) sieht diese Analogie bereits bei Lukrez angelegt.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Beobachtungen, nämlich das Massensterben der Menschen, in Form des zukünftigen Endes der Welt auf die Ebene des Makrokosmos. Hierfür bedient er sich, wie in der Diskussion zu no- vum in 1,895 festgestellt, zunächst der Vorstellung der Ekpyrosis.716 In diesem Zusammenhang stellt sich die Bedeutungsfrage der Krankheit von Welt und Natur. Lühr hielt es für unwahr- scheinlich, dass es sich um eine konkrete Ausweitung der Pest von der Luft auf den Kosmos handelt.717 Dem ist m. E. zuzustimmen, wenngleich Lührs Reduktion auf ein poetisches Ele- ment womöglich zu weit geht. Die Krankheit der Welt als möglicher Zustand des Makrokos- mos (analog zum Mikrokosmos) wird im Allgemeinen postuliert und erfüllt dahingehend eine argumentative Funktion, dass dessen Vergänglichkeit aufgezeigt wird, die durch die Drohung des Weltenbrandes bereits vorausgesetzt ist.718 2.2.6 Seneca Die Verse 1–201 wurden als erster Akt vollständig in Übersetzung gegeben. Die sich nun anschlie- ßende Kommentierung erfolgt selektiv zu der doppelten Seuchenbeschreibung im Monolog719 des Oedipus und im Chorlied720 sowie den für sie relevanten Bestandteilen der Tragödie. Für eine aus-
716 Mit dieser Interpretation lässt sich auch ein sinnvoller Kausalnexus zwischen der Androhung der nie verlöschenden Scheiterhaufen und der Krankheit von Welt und Natur ziehen (vgl. auch Anm. 703, S. 262). Die ardentes sine fine rogi erneut auf eine Seuchenbeschreibung zu beziehen fiele schwer, weil in der vorangegangenen Beschreibung die Erschöpfung des Elements ( lassus defecerat ignis ) betont wurde. Eine bloße Rekurrenz zugunsten einer Steigerung ist nicht überzeugend.
717 Vgl. Lühr (1973), 124 Anm. 60.
718 Es ist wiederum diese Möglichkeit der Krankheit, die im oben zitierten Passus (5,206–216, Komm. zu Manil. 1,895) unter der Hitzeeinwirkung des Hundssterns besonders zum Vorschein kommt ( Neptunus languet , sanguis decedit ). Womöglich hat dieses Sachfeld auch den Ausdruck radios vome- re bedingt.
719 Dass es sich zunächst um einen Monolog des Königs handelt, wurde gerade im Vergleich mit der sophokleischen Vorlage als Zeichen der Isolation gewertet, die wie eine Klammer am Anfang und am Ende der Tragödie steht, vgl. Chaumartin (2002), 5 und Gardner (2019), 213f.
720 Das Verhältnis des Chors zur dramatischen Handlung ist für Senecas Tragödien umstritten. Die in der Tradition häufig angeführte Vermittlerrolle des Chors, der sowohl nah als auch distant ist (vgl. Seidensticker 2006, 100 Anm. 32), wird in einigen senecanischen Tragödien nicht erfüllt; vielmehr scheint jener nicht selten für sich zu stehen und vor allem strukturelle Aufgaben zu übernehmen (vgl. Häuptli 1983 Komm., 11). Zumindest für die hier behandelte Chorpartie ist jedoch eindeutig eine Ein-bindung in den ersten Akt festzustellen: Am deutlichsten wird dies dadurch, dass die zweite Seuchen-beschreibung durch die kürzere erste eine Vorbereitung erfährt (vgl. Schmitz 1993, 40 und Boyle 2011, 143f.). Zum Vergleich des Chors in den beiden Oedipustragödien vgl. die vielzitierte Aussage von Marx (1932), 7: „Der Gegensatz ist deutlich: bei Seneca berichtet der Chor über die Situation, bei Sophokles ruft er aus der Situation; dort ist diese Situation Gegenstand einer Beschreibung – hier Objekt eines Tuns in Klage und Bitte. Senecas Chor ist kein Subjekt – nach diesem Lied: er hat bloß ein Sujet .“
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führliche sprachliche und inhaltliche Kommentierung wird (wie auch für alle anderen Autoren, vgl. Kapitel 1.4) auf die im Literaturverzeichnis aufgeführten Einzelbeiträge verwiesen. Oed. 1–5 Schon kehrt Titan zögerlich zurück … das die Nacht vollbrachte : Als erste (und einzige) Tragödie der Motivtradition fügt sich der Oedipus mit seiner Schil- derung des Sonnenaufgangs zu Beginn in eine von der griechischen Aufführungspraxis her- rührende Tradition ein.721 Die Verse bilden in mehrerlei Hinsicht eine geeignete Einleitung des Stücks: Mastronarde hat in seinem einflussreichen Essay aufgezeigt, wie sich ausgehend von den ersten Versen gedankliche Linien ( dubius , maestum , squalida , triste ) durch das ge- samte Stück ziehen;722 der häufig genannte Zweck der ‚Schaffung einer Atmosphäre‘ durch die Einleitung wirkt folglich weit über den ersten Akt hinaus. Bemerkenswert ist der Umstand, dass Titan (=Apoll=Sol)723 den Sonnenwagen nur zögerlich über den Horizont lenkt,724 da er fürchtet, das Massaker der Nacht zu beleuchten.725 Nicht nur der antike Rezipient dürfte darin spätestens bei der Nennung der Pest ( pestis 726 ) einen Widerspruch gesehen haben, war doch anzunehmen, dass Apoll selbst die Krankheit gesandt hat.727 Die Lösung dieses Widerspruchs liegt zum einen in der Allmacht des Fatums, das Apoll in seiner Funktion als Orakel zwar721 Vgl. Töchterle (1994), 139f. Owen (1968, 295) sieht hierin mehr als bloße Tradition: „Seneca’s fre-quent opening of the plays at dawn is in fact less convincingly explained as a mechanical adherence to rules, than as a desire for the kind of atmosphere which such an opening afforded.“ Es bleibt offen, ob von der vorliegenden Passung zwischen (mutmaßlich) gewünschter Atmosphäre und Eröffnung auf eine persönliche Präferenz des Dichters geschlossen werden kann.
722 Vgl. Mastronarde (1970), 293f. und Schmidt (2004) 323f. zum reziproken Verhältnis der Akte, dane-ben Iakovou (2020), 169f. mit Literaturverweisen.
723 Die Möglichkeiten allegorischer Deutung, die sich mit der Gleichsetzung von Apoll und dem Son-nengott Sol ergeben haben, hat Horstmanshoff (1989), 58f. dargelegt.
724 Zur Übersetzung ‚zögerlich‘ vgl. die Diskussion bei Töchterle (1994), 141f. Gegen Schmitz (1993, 21) ist hervorzuheben, dass der vermeintliche Schwerpunkt auf der Art des Lichtes stets auch eine Entsprechung in der Stimmung des Sonnengottes findet. Im Text wurde das überlieferte maestum belassen; die Trennung von Titan als dem Lenker des Sonnenwagens und dem Morgenlicht iubar ist problemlos; der zuletzt von Boyle (2011, 105) kritisierte notwendige Subjektswechsel vom Licht zum Wagenlenker ist angesichts des gerens nicht schwerwiegend.
725 In vergleichbarer Weise will der luctificus Titan am Beginn des siebten Buches des Bellum civile nicht aus dem Meer auftauchen und zieht sogar Wolken an sich heran (Lucan. 7,5 attraxit nubes ), um die Schlacht von Pharsalos nicht direkt zu bescheinen. Zur Verwendung des Tragödienanfangs bei Lu-can vgl. Hübner (1976), Narducci (2002), 51f., Schrijvers (2005), 34f. und Ambühl (2015), 78.
726 Nach Manil. 1,884 ist Seneca der nächste Autor der Tradition, der die Krankheit mit diesem Begriff einführt; zur fehlenden begrifflichen Unterscheidung in den hier behandelten Quellen vgl. Anm. 4, S. 11.
727 Vgl. Schetter (1972), 412 mit Anm. 21. In Vers 34 kommt Oedipus angesichts der Orakelsprüche und der Pest selbst zum Schluss, er müsse der Angeklagte des Phoebus sein (s. Komm. zur Stelle).
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung vermitteln, jedoch nicht beeinflussen kann; zum anderen liegt die Ursache der Pest, wie das dritte Chorlied (V. 709–763) zu begründen sucht,728 nicht im Zorn des Sonnengottes, sondern im Labdakidenfluch und der daraus resultierenden Tat des Oedipus.729 Kritisch zu beurteilen ist Töchterles Aussage, dass bereits zu Beginn „das typische ‚Pestwet- ter‘“ abgebildet werde und „die durch den Rauch der Totenfeuer entstandene Düsternis […] mitzudenken [sei]“.730 Die Verse nennen letztlich drei Himmelserscheinungen: den Wagen- lenker, das Licht und die Wolken. An keiner Stelle wird die von Töchterle genannte drückende Atmosphäre beschrieben, nirgendwo ist die Rede von Hitze.731 Ein Bezug zur Motivtradition ist demnach an dieser Stelle für den Rezipienten noch nicht ersichtlich. Der Schwerpunkt liegt eher auf dem fahlen Licht und der damit vermittelten betrübten Grundstimmung ( maestum , squalida , triste , luctifica , dem gegenüber avida peste ).732 Die in dieser Stimmung begründete, häufig benannte Parallele zwischen dem inneren Zustand des Oedipus und der Darstellung der Natur entspricht der von Posch differenzierten Form der sympathetischen Naturdarstellung.733 Oed. 31b–34 Für welches Übel … augenfällig ein Angeklagter des Phoebus : Es ist diese Ahnung des Oedipus, die Senecas Tragödienfassung stets Kritik eingebracht hat – schließlich sei hier die Entwicklung zu Beginn vorweggenommen, die bei seinem Vor- gänger Sophokles Ziel einer schrittweisen Selbsterkennung gewesen war.734 In der Tat: Der Gedanke, dass das eigene Überleben nur eine Bestimmung für noch größeres Übel bedeu-
728 Gärtner (2003), 17f. spricht hierbei von einer Abstraktion im wörtlichen Sinne, da das Geschehen von einer vordergründigen Kausalität (das von Laios angesprochene scelus ) auf eine andere Ebene ‚weggezogen‘ werde.
729 Für die Entwicklung des Motivs des Götterzorns im Oedipus vgl. Schmitz (1993), 35–40, speziell S.39 zur Verbindung von scelus und veteres irae deum . Zur Rolle der Götter im stoischen Determinismus vgl. Fischer (2008), 181–186 und Sen. dial. 1,5,8: Inrevocabilis humana pariter ac divina cursus vehit: ille ipse omnium conditor et rector scripsit quidem fata, sed sequitur; semper paret, semel iussit. (‚Ein unwiderruflicher Lauf trägt gleichermaßen das menschliche und göttliche Los: jener Schöpfer und Lenker aller Dinge selbst hat zwar die Schicksalssprüche verfasst, aber er folgt ihnen; immer ge-horcht er, einmal nur hat er befohlen.‘)
730 Töchterle (1994), 140. Die Rationalisierung nimmt der geschilderten Atmosphäre ihren ominösen Charakter; besser benennt Schmidt (2004, 347) die Szenerie als eine „Unheilslandschaft“.
731 Die seit Lukrez verwendete Markierung der gegenseitigen literarischen Bezugnahme aestus findet sich erst in Vers 39 mit Bezug auf den Hundsstern ( aesti feri canis ), dann jedoch in gewohntem Zu-sammenhang und in direkter Verbindung von Titan und der Pest, vgl. auch Anm. 94, S. 125.
732 Mugellesi (1973), 43 nimmt die Verse als Paradigma des locus horridus .
733 Posch (1969), 99: „Die Natur wird zum Medium, an dem das Gefühl sich seiner erst bewußt wird. Umgekehrt wird das Erlebnis der Natur stark vom Gefühl beeinflußt. Die Einheit ist vollkommen. Das erst ist sympathetisches Naturgefühl.“
734 Vgl. Friedrich (1933), 62f., Zwierlein (1966), 94, der unter anderem diesen Aspekt herausgriff, um die
Auflösung der senecanischen Tragödien in Einzelszenen zu erweisen, und Töchterle (1994), 29. Vgl.
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ten muss, findet sich bei Sophokles am Ende des Stücks.735 Doch ist er dort in Form einer Aussage (sogar von Wissen, οἶδα [ oída ], ist die Rede) formuliert, nicht in der einer ahnenden Frage. Dieser Unterschied gründet auf den unterschiedlichen Wissensbeständen der beiden Protagonisten, wobei Seneca durch bewusste Anspielungen mit dem Informationsvorsprung der Rezipienten gegenüber den handelnden Figuren hantiert.736 Die Anklage des Phoebus ist demnach im doppelten Sinne zu verstehen: Der Rezipient weiß um den Mord an Laios und den Inzest mit Iokaste, während Oedipus die Tatsache, dass er von der Pest verschont wird, als bedeutungsvolle (da durch das fatum bestimmte) Voraussetzung ( reservamur ) für die noch zu begehenden Verbrechen und die ggf. folgende Bestrafung sieht.737 Wie ist nach diesen Perspektiven die Pest, die hier in Form ihres Resultats (‚Trümmer mei- ner Stadt … Scheiterhaufen meines Volks‘) hervortritt, zu verstehen? Der Rezipient weiß wie- derum um das Ursache-Wirkungsverhältnis, während Oedipus die Begründung in den ihm prophezeiten Verbrechen sieht (V. 35f.): sperare poteras sceleribus tantis dari | regnum salubre ? Hiermit wird nicht (wie auf Seiten des Rezipienten) eine Korrelation zwischen den bereits ver- übten Handlungen und der kosmischen Reaktion hergestellt, sondern zwischen solchen Hand- lungen, die zwar vorausgesagt, jedoch nach Meinung des Sprechers noch nicht verübt worden sind. Ein regnum salubre passte aus der Sicht des Oedipus nicht zu seiner Prophezeiung.738 Dass nun das Volk unter der Prophezeiung von Oedipus’ Schicksal zu leiden hat, ist nach dessen Lo- für eine Gegendarstellung den wichtigen Beitrag von Lisa Cordes (2009), aufbauend auf Teilergeb-nissen von Wiener (2006), 103–129, die für das Folgende zugrundegelegt werden.735 Vgl. mit Boyle (2011), 120 Soph. OT 1455–1457: καίτοι τοσοῦτόν γ᾽ οἶδα, μήτε μ᾽ ἂν νόσον | μήτ᾽ ἄλλο πέρσαι μηδέν: οὐ γὰρ ἄν ποτε | θνῄσκων ἐσώθην, μὴ ᾽ πί τῳ δεινῷ κακῷ. Zur methodischen Frage des Vergleichs mit der Vorlage vgl. Braund (2016), 2, die mit ihrer tendenziell vollständigen Absage zu weit geht.
736 Zur diskrepanten Informiertheit (Übers. von discrepant awareness ) zwischen innerem und äußerem Kommunikationssystem als einer der notwendigen Bedingungen für die dramatische Handlung vgl. Pfister (112001), 79–90 und zum Oedipus Wiener (2006), 115: „Seneca führt die ‚Blindheit‘ der Personen auf der Bühne […] dem informierten Zuschauer, der mit seinem Wissensvorsprung jedes Detail deuten kann, geradezu quälend vor Augen.“ Hilfreich ist in diesem Zusammenhang auch die Einteilung dra-maturgischer Zeitphasen von Bohrer (1991, 377) in Erwartungsangst und Erscheinungsschrecken, die den Prozess der Gefühlsentwicklung im Moment der Rezeption nachzuvollziehen suchen.
737 Wie hier und im Folgenden ersichtlich, kann die Ahnung des Oedipus demnach aus einer bestimm-ten Logik heraus erklärt werden, ohne dass an dieser Stelle metatheatralisches Wissen beim Protago-nisten vorauszusetzen wäre, wie bspw. Staley (2014) plausibel zu machen versucht. Es ist vielmehr zu überlegen, ob Deutungen dieser Art nicht das tragische Grundelement der diskrepanten Informiert-heit (vgl. vorherige Anm.) verkennen.
738 Thummers (1972, 193 Anm. 35) Einwand gegen die Position von Friedrich und Zwierlein, dass der König in seiner Verzweiflung durchaus zu einer Ahnung hinsichtlich einer Verbindung des Herrschaftsantritts und des Aufkommens der Pest kommen könnte, trifft deshalb nicht den Kern. Oedipus’ Vorahnung er-gibt sich aus einem logischen Schluss, nicht aus reiner Verzweiflung heraus, vgl. Wiener (2006), 108.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung gik lediglich folgerichtig.739 Mit Blick auf Oedipus’ wissendes Nichtwissen, das die dramatische Spannung bereits im Prolog auf die Spitze treibt,740 ist das sich anschließende fecimus möglichst allgemein zu verstehen: Allein die Anwesenheit seiner Person, der solche Taten prophezeit wur- den, hat die Lage zur Folge – allein sein Auszug aus der Stadt wird am Ende der Beschreibung als Lösung angesehen (V. 77b–80).741 Die Allgemeinheit der Feststellung ist von Bedeutung, wenn es zur Konkretisierung der Ursache in Form der Sphinx kommt (s. Komm. zu Oed. 108f.). Oed. 36 Wir haben den Himmel zum Täter gemacht : Zwei Aspekte der Übersetzung bedürfen einer Rechtfertigung: Dass die erste Person Plural in fecimus tatsächlich eine genaue Entsprechung gefunden hat, soll auf die Doppeldeutigkeit des Plurals aufmerksam machen. Zwar spricht Oedipus auch andernorts (V. 31) von sich allein in der ersten Person Plural, doch kann gerade an dieser Stelle ein Reiz darin bestehen, dass der Rezipient im Plural auch Iokaste mit einschließen kann.742 Das Attribut nocens wird häufig mit ‚vergiftet‘ o.Ä. wiedergegeben, was die antike Miasmentheorie abzubilden versucht. Dem steht jedoch entgegen, dass die in den folgenden Versen beschriebenen Phänomene schlicht keine Vergiftung, sondern zunächst einmal eine große Breite an Himmelsphänomenen beschreiben. Da mit nocens die Schuldhaftigkeit einer Person oder einer Sache bezeichnet wird,743 wird der
739 Vgl. Cordes (2009), 428 und 435–439. Zur zugrundeliegenden Vorstellung, dass die moralische Inte-grität eines Staatsoberhauptes Auswirkungen auf die Untertanen besitzt vgl. Speyer (1979), 31. Gard-ner (2019, 208f.) betont, dass es insbesondere dieses sensible Verhältnis ist, das Seneca zum Gegen-stand der Reflexion seiner Tragödie macht.
740 Vgl. Mans (1984), 103 und Schmitz (1993), 27.
741 Letztlich ist es der Auszug aus der Stadt, der die Heilung bringen soll und am Ende der Tragödie wirkungsvoll inszeniert wird (1058–1061): mortifera mecum vitia terrarum extraho: | Violenta Fata et horridus Morbi tremor, | Maciesque et atra Pestis et rabidus Dolor, | mecum ite, mecum. ducibus his uti libet. (‚Die todbringenden Übel in diesen Landen nehme ich mit mir: Du mein blutbeflecktes Schicksal, du schreckliches Schauern der Krankheit, Auszehrung, unheilvolle Pest, rasend machen-der Schmerz – geht gemeinsam mit mir, jawohl: Diese Führer will ich mir nehmen.‘). Vor diesem Hintergrund wird eine einfache Trennung (vgl. Pisi 1989, 48 Anm. 8) von physikalischer und reli-giös-spiritueller Ursache weder dem Text noch der antiken Vorstellung gerecht, die beides als ver-bunden begreifen kann. Mit Verweis auf Schmitz (1993, 223f.) ist zu betonen, dass es sich bei Oedipus nicht um einen Sündenbock handelt, da keine Sünde des Kollektivs symbolisch auf ihn übertragen wird, sondern er diese selbst begangen hat: „Edipo è la peste, perché Edipo è la colpa.“ (Pisi 1989, 69; ebenso Michelakis 2019, 391 mit Verweis auf Soph. OT 1293). Leider findet sich jene Ungenauigkeit auch noch in jüngeren Publikationen, vgl. z. B. Gardner (2019), 220. Zum Gebrauch des Pharmakos in Zeiten von Epidemien generell vgl. Cohn (2018), 31–35.
742 Vgl. Boyle (2011), 122.
743 Vgl. Heumann/Seckel (91926) s.v. nocens , 368 und Henry/Walker (1983), 132, dagegen jedoch Töch-terle (1994), 164, der annimmt, dass der Schuldcharakter an dieser Stelle zurücktritt.
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Himmel als schuldig am desaströsen Zustand des thebanischen Volkes aufgefasst, freilich aus der Perspektive des Oedipus.744 Oed. 37–51: Wie auch seine römischen Vorgänger beginnt Seneca seine erste Beschreibung mit der Schil- derung der klimatischen Bedingungen.745 Ein großer Unterschied besteht jedoch im Ausmaß, in dem bei Seneca die Natur selbst der Pest zum Opfer fällt (s. die Kommentare im Folgenden). Oed. 37–40 Kein sanfter Luftzug … dem Rücken des Nemäischen Löwen nahesteht : Der Zusammenhang zwischen dem Tierkreiszeichen Löwe und dem Hundsstern wurde bereits im Kommentar zu Manil. 1,895 ersichtlich, in dem eine Parallele zu dessen fünftem Buch aufge- zeigt werden konnte. Es ist möglich, dass Seneca auf die genannte Verbindung anspielt und damit die Assoziation der Ekpyrosis bei seinen Rezipienten hervorruft; dies kann auch den ansonsten nicht weiter sinnstiftenden astrologischen Hintergrund der Beschreibung zufriedenstellender be- gründen.746 Unabhängig von dieser Assoziation besteht wie schon bei Manilius eine Analogie zwi- schen Mikro- und Makrokosmos: Die Brust der Erkrankten brennt ( anhela flammis corda ) und die Umgebung liefert keinen Windhauch zur Kühlung, der noch bei Lukrez geholfen hatte (6,1171), sondern heizt sich auf – die Welt fiebert und der Mensch in ihr.747 Der Zusammenhang zwischen Mensch und Umwelt wird direkt an den Anfang der Wirkung des caelum nocens gestellt, wohinge- gen die konkrete Betrachtung von Mensch und Gesellschaft erst in Vers 52 nachfolgt. Oed. 38 ihre Brust aufatmen, die unter den Flammen keucht : Im Lateinischen stehen anhela corda (‚keuchende Herzen‘), die wohl als pars pro toto zu se- hen sind;748 Töchterle hat auf Parallelen zum gängigeren Ausdruck pectus anhelitum hingewie-744 Vgl. auch mit Kruschwitz (2020, 143) eine algerische Inschrift (CIL VIII 18792), die den Himmel als Mitwisser bezeichnet (V.13f. ei conscius [a]eter ).
745 Vgl. Vallillee (1960), 133f. Es ist insbesondere die Reinigung der Luft, die im Verlauf der Tragödie immer wieder aufgegriffen wird, um eine Heilung in Aussicht zu stellen, vgl. Oed. 220, 650f. und schließlich kurz vor dem Auszug des Oedipus in 1054f. Diese Kontinuität unterstreicht, dass die Pest nicht nur als Motivation der Handlung zu Beginn steht (wie etwa im OT des Sophokles), sondern die gesamte Tragödie durchzieht.
746 Zur Verbindung zum fünften Buch der Astronomica vgl. auch Jakobi (1988), 90 Anm. 135 und Schmitz (1993), 43f. Anm. 103.
747 Die bereits in den Versen 1–5 beobachtete sympathetische Grundstruktur tritt hier erneut hervor. Nach stoischer Kosmologie ist die Hitze demnach mehr als nur ein die Krankheit verstärkender Faktor, denn die Sphäre von Mensch und Natur gehen ineinander über, vgl. Posch (1969), 95.
748 Es ist nicht auszuschließen, dass auch die aristotelische Theorie vom Herzen als Ursprung des kör-pereigenen Feuers im Hintergrund wirkt, vgl. Nutton (22013), 118.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung sen.749 Bereits bei der Besprechung von Verg. georg. 3,506 wurde das Verhältnis zwischen Kör- pertemperatur und Atmung herausgestellt. Das hier beschriebene Symptom ist das einzige aus dem ersten Teil der Seuchenbeschreibung und wird in dieser Form nicht wieder aufgegriffen. Boyles Übersetzung750 ist aus mehreren Gründen mit Vorsicht zu nehmen: Zunächst würde das vermeintlich bezeichnete Organ (Lunge) im Lateinischen durch ein anderes (Herz) aus- gedrückt; der gedankliche Schritt von cor über pectus hin zu pulmo erscheint gewagt bis kaum nachvollziehbar. Weiterhin wird an dieser Stelle nicht expliziert, welche Respirationstheorie zugrundegelegt werden soll – gleichberechtigt neben der Lunge sind je nach Standpunkt Hirn, Haut oder Blut erste Empfänger der eingeatmeten Luft.751 Die unterstellte Prämisse, dass es die Erhitzung der Lunge ist, die das Keuchen verursacht, ist eine Modernisierung der Quelle (vgl. Anm. 10, S. 76). Die Übersetzung durch ‚Brust‘ wird nicht nur dem lateinischen Wortlaut ge- rechter, sondern lässt den Vorstellungsspielraum, der angesichts fehlender weiterer Deutungs- hinweise hinsichtlich der zugrundegelegten Respirationstheorie notwendig ist, bestehen.752 Oed. 41–43 Das Wasser verließ (deseruit) die Ströme … mit seinen dürftigen Wassern : Im Zurückweichen des Wassers und dem Farbverlust des Grases wendet Seneca das in Vergils Seuchenbeschreibung beobachtete Element der Wesensverkehrung (s. o. Komm. zu 3,537–540) auf die Natur an. Neben der naheliegenden physikalischen Kausalität der Dürre, die Gewässer und Gräser austrocknet,753 sollte der Formulierung verstärkte Aufmerksamkeit zukommen: Durch die Verwendung des aktiven Verbums deseruit gewinnen Wasser und Farbe als agentes eine Dynamik, die über die unbeseelte Natur hinausgeht.754 Die ansonsten in der Naturbe-
749 Vgl. Töchterle (1994) 169f. und Jakobi (1988), 90; die aufgrund ihrer Ähnlichkeit zum vorliegenden Passus interessanteste Parallele ist Verg. Aen. 6,48f. über die Sibylle: sed pectus anhelum , | et rabie fera corda tument . Sen. Ag. 713 weist den gleichen Ausdruck im Kontext der Angst auf. Neben dem Verweis auf pectus wäre auch denkbar, dass mit corda eigentlich die praecordia gemeint sind. So findet sich bei Apuleius (met. 8,27): Inter haec unus ex illis ba<c>chatur effusius ac de imis praecor- diis anhelitus crebros referens velut numini<s> divino spiritu repletus simulabat sauciam vecordiam, prorsus quasi deum praesen || tia soleant homines non sui f<i>eri meliores, sed debiles effici vel aegroti . Zur Bedeutung der praecordia vgl. Anm. 586, S. 235.
750 Vgl. Boyle (2011), 7: „No gentle breeze’s cooling breath calms lungs | Gasping with heat, no tender zephyrs blow.“
751 Vgl. Kurz (2005), 122f.
752 So auch Weißenberger zu Thuc. 2,49,3: κατέβαινεν ἐς τὰ στήθη ὁ πόνος μετὰ βηχὸς ἰσχυροῦ. (‚… stieg das Leiden in die Brust hinab, starken Husten auslösend.‘)
753 Vgl. Töchterle (1994), 171f. Die zur Stelle konstatierte Singularität des Ausdrucks color deseruit ist zusätzlich zu der von ihm angeführten Forschungsliteratur auch durch das Zeugma zufriedenstel-lend zu begründen.
754 Zur Naturbeseelung, bei der noch eine Trennung von menschlicher und natürlicher Sphäre bestehen bleibt, vgl. Posch (1969), 92–94.
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schreibung häufig verwendete Personifikation ( Zephyri , Titan , Nemaeus leo , Dirce , Ismenos , Phoebi soror , Ceres ) erfährt hier eine Variation von vergleichbarer Wirkung. Durch die sug- gerierte Selbstständigkeit von Wasser und Farbe wird die Widernatürlichkeit der Phänomene unterstrichen, die nicht mehr bloß als natürliche Reaktion auf die steigende Hitze erscheinen, sondern vor der alles erfassenden Krankheit fliehen (vgl. Komm. zu Verg. georg. 3,541–547). Oed. 44f. Dunkel gleitet am Nachthimmel des Phoebus Schwester dahin, fahl ist die Welt : Die kosmische Dimension der Krankheit wird zum Teil dadurch erreicht, dass die Himmels- körper ihr Leuchten verlieren und die Welt in ein fahles Licht tauchen (s. o. Komm. zu Oed. 1–5).755 Im Kommentar zu Ov. met. 7,530–532, der den Mond in die Motivtradition eingeführt hat, wurde bereits auf die Rolle des Mondes für die medizinische Prognostik und den Bildcha- rakter der Vergänglichkeit hingewiesen. Oed. 45 die: Im Anschluss an Töchterle haben sich Fitch und Boyle für die ( varia lectio aus E ) entschie- den.756 Töchterle entkräftet einerseits die Argumente für das substantivische nubilo , indem er unter anderem die adjektivische Verwendung von nubilus in Senecas Prosaschriften und bei den Augusteern nachweist. Bedenkenswert bleibt dabei das quantitative Verhältnis, nach dem der substantivische Gebrauch klar überwiegt (20:2). Andererseits nennt er mehrere Paralle- len757 und einen Rückverweis in Oed. 219 non ante caelo lucidus curret dies , welche die Lesart im Zusammenhang wahrscheinlich machen. Fitch sieht vom Licht des Mondes über das der Sonne hin zu den Sternen eine „satisfactory sequence“,758 die jedoch denselben Geist atmet wie das Argument der Gegenseite, an dieser Stelle werde ausschließlich die Nacht behandelt. Hin- zuzufügen ist dabei, dass die Sequenz durch antike Kosmologie gestützt wird, indem sich die755 Deswegen wurde an dieser Stelle nicht mit Töchterle (1994), 175 mundus mit ‚Himmel, Atmosphäre‘ übersetzt, da sich die Betrachtung zwar auf Himmelskörper bezieht, die Folge von deren Verände-rung jedoch für die erlebte Umwelt beschrieben wird.
756 Vgl. Töchterle (1994), 175f., Fitch (2004), 136 und Boyle (2011), 124. Das in A überlieferte novo setzen Sluiter, Viansino, Giardina, Häuptli und Zwierlein in den Text.
757 Sen. nat. 5,9,4 und Sen. suas. 3,1. Dagegenzuhalten ist jedoch Sen. nat. 3,27,4 (bei Töchterle 1994, 175 zu mundus als 3,24,4 aufgeführt), das nicht nur eine wichtige sprachliche Parallele darstellt, sondern in der Beschreibung der Sintflut vergleichbar apokalyptische Züge aufweist: Primo immodici cadunt imbres et sine ullis solibus triste nubilo caelum est nebulaque continua et ex umido spissa caligo numquam exiccantibus ventis. (‚Zu Beginn fallen unermessliche Regenschauer und ohne irgendei-nen Sonnenstrahl ist der Himmel trüb unter einem Gewölk, es herrscht anhaltender Nebel und aus der Feuchtigkeit, die Winde niemals austrocknen, entsteht eine dichte Dunkelheit.‘)
758 Fitch (2004), 136.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Beschreibung der Verse 44–46 immer weiter von der Erde entfernt und somit schrittweise eine Ausweitung auf den gesamten Kosmos erfolgt.759 Boyle verweist zur Stelle auf Ov. met. 7,528f., was jedoch nur bedingt eine Parallele darstellt. Angesichts der intensiven Verarbeitung von Ovids Seuchenbeschreibung ist jedoch denkbar, dass sich Seneca auch anderer Passus aus dem siebten Buch bedient hat. Bei der Vorstellung von Medeas Zauberkräften findet sich ein vergleichbarer Gedankengang (Ov. met. 7,207–209):760 te quoque, Luna , traho, quamvis Temesaea labores aera tuos minuant; currus quoque carmine nostro pallet avi , pallet nostris Aurora venenis.
Auch dich, Luna, ziehe ich hinab, mag deine Mü-hen das Erz aus Temessa auch mindern; auch der Sonnenwagen des Großvaters erbleicht durch mei-nen Zauberspruch, bleich wird die Morgenröte durch mein Gift. Akzeptiert man die Lesung die , besteht eine Parallele zwischen der Nennung des Mondes und dem sich anschließenden Leuchten der Sonne. Eine Nutzung von Ovid ist nicht zuletzt des- wegen plausibel, weil die kosmische Dimension der Pest durch eine Widernatürlichkeit erzielt wird,761 die mit derjenigen der Zauberkräfte vergleichbar ist. In Anbetracht von Töchterles Ar- gumenten, der schrittweisen Progression vom Mond über die Sonne zu den Fixsternen und der möglichen Parallele in Ovids Metamorphosen wird deshalb die in den Text übernommen.762 Oed. 46–49a Kein Stern funkelt trotz klarer Nacht … in die Gestalt der Hölle : Die von Töchterle erwogene konzessive Deutung von serenis noctibus als Ablativ wurde von Boyle ohne weitere Begründung als „implausible“ abgetan.763 Nach Töchterle legt der Text fol- gende Kausalität nahe: Schwarzer Dampf lastet auf der Erde, weshalb keine Sterne zu sehen sind. Entsprechend muss micat (‚funkelt‘) aus der Perspektive menschlicher Beobachter ge-
759 Eine visuelle Darstellung des Planetensystems findet sich bei Hübner (2000), 1073.
760 Es bestehen weitere Parallelen zwischen den von Medea beschriebenen Kräften und den unnatürlichen Geschehnissen der Pest, vgl. Ov. met. 7,199–206: quorum ope, cum volui, ripis mirantibus amnes | in fon- tes rediere suos, concussaque sisto, | stantia concutio cantu freta, nubila pello | nubilaque induco , ventos abigoque vocoque, | vipereas rumpo verbis et carmine fauces , | vivaque saxa sua convulsaque robora terra | et silvas moveo iubeoque tremescere montes | et mugire solum manesque exire sepulcris . Jakobi (1988), 94f. macht weitere Rezeptionen aus dem siebten Buch der Metamorphosen wahrscheinlich.
761 Vgl. Schmitz (1993), 59.
762 Auffällig ähnlich ist zudem die Abfolge im Prodigienkatalog bei Lucan (1,538–542a): iam Phoebe toto fratrem cum redderet orbe | terrarum subita percussa expalluit umbra. | ipse caput medio Ti- tan cum ferret Olympo | condidit ardentis atra caligine currus | involvitque orbem tenebris gentesque coegit | desperare diem.
763 Boyle (2011), 124 und Töchterle (1994), 177.
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wertet werden, deren Eindruck mit den tatsächlichen Gegebenheiten nicht übereinstimmt. Das anschließende sed (‚sondern‘) fügt sich gedanklich insofern ein, als incubat (‚senkte sich nieder‘) eine räumliche Nähe zu den Sternen bezeichnet – anstelle von Sternenglanz senkt sich (von der Erde gesehen) aus der Höhe ein schwarzer Dunst hinab.764 Oed. 49b–51 Ceres versagt ihre Frucht … die Saat stirbt ohne Ertrag : Mit einer Ausführung über die Unfruchtbarkeit der Feldsaat kurz vor der Ansteckung der Menschen in der Stadt folgt Seneca dem bereits bekannten Beschreibungsmuster, das die Krankheit vom Land in die Stadt wandern lässt (s. Komm. zu Manil. 1,884) und greift über- dies den gedanklichen Zusammenhang von Hungersnot und Seuche auf.765 Die Hinzufügung der Pflanzenwelt hat Lefèvre vor dem Hintergrund der sophokleischen Vorlage als unpassend bezeichnet; ihm widersprach Schmitz in mehrerlei Hinsicht: Erstens füge sich die Erkrankung der vegetativen Umwelt gut in das Konzept kosmischer Sympathie ein. Zweitens handele es sich nicht um eine Neuerung Senecas, da sich ein Befall der Vegetation bereits in der kurzen Seuchenbeschreibung im dritten Buch von Vergils Aeneis (3,135–142) findet:766Iamque fere sicco subductae litore puppes, conubiis arvisque novis operata iuventus, iura domosque dabam, subito cum tabida membris corrupto caeli tractu miserandaque venit arboribusque satisque lues et letifer annus. linquebant dulcis animas aut aegra trahebant corpora; tum sterilis exurere Sirius agros, arebant herbae et victum seges aegra negabat.
Beinahe bereits waren die Schiffe an die sandige Küste gezogen, die junge Männerschar mit Hoch-zeiten und den neuen Fluren beschäftigt, Gesetze und Heimstatt teilte ich zu, als plötzlich durch ein verdorbenes Klima eine auszehrende, unheilvol-le Krankheit und die todbringende Jahreszeit die Körper, Bäume und Pflanzen befiel. Sie ließen ihre jungen Seelen oder schleppten ihre kranken Körper umher; da verbrannte der Hundsstern die Felder und machte sie unfruchtbar, das Gras brannte und die erkrankte Saat versagte uns die Nahrung.
764 Die Parallele zu Lucr. 6,1143 incubuit tandem populo Pandionis omni ist augenfällig; den Ursprung des Dunstes mit Verweis auf Sen. nat. 6,28,2 als die (aufgebrochene) Erde anzusehen, erscheint auf-grund der durch das Präfix in- vorgegebenen Richtung und der Parallele schwer möglich.
765 Vgl. Pisi (1989), 50 mit Anm. 15, zum Zusammenhang von Hunger und Seuche s. Anm. 180, S. 59.766 Vgl. Grimm (1965), 58–61, Lefèvre (1980), 296 sowie Schmitz (1993), 28 und 50. Als Ursache für die Pest bei Vergil werden erneut die Beschaffenheit der Luft und die Hitze genannt. Die Beschreibung ist auf ein Minimum reduziert und fungiert ausschließlich dazu, die Entscheidung zur Besiedelung Kretas als einen Bruch mit der göttlichen Vorsehung zu markieren.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Auffällig bleibt nichtsdestoweniger die Ausführlichkeit der Beschreibung des Getreides bei Seneca. Diese kann zum einen ihre Begründung in einer näheren Ausführung der Personifi- kation der Ceres und einer damit einhergehenden Rezeption des Sophokles (OT 26f.) erhalten, zum anderen hat Töchterle eine interessante Stelle ausfindig gemacht, in der Seneca das Ge- treidewachstum mit den Lebensabschnitten des Menschen vergleicht.767 Eine Abbildung des Verfalls des Menschen durch die Natur wurde auch in Ovids Seuchenbeschreibung durch das Schwinden des Mondes plausibel gemacht (s. Komm. zu Met. 7,530–532) – sollte der Dichter die Vorstellung der Episteln auch hier zugrundegelegt haben, wäre darin eine Aufnahme sei- nes (auch sonst umfangreich rezipierten) Vorgängers zu sehen. Oed. 52–55 Kein Teil der Gesellschaft … verbrennt Ehepaare : Töchterle hat an dieser Stelle auf die Verkehrung des Konsolationstopos des gemeinsamen Todes hingewiesen.768 Die Unerbittlichkeit des Todes, der keinen Unterschied zwischen Jung und Alt, Stark und Schwach macht, zieht sich durch die gesamte Motivtradition.769 Im Hand- lungszusammenhang der Tragödie gewinnen die betroffenen Personengruppen jedoch eine besondere Bedeutung: In ihnen spiegelt sich zugleich das Verbrechen des Oedipus wider. Die Gegenüberstellung von Jung und Alt, insbesondere die von Vater und Sohn ruft den Vater- mord an Laios vor Augen. Der Ausdruck una fax thalamos cremat (‚eine gemeinsame Fackel verbrennt Ehepaare‘) spielt mit der doppeldeutigen Verwendung der Fackel ( fax ) bei Beerdi- gungen sowie bei Hochzeitsfeierlichkeiten. Ebenso deuten die thalamos (bezeichnet eig. das
767 Vgl. Töchterle (1994), 180 und Sen. epist. 121,15f. Nam et illa herba quae in segetem frugemque ven- tura est aliam constitutionem habet tenera et vix eminens sulco, aliam cum convaluit et molli quidem culmo, sed quo ferat onus suum, constitit, aliam cum flavescit et ad aream spectat et spica eius indur- uit: in quamcumque constitutionem venit, eam tuetur, in eam componitur. Alia est aetas infantis, pue- ri, adulescentis, senis. (‚Denn auch jenes Gewächs, das sich zu einer Feldfrucht entwickeln wird, hat eine andere Beschaffenheit, wenn es jung ist und kaum aus der Ackerfurche ragt, eine andere wenn es erstarkt ist und zwar noch mit weichem Halm steht, aber mit einem, der die ihm zugedachte Last trägt, wieder eine andere, wenn es goldgelb wird, bereits die Tenne vor Augen hat und sich die Ähre härtet: zu welcher Beschaffenheit auch immer es gelangt – es blickt darauf, dafür ist es angelegt. Ein anderes Lebensalter ist das des Kleinkinds, des Knaben, des Jugendlichen, des Greises.‘). Gardner (2019, 210f.) sieht an dieser Stelle eine Inversion der Gabe der Ceres aus dem ersten Buch von Vergils Georgica sowie eine Reminiszenz an Ecl. 4,28 molli paulatim flavescet campus arista . (‚Allmählich wird das Feld goldgelb durch weiche Ähren.‘)
768 Vgl. Töchterle (1994), 183 mit Anm. 63, daneben Anm. 246, S. 154 dieser Untersuchung.
769 Mit Pisi (1989, 51) auf einen direkten Rückgriff auf Thukydides (2,51,3 T XIII) schließen zu wollen, ginge daher etwas weit. Terminologisch bemerkenswert ist die Verwendung von immunis exitio im Zusammenhang einer Krankheit. Mit Blick auf Celsus und Scribonius Largus ist jedoch festzustel-len, dass das Adjektiv immunis keine Verwendung in der Fachsprache gefunden hat. Erst bei Cael. Aur. chron. 4,34 findet sich der Ausdruck siquidem nulla pars ulcerum in intestinis a medicaminis contactu videatur immunis .
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Ehegemach) in Verbindung mit der Betonung bei una den Inzest mit Iokaste an.770 Anhand dieser Verse lässt sich exemplarisch zeigen, dass die vermeintlich starre (und dadurch nach Meinung mancher Kommentatoren zu kritisierende) Topik im jeweiligen Zusammenhang trotz gleichbleibender Elemente andere, in diesem Fall sogar tiefere, Züge annimmt. Oed. 56–59a Bitteres Weinen … unsere Tränen versiegten : Jakobi stellt zu Recht als Vorlage Ovid (Met. 7,611, in Weiterentwicklung von Lucr. 6,1283 lacrimis lassi ) neben die Verse 56–59a.771 Danach wird zunächst deutlich, dass die beiden Dichter ihre Seuchenbeschreibungen mit dem Ende der Tränen beschlossen haben, während Seneca das Motiv mitten in seiner Schilderung verwendet. Damit verbindet er die Gleichheit vor dem Tod mit dem Verfall der Bestattungsriten. Hervorzuheben ist gegenüber Jakobi, dass das Versiegen der Tränen über die Darstellung der Vorgänger hinausgeht. So ordnet Boyle das Element in eine Tradition ein, nach der bestimmte Erlebnisse eine Reaktion mit Tränen auf- grund ihrer Schwere inadäquat erscheinen lassen.772 Eine weitere Deutungsmöglichkeit liefert eine Stelle aus Ovids Epistulae ex Ponto (1,2,25–28):Hic me pugnantem cum frigore cumque sagittis cumque meo fato quarta fatigat hiems.
Fine carent lacrimae, nisi cum stupor obstitit illis et similis morti pectora torpor habet.
Hier zermartert mich, der ich mit der Kälte, mit Pfei-len und meinem eigenen Los kämpfe, schon der vier-te Winter. Kein Ende finden meine Tränen, außer wenn Abstumpfung sie hindert und eine totenglei-che Starre mein Herz in Beschlag nimmt. Die hier zugrundegelegte Vorstellung lässt den endlosen Tränenstrom des Dichters nur da- durch versiegen, dass sich in seiner Brust eine totengleiche Starre ausbreitet.773 Ein Bezug zu
770 Vgl. Mastronarde (1970), 297f. und Boyle (2011), lviii und 125: „The focus here on the literally in-discriminate effects of the plague – viz. its destruction of the distinctions of age, sex, and family categories (father, son, husband, wife) – is not without thematic point.“ sowie Gardner (2019), 216. Zu sozialen Kategorien und deren Außerkraftsetzung in Seuchenbeschreibungen vgl. auch Girard (1974), 833.
771 Vgl. Jakobi (1988), 91f. mit Anm. 138 und bereits Vallillee (1960), 142f; zur Interpunktion vgl. Töch-terle (1994), 183.
772 Vgl. Boyle (2011), 125f.
773 Vergleichbar ist auch die Reaktion in der Seeschlacht vor Massilia, in welcher der Vater des Argos beim Anblick seines sterbenden Sohnes zunächst keine Reaktion zu zeigen vermag (Lucan. 3,733f. und 741f.): non lacrimae cecidere genis , non pectora tundit, | distentis toto riguit sed corpore pal- mis … ut torpore senex caruit viresque cruentus | coepit habere dolor . (‚ Nicht fielen Tränen aus den Augen , nicht schlug er auf seine Brust, sondern er erstarrte mit fortgestreckten Handflächen am ganzen Körper … sobald der alte Mann seiner Betäubung entbehrte und der verwundende Schmerz
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Senecas Tragödie liegt deshalb nahe, weil Oedipus selbst das Versiegen der Tränen als Re- aktion auf äußerstes Leid ( in extremis ) beschreibt. Demnach wäre die Trockenheit der Augen als Symptom nicht die primäre Ursache, sondern ein begleitender Umstand des Mangels an Tränen. Oed. 59–61 Hier trägt ein Vater seinen Sohn, selbst erkrankt … zu holen : Durch die nähere Betrachtung der Umstände der Aufschichtung von Leichen, die in der bis- herigen Motivtradition vor allem vor dem Hintergrund eines Kampfes um die Scheiterhaufen geschildert wurde, gewinnt die Darstellung an Pathos. Dies wird nicht zuletzt durch den neuen Schwerpunkt auf die soziale Rolle von Vater und Mutter bewirkt, die ihre eigenen Kinder auf den Scheiterhaufen werfen. Dabei spiegeln sie durch ihren Akt der pietas das zwecklose Beten für Angehörige bei Ovid (Met. 7,589–592) wider;774 weiterhin erhält in ihnen die Gruppe der optimus quisque (‚der jeweils Beste‘) von Lukrez, die unter Einsatz ihrer eigenen Gesundheit bei ihren Angehörigen bleibt, eine greifbarere Entsprechung – das Resultat ist mit aeger und amens jedoch vergleichbar mit der Beschreibung des Vorgängers.775 In der Erzählung reprä- sentieren diese pii parentes (‚pflichtbewussten Eltern‘) eine Stufe gesellschaftlichen Verhaltens, das in den folgenden Versen zum bekannten Motivelement der Brutalität und Resignation ge- steigert wird. Oed. 63 denn bei der Bestattung bricht das Grabgeleit zusammen : Die Erzählung bewegt sich nun weg von den Scheiterhaufen hin zum Grabgeleit für die Toten, das noch während seines Zugs zusammenbricht. Diese Innovation verbindet in der Erzählung geschickt die Betrachtung der pii parentes aus den vorherigen Versen mit dem sich anschlie- ßenden Verfall der Sitten und dem Verlust des pudor . Grundlage für die Umsetzung ist der bereits bei Thukydides beobachtete und in der Folge gern aufgegriffene Aspekt des plötzlichen begann, an Kraft zu gewinnen.‘). Auch an dieser Stelle ist die innere Starre augenfällig, vgl. Sanni-candro (2010), 58f.
774 Vgl. zur pietas Braund (2016), 62–65. Gardner (2019, 214–217) macht in ihrer Besprechung der Stelle u. a. darauf aufmerksam, dass der Akt der pietas , den die Eltern erweisen, ein Versuch der Aufrecht-erhaltung personeller Distinktion gegenüber der homogenisierenden Kraft der Pest ist, was durch die Gegenüberstellung der Demonstrativa hunc … hunc mit in eundem rogum unterstrichen wird.
775 Ob der Zustand der Mutter ( amens ) mit Töchterle (1994, 186) ausschließlich durch die Trauer oder womöglich auch durch die Krankheit selbst bedingt ist – die Auswirkung der Pest auf die Psyche der Menschen wurde schließlich durch die Modifikationen bei Lukrez grundgelegt (s. Komm. zu Lucr. 6,1158f.) – ist schwer zu sagen. Nach dieser Deutung fände sich in den Attributen aeger und amens die Wirkung der Krankheit auf Physis und Psyche wieder. Neben einem direkten Einfluss durch die Krankheit ist weiterhin die Gesamtsituation der Katastrophe eine mögliche Ursache, vgl. mit Pisi (1989, 51 Anm. 16) Sen. nat. 6,29.
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Kollapses (vgl. auch Kapitel 3.1.3). Durch das sich anschließende tum im Folgevers wird eine zeitliche Entwicklung nahegelegt, die durch einzelne Tote angestoßen und durch die immer neue Trauer ins Unerträgliche gesteigert wird. So hat Boyle zwar Recht, wenn er im zusam- menbrechenden Grabgeleit einen Fall von „plague-irony“776 sieht, doch sollte dieser Umstand nicht über die steigernde Funktion dieser Verse im Gesamtzusammenhang hinwegtäuschen. Oed. 64–68 Dann verbrennen sie die Körper ihrer Angehörigen … die Scheiterhaufen : Als letzte Stufe des Umgangs mit den Leichen steht der Streit um die Scheiterhaufen, der bei Seneca (im Vergleich zu Ovid) durch die Gegenüberstellung von propria mit alienis noch eine Präzisierung erfährt und in eine Schlusssentenz zum Mangel an pudor in Zeiten der Not mündet.777 Der Sinnabschnitt endet (in Anlehnung an Ov. met. 7,613) mit der Feststellung der Ermangelung natürlicher Ressourcen für eine korrekte Bestattung. Besonderes Augenmerk ver- dienen die Verse 66f., in denen Seneca den eigentlichen Bruch der Bestattungsnorm konkreti- siert: Zum einen werden keine Einzelgräber angelegt, sodass an dieser Stelle zum ersten Mal in der Motivtradition eine explizite Nennung von Massengräbern vorliegt.778 Diese bilden vor dem Attribut sancta (‚heilig‘) einen außerordentlich starken Kontrast zwischen tatsächlichem und gefordertem Ablauf.779 Zum anderen wird durch die zynische Frage, wie wenige Leichen tatsächlich vollständig verbrannt werden, auf das Konzept des halbverbrannten Körpers ( corpus semiustum ) angespielt:780 Danach stellte für den römischen Rezipienten nicht nur der Kampf vor den Scheiterhaufen eine Normüberschreitung gegenüber den Lebenden, sondern auch die nicht korrekte Durchführung der Verbrennung des Leichnams eine gegenüber den Toten dar.781 Oed. 69f. Keine Gebete, keine Heilkunst … in den Abgrund : Am Schluss der ersten Beschreibung steht effektvoll das Scheitern von Religion und Me- dizin, dessen Formulierung einen Nachweis für die direkte Verwendung des Manilius durch776 Boyle (2011), 126. Zum schwarzen Humor bei Seneca vgl. Meltzer (1988).
777 Vgl. Jakobi (1988), 92 und Töchterle (1994), 188. Zwar sieht Jakobi richtig in Ov. met. 7,567 passim posi- toque pudore die Vorlage, versäumt jedoch zu betonen, dass es sich bei dem pudor um einen anderen als beim Vorgänger handelt (nach der Systematik von Kaster 2005, 29 handelt es sich um Skript 4, s. ibid. 44).
778 Vgl. mit Vallillee (1960, 155) Lucan. 7,803f. petimus non singula busta | discretosque rogos: unum da gentibus ignem . (‚Wir bitten nicht um einzelne Gräber, nicht um gesonderte Scheiterhaufen: gib der Menge ein einziges gemeinsames Feuer.‘). Zu den vielzitierten puticuli bei Varro vgl. Anm. 638, S. 248, Hopkins (1983), 207f., Kierdorf (1991) und Bodel (2000). Derartige Massenbestattungen sind nicht zu verwechseln mit intendierten Mehrfachbestattungen, vgl. Cortesão Silva (2015), 130f.
779 Dieser Kontrast unterstreicht die Verteidigung der Überlieferung gegenüber Konjekturvorschlägen, vgl. Fitch (2004), 136 und Boyle (2011), 127.
780 Vgl. Noy (2000).
781 Ein drastisches Beispiel findet sich bei der Bestattung des Pompeius in Lucan. 8,786–789.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Seneca liefert.782 Die Subsumierung der vorher differenzierten Bereiche von Gebeten ( vota ) und Wissenschaft ( ars ) unter die Personengruppe der Heiler ( medentes , vgl. Ov. met. 7,561) zeigt das Nebeneinander von religiöser und naturwissenschaftlich orientierter Medizin.783 Mit dem Verlust der Heiler ist jede Hoffnung auf Hilfe ( auxilium ) verloren, was die Bedeutung der Me- dizin im fingierten Katastrophenfall erneut unterstreicht. Bemerkenswert ist der Schwerpunkt auf der Patientenperspektive – nirgendwo wird der Aspekt der Ansteckung der Pfleger auf- gegriffen (wie etwa bei Thukydides und Ovid betont), es geht lediglich um deren Hilflosigkeit. Die Folge ist Resignation, die sich im Todeswunsch des Oedipus äußert. Die sich anschlie- ßenden, kongenial von Iokaste unterbrochenen,784 Überlegungen bezüglich einer Flucht aus Theben lassen sich m. E. in Anbetracht der Imperative ( sperne , linque ) nur schwer als Pläne zur Rettung der Stadt auslegen.785 Oed. 97 concieret: Die lange akzeptierte Lesart conciperet aus E wurde zunächst von Schröder und im An- schluss von Fitch zugunsten von concuteret aus A in Frage gestellt.786 Die ursprüngliche An- nahme, conciperet minas könne als Objekt die bloße Äußerung der Drohungen bezeichnen, wurde von Schröder durch eine lexikalische Analyse als semantisch und syntaktisch proble- matisch erwiesen; auch eine Umdeutung der Drohungen zum Rätsel selbst sei weder lexika- lisch erklärbar noch mit der Erzählfolge vereinbar. Bezugnehmend auf Fitch hat sich auch Boyle für die Lesart concuteret entschieden, das er mit „Hurling her threats“787 wiedergibt. Jedoch hat bereits Fitch Schwierigkeiten der Lesart von A eingeräumt, die er zum einen in der Pragmatik, zum anderen in einer paläographischen Parallele sieht, in der ebenfalls ein Eingriff 782 Vgl. Bühler (1959), 489 und Jakobi (1988), 93 mit Anm. 145 zu Manil. 1,887.
783 Diese Unterscheidung darf ohnehin nicht allzu streng gefasst werden, wie sowohl Untersuchungen der hippokratischen Medizin (vgl. z. B. van der Eijk 2011, 23f.) als auch von Celsus’ De medicina (vgl. Capitani 1972) gezeigt haben.
784 Zum Aufeinandertreffen der lateinischen Begriffe parentes und coniunx , die in der dramatischen In-szenierung von Oedipus und Iokaste mit dem Wissen des Rezipienten spielen, vgl. Töchterle (1994), 197f.
785 Thummers (1972, 194) Konzeption von Oedipus als Retter des Vaterlandes ( salvator patriae ) ist hier nicht vorwegzunehmen, wie bereits bei Müller (1953, 452) geschehen: Es besteht ein wichtiger Unter-schied zwischen dem Handeln des Oedipus an dieser Stelle und zum Schluss der Tragödie. Bereits hier das Handlungsmotiv der Rettung anzunehmen versperrte eine Möglichkeit der Charakterent-wicklung.
786 Vgl. Schröder (2000), 69–73 und Fitch (2004), 137f.
787 Boyle (2011), 10, vgl. auch den Kommentar 138.
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von A vorgenommen worden ist.788 An dieser Stelle wird für einen kleinen Eingriff in den Text argumentiert, mithilfe dessen die genannten Schwierigkeiten behoben werden. In Senecas Hercules furens findet sich folgende Anrufung an Athene (900–902):Te te laborum socia et adiutrix precor, belligera Pallas, cuius in laeva ciet aegis feroces ore saxifico minas .
Dich, ja dich rufe ich als Gefährtin und Unterstützerin mei-ner Mühen an, streitbare Pallas, in deren linker Hand die Aegis mit ihrem versteinernden Gesicht wilde Drohungen bedeutet . Hercules ruft Athene in ihrer Funktion als Kriegsgöttin an, welche die Aegis mit dem Gor- gonenhaupt in ihrer Linken trägt.789 Der Ausdruck ciet … minas bereitet bei der Übersetzung gewisse Schwierigkeiten: Eindeutig ist jedoch, dass es sich dabei nicht um verbale Äußerung von Drohungen handelt;790 die minae implizieren die mögliche Konsequenz der Versteinerung, ohne dass der Schild oder das Gorgonenhaupt sie äußerte. Eine nonverbale Form der Drohung ist auch für die Stelle im Oedipus von Interesse, wie bereits Schröder herausgestellt hat.791 Setzte man anstelle des conciperet nun concieret (von concio ), kann man die eben beobach- tete Semantik für die Drohungen der Sphinx nutzen. Das conciere in seiner Bedeutung ‚in Bewegung versetzen, aufregen‘ entspricht dabei dem Peitschen des Schwanzes, mit dem sich die Sphinx selbst anstachelt.792 Paläographisch lässt sich die Verschreibung zu conciperet zu- friedenstellend als lectio facilior des eher unüblichen Kompositums concieret erklären. Oed. 108f. Eine einzige Rettung bleibt uns jetzt : Nach der Schilderung seines Sieges über die Sphinx kommt Oedipus zu der Überzeugung, dass sie (in V. 107 auffälligerweise durch lues ausgedrückt793) die Ursache für die Pest sein muss. Die vorher grobe Ahnung, die sich aus einem logischen Schluss von den Prophezeiun- gen ableitete (s. o. Komm. zu Oed. 31–34), wird demnach präzisiert: Oedipus nimmt nun eine klare Zuschreibung der Ursache vor, wobei hervorzuheben ist, dass diese mit der ersten groben Ahnung kompatibel ist – die Verursachung der Pest durch die dämonische Einflussnahme der
788 Vgl. Fitch (2004), 137f.
789 Vgl. Fitch (1987), 354.
790 Ebenso Thomann (1961), 125 mit seiner Übersetzung: „in deren Linken die Ägis mit ihrem verstei-nernden Antlitz wilde Drohungen aussendet.“
791 Vgl. Schröder (2000), 71f.
792 Fitch (2004), 137 vergleicht das Löwengleichnis in Lucan. 1,205ff., das Roche (2009), 216 in eine lite-rarische Tradition von Homer über Vergil bis hin zu Lucan einordnet.
793 Eine terminologische Verbindung zwischen Sphinx und Pest hat Michelakis (2019, 394) auch für die Vorlage des Sophokles aufgezeigt.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Sphinx kann sich in das miasmatische Dasein des Oedipus fügen. Darüber hinaus macht die Gewissheit der dämonischen Wirkmacht den Weg dafür frei, dass Oedipus Apoll als Retter ansehen kann, da dieser die Pest augenscheinlich nicht selbst geschickt hat.794 Oed. 109 ostendat: Boyle hat sich gegen den Konjunktiv bei ostendat und für den Indikativ Präsens ausgespro- chen, weil jener die Zuversicht auf Heilung zu sehr ins Ungewisse rücke (noch weiter geht Giardina im Futur ostendet ). Mit Verweis auf die Erklärungen bei Sluiter (Hoffnung) und Fitch (Pessimismus) sowie das Indefinitpronomen ( ali ) quam , das die von Boyle in Frage gestellte Ungewissheit gerade explizit macht, ist jedoch am Konjunktiv festzuhalten.795 Oed. 111–114 mit der gesamten Stadt! Entvölkert von Bauern … dein berühmter Soldat : Zusätzlich zur üblichen Aufteilung nach Land- und Stadtbevölkerung benennt der Chor eine weitere Personengruppe, den Soldaten auf dem Eroberungszug des Bacchus im Osten. Diese Gruppe umfasst gedanklich die beiden anderen, da sich die Thebaner hier mit ihrer mythischen Vergangenheit identifizieren.796 Die Einführung des Soldaten steht, ebenso wie die sich anschließende Aufzählung von dessen Taten im fernen Osten,797 unter dem Gedanken des gestörten Tun-Ergehen-Zusammenhangs.798 Trotz des bewiese- nen Wagemuts, bis ans andere Ende der Welt zu ziehen, rafft die Pest das Volk Thebens unterschiedslos dahin. Insbesondere unter Berücksichtigung der späteren Umsetzung des
794 Vgl. (bis auf den ersten Teilsatz) Schetter (1972), 421: „Oedipus sucht die Schuld an der Pest jetzt nicht mehr bei sich, sondern in einem geisterhaften, dämonischen Racheakt der von ihm überwundenen Sphinx. Deswegen kann er jetzt auch, unter Anspielung auf die bevorstehende Rückkehr des nach Delphi entsandten Creo, Hilfe von dem Gott erwarten, dessen Rechenschaft fordernden Zugriff er zuvor in seinem Ausgenommensein von dem allgemeinen Peststerben zu verspüren geglaubt hatte“. Zum Einfluss dämonischer Kräfte auf die Gesundheit vgl. Leven (2005c), 206f. mit weiterer Literatur. 795 Vgl. Boyle (2011), 141, dagegen Sluiter (1941), 82 und Fitch (2004), 138.
796 Zur Inversion der mythischen Chronologie zu diesem Zweck vgl. Lefèvre (1980), 294f.
797 Die Nennung der fremden Völker zeigt durchaus eine Parallele zu Catull. 11 auf. Wie Boyle (2011, 145 und 157f.) hierin eine Anspielung auf Unheil als Folge von Geschlechtsverkehr sehen zu wollen, geht jedoch m. E. zu weit – nicht zuletzt, weil das Gedicht in einer Absage an Lesbia gipfelt und damit einen anderen Schwerpunkt besitzt. Auch die von ihm festgestellten Übereinstimmungen zwischen dem Symptomkatalog (V. 180–192) und Catull. 51 ergeben sich wohl eher durch die thematische Überschneidung.
798 Im Zusammenhang der Motivtradition ist die Nennung des Indienzugs in seiner Funktion folg-lich nicht überraschend (so Töchterle 1994, 222), wohl jedoch auffällig umfangreich. Häupt-li (1983, Komm. 23) hat die Art der Darstellung als Kontrast zwischen der Blütezeit Thebens und seiner jetzigen Gestalt gedeutet. Diese Gegenüberstellung kultureller Blüte und Zerstörung durch die Pest wurde bereits in Lukrezens Komposition des sechsten Buches beobachtet (vgl. Anm. 97, S. 126).
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Motivs durch Silius Italicus, in dem er den Seuchentod als Schmach für die Soldaten cha- rakterisiert (14,630–632), kann auch für diese Stelle eine subjektiv empfundene Schande des ‚trägen Todes‘ im Kontrast zur heldenhaften Vergangenheit angenommen werden (s. dazu auch im Folgenden). Oed. 124f. ein Geschlecht unbesiegbaren Ursprungs … grausam dahinraffende Schicksal : Die Betonung der eigenen Herkunft dient (wie im vorangegangenen Kommentar bereits herausgearbeitet wurde) der Kontrastierung der eigenen Verdienste ( merita , vgl. auch Gratt. 371f. und Manil. 1,891) mit der Bestrafung durch einen grausamen und unehrenhaften Tod. Weiterhin stellt die Beschreibung des Ursprungs als ‚unbesiegbar‘ die Übermenschlichkeit der Krankheit in Form eines wirkungsvollen Oxymorons heraus. Die Benennung des fatum als grausam ( saevum ) aus der subjektiven Perspektive der Erkrankten wirkt wenig verwunderlich und wiese diese aus stoischer Sicht als Nichtwissende aus. Insbesondere vor dem Hintergrund der problematischen Fatumskonzeption der Tragödie (vgl. Anm. 49, S. 103) gewinnt der Vor- wurf jedoch an Gewicht, selbst wenn die Verbindung mehrmals bei Seneca Verwendung fin- det.799 Schließlich ist mit Boyle darauf hinzuweisen, dass der Wechsel zur ersten Person Plural und die Betitelung als stirps invicta die Identifikation der römischen Rezipienten mit dem Chor erhöht.800 Oed. 126–132 stets aufs Neue zieht der Triumphzug des Todes … dicht an Bestattung : Die Verse ergänzen Oedipus’ Darstellung über den Abfall von den Bestattungsriten (Oed. 55–67).801 Hatte jener die Angehörigen insbesondere durch ihre soziale Rolle und die damit einhergehende Verpflichtung beschrieben, sieht der Chor das Volk lediglich als anonyme Mas- se. Dies zeigt sich anhand der Verwendung des unpersönlichen Passivs ( ducitur, properatur ) und der Erfassung der Menschen in Reihen oder Mengen ( ordo , series , turba ). Ebenso anonym bleiben die Toten, die außerhalb der Stadt auf einen Haufen ( strages 802 ) geworfen werden – was799 Für eine Stellenübersicht vgl. Töchterle (1994), 226.
800 Vgl. Boyle (2011), 148 und zur Selbsterkenntnis im tragischen Motiv Gardner (2019), 208.
801 Zum Verhältnis der beiden Seuchenbeschreibungen vgl. treffend Schmitz (1993), 40: „Auf diese Wei-se schließen sich die einzelnen Aspekte kunstvoll zu einem umfassenden Bild der Pest zusammen. Die doppelte Beschreibung der Pest bot dem Dichter Gelegenheit, denselben Gegenstand aus ver-schiedener Sichtweise zu behandeln.“ Diese Aufteilung der Pest zum Zwecke gegenseitiger Ergän-zung kann, wenn Vallillee (1960, 145) mit seiner Vermutung richtig liegt, Grundlage für Lucans Zersplitterung des Motivs gewesen sein (vgl. Kapitel 2.2.7).
802 Für die semantische Diskussion um strages vgl. Töchterle (1994), 228, dessen konkreter Deutung an dieser Stelle zwar mit Blick auf die Leichenhaufen, nicht jedoch für funus als Leiche gefolgt wird. Vgl. jedoch die Rezeption bei Lucan. 2,204b–206 sed illos | magna premit strages peraguntque cadavera partem | caedis: viva graves elidunt corpora trunci. (‚Aber auf jenen lastet ein großer Leichenhaufen
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung folgt, ist ein notdürftiger Vollzug der Bestattung; eine Anspielung auf Massengräber, wie sie noch vorher in der Klage des Oedipus angeklungen waren, findet sich hier nicht. Der Kollaps während der Begräbniszüge ist in der feinen Zweideutigkeit im Ausdruck ad manes prope- ratur gegeben, der auch das Eilen in den eigenen Tod bezeichnen kann. Ovids Neuerung in der Motivtradition, dass die Stadttore der großen Anzahl an Trauernden nicht standhalten, hat Seneca geschickt an sein Sujet angepasst (sieben Tore in Theben) und zugleich durch die höhere Anzahl eine quantitative Steigerung erreicht.803 Ebenfalls ein neuer Gedanke eröffnet sich durch den Dativ Morti , nach dem der Begräbniszug ( pompa funebris 804 ) zugleich zum Triumphzug des Todes wird.805 Oed. 133f. Zuerst befiel die Krankheit Schafe, machte sie lahm … das sattgrüne Gras : Das Attribut tardas (‚langsam‘) zu den bidentes (‚Schafe‘) wurde bisweilen als allgemeine Charakterisierung der Tiere gedeutet. So verweist Pisi u. a. auf die Krankheitstheorie bei Luk- rez, wo auch auf die Natur der Tiere abgehoben werde.806 Gerade die für die Erklärung anderer Stellen häufig hinzugezogene Beschreibung in Senecas Naturales Quaestiones sollte auch hier Beachtung finden, weil jener darin nicht nur eine Erklärung für das Entstehen von Seuchen gibt (s. u. Kapitel 3.1.1), sondern auch erläutert, aus welchem Grund das Weidevieh zuerst er- krankt: Da die Krankheitsdämpfe aus Spalten in der Erde aufsteigen, sind Schafe und Rinder durch die Nähe ihrer Köpfe zum Boden besonders gefährdet; bei Schafen komme noch ihre ‚weiche (d. h. schwache) Natur‘ hinzu.807 Nun wird aber bei Lukrez und auch im Oedipus nicht die Schwäche der Schafe, sondern deren Trägheit (Lukrez) und Langsamkeit (Seneca) betont. und die Leichen übernehmen einen Teil des Gemetzels: die schweren Körperteile zermalmen die anderen bei lebendigem Leibe.‘) und dazu Pope (2020), 215.
803 Vgl. Jakobi (1988), 95.
804 Zum Verhältnis von römischem Triumph- und Begräbniszug vgl. Kierdorf (1991), 79 und Degel-mann (2018), 39–41.
805 Die gewinnbringende semantische Ambiguität des Dativs haben bereits Töchterle (1994, 226) und Boyle (2011, 149) angemerkt.
806 Vgl. Pisi (1989), 57 zu Lucr. 6,1131f. consimili ratione venit bubus quoque saepe | pestilitas et iam pigris balantibus aegror , nicht eindeutig Boyle (2011), 13 „The scourge first touched our lazy sheep“.
807 Vgl. Anm. 337, S. 175 und Sen. nat. 6,27,4: Facilius autem pecora sentiunt, in quae primum pestilentia incurrere solet, quo avidiora sunt; aperto caelo plurimum utuntur et aquis, quarum maxima in pesti- lentia culpa est. Oves vero mollioris naturae , quo propiora terris ferunt capita, correptas esse non mi- ror, cum afflatus aeris diri circa ipsam humum exceperint. (‚Umso leichter bemerkt es also das Vieh, das eine Pest als erste zu befallen pflegt, je gieriger es ist; sie leben sehr viel unter freiem Himmel und am Wasser, die doch die größte Schuld an einer Pest tragen. Darüber aber, dass Schafe, die ja von ziemlich weicher Natur sind , sich anstecken, je näher sie ihre Köpfe an der Erde halten, wundere ich mich nicht, weil sie die Ausdünstung dieser krankmachenden Luft direkt am Boden aufgenommen haben.‘)
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Letzteres eröffnet zwei Deutungsmöglichkeiten: Entweder dient das Attribut dazu, eine andere Begründung dafür zu geben, dass die Schafe zuerst angesteckt werden – hier würde nicht die Kopfhöhe, sondern deren Laufgeschwindigkeit zugrundegelegt; oder im tardas ist bereits ein Symptom zu sehen. Als Vorlage hierfür wäre die Krankheitstheorie bei Vergil anzunehmen, in der deutlich von einem Schaf die Rede ist, das nur noch in begrenztem Maße Nahrung auf- nimmt und der Herde nicht ganz folgen kann.808 Gerade diese beiden Aspekte werden in der Beschreibung bei Seneca aufgegriffen, weshalb das Attribut tardas hier nicht als allgemeine Charakterisierung, sondern proleptisch als Symptom aufgefasst wird.809 Oed. 135–148 da stand ein Priester … zwischen den verwesenden Jungstieren : Diese erste Hälfte der Tierbetrachtungen knüpft an die vorangegangenen Verse an, indem das Sterben der Nutztiere stets noch in Gesellschaft von Menschen geschildert wird, bevor die Wildtiere in der zweiten Hälfte (149–153) allein in den Blick genommen werden. Hinsichtlich der Reihenfolge (Opfertier,810 Pferd, Stier) orientiert sich Seneca an seinem Vorgänger Vergil, folgt ihm jedoch nicht in der Breite der Darstellung.811 Übereinstimmung in einzelnen Elemen- ten besteht im plötzlichen Kollaps und dem Eiter anstelle von Blut.812 Eine Konkretisierung des808 Vgl. mit Cattin (1963, 46) Verg. georg. 3,464–469: quam procul aut molli succedere saepius umbrae | videris aut summas carpentem ignavius herbas | extremamque sequi , aut medio procumbere cam- po | pascentem et serae solam decedere nocti, | continuo culpam ferro compesce, priusquam | dira per incautum serpant contagia vulgus. (‚Dasjenige Schaf, von dem du siehst, dass es von den anderen entfernt ist oder allzu häufig den angenehmen Schatten sucht oder nur träge die obersten Grashalme abzupft und als letztes nachfolgt oder sich bei der Weide mitten auf dem Feld niederlegt und sich der Kälte der Nacht entzieht – diesen Krankheitsherd unterdrücke sofort mit dem Stahl, bevor sich die unheilvolle Ansteckung durch deine nichtsahnende Herde schlängelt.‘)
809 Vgl. Töchterle (1994), 229. Als weitere Stütze für diese Deutung kann die sich anschließende Be-schreibung des Pferdes fungieren, das segnior cursu auf der Rennbahn zusammenbricht.
810 Das Scheitern des Opfers kann (insbesondere aufgrund der literarischen Vorlage bei Vergil, s. Georg. 3,490) bereits als Vorausweisung auf Opferung und Eingeweideschau im zweiten Akt gedeutet wer-den (vgl. dazu Pratt 1939, 93–99). Ebenso erinnert das Aufbrechen des Tartarus (Oed. 160) an die Totenbeschwörung im dritten Akt, vgl. Boyle (2011), 149 und 152f. Seneca nutzt demnach das Seu-chenmotiv nicht nur dazu, die Tragödienhandlung zu verschiedenen Zeitpunkten zu motivieren (vgl. Anm. 745, S. 270), sondern gestaltet es gleichsam als Ouvertüre des gesamten Stücks (zur Er-läuterung dieses Anachronismus vgl. den Beitrag von Schubert 2004, insbes. 382–387).
811 Für eine tabellarische Übersicht der Quellenbenutzung an dieser Stelle vgl. Vallillee (1960), 136f. Zu-dem sei auf die Kommentare zu Verg. georg. 3,486ff. verwiesen (Kapitel 2.2.2), in denen bspw. auch der medizinische Ursprung des Eiters diskutiert wird.
812 Vgl. Pisi (1989), 57f. und Töchterle (1994), 231f., der auch eine ausführliche Besprechung zum Wort-gebrauch cruor liefert. Anhand der Unterscheidung in der Fachschrift des Celsus (vgl. Anm. 351, S. 178) ist hervorzuheben, dass die hier mit sanies bezeichnete Flüssigkeit keine positive Konnotation zu besitzen scheint. Vielmehr ist als Vergleich einerseits die bereits angeführte Rezeption Vergils durch Calpurnius Siculus heranzuziehen (vgl. Anm. 329, S. 174), nach der sanies eine destruktive
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Motivs liegt beim Pferd vor, dessen Lauf nun im Vollzug der Runde abgebrochen wird;813 eine Erweiterung findet sich beim Tod des pastor , der inmitten seiner Herden stirbt (vgl. Anm. 411, S. 193).814 Beabsichtigt scheint hier eine motivische Inversion: Zunächst fällt der Tausch der Prädikate bei Vergil auf. Dort war vom Pferd labitur , vom Stier concidit gesagt worden, an der hier behan- delten Stelle erfolgt die Zuordnung umgedreht. Darüber hinaus wurde bei Vergil ein Schwer- punkt darauf gelegt, dass die Stiere mitten bei der Arbeit zusammenbrachen und der Bauer sei- nen labor nicht mehr fortführen konnte, während hingegen das Pferd sich zwar mühte, jedoch nur im Zusammenhang von Pflegebemühungen in Kontakt mit Menschen kam (s. Komm. zu Georg. 3,498f.). Seneca hat das Scheitern des labor vom Stier auf das Pferd transferiert, das bei seinem Sturz den Reiter vornüber abwirft und dadurch Verrat an ihm übt ( prodidit ). Was wird nun durch diese Änderung bewirkt? In der Seuchenbeschreibung des Oedipus ergibt sich hier- durch eine klarere Trennung zwischen dynamischem und statischem Bild. Das Pferd behält weiterhin seinen Status als kämpferische Natur, sein Tod ereilt es mitten im Lauf. Die noch bei Vergil betonte Duldsamkeit der Stiere, welche die Vorlage für seine Theodizee bilden konnte, wird in der Tragödie in eine stille Inszenierung des Massensterbens auf dem Feld gewendet. Dabei macht sich der Dichter die wesenhafte Übereinstimmung zwischen Mensch und Tier, die bei seinem Vorgänger zu beobachten war, zunutze und lässt den Hirten (gelassen?) als Teil seiner Herde sterben. Oed. 149–153 Nicht fürchten Hirsche … ihr Gift versiegt : Grundlage dieser Verse sind Verg. georg. 3,539f. (s. o. Komm. zu 3,537–540) und Ov. met. 7,545f. mit ihrer Travestie des Goldenen Zeitalters, deren Einzelbestandteile Seneca effektvoll miteinander verbindet.815 In Vergils Beschreibung konnte von einer Wesensverkehrung ge- sprochen werden, während bei Ovid das natürliche Verhalten der Tiere lediglich außer Kraft gesetzt wurde. Seneca schließt sich in diesem Punkt an seinen jüngeren Vorgänger an, ent- lehnt jedoch die Tiere aus beiden Beschreibungen (Wolf, Hirsch, Schlange: Vergil; Bär, Hirsch: Ovid). Mit Ovid verbindet die vorliegende Umsetzung auch, dass sich die Wesensbeschrei- bung in den speziellen Abschnitt der Tiere neben anderen einordnet, was bei Vergil themen- Kraft im Körper entfaltet. Andererseits mag sanies als Teil des Registers des Ekelhaften in diesem Zusammenhang Verwendung gefunden haben.
813 Eine Konkretisierung liegt nur nach der oben vertretenen Deutung des infelix studiorum vor (s. o. Komm. zu Georg. 3,498f.); ansonsten handelte es sich um eine Neuerung innerhalb der Tradition, die in der Folge von Lucan (6,87 et tremulo medios abrumpit poplite gyros ) wieder aufgegriffen wird.
814 Aus der Lebensgemeinschaft Vergils, in der Mensch und Tier aufeinander angewiesen sind (vgl. Raabe 1974, 50), wird demnach an dieser Stelle eine Sterbegemeinschaft.
815 Vgl. Gardner (2019), 212.
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bedingt entfällt. Senecas Innovation besteht in der Hinzufügung des Löwen, dessen Brüllen verstummt;816 in Anbetracht der von Mastronarde herausgearbeiteten besonderen Stellung des Löwen als Bindeglied zwischen Oedipus und der Sphinx erscheinen die erkrankten Tiere als weitere Stütze für ein die Tragödie durchziehendes Element.817 Im Vergleich mit der Ausge- staltung von Senecas Vorlagen ist hervorzuheben, dass der Verlust furchteinflößender Attri- bute an vorliegender Stelle eine noch größere Wirkung entfaltet; stellt doch die Furcht das bestimmende Gefühl des ersten Aktes dar.818 Damit ähnelt der Passus Vergils Travestie des Goldenen Zeitalters: War die Wesensverkehrung dort mit einem Scheitern des labor verbun- den und damit nur scheinbar eine Erleichterung, besteht die Oedipus ergreifende Furcht auf einer zu tiefen Ebene, als dass die fehlende Bedrohung durch wilde Tiere einen Unterschied in der Grundstimmung zu bewirken vermöchte. Oed. 154–158 Nicht übergießt der Wald … die voll sind mit seinem Wein : Die Verse ergänzen die Darstellung des Oedipus über das Vertrocknen der Feldfrüchte (Oed. 49b–51).819 Die bislang beobachtete Bewegung vom Land in die Stadt wird an dieser Stelle umgekehrt: Nachdem der Blick zuvor von den Menschen der Stadt zu denen auf dem Land und in der Folge zu den Wildtieren schweifte, schließt sich organisch die Schilderung der Wirkung auf die Natur an. Diese wird sowohl syntaktisch als auch semantisch parallel gestaltet: War die vorangegangene Wesensverkehrung der Tiere stets durch non eingeleitet816 Töchterle (1994), 234 verweist auf einen Katalog in Ov. met. 10,537–541, der die hier vorliegende gedankliche Abfolge widerspiegelt. Vallillee (1960, 137) sieht im Löwen schlicht eine Ersetzung des Ebers. Bei Seneca besteht freilich ein gewisser Widerspruch zwischen der Wirkweise der Krankheit (s. Kapitel 3.1.2), die bei Ovid zum Zeitpunkt der Beschreibung des Ebers noch nicht dargelegt wur-de, und der Affektebene: Der Zorn müsste durch die Hitze der Krankheit eigentlich noch vergrößert werden.
817 Vgl. Mastronarde (1970), 304 und ihm folgend Iakovou (2020), 177f. Möglicherweise sollte auch eine engere Anbindung an Verg. ecl. 4,22 nec magnos metuent armenta leones (‚… und nicht wird das Vieh sich vor den großen Löwen fürchten‘) erfolgen, vgl. Boyle (2011), 150f.
818 Vgl. Töchterle (1994), 137f.
819 Vgl. Schmitz (1993), 40. Die ebendort angemerkte ausführlichere Behandlung der natürlichen Um-gebung bei gleichzeitiger Aussparung der himmlischen Sphäre findet ihre Begründung in der gegen-seitigen Ergänzung beider Beschreibungen. Hatte Oedipus in seiner Schilderung das caelum nocens aus dramaturgischen Gründen in den Vordergrund gestellt – schließlich war dies Zielpunkt der Re-flexion –, berichtet der Chor aus seiner Perspektive und ergänzt das Bild des Himmels um das der Erde. Zudem wird hierdurch eine schärfere Trennung zwischen Ursache (Oedipus) und Wirkung (Erkrankte) erreicht. Möglicherweise ist es auch der Wunsch nach dieser klaren Aufteilung, der dazu führt, dass Seneca ein eigentlich festes Element der Motivtradition, die Erkrankung der Vögel (vgl. Töchterle 1994, 234), in seiner Beschreibung nicht erwähnt: Nur Oedipus dürfte nach dieser Logik von der Sphäre des Himmels sprechen, doch dieser schildert in der ersten Beschreibung keine Er-krankung von Tieren.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung worden, wird dies auch im Folgenden für Wald, Erde und Wein vorgenommen.820 Dabei wird die Hauptaussage ‚Nichts wächst mehr‘ in ihren Folgen unterschiedlich beleuchtet. Aus dem fehlenden Blattwerk folgt das Ausbleiben des Schattens auf den Bergen, die karge Erde grünt nicht mehr und die aus landwirtschaftlichen Beschreibungen bekannten von üppiger Frucht gebogenen Äste des Weinstrauchs verschwinden.821 Kann der fehlende Schatten zunächst noch als Verstärkung der Hitze gedeutet werden, macht der folgende Vers deutlich, dass hier nicht die klimatischen Bedingungen im Mittelpunkt stehen, sondern die Relativierung landschaftlicher Ästhetik.822 Dieses Element war bereits bei Vergils Georgica (vgl. Komm. zu 3,520–523 und Anm. 418, S. 194) beobachtet worden, die Vallillee ebenfalls als Grundlage für die Verse im Oedipus erachtete.823 Oed. 159 Alles hat dasselbe Übel zu spüren bekommen wie wir : Der Vers beschließt die Betrachtung der Krankheitsauswirkungen auf die Erde in Form der thebanischen Gesellschaft, der Ländereien, der Tiere und der Natur. Durch die Formu- lierung erhält er seinen spezifischen Charakter, der durch einen Vergleich mit seiner Vorlage (Ov. met. 7,547a omnia languor habet ) ersichtlich wird. Auf ähnliche Art und Weise diente der Halbvers in den Metamorphosen (dort einleitend) zur Bezeichnung einer allumfassen- den Ausbreitung der Krankheit. Hier beginnen jedoch die Unterschiede: Während Ovid die Krankheit, bzw. die durch sie bewirkte Schwäche zum Subjekt machte, setzt Seneca omnia (‚Alles‘) an diese Stelle. Damit einher geht eine Änderung im Prädikat, das von der Inbesitz- nahme ( habet ) zum Gefühl ( sensere ) wechselt. Das notwendig gewordene Objekt bildet die Krankheit ( malum ), die durch das Possessivum ( nostrum ) näher bestimmt wird. An dieser Stelle tritt der Chor aus seiner reinen Berichterrolle heraus und offenbart sich als Teil des Unglücks.824 Die vorgenommenen Änderungen reihen sich folglich gut in die oben beobach- 820 Vgl. Mugellesi (1973), 46f.
821 Töchterle (1994, 239) verweist auf Parallelstellen, aus denen Ov. rem. 175f. hervorzuheben ist: Aspice curvatos pomorum pondere ramos, | ut sua, quod peperit, vix ferat arbor onus. (‚Schau auf die Zweige, die vom Gewicht der Äpfel gekrümmt sind, wie der Baum die Last seiner Erzeugnisse kaum zu tra-gen vermag.‘)
822 Für diese Deutung spricht nicht nur die im Folgenden genannte Parallele in Vergils Georgica , sondern auch die Bezeichnung der silva … decorata , die in der Prophezeiung des Laios (Oed. 651 veniet et silvis decor ) wieder aufgegriffen wird. Mit decor (‚Zier‘) tritt die ästhetische Dimension deutlich hervor. Die hier zugrundeliegende ästhetische Vorstellung der grünenden Wälder und Wiesen darf nicht nur als Selbstzweck verstanden werden, sondern ist zugleich Ausdruck eines intakten Weltgefüges.
823 Vgl. Vallillee (1960), 137, ohne jedoch die Parallele im Folgenden zu erläutern.
824 Vgl. Schmitz (1993), 53f. Zu bemerken ist jedoch, dass durch die Einleitung in Oed. 124f. in der ersten Person Plural ( interimus , labimur ) eine Anteilnahme des Chors am beschriebenen Leiden ersicht-lich geworden ist. Darin unterscheidet sich der Chor bereits dramaturgisch bedingt von Aeacus, der (vergleichbar mit Oedipus) ausschließlich als Beobachter des Übels fungiert.
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tete (Komm. zu Oed. 1–5 mit Anm. 733, S. 267) sympathetische Grundstruktur der Seuchen- beschreibung ein.825 Oed. 160–163 Es brach auf die Riegel der Tiefen des Erebos … den sidonischen Wassern : Ohne weitere Konjunktion wird der Ausbruch der Unterwelt geschildert, weshalb der vo- rangegangene Vers nicht nur als Abschluss, sondern auch als Überleitung gelesen werden kann: Omnia schließt entsprechend nicht nur die Oberwelt, sondern auch die Unterwelt mit ein, wobei deren Erkrankung verständlicherweise nicht durch den Tod bezeichnet werden kann, sondern durch die Überschreitung ihrer natürlichen Grenzen.826 Mit Blick auf die Motivtradition bemüht sich Seneca um eine Steigerung bekannter Elemente: Hatte Vergil (Georg. 3,552f.) allein Tisiphone aus der Unterwelt aufsteigen lassen, ist es im Oedipus die Schwesternschar der drei Furien. Wohl bleibt deren Verhältnis zum Verlauf der Pest unbe- stimmt, während Tisiphone in den Georgica eindeutig steigernde Funktion innehatte (ver- gleichbar mit der Mors atra im Folgenden). Lefèvre betont in seiner Untersuchung, dass die Vermischung der Flüsse von Unter- und Oberwelt nicht real zu denken seien, sondern le- diglich das Bild der ‚Hölle auf Erden‘ evozieren sollten.827 Inwiefern die Beschreibung vom Rezipienten als real empfunden wurde, bleibt Hypothese – sicher ist jedoch, dass der Einfluss göttlicher und dämonischer Mächte auch im ersten nachchristlichen Jahrhundert noch der- art präsent war, dass die Einnahme einer säkularen Perspektive dem Rezipientenhorizont nicht gerecht würde.828 Vor diesem Hintergrund kann, auch ohne Rückgriff auf die Begriffe825 Dies gilt auch für die Ausweitung auf alle Weltteile: Diese fand sich in Ansätzen bereits in Vergils Georgica , war dort jedoch als Bruch mit der eigentlich ortsgebundenen Erzählung gewertet worden (s. Anm. 447, S. 203). In ähnlicher Weise könnte gefragt werden, inwiefern die Zustände der Unter-welt (Oed. 160–179) noch tatsächlich die Situation der Erkrankten im Blick haben. Hervorgehoben werden sollte jedoch, dass dem Dichter trotz der beobachteten Schwerpunktverschiebung eine Rück-kehr zur Betrachtung des Erdenschicksals gelingt.
826 Vgl. Schmitz (1993), 54f. und Töchterle (1994), 238.
827 Vgl. Lefèvre (1980), 297f. Zur passenden Wahl des Phlegethon, des brennenden Unterweltsflusses, als Parallele zu den klimatischen Bedingungen an der Erdoberfläche vgl. Farnaby zur Stelle und Boyle (2011), 153. In der analogen Gestaltung von Ober- und Unterwelt erinnert Senecas Konzeption an die des Manilius, der durch die feurigen Kometen ganz Vergleichbares für Himmel und Erde beschrieb (s. o. zu Manil. 1,881). In der Unterweltsbeschreibung bei Sil. 13,564 ist es der Phlegethon, der über die Ufer tritt.
828 Zu einer solchen Annahme sollte auch nicht die Polemik Ciceros gegen die Epikureer verführen, die bisweilen in vergleichbarem Zusammenhang angeführt wird (Tusc. 1,48): quae est anus tam delira quae timeat ista, quae vos videlicet, si physica non didicissetis, timeretis, ‚Acherunsia templa alta Orci, pallida leti, nubila tenebris loca‘? (‚Welche Alte ist so von Sinnen, dass sie fürchtet, was ihr sicherlich fürchtetet, wenn ihr euch nicht die Physik angeeignet hättet, nämlich „die tiefen Unterweltsgewölbe des Orcus, die dämmrigen und in Dunkelheit eingehüllten Gefilde der Toten“?‘)
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Realität und Fiktion, von einer starken Wirkung des Bildes ausgegangen werden.829 Schließ- lich ist mit Jakobi zu erwägen, dass es sich nicht ausschließlich um ein Bild ohne reale Aus- wirkung innerhalb des Narrativs handelt, sondern die Vermischung der unter- mit den über- irdischen Gewässern die Vergiftung des Wassers versinnbildlicht.830 Zugrundeliegen kann die in den Naturales Quaestiones erläuterte Theorie, dass das sich aus dem Boden speisende Wasser der Flüsse auch unter der Oberfläche seine Eigenschaften zum Negativen verändert.831 Folgt man dieser Annahme, hätte Seneca den Gedanken des ansteckenden Wassers nicht nur nicht ausgespart, sondern neben der Luft noch eine weitere Ursache der Krankheit in Theben ausgemacht, nämlich den Unterweltsfluss.832 Oed. 164f. die schwarze Mors … breitet ihre Flügel vollständig aus : Mit Pisi ist für diese Beschreibung des personifizierten Todes insbesondere die Norische Viehseuche Vergils (3,552f.) als Vorlage anzusehen:833 Die pallida Tisiphone werde durch Mors atra , das avidum caput durch avidi hiatus ersetzt. Da Vergil als erster das Element der Hölle auf Erden in die Motivtradition eingeführt hat, liegt dieser Rezeptionsweg nah. Es bleibt jedoch zu fragen, ob Seneca noch andere Vorbilder gehabt haben könnte, insbesondere für die sprach- liche Ausgestaltung der Beschreibung der Mors . Zunächst greift Seneca (wie bereits mehrfach im Chorlied beobachtet, vgl. Anm. 801, S. 282) seine eigene Darstellung aus dem Monolog des Oedipus auf, in diesem Fall die Drohgebärden der Sphinx (Oed. 95–97). Für die konkrete Vor- stellung des Todes, der seine Flügel ausbreitet, können Horaz bzw. Grattius als Vorlage gedient
829 Die Farben dieses Bildes sind, wie auch die Kommentare belegen, weitestgehend konventionell – doch gerade durch das Einfügen in den neuen Zusammenhang gewinnen die Topoi ihre spezifische Bedeutung, wie Owen (1968) an anderer Stelle gezeigt hat.
830 Vgl. Jakobi (1988), 90. Nicht ganz eindeutig ist, wie Schmitz (1993, 56) zu dessen Position steht. Ihr kommt es zunächst auf eine korrekte Priorisierung an, nach der das Vermischen der Flüsse vor al-lem die kosmische Dimension der Krankheit unterstreiche – dies freilich aus dem Blickwinkel ihrer Untersuchung heraus.
831 Sen. nat. 3,15,4: Ceterum, ut in nostris corporibus, ita in illa saepe umores vitia concipiunt : aut ictus aut quassatio aliqua aut loci senium aut frigus aut aestus corrupere naturam . (‚Im Übrigen: Wie in unseren Körpern, so nehmen auch in ihr [sc. der Erde] Flüssigkeiten häufig Krankheiten auf: entwe-der Stöße oder irgendeine Erschütterung oder das Alter des Ortes oder Kälte oder Hitze haben ihren natürlichen Zustand verdorben.‘); vgl. daneben Sen. nat. 3,20. Im allgemeineren Sinne kann auch die im sechsten Buch dargelegte Seuchentheorie als Vorlage gedient haben, vgl. Töchterle (1994), 239 und unten Kapitel 3.1.1.
832 Die Frage wäre nicht zuletzt deshalb von Interesse, weil an dieser Stelle nicht von einer Vergiftung des Wassers durch miasmatische Luft (wie bei Vergil und Ovid) oder durch einen kranken Festkör-per (etwa durch Leichen, wie in D. H. 10,53,2ff.) erfolgte, sondern allein durch eine andere Flüssig-keit.
833 Vgl. Pisi (1989), 61.
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haben.834 Da eine direkte Bezugnahme von Seneca auf Grattius in der Seuchenbeschreibung nicht nachzuweisen ist, wird hier angenommen, dass sowohl Grattius als auch Seneca die Be- schreibung von Horaz aufgreifen.835 Zu unterstreichen ist der enge gedankliche Zusammen- hang zwischen der zunehmenden Gier der Mors und der im Anschluss beschriebenen Szene um Charon. Oed. 166–170 und er … der hartgesottene Fährmann … ist es müde … hinüberzufahren : Mit seiner Rezeption des Fährmanns aus der Unterweltsbeschreibung in Vergils Aeneis überträgt Seneca das Problem der Massen in die Unterwelt.836 Der Transfer ist auch deshalb bemerkenswert, weil aus ihm ein klares Verständnis für das logistische Problem der Leichen- entsorgung hervortritt und kunstvoll auf die Verhältnisse unter der Erde angewandt wird.837 In der Figur des ermüdeten Charon erkennt man zum einen den defessus arator des Manilius (1,878) der Motivtradition wieder,838 wobei der nicht endende Strom an Toten seine Aufgabe als Unterweltsstrafe (vergleichbar mit Sisyphos oder den Danaiden) erscheinen lässt.839 Oed. 171–179 sogar die Eisenfesseln … rund um die von Amphion erbauten Mauern : Nach der eindrücklichen Szene um Charon, die als Folge des Wütens der Mors an der Ober- welt den Hades betrachtete, wechselt der Blick nun erneut zur Umwelt der Menschen: Es wird „vom Infernalischen auf Ominöses übergeleitet.“840 Die gelieferten Informationen werden durch fama (‚Gerücht‘) in sprecherische Entfernung gerückt, was sicherlich auch durch die ge- steigerte Ungeheuerlichkeit und die damit einhergehende Unglaublichkeit des Geschehens be-834 Hor. serm. 2,1,57f.: seu me tranquilla senectus | exspectat seu mors atris circumvolat alis , Gratt. 347f.: stat Fatum supra totumque avidissimus Orcus | pascitur et nigris orbem circumsonat alis . Töchterle (1994, 241f.) bespricht die Aufnahme des senecanischen Bildes durch die flavischen Epiker und Par-allelen in der Ikonographie.
835 Zum Verhältnis von Seneca und Horaz vgl. Trinacty (2014), 146–164 und Stöckinger et al. (2017). Horaz selbst hat auf griechische Vorbilder zurückgegriffen, wie etwa auf die Beschreibung des Hades bei Eur. Alc. 262; vgl. Muecke (1993), 109 für weitere Parallelen.
836 Vgl. Verg. Aen. 6,302–305, dazu Töchterle (1994), 242 und Boyle (2011), 154.
837 Das logistische Problem im Falle von Massensterben ist bereits in der Attischen Pest des Thukydides impliziert, wird im Laufe der Motivtradition an mehreren Stellen und auf unterschiedliche Art wie-der aufgegriffen, selten jedoch derart explizit wie an dieser Stelle.
838 Zur direkten Benutzung des Manilius durch Seneca s. o. Komm. zu Oed. 69f. mit Anm. 782, S. 279.839 Überträgt man das Bild zurück in die römische Lebenswelt, ist es zum anderen möglich, in ihm einen Repräsentanten der Bestattungsunternehmer ( libitinarii ) und insbesondere von deren nicht häufig erwähnten Angestellten, den Totengräbern, zu sehen, die im Falle eines Massensterbens eben-falls an ihre Belastungsgrenzen stießen; vgl. zur Tätigkeit der Totengräber Bodel (2000), 135–144.
840 Töchterle (1994), 244. Dabei ist zu betonen, dass sich die einzelnen Elemente der Darstellung bündig ineinanderfügen, da das Ominöse seinen Ursprung im Infernalischen besitzt.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung dingt ist.841 Die Funktion der Ereignisse sollte vor allem in der Schaffung einer unheimlichen Atmosphäre und nicht im Zusammenhang naturwissenschaftlicher Diskussion gesehen wer- den. Darüber hinaus kann Seneca in Form der Prodigien eine erneute Bewegung hin zur Stadt unternehmen, zu der ihn die Schilderung der heulenden Hunde führt,842 um dort letztlich das Leiden der Menschen anhand der Krankheitssymptome zu schildern. Es ist auffällig, dass die im Folgenden geschilderten Prodigien fast allesamt Neuerungen für die Motivtradition dar- stellen, wenngleich zahlreiche Vorgänger und Parallelen in der antiken Literatur aufgezeigt werden konnten:843 Dröhnen der Erde, Geistererscheinungen, die Erschütterung des kadmi- schen Hains und das Heulen von Hunden rund um die Stadtmauern. Die Geistererscheinun- gen haben ihre Vorlage in Ovid (Met. 7,611f.), wo sie jedoch anders begründet wurden: Dort waren es Wiedergänger, die aufgrund der nicht korrekt vollzogenen Bestattungsriten nicht ins Jenseits gelangen konnten, sodass sie eher Trauer als Furcht im Rezipienten evoziert haben dürften. Hier hingegen sind es die gesprengten Grenzen der Unterwelt, die neben den Furien und Cerberus auch Geister in die Oberwelt gelassen haben – Furcht ist die Folge, nicht zuletzt aufgrund ihrer (topischen) Größe ( maiora viris ).844 Neben den Metamorphosen ist der erste Buchschluss der Georgica als Vorlagezu nennen: Hatte bereits Manilius eine Verschmelzung der Buchschlüsse bei Vergil in seiner Beschreibung vorgenommen, entnimmt auch Seneca ei- nige seiner Prodigien diesem Passus.845 Oed. 180–192a Welch grässliches, neuartiges Antlitz des Todes … an ihren Gliedmaßen : Der Gedanke, dass der Vorgang des Sterbens durch die Krankheit schlimmer ist als der Tod selbst (und Letzterer somit erstrebenswert erscheint), rahmt den letzten Abschnitt ein.846 Seneca ist der einzige Dichter der Motivtradition, der seine Beschreibung mit dem Element des individuellen Leids enden lässt. Die von Lukrez vorgegebene Reihenfolge des Scheiterns 841 Zur Steigerung und zu den im Folgenden behandelten Prodigien vgl. Schmitz (1993), 57–59.
842 Zum Heulen der Hunde als Vorbote des Todes vgl. Burriss (1935), 35f. In Anschluss an Leo (1879, 381f.) hat Zwierlein (1986, 231f.) anhand von Parallelstellen (hinzuzufügen wäre Verg. Aen. 4,609) wahrscheinlich gemacht, dass es sich bei den Hunden um die der Hekate und damit um Ausgeburten der Unterwelt handelt. Nach dieser Deutung fügte sich das nächtliche Heulen der Hunde sinnvoll in die vorangegangenen Prodigien ein.
843 Vgl. Zwierlein (1986), 231f., Pisi (1989), 60–62, Töchterle (1994), 244–248 und Boyle (2011), 155f. Zur Zuordnung dieser Art von Vorzeichen zum kaiserzeitlichen Geschmack vgl. Braund (2016), 22.
844 Inwiefern Seneca mit seiner Vorliebe für die Beschreibung von Geistern und Unterweltswesen in den Tragödien (insbesondere im Oedipus und Hippolytus ) stilbildend war und eine wichtige Grundlage für Lucan (etwa bei der Totenbeschwörung im sechsten Buch) bildete, hat Morris (1961) herausgear-beitet.
845 Vgl. Hübner (2006) und Gale (2011) zur Rezeption durch Manilius.
846 Vgl. Töchterle (1994), 249.
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der religio und damit einhergehend des Bestattungsbrauches wurde (wenngleich in jeweils an- gepasster Form) von allen Vorgängern (bis auf Grattius) übernommen. Im Oedipus findet sie sich ebenfalls, nämlich in der ersten Beschreibung des Königs (V. 59–70), die analog mit dem Scheitern der Medizin endet, und kurz am Schluss (V.197–201). Damit kann Seneca am Ende der zweiten Beschreibung das Leid der Erkrankten und ihre Reaktion in den Vordergrund rü- cken, das in den anderen Schilderungen tendenziell am Anfang oder in der Mitte, nie jedoch am Schluss steht. Dadurch ergibt sich gestalterisch eine Pendelbewegung des Chorlieds, das von den Menschen ausgeht, sich bis zur kosmischen Ebene steigert, um dann schließlich wie- der zum Leid der Menschen zurückzukehren. Trotz einer ausführlicheren Beschreibung der Symptome folgt Seneca nicht mehr dem Glie- derungsprinzip des a capite ad calcem , sondern beschreibt nach einer allgemeinen Betrach- tung des Körpers zu Beginn insbesondere die Gesichtspartie, bevor mit den quassata viscera und dem sacer ignis wieder der gesamte Körper in den Blick genommen wird. Darin folgt er grob der ovidianischen Vorgehensweise, die sich bei ihm auch durch die Kürze der Darstellung ergibt. Mit der lukrezischen Facies Hippocratica (vgl. oben Komm. zu Lucr. 6,1192b–1196) teilt die Darstellung nicht nur einige Symptome, sondern auch ihre ausschließliche Fokussierung des Einzelnen, d. h. die Nichtbeachtung von Angehörigen, Pflegern oder Ärzten. Für aufgegrif- fene Symptome wird auf die Kommentare zum Vorbild verwiesen, ein ausführlicher Vergleich erfolgt in Kapitel 3.1.3, sodass im Folgenden lediglich auf einige neue oder strittige Aspekte eingegangen wird.SenecaLukrezVergilOvid piger languor, ignavi artus
1157, 1218, 1221, 1248,
1254, 1262: langueba(n)t, languens, languidus 847
547: omnia languor habet
529: ignavos aestus rubor in vultu 1166f.: rubere corpus 555: indicium rubor est maculae leves 564: ardentes papulae vapor flammeus (caput) 1145: caput incensum fervore genae sanguine tentae 1146: oculos suffusa luce rubentes
505: ardentes oculi
847 Pisi (1989, 64 Anm. 54) spricht hierbei von einem Leitmotiv der lukrezischen Seuchenbeschreibung; dennoch erscheint eine Bezugnahme auf Ovid sehr wahrscheinlich, da jener lediglich Verben und Adjektive, dieser das Substantiv verwendet.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung oculi rigentes 523: oculos stupor urget inertis resonantes aures 1185: plenaeque sonori- bus aures niger … cruor naris aduncae
1203: corruptus sanguis expletis naribus
1193f. nasi primoris acumen | tenue
507f. it naribus ater sanguis hiantes venae ruptae intima viscera quassata gemitu stridenti
1159: gemitu commixta querella
506f. spiritus … gemitu gravis, ilia … tendunt sacer ignis 1167: sacer … ignis 566: sacer ignis Tabelle 3: Gegenüberstellung der Symptome (Ausgangspunkt: Seneca) Oed. 184 kleine Flecken haben ihre Haut übersät : Mit Verweis auf Thuc. 2,49,5, Diodor 14,71,2 und Cels. 2,8,33 hat Töchterle wichtige Par- allelen für Ausdruck und Vorstellungshintergrund ausfindig gemacht.848 Gerne würde man das Attribut leves , das keine Parallele in der Motivtradition findet (bei Vergil sind es papulae ardentes ), auf den Ausdruck der kleinen Bläschen (φλυκταίναις μικραῖς) bei Thukydides zu- rückführen. Hierbei handelte es sich jedoch um den einzigen Anhaltspunkt für eine direkte Bezugnahme auf den Archetyp des Motivs, sodass Vorsicht geboten scheint. Das Aufgreifen der bei Celsus beschriebenen Vorstellung ist an dieser Stelle jedoch nicht nur möglich, sondern böte auch eine interessante neue Deutungsmöglichkeit: si os exulceratur, rubet facies et quasi maculis quibusdam colorum omnium distinguitur . (‚Wenn sich Geschwüre im Mund bilden, errötet das Gesicht und färbt sich mit etlichen Flecken in allen Farben.‘). Der von Töchterle zur Stelle geäußerte Einwand, bei Celsus handle es sich nur um das Gesicht der Erkrankten, ist schwer nachvollziehbar: Schließlich wurde bei Seneca im vorangegangenen Vers der Blick auf das Gesicht gelenkt ( rubor in vultu ). Sollte Celsus oder eine inhaltlich vergleichbare Quelle eine verbreitete Vorstellung widerspiegeln, kann dies eine Erklärung dafür liefern, dass in der Beschreibung Senecas (mit Blick auf die Tradition auffälligerweise) kein Bezug auf Mund und Zunge der Erkrankten genommen wurde – aus den Flecken würde dann der Befall des Mund- und Rachenraums deduziert.
848 Vgl. Töchterle (1994), 250.
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Oed. 185 brennende Hitze … Burg des Körpers : Als einziger Autor verwendet Seneca für die innere Hitze den Begriff vapor , der eigentlich eine Ausdünstung bezeichnet, die u. a. von Hitze herrühren kann.849 Dabei ist hervorzuhe- ben, dass in der ersten Beschreibung des Königs V. 47–49 gravis et ater incubat terris vapor : | obtexit arces caelitum ac summas domos | inferna facies (‚… ein schwerer, schwarzer Dampf legt sich auf die Erde: Eingehüllt sind die Burgen und hohen Häuser der Götter in die Ge- stalt der Hölle.‘) eine wichtige Parallele besteht.850 Es handelt sich demnach um eine geschickte Verknüpfung von Mensch und Umwelt als Ausdruck kosmischen Leidens, das sich auch auf lexikalischer Ebene niederschlägt; eine solche wurde bereits bei Ovid in fervor und fervet be- obachtet (vgl. Komm. zu Ov. met. 7,560). Oed. 186 Augen /genas: Bei der Übersetzung des Substantivs genas ergeben sich zunächst zwei Möglichkeiten, näm- lich ‚Wangen‘ und ‚Augen‘.851 Töchterle hat in seinem Kommentar anhand der Motivtradition und anderer Parallelen wahrscheinlich gemacht, dass es sich um die Augen der Erkrankten handeln muss. Demgegenüber steht Boyle auf einem davon abgeleiteten Standpunkt, näm- lich dass mit genas die Augenhöhlen bezeichnet würden.852 Der Schlüssel zur richtigen Deu- tung steckt im (von Töchterle zwar richtig übersetzten, jedoch im Kommentar nicht weiter besprochenen) tendit . Am Ende dieser Handlung muss das, was von tendit betroffen ist, unter Spannung stehen.853 Als affiziertes Objekt sind Augenhöhlen als Hohlraum dementsprechend schwer vorstellbar, da ja ein Abfluss nach außen möglich und zudem eine Beobachtung dieser inneren Spannung unmöglich wäre. Abschließend mag Lucans (6,95) Rezeption seines Onkels als Plausibilitätsargument angeführt werden, in dessen Beschreibung er scheinbar eine will- kommene Vorlage für seine Steigerung entdeckt hat: iam riget arta cutis distentaque lumina rumpit (‚Schon erstarrt die gespannte Haut und lässt die aufgedunsenen Augen platzen‘), wo- bei mit dem Partizip distenta eindeutig auf das senecanische tendit zurückgegriffen wurde. Auch Lucan hat folglich in den genae die Augen der Erkrankten gesehen und seine Vorlage gesteigert (s. Kapitel 3.1.3).849 Vgl. für eine Besprechung der begrifflichen Pragmatik und der zugrundeliegenden naturphilosophi-schen Konzeption bei Seneca Nencioni (2004).
850 Vgl. ebenso Boyle (2011), 158. Bereits Platon beschreibt in seinem Timaios (70a) den Sitz des vernünf-tigen Seelenteils als Akropolis.
851 Für Ersteres vgl. Pisi (1989), 65 und für Letzteres Töchterle (1994), 251.
852 Vgl. Boyle (2011), 15: „Eye sockets bulge with blood“.
853 Illustrativ sind die in diesem Zusammenhang relevanten Einträge (1–7) im OLD s.v. tendo , 1917f., in denen jeweils zu Beginn die Dehnung ( stretch ) des patiens steht.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Oed. 190 bricht die rissigen Venen weit auf : Das beschriebene Symptom würde heute als Hämorrhagie bezeichnet und findet bei Celsus (2,1,21) im Zusammenhang der Zuordnung von Krankheiten zu Lebensaltern folgende Be- schreibung: Adulescentia morbis acutis, item comitia- libus, tabique maxime obiecta est: fereque iuvenes sunt, qui sanguinem exspuunt. Post
Die Jugend unterliegt am ehesten akuten Krankhei-ten, ebenso der Versammlungskrankheit (~Epilepsie) und der Auszehrung: in der Regel sind es junge Leute, hanc aetatem laterum et pulmonis dolores, le- thargus, cholera, insania, sanguinis per quae- dam velut ora venarum, αἱμοῤῥοΐδας Graeci appellant, profusio. die Blut spucken. Nach diesem Lebensabschnitt folgen Schmerzen in der Seite und der Lunge, Schlafsucht, Durchfall, Wahnsinn und Blutfluss sozusagen durch „Quasi-Öffnungen“ der Venen, den die Griechen Hä-morriden nennen. Bemerkenswert ist die Vorstellung, dass der Blutausfluss durch „Quasi-Öffnungen“ der Ve- nen ( velut ora venarum ) erfolgt. Die unnatürlichen Öffnungen der Venen werden durch einen Vergleich mit den als bekannt vorausgesetzten ora venarum erklärt.854 Dieses Krankheitsbild scheint Seneca vor Augen gehabt zu haben, als er das Symptom in die Motivtradition einfügte. Mit hiantes (eig. ‚klaffend‘) ist sowohl die Voraussetzung als auch das Resultat des massiven Blutverlustes benannt.855 Oed. 191 zischendes Seufzen : Die Wirkung des zischenden Seufzens an dieser Stelle hat Töchterle trefflich umschrieben: „ stridens wird von hohen, schrillen Lauten gebraucht, weshalb das Symptom hier besonders unheimlich wirkt.“856 In der Motivtradition greift Seneca demnach das bekannte Element der Atemnot auf und reichert es durch das neue Attribut an. Hier sei noch auf eine Parallele in Senecas Dialog De ira hingewiesen, an dessen Beginn er das Bild eines Zornigen zeichnet, um ihn als krank auszuweisen – es finden sich nicht nur beim Atem Überschneidungen zu den hier besprochenen Symptomen.857 Die vergleichbare Begrifflichkeit kann auch für die Konzeption
854 Vgl. Langslow (2000), 210–214, der den Ausdruck der medizinischen Fachsprache zuweist.
855 Vgl. LHS II, 387.Töchterles (1994, 253) Erwägung dieses Krankheitsbildes als medizinischer Hinter-grund ist folglich zu unterstreichen.
856 Töchterle (1994), 253. Wohl zu weit geht Boyle (2011), 15 mit seiner Übersetzung der gemitus als „Frequent screams“ und raubt dem Symptom den genannten unheimlichen Aspekt.
857 Sen. dial. 3,1,3: Ut scias autem non esse sanos quos ira possedit, ipsum illorum habitum intuere; nam ut furentium certa indicia sunt audax et minax vultus, tristis frons, torva facies, citatus gradus, inquietae manus, color versus, crebra et vehementius acta suspiria, ita irascentium eadem signa sunt: flagrant ac
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der Erkrankten von Belang sein, da Seneca im Dialog immer wieder darauf verweist, dass Zor- nige aufgrund ihrer Erscheinung eher einem Tier als einem Menschen ähneln.858 Auch wenn die Texte es nicht explizit darlegen, steht damit im Raum, dass auch die äußerlichen Verände- rungen, die mit der Krankheit einhergehen, unmenschliche Züge nach sich zogen. Oed. 192bf. Bald umschlingen sie unablässig kalte Steine : Die Übersetzung ‚unablässig umschlingen‘ für fatigant täuscht darüber hinweg, dass an die- ser Stelle eine Naturbeseelung vorgenommen wird: Den Steinen, die zur Kühlung genutzt wer- den, wird ein innerer Zustand dadurch verliehen, dass sie die pausenlose Nutzung ermüdet. Hinsichtlich der Textkonstitution ist hervorzuheben, dass die Überleitung zum Umschlingen der Steine lediglich durch die hier aufgegriffene Transposition von Richter sinnvoll erscheinen kann. Der Wunsch nach Kühlung benötigt das heilige Feuer auf der Haut, um ausreichend begründet zu sein.859 Stünde der Vers dort nicht, müsste sich der Rezipient einen schlüssigen Übergang vom Bluten und Ächzen zum Wunsch nach Kühlung hinzudenken. Auch ein Blick auf die Tradition zeigt die Notwendigkeit eines mittelnden Gedankens: Direkte Vorlage für diese Schilderung ist der Versuch der Kühlung bei Ovid (Met. 7,559f.), bei dem die Menschen sich auf den Boden legen.860 Zwar ist dort die Hitze der Erkrankten in 7,554 – also ebenfalls mit Abstand – expliziert worden, doch wird der Linderungsversuch in 7,558 durch die Aussage ein- geleitet, die Menschen könnten kein Kleidungsstück auf ihrer Haut ertragen. Damit wird zum einen der vorangegangene Gedanke der inneren Hitze wieder aufgegriffen, zum anderen die nächste Szene vorbereitet. Ebendiese Begründung fehlte ohne die Transposition im Oedipus . Oed. 194–196 ihr, die euch euer zu unbewachtes Haus … mehrt nur den Durst : Im Vergleich mit Ovid, der das Element der Erkrankten an den Brunnen bis zur Vergiftung des Wassers, zum plötzlichen Tod und einem moralisierenden Epiphonem gesteigert hat (vgl. micant oculi , multus ore toto rubor exaestuante ab imis praecordiis sanguine, labra quatiuntur, dentes comprimuntur, horrent ac surriguntur capilli, spiritus coactus ac stridens , articulorum se ips os torquenti- um sonus, gemitus mugitusque et parum explanatis vocibus sermo praeruptus et conplos ae saepius manus et pulsata humus pedibus et totum concitum corpus magnasque irae minas agens, foeda visu et horrenda facies depravantium se atque intumescentium nescias utrum magis detestabile vitium sit an deforme.858 Vgl. Bäumer (1982), 104f. zu Sen. dial. 4,31,6.
859 Vgl. Zwierlein (1979), 178 Anm. 44, zur Gegenposition vgl. Boyle (2011), 159 mit Literaturverweisen. Die von Töchterle (1994, 251) festgestellte Parallele in Catulls Carmen 51 kann zwar die Schwierig-keiten an der überlieferten Stelle, nicht jedoch die beim Übergang zum nächsten gedanklichen Ab-schnitt begründen.
860 Vgl. Vallillee (1960), 140, der beide Umsetzungen als gekünstelt abwertet. Gegen den Vorwurf bloßer Replikation ist anzumerken, dass die bei Ovid grundgelegte Wechselwirkung zwischen Erkrankten und Boden bei Seneca durch die Gemütsverfassung der Steine eine Modifikation erfährt.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Komm. zu Ov. met. 7,571), wirkt Senecas Darstellung schlicht; er erwähnt lediglich den unna- türlichen Umstand, dass das Trinken den Durst der Erkrankten vergrößert. Seine Innovation besteht im custos , dem Wächter:Die Nennung eines Wächters ist singulär in der Motivtra- dition; ihn als Pfleger auszulegen ist deshalb nicht möglich, weil dessen Tod explizit die zu große Freiheit ( liberior ) der Erkrankten zur Konsequenzhat.861 Folglich war es die Funktion des custos , den Kranken zu bewachen und ggf. zu verhindern, dass er das Haus verlässt – es handelt sich um eine Quarantänemaßnahme.862 Da die anderen Dichter keine Isolation in ihre Beschreibung eingebaut haben, ist ihre Funktion zu erörtern: Aus den bisherigen Beobach- tungen ist ersichtlich geworden, dass eine Vorstellung von Ansteckung vorhanden war und in der Motivtradition unterschiedliche Ausformung fand (vgl. Komm. zu Lucr. 6,1256f.). Die naheliegendste Deutung ist demnach, dass die Bewachung dazu dienen sollte, die Erkrankten nicht in Kontakt mit gesunden Mitmenschen kommen zu lassen. Dies stellt bereits eine zwar nur folgerichtige, aber dennoch bemerkenswerte institutionelle Maßnahme der Gemeinschaft dar, die sich zumindest im Ansatz als resilient (vgl. Kapitel 3.2) erweist.863 Überdies wurde aus Senecas Vorgängern deutlich, dass Wasser als Trägermedium der Krankheit begriffen wur- de.864 Dass die Kranken bei Seneca unmittelbar nach dem Tod der Wächter ( custode elato ) zu den Quellen eilen, kann auch ein näherer Hinweis auf den Zweck der Bewachung sein. Nach dieser zweiten Lesung hätte diese zum Ziel, die Kranken von den Wasserstellen fernzuhalten, um eine Infektion derselben zu verhindern.865 Als gesicherte Information darf jedoch die ins- titutionelle Maßnahme einer Isolation und Bewachung von Erkrankten aus dieser Stelle ent- nommen werden.
861 Contra Jakobi (1988), 98 in Abgrenzung zu Thuc. 2,49,5. Auffällig ist hier die Stilisierung durch die Personifizierung des Hauses ( domus … sinit ) und die nachfolgende Apostrophe ( petitis ), die Töchter-le (1994, 219) zufolge keine Distanzierung des Chors von den Erkrankten, sondern noch immer eine Reflexion der eigenen Lage darstellt.
862 So auch Boyle (2011, 160): „The guard was probably there to ensure quarantine; but the guards, too, become infected.“ Eine ähnliche Vorgehensweise findet sich in Proc. Pers. 2,22,24: ἔκ τε γὰρ τῶν στρωμάτων ἐκπίπτοντας καὶ καλινδουμένους ἐς τὸ ἔδαφος ἀντικαθίστων αὖθις, καὶ ῥιπτεῖν σφᾶς αὐτοὺς ἐκ τῶν οἰκημάτων ἐφιεμένους ὠθοῦντές τε καὶ ἀνθέλκοντες ἐβιάζοντο. (‚Diejenigen näm-lich, die aus den Betten fielen und sich auf den Boden wälzten, legten sie zurück an ihren Platz, und diejenigen, die aus ihren Häusern stürzten, drängten und zogen sie unter Zwang zurück.‘)
863 Dementsprechend muss Stamatus (2005d, 464) Aussage, in der Antike hätte es keine gezielte Isolie-rung von Kranken gegeben, in ihrer Absolutheit in Frage gestellt werden.
864 Vgl. Verg. georg. 3,481 und Ov. met. 7,567–571.
865 Eine weitere Quelle, etwa ein Gesetz, nach dem Kranke von öffentlichen Quellen fernzuhalten sind, ist nicht überliefert; wenngleich die Charakteristika guten Wassers ( purus , sincerus , salubris ) beim curator aquarum Frontin eine potenzielle Beschmutzung durch Krankheit plausibel machen, wird lediglich physische Beschmutzung des Wassers unter Strafe gestellt (Frontin. aq. 97,5).
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Oed. 197–201 Hingestreckt liegt eine Menge an den Altären … sagt ihnen zu : Das Sterben der Menschen an den Tempeln bildet den Abschluss des Chorlieds und erhält damit ein ähnlich großes Gewicht wie bei Lukrez und Ovid. Es ist nun gerade deren Rezeption, die sich in den Orten der Handlung im Oedipus widerspiegelt: Hatte Ovid (met. 7,602–605) den Selbstmord der Erkrankten bei den Altären ( ante ipsas … aras ) inszeniert,866 weist das Tempelinnere ( delubra ) deutlich auf Lucr. 6,1266. Gleichzeitig mit der Übernahme der Schau- plätze nimmt Seneca erneut eine motivische Inversion vor: In den Metamorphosen dienten die Altäre nicht länger als Gebetsstätte, sondern als Ort der Selbsttötung; in Lukrezens Lehr- gedicht hingegen ist zu vermuten, dass die Menschen, die in die Tempel strömten, Beistand bei den Göttern suchten – so ergibt sich die stärkste Widerlegung des Götterglaubens. Im Oedipus beten die Menschen an den Altären und töten sich im Tempelinnern, um die als erbarmungs- los wahrgenommenen Götter zu sättigen ( satiare ).867 Beiden Handlungen liegt der Wille der Erkrankten zugrunde, zu sterben.868 Seneca geht jedoch dahingehend über seinen Vorgänger hinaus, dass der Akt als innere Befriedigung ( iuvat ) gekennzeichnet wird. Die Selbsttötung ist demnach nicht mehr nur eine Inszenierung göttlicher Ungerechtigkeit, entwickelt nicht nur Bedeutung im Betrachter dieser Szenerie, sondern entfaltet auch eine Wirkung in den Ster- benden selbst. Diese Wirkung kann als groteskes Spiel des stoischen Leitsatzes des secundum naturam vivere (‚naturgemäß leben‘) verstanden werden, der ein glückliches Leben in erster Linie durch eine Fügung in das fatum grundgelegt sieht. 2.2.7 Lucan Lucan. 6,78f. Keine Trompeten ertönen … im Umgang mit dem Wurfspeer übt : Nachdem der Dichter Caesars Schanzarbeiten als Schaffung einer Arena für den Bürger- krieg bezeichnet (6,63)869 und schließlich auch Pompeius auf die Einschließung reagiert hat,866 Vgl. Zwierlein (1986), 232 und Jakobi (1988), 98.
867 Töchterle (1994, 256) bezieht sich bei seiner korrekten Deutung des Freitods als Protest gegen die Götter auf die Vorlage Ovids. Boyle (2011, 161) sieht hierin eine „grim parody“ der devotio . Diese wird nach Versnel (1981, 163) vorgenommen „in critical situations where the salvation of a total so-ciety is at stake; the victim is the highest valued possession of the state (king, leader, or his daughter/son. Also the valiant young warrior or the chaste virgin), who should give his life with an avowed voluntariness.“ Zwar bestehen einzelne Parallelen zum vorliegenden Fall, doch wiegt der Umstand schwer, dass der Opferungsprozess ungeordnet und von Menschenmassen vollzogen wird; auch fin-det sich im Text kein Hinweis auf eine altruistische Intention.
868 Mit diesem Wunsch greift der Chor den des Oedipus (V. 71–74) im Prolog auf.
869 König (1957, 45) betont den Widerspruch zwischen der räumlichen Enge des Bildes mit den beinahe kosmischen Ausmaßen von Caesars Belagerungsanlage und der Verbreitung des Krieges. Ahl (1976,
300
2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung indem er sein Heer nach Petra führte und vereinzelt stationierte, um das feindliche Heer auf- zutrennen, stehen sich die Kontrahenten nun gegenüber.870 Doch wenngleich die Konfronta- tion zum Greifen nah erscheint, werden keine Signale zur Schlacht gegeben.871 Die im folgen- den geschilderten Zufallstreffer bezeugen zum einen die Kampfbereitschaft der Soldaten, zum anderen die Nähe der Heere, die sich augenscheinlich in Wurfreichweite stationiert haben.872 Dementsprechend fungiert die Seuchenbeschreibung auf der Erzählebene als retardierendes Element (vgl. Kapitel 2.1.7 und Anm. 59, S. 113), was nicht zuletzt durch den Umstand bestätigt wird, dass Pompeius unmittelbar im Anschluss an die Beschreibung einen Ausfall gegen den Belagerungsring unternehmen lässt. Dabei ist auffällig, dass für beide Heere keine langfristigen Konsequenzen von Seuche und Hungersnot genannt werden.873 Aufgrund dieser vordergründig fehlenden Integration in die Erzählung sieht Jürgen Grimm den Anlass für die Beschreibung darin, dass Lucan in der his- torischen Quelle (d. h. wahrscheinlich Livius)874 eine kurze Nennung der Pest vorfand und 87f.) hat darauf hingewiesen, dass sich bei dem Bild eine Spannung ergibt, da in der Arena zumeist Kämpfer aus fernen Ländern zu sehen waren: Lucan nutzt demnach die Perversion des kulturellen Ereignisses, um die Unnatürlichkeit des Krieges zwischen Römern zu unterstreichen. Sollte der re-ligiöse Ursprung der Gladiatorenspiele, die im Zusammenhang von Bestattungsfeiern stattfanden, mit anklingen, kann der Bürgerkrieg bei Lucan als munus gladiatorum bei der Totenfeier der römi-schen Republik gedeutet werden.
870 Saylor (1978, 246–249) hat gezeigt, inwiefern Caesars Vorgehen als widernatürlich, Pompeius’ als natürlich beschrieben wird. Dessen Schluss, dass die Pest die Übertretung natürlicher Gesetze wi-derspiegelt, ist angesichts der Ätiologie bei Lucan und dem alleinigen Befall von Pompeius’ Heer nur bedingt nachzuvollziehen.
871 Vgl. zur Rolle der Kriegstrompeten ebenso die Einleitung zur Rede des Pompeius im zweiten Buch und die Reaktion der Soldaten (Lucan. 2,528–530 und 596f.) iamque secuturo iussurus classica Phoebo | temptandasque ratus moturi militis iras | adloquitur tacitas veneranda voce cohortes. || ver- ba ducis nullo partes clamore secuntur | nec matura petunt promissae classica pugnae (‚Als bereits der nächste Tag anbrach und Pompeius im Begriff war, den Befehl zum Trompetensignal zu ge-ben, glaubte er, die Kampfeswut der ausrückenden Soldatenschar wecken zu müssen, und sprach die schweigsamen Kohorten mit ehrwürdiger Stimme an. || Die Abteilungen folgten den Worten ihres Feldherren ohne Kampfgeschrei, nicht machten sie sich eilig daran, das längst überfällige Trompe-tensignal zur versprochenen Schlacht zu geben.‘) sowie die Aussicht auf Ruhe in Lucan. 4,394–397.
872 Zugleich wird die Gewöhnlichkeit des Frevels ( nefas ), d. h. bei Lucan insbesondere der Mord an Familienangehörigen, durch die willkürlichen Treffer auf die Spitze getrieben. Zum zentralen Motiv des nefas vgl. Lucan. 1,1–7 und Fantham (2010a), 214–218.
873 Durch einen Vergleich mit der Umsetzung in Sil. 14,636f. wird der Unterschied besonders deutlich, vgl. Anm. 939, S. 316.
874 Zur Quellenfrage äußerte sich zuletzt ausführlich Radicke (2004, 29–41), der sich beim historischen Stoff für die alleinige Nutzung des Livius aussprach (vgl. jedoch Rutz 1985, 1460–1467). Dass sich Lu-can daneben zahlreicher Dichter bedient hat, ist unumstritten, wenngleich die Bezugnahme jeweils eines Nachweises bedarf (vgl. z. B. für Manilius Hosius 1893, 393–396 und Schwemmler 1916). Im livianischen Geschichtswerk finden sich sowohl ausführliche Seuchenbeschreibungen (Liv. 3,6 und
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sie entsprechend einbaute.875 Inwiefern seine Vorlage die Darstellung des Dichters beeinflusst hat, lässt sich aufgrund des Verlustes der livianischen Bücher nicht mehr rekonstruieren.876 Eine Reduktion der erzählerischen Funktion darauf, dass die Pest nun einmal zur historischen Wahrheit dazugehöre und deshalb eingebaut werden müsse, wird dem Text jedoch nicht ge- recht. Neben der oben genannten retardierenden Funktion des Abschnitts eröffnet sich unter Berücksichtigung des Werkzusammenhangs noch eine weitere Deutungsmöglichkeit: Die demonstrative Fortführung nach Seuche und Hunger in 6,118 durch ut primum libuit ( lib- uit beschreibt hier die subjektive Bereitschaft und Neigung zur Ausführung einer Tätigkeit) führt das Gewöhnliche der Situation und insbesondere ihrer Resultate, d. h. des Todes vieler Soldaten, vor Augen.877 Die Pest verblasst als Teil einer wesentlich größeren Katastrophe, des Bürgerkriegs, der sinnloses Massensterben zum Normalzustand werden lässt.878 Entsprechend findet sich weder Personalisierung noch Anteilnahme – somit erzeugt Lucan eine ähnliche Wirkung, wie sie Herta Klepl bei Lukrez beobachtete: „Was geschieht, ist entsetzlich, aber pro- blemlos. Die unheimliche Gewalt der lukrezischen Pestdarstellung beruht gerade auf diesem: so ist es.“879 25,26,7) als auch zahlreiche kurze bis hin zu bloßen Andeutungen (vgl. Grimm 1965, 61 mit Anm. 1 und Wazer 2016). Darüber, ob Livius überhaupt und, wenn ja, in welcher Form er eine Seuchen-beschreibung eingefügt hat, lässt sich keine Aussage treffen. Radicke (2004, 84) verweist auf Lucans Quellennähe, sodass zumindest plausibel zu machen ist, dass auch bei Livius eine Pest beschrieben wurde.875 Vgl. Grimm (1965), 74f. Ebendort argumentiert Grimm auch dagegen, dass Lucan sich auf einen literarischen Wettstreit mit den Vorgängern der Motivtradition eingelassen hat – der Dichter hätte schließlich gewusst, dass er sich gegen diese niemals hätte behaupten können (vgl. Anm. 15, S. 14). Man halte Radicke (2004, 518) daneben, der von einem Primat der ästhetischen Motivierung aus-geht.
876 Wohl bestehen Überschneidungen zu Caesars Bellum civile (vgl. Bachofen 1972, 147), die jedoch nach Radicke (2004, 38) auf eine andere Vorlage Lucans zurückzuführen sind. In der Tat ließe sich aus der „nicht guten Gesundheit“ ( valetudo non bona , Caes. civ. 3,49,2) allein nicht unbedingt eine Pest beziehen.
877 Kallet (2013, 364) hat solche Erzählstrategien im Zusammenhang ihrer Untersuchung zu Thukydi-des treffend als „life-must-go-on narrative of military activity“ bezeichnet, die vor dem Hintergrund zu erwartender psychischer Erkrankungen (vgl. Toner 2013, 153–170) wohl als Vermittlung eines bestimmten Rollenbildes einzustufen sind. Conte (1974, 23) sieht im Handeln des Pompeius „la ful-mineità dell’azione militare“ bestätigt.
878 Vgl. dazu Glaesser (2018), 157: „Sinnloses Töten und Sterben scheint der Hauptzweck des Lebens zu sein, an dem uns der Dichter in Form eines schaurigen und wenig tröstlichen Schauspiels teilneh-men lässt. Die konkrete Handlung bildet häufig nur den Rahmen für das Grauen, das Ekelhafte und der Wirklichkeit Spottende.“ Zur kosmischen Dimension des Bürgerkriegs bei Lucan vgl. Lapidge (1979), 359–370, Narducci (2002), 42–50 und Wiener (2006), 179–183.
879 Klepl (1940), 69. Schließlich kann die Pest mit Verweis auf Syndikus (1958), 44f. als Pathosszene ein-geordnet werden, die ihren Wert auch in sich trägt.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Lucan. 6,80 Größere Sorge / maior cura: Bereits Farnaby bemerkte in seinem Kommentar zur Stelle die Parallele zur Seuchenbe- schreibung Vergils (Georg. 3,537–539a): non lupus insidias explorat ovilia circum nec gregibus nocturnus obambulat: acrior illum cura domat.
Nicht kundschaftete der Wolf das Gebiet rund um das Schafgehege nach einem Hinterhalt aus, nicht umschlich er nachts die Herden: eine ärgere Sorge zähmte ihn. Angesichts der zahlreichen Reminiszenzen an diese Seuchenbeschreibung kann trotz der quantitativ geringen Überschneidung von einer bewussten Bezugnahme ausgegangen werden. Oberflächlich betrachtet besteht die Entsprechung darin, dass auf der einen Seite der Wolf, auf der anderen Seite die Feldherren von der Tätigkeit abgebracht werden, die ihrem Naturell entspricht. In der Folge stellt jener nicht den Schafen nach, diese lassen die Waffen ruhen. Auf tieferer Ebene lässt sich fragen, ob die im ursprünglichen Bild angelegte Ungleichheit der beiden Parteien sowie das daraus resultierende Ungerechtigkeitsempfinden ebenfalls für die vorliegende Stelle mitzudenken sind. So betrachtet wäre Caesar der Wolf, der den Kampf he- rausfordert und die Belagerung aktiv (sogar bis zur Erschöpfung) vorantreibt, Pompeius das eingekreiste Schaf.880 Problematisch an dieser Deutung bliebe zwar, dass auch Pompeius Ini- tiative zeigt, indem er sein Heer nach Petra führt und im Anschluss an die Pest einen Ausfall wagt;881 jedoch fällt das Verhältnis von Aktivität und Passivität im direkten Vergleich eindeu- tig aus; hatte Caesar doch noch zu Beginn des sechsten Buches drei Mal eine offene Schlacht
880 Den Vergleich von Provokateur und Wolf kennt auch Sil. 7,126–130. Zum Bild von Caesar und Pompeius bei Lucan vgl. u. a. Menz (1952), 215–230, Johnson (1987), 67–134, Galimberti Biffi-no (2002), Narducci (2002), 187–367, Radicke (2004), 109–140, Fantham (2010b) und Glaesser (2018), 124–132. Große Streitfragen betreffen die Implementierung eines stoischen Charakter-modells (Caesar als Tor, Pompeius als proficiens , Cato als sapiens ) oder die Dynamik der Cha-rakterentwicklung (insbesondere des Pompeius). Im Folgenden wird mit Radicke (2004, 106) von einer Statik der Figuren ausgegangen, insofern sie ihre Eigenschaften im gesamten Epos bewahren.
881 Diese Ausnahme hat Menz (1952), 225 als Kontrast zur Schlacht bei Pharsalos plausibel gemacht, vgl. auch Saylor (1978), 256f. Man beachte vor allem den Ausdruck in 6,118f. ut primum libuit … Pompeio (‚Sobald es Pompeius beliebte‘), nach dem der Feldherr trotz der Pest wie gewohnt verfährt (s. o. Komm. zu 6,78f.).
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eingefordert,882 worauf Pompeius nicht einging und in der Folge von seinem Gegner einge- schlossen wurde.883 Lucan. 6,81–83 Pompeius die abgenutzten Landstriche …: War in der Beschreibung von Caesars Schanzarbeiten noch betont worden, dass es Pompeius nicht an Feldern und Futter mangelte (6,43 non desunt campi, non desunt pabula Magno ), sieht sich der Feldherr nun Landstrichen gegenüber, die den Tieren keine Nahrung mehr zu bieten vermögen: Durch den Einsatz von Ross und Mann auf den Wiesen wurde das potenzielle Fut- ter niedergetrampelt. Als notwendige Bedingung für die sich anschließende Ansteckung der Luft unterscheidet sich dieser Umstand von der Ursache der Hungersnot auf Seiten des gegne- rischen Heeres – hier ist es nicht mangelnde Umsicht der Soldaten, sondern die Zeit, die dem Getreide zum Wachstum fehlt (s. u. Komm. zu 6,109f.). Lucan. 6,82 quas: Die Überlieferung bietet für das Relativpronomen zwei Varianten, nämlich quae ( GUV , be- zogen auf gramina ) und quas ( ZMPC , bezogen auf terrae ). Unter inhaltlichen Gesichtspunk- ten fällt die Entscheidung leicht, da mit quae … obtrivit lediglich eine inhaltliche Dopplung zu frondentem campum discussit vorläge, wohingegen quas der Erläuterung eine Differenzierung hinzufügt: Die Reiter zertrampelten die Erde, sodass diese nicht mehr in der Lage ist, Gras hervorzubringen, und zerstörten die zum damaligen Zeitpunkt noch vorhandenen Wiesen. Hier könnte freilich eingewandt werden, es handle sich bei quas um die lectio facilior oder eine Interpolation. Erstens lässt sich die Variante quae neben quas paläographisch befriedigend er- klären, da vermutlich ‚ q ‘ mit einer entsprechenden Abkürzung in der Vorlage gestanden hat.884 Zweitens kann eine Interpolation durch den Blick auf Housmans Einschätzung der Hand- schrift Z (9. Jh.) unwahrscheinlich gemacht werden, die ihm zufolge aufgrund von „careless- ness and stupidity“885 bisweilen Fehler und sehr ausgefallene Lesarten, jedoch selten Interpola- tionen aufweise. Neben Z treten stützend die Commenta Bernensia , die trotz ihrer späteren882 Vgl. Lucan. 6,8–14. Diese wiederholte Bereitschaft schien Lucan wichtig, zeigt sich doch in Cae-sars eigener Darstellung, dass er nur einen Versuch unternahm, vgl. Caes. civ. 3,41,1 und Bachofen (1972), 143.
883 Zur ἀμηχανία ( amechanía ) des Pompeius vgl. Ahl (1974), 306f. Dass dessen Zurückhaltung im Ver-gleich zu Caesar nicht ausschließlich negativ bewertet wird, haben König (1957, 43f.) und Saylor (1978, 246f.) auch hinsichtlich des Eingriffs in die Natur für die Schanzarbeiten des Letzteren he-rausgearbeitet: Während sich Pompeius dem natürlichen Raum anpasst, zerstört ihn Caesar und formt ihn für seine Zwecke um.
884 Vgl. Capelli (21928), 314 für ein aussagekräftiges Beispiel.
885 Housman (1926), viii. Housman selbst spricht sich im kritischen Apparat vorsichtig für quas aus.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Datierung antike Bestandteile aufweisen und deshalb ebenfalls zu berücksichtigen sind.886 Aus inhaltlichen und paläographischen Gründen wird deshalb quas gegenüber quae präferiert. Zusätzlich zu der Frage nach der Einleitung des Relativsatzes stellt sich im Folgenden die nach der Interpunktion vor gradibusque , für die drei Möglichkeiten vorliegen: 1. Teubner: Keine weitere Interpunktion.887 2. Loeb: Leichte Interpunktion (Komma).888 3. Budé: Härtere Interpunktion (Semikolon).889 Mithilfe der Interpunktionen soll das Problem gelöst werden, dass mit frondentem campum ein weiteres Akkusativobjekt auf quae/quas folgt, das im Relativsatz nicht befriedigend an- geschlossen werden kann. Dabei scheint weder die Setzung eines Temporalsatzes (so Duff und Ehlers) noch eine Loslösung (Bourgery/Ponchont) sinnvoll, da der Satzteil ab gradibus inhalt- lich eng und beiordnend an das Vorangegangene anschließt. Deshalb wird an dieser Stelle ein neuer Weg beschritten, indem das Relativpronomen als relativer Satzanschluss aufgefasst und davor hart interpungiert wird.890 Auf diese Weise löst sich einerseits das Anschlussprob- lem von frondentem campum , andererseits führt die Interpunktion zu einem gelungenen Ab- schluss der elliptischen Abschnittseinleitung. Lucan. 6,84–87 Das Kriegsross ermattet … in der Mitte mit zitterndem Knie ab : In seiner Fokussierung auf ein einzelnes Tier schließt Lucan (vermutlich mit Rückgriff auf Ov. met. 7,542–544 und Sen. Oed. 142–144)891 an die Szenentechnik bei Vergil an (vgl. u. a. Komm. zu Georg. 3,486–488), sodass sonipes hier nicht als der sonst übliche Kollektivsingular aufgefasst werden muss.892 Es ist auffällig, dass hier (wie bereits Farnaby zur Stelle anmerkte) 886 Vgl. Esposito (2011), 453f.
887 Bspw. bei Ehlers (21978), 247: „Pompejus machte sich Gedanken, weil das Erdreich zu ausgemer-gelt war, um noch Weideflächen zu bieten, nachdem dahinsprengende Reiter sie niedergetreten und Hornhufe im Galopp die grüne Flur zerstampft hatten.“
888 Duff (1928), 311: „Pompey was prevented by the failure of the district to provide fodder: the horsemen in their speed had trodden it down, when the horny hoofs galloped over the grassy plain and tore it up.“
889 Bourgery/Ponchont (1929), 6: „Pompée songe aux terres, épuisées à fournir les herbages et que le cavalier en courant a piétinées; dans son galop le sabot de corne a morcelé les prairies.“
890 Zu relativen Satzanschlüssen bei Lucan s. bspw. 5,65; 5,706; 6,458; 7,764; 8,328; 9,30; 10,328. In 8,328 hat Shackleton Bailey in seiner Teubneriana ein vergleichbares Satzgefüge mit doppeltem Akkusativ-objekt im Relativsatz mit einem Semikolon vor dem Relativpronomen abgetrennt.
891 Vgl. Vallillee (1960), 147 zur Verarbeitung der beiden Passus an dieser Stelle.
892 Die Beschreibung der Masse in Form des Kollektivsingulars bei Lucan hat Gall (2005, 89) herausge-arbeitet: „Deutlich dominiert mit Begriffen wie miles , eques , sonipes , turba und volgus der kollektive
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eine Rezeption der Beschreibung der Kälber aus Verg. georg. 3,494 ( hinc laetis vituli vulgo moriuntur in herbis | et dulcis animas plena ad praesepia reddunt ) vorliegt, ohne dass das Ge- schehen in ähnlicher Weise durch die Krankheit der Tiere begründet wäre: Das Pferd lehnt das Stroh ab und sucht stattdessen frisches Gras, ohne dass vorher von einer Krankheit die Rede gewesen ist.893 Daher stellt sich die Frage, weshalb sich die paradoxe Spannung zwischen dem Vorhandensein hinreichender Güter zur Stillung eines natürlichen Verlangens bei gleich- zeitiger Missachtung dieser Güter ergibt.894 In jedem Fall erscheint das Verhalten des Pferdes widernatürlich und kann die Aushebelung natürlicher Gesetze vor dem Hintergrund des Bür- gerkriegs widerspiegeln. Möglicherweise findet sich eine weitere Begründung in den jeweiligen Attributen des Futters, nämlich ‚herbeigeschifft‘ ( advectos ) und frisch ( novas ). Letzteres kann auch adverbiell als ‚stets aufs Neue‘ aufgefasst werden, sodass das Pferd, das Gras auf einer kargen Fläche sucht, obwohl ihm reiches Futter in der Krippe bereitet ist, das sinnlose (und unersättliche) Streben nach unerreichbaren Gütern bei gleichzeitiger Missachtung der erreich- baren versinnbildlichte.895 Lucan. 6,88 Während nun Fäulnis ihre Körper auflöste und ihre Glieder zersetzte : Bereits in Ovids Beschreibung (Met. 7,550f.) nahmen die Tierkadaver eine besondere Rolle ein, deren Verwesung hier erneut anhand des Konzepts der Schmelze begriffen wird.896 Ins- besondere die Verbindung digerit artus (‚zersetzte die Glieder‘) hat auf Seiten der Kommenta- toren eine Vielzahl an Umschreibungen nach sich gezogen. Francken wunderte sich über die Singular.“ Ebenso wie bei seinem Vorläufer findet nach der Beendigung der Szene durch das Nieder-sinken des Pferdes ein Sprung ins Kollektiv statt.893 Francken (1897, 6) nimmt hingegen an, dass es sich bei der Ablehnung des Strohs um die ersten Symptome der Krankheit bei den Pferden handelt. Eine Erklärung, woher die Krankheit nach dieser Deutung stammt, bleibt er jedoch schuldig.
894 Die Lösung des van Groot ( editio prima , ihm folgend Burmann), anstelle von cum ein dum zu setzen, ist nur schwer vorstellbar: Die Intention, die durch den finalen Konjunktiv ausgedrückt würde (KS II 615f.), müsste dem Pferd zugeschrieben werden – es suchte nach frischem Gras, bis die Futterkrippen das herbeigeschiffte Stroh tragen würden. Reizvoll wäre die Änderung dahingehend, dass die Ursa-che für die Katastrophe wie auch beim feindlichen Heer (s. u. Komm. zu Lucan. 6,109f.) in fehlender Zeit zu sehen wäre. Wenig zufriedenstellend ist die Idee, die Trockenheit des Strohs sei für die Ab-lehnung desselben verantwortlich (van Groot in der editio secunda , Oudendorp, Haskins, Francken), da jene weder Erwähnung findet noch nahegelegt wird. Auch ist Caes. civ. 3,58 kein geeigneter Ver-gleichspunkt (wie bei Oudendorp), da das Futter hier nicht herbeigeschifft, sondern provisorisch von Sträuchern und Bäumen abgerissen wird.
895 Diese Deutungen verfolgen den Ansatz, dass sich Passus, die auf den ersten Blick nicht oder nur schwer verständlich sind, dennoch sinnvoll in das Gesamtbild des Werkes einfügen; alternativ ließe sich ein Mangel an Kohärenz stets auf eine zu starke Verknappung der Vorlage zurückführen, vgl. Radicke (2004), 83f.
896 Vgl. oben Komm. zu Verg. georg. 3,557 und Loupiac (1998), 106.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung fehlende Erklärung des Ausdrucks und schlug seine Konjektur derigit vor, wobei das Starr- werden der Glieder gerade im Gegensatz zum nachfolgenden fluvidae pestis stünde. Weiter- hin sprach er sich klar gegen die Idee aus, es handelte sich hier um eine Anspielung auf den Verdauungsprozess ( digestio ).897 In der Tat wäre, um eine Verflüssigung wie bei der Verdauung zu bezeichnen, der Begriff der concoctio der einzig passende gewesen (s. o. Komm. zu Lucr. 6,1169); erfolgt doch die Verteilung der Speisen erst nach ihrer Kochung. Allerdings scheint in einem Passus bei Celsus eine vergleichbare Vorstellung zugrundezuliegen: In einem Katalog von Symptomen findet sich der Ausdruck des sudore digeri , der Zersetzung des Körpers durch Schweiß.898 Nach diesem Verständnis bestünde eine sich selbst verstärkende Wechselwirkung zwischen der Auflösung des Körpers durch Fäulnis und der sich daran anschließenden Zer- setzung der restlichen Materie durch ebendiese neue Flüssigkeit, sodass der Kadaver letztlich vollständig aufgelöst wird. Lucan. 6,89f. zog die stehende Himmelsluft den Krankheitsstoff … in eine dunkle Wolke : Gedanklich entlehnt ist die Stelle aus Ovids Ätiologie (met. 7,528f.):899 principio caelum spissa caligine terras pressit et ignavos inclusit nubibus aestus.
Zu Beginn hüllte der Himmel die Erde in dichte Finsternis und schloss in den Wolken den träge machenden Krank-heitsstrom ein. Zugleich werden Unterschiede deutlich, da das Attribut des Krankheitsstroms ( ignavos aes- tus ) bei Lucan auf die stehende Himmelsluft ( iners caelum ) übertragen wird.900 Die größte Diskrepanz liegt darin, dass für Ovid der aestus (Krankheitsstrom) durch göttliche Interven- tion der Iuno bereits in der Luft ist und in der Folge Objekt der Handlung werden kann; bei
897 Vgl. Francken (1897), 6: „Ridiculum est quod ‚cibi digesti in corpore‘ ad illustrandum locum ad-vocantur.“ Andere Erklärungen (etwa Sulpicius oder Oudendorp) beziehen die Semantik des Aus-drucks vor allem aus dem vorhergehenden solvere .
898 Cels. 1 pr. 67 Aliud est enim sanguinem, aliud bilem, aliud cibum vomere; aliud deiectionibus, aliud torminibus laborare; aliud sudore digeri , aliud tabe consumi . (‚Es ist nämlich eines, Blut, anderes, Galle, noch anderes, Essen zu erbrechen; es ist eines an Durchfall, anderes an Magenschmerzen zu leiden; es ist eines, im Schweiß zersetzt zu werden , anderes durch Auszehrung zu vergehen.‘)
899 Vgl. für die Vorstellung der ‚Pestwolke‘ in Inschriften Kruschwitz (2020), 140–143 und den eben-dort genannten wenig nützlichen Abwehrvers des Lügenpropheten in Lucian Alex. 36: Φοῖβος ἀκερσεκόμης λοιμοῦ νεφέλην ἀπερύκει. („Der langhaarige Apoll vertreibt die Seuchenwolke.“) so-wie Jones (2016) zu einer griechischen Amulettinschrift aus London, auf dem sich derselbe Ausdruck findet.
900 König (1957, 49) erklärt überzeugend, dass die Statik der Luft dazu dient, die drohende Kulisse der dunklen Seuchenwolke aufzubauen, obwohl im Nachhinein (6,104) das Wehen der Winde einge-räumt wird.
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Lucan hingegen wird der Krankheitsstoff durch die verwesenden Tierkadaver ausgestoßen und anschließend von der Luft aufgenommen. In dieser Reduktion der Ätiologie auf rein physikalische Ursachen nähert sich Lucan wieder den Ursprüngen der Motivtradition, Thu- kydides und Lukrez, an, was nicht zuletzt durch seinen Verzicht auf den Götterapparat be- gründet ist (vgl. Anm. 55, S. 112). Bemerkenswert bleibt, dass die Infektion der Menschen in der Folge nicht durch die Luft erfolgt, sondern durch das Wasser, sodass der Krankheitsdunst nicht wieder aufgegriffen wird.901 Lucan. 6,90–92 Mit solchem Hauch … des todbringenden Typhon aus : Die Rückführung der Schwefeldämpfe der Insel Nesis auf das schlangenköpfige Ungeheuer Typhon knüpft an die Erzähltradition Hesiods an, nach der Zeus Typhon in den Tartaros warf, von wo aus er zerstörerische Winde verursacht.902 Mit seinem Gleichnis greift der Dichter zu- gleich die seit Vergil in der Motivtradition etablierte Praxis auf, die Unterwelt in die Seuchen- beschreibung mit einzubeziehen. Dabei verzichtet Lucan auf eine ausführliche Darlegung, wie sie etwa bei seinem Onkel Seneca (Oed. 160–170) vorliegt. Dies hat nicht zuletzt seinen Grund im weiteren Verlauf des sechsten Buches: Mit der Nekromantie durch die Hexe Erichtho (Lu- can. 6,570–830) liegt bereits ein Schwerpunkt auf der Interaktion mit der Unterwelt, sodass eine tiefere Auseinandersetzung an dieser Stelle zu einer Dopplung mit der zweiten Buchhälfte geführt hätte. Der kompositorische Höhepunkt der Totenbeschwörung strahlt in dieser Hin- sicht auf die Beschreibung aus und kann als weiterer Grund für ihre Schlichtheit angeführt werden (s. auch unten Komm. zu 6,102f.). Lucan. 6,93 Dann beginnt der Massen Fall : Der altertümelnde Ton der Übersetzung hat seinen Grund in der Ilias-Rezeption, mit der Lucan seiner Überleitung zur Erkrankung und zum Tod der Menschen eine Note archaischer Erhabenheit verleiht.903 Die Einleitung durch inde zu Beginn der eigentlichen Seuchenbe-901 Vgl. Loupiac (1998), 56 und 163. Ein erneuter Vergleich mit Ovid zeigt, dass es das fehlende Wehen der Südwinde ( Austri ) ist, das die Statik der Szenerie verursacht. Möglicherweise findet sich in der Auseinandersetzung mit dem Vorgänger ein weiterer Grund für die nachträgliche Erwähnung der Nordwinde.
902 Vgl. Hes. theog. 820–880 und Stat. silv. 2,2,77f. armiger hac magni patet Hectoris, inde malignum | aëra respirat pelago circumflua Nesis . Zur Verarbeitung von Lehrgedicht und Fachwissenschaft in Lucans Gleichnissen vgl. Schindler (2000) und zur Spiegelung des Bürgerkriegs durch den Mythos bei Lucan Ambühl (2015), 55–178.
903 Vgl. zur Mimesis Poiss/Kitzbichler/Fantino (2016), 388 und mit Sklenář (2003, 46) Hom. Il. 1,10 ὀλέκοντο δὲ λαοί. Der Ausdruck labant (schwanken, ins Fallen geraten) für das Sterben von Massen findet sich bei Lucan nur an dieser Stelle, bildet jedoch auch keine direkte Parallele zu Homer; für die Terminologie des Sterbens in der lateinischen Epik vgl. Weber (1969), 52, der es in seiner Liste jedoch nicht aufführt.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung schreibung erinnert an Lukrez (6,1144), möglicherweise auch an Manilius.904 Die Formulie- rung scheint aus dem Gesamtzusammenhang herauszufallen: Insbesondere die Infektion des Wassers direkt im Anschluss fügt sich gedanklich nur schwer an den Anfang des Verses. In ihm beraubt die Formulierung populi (Mengen905) die Soldaten ihrer Profession und formt sie zu einer anonymen Masse, was der Gleichbehandlung der Menschen durch den Tod auf sub- tile Weise Rechnung trägt. Nun scheint der Tod der Massen aber eine Folge der Aufnahme des krankmachenden Wassers, sodass die Vermutung eines Hysteron-Proteron naheliegt. Lucan. 6,93f. und das Wasser … härtete ihre Eingeweide durch Schmutz : Die Verhärtung der Eingeweide erinnert an das Symptom der Verhärtung des Oberbauchs ( praecordia dura ) bei Ovid (s. o. Komm. zu 7,559). An der vorliegenden Stelle ist es das erste Symptom und erscheint gleichsam als Ursprung der Krankheit im menschlichen Organis- mus.906 Hervorzuheben ist Lucans Aussage, dass das Wasser bereitwilliger ( paratior ) gewesen sei, jede Art von virus (Krankheitsstoff) in sich aufzunehmen. Damit nimmt der Dichter zwei Änderungen vor: Erstens wird die Luft als Hauptüberträgermedium der hippokratischen Tra- dition durch das Wasser abgelöst,907 zweitens ist es nicht ein miasmatischer Dunst, sondern eine pathogene Flüssigkeit ( virus ), eine „schleimige, widerliche Substanz“,908 die das Wasser vergiftet. Mit der Ursache der Verschmutzung, caenum , nimmt Lucan auf das sechste Buch der Aeneis Bezug.909 Dort wird die Trübheit des Unterweltsflusses Acheron mittels des Ausdrucks caenum begründet. Durch die Bezugnahme auf seinen Vorgänger kann der Dichter zum einen
904 Vgl. Vallillee (1960), 148 und Manil. 1,882 und 886 labentisque rapit populos , totasque per urbes … alter in alterius labens cum fata ruebant . In ähnlich einleitender Funktion auch bei Gratt. 369f . inde emissa lues et per contagia morbi | venere in volgum.
905 Vgl. OLD s.v. populus (4), 1405.
906 Unter Berücksichtigung von Seibert (1983, 79) handelt es sich hierbei um eine der seltenen Erwäh-nungen schlechter Wasserqualität als Ursache für Heeresseuchen, wie sie auch Galen in seinem Kommentar zur hippokratischen Schrift De natura hominis (3,132 = 15,119 K) aufführt. Bereits bei Herodot (9,49,2) machen sich die Perser vor der Schlacht von Plataiai (479 v. Chr.) die pathogenen Eigenschaften von Wasser zunutze. In der spätantiken Epitome rei militaris hat Vegetius (mil. 3,2,5) in einem Kapitel zur Erhaltung der Heeresgesundheit explizit auf die Gefahr schlechter Wasserquali-tät hingewiesen: Nec perniciosis vel palustribus aquis utatur exercitus; nam malae aquae potus veneno similis pestilentiam bibentibus generat. (‚Lass das Heer kein gefährliches oder sumpfiges Wasser trin-ken; denn schlechtes Wasser zu trinken wirkt ähnlich wie Gift und verursacht unter den Trinkenden Seuchen.‘)
907 Vgl. ebenso Reitz (2003), 68.
908 König (1957), 50, zur Bedeutungsgeschichte vgl. Thome (1993), 453–455.
909 Verg. Aen. 6,295–297: Hinc via Tartarei quae fert Acherontis ad undas. | turbidus hic caeno vastaque voragine gurges | aestuat atque omnem Cocyto eructat harenam. (‚Hier ist der Weg, der dich zu den Wassern des höllischen Acheron führt. Dieser Strom ist trüb vor Schmutz , brodelt in seinem breiten Strudel und speit den ganzen Sand in den Cocytus.‘). Dem Ausdruck caenum haftet eine Note des
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erneut eine Unterweltskulisse vor Augen rufen (vgl. bereits oben zur Insel Nesis), zum anderen auf die Theorie zurückgreifen, dass krankmachendes Wasser vor allem aus tiefen Erdschichten stammt (vgl. Anm. 831, S. 289). Lucan. 6,95–97: Die im Folgenden beschriebenen Symptome beschränken sich – wahrscheinlich in Anknüp- fung an Senecas Seuchenbeschreibung im Oedipus (vgl. Kapitel 3.1.3), hier noch konsequen- ter – auf den Kopf der Erkrankten.910 Lucan. 6,95 Schon erstarrt die gespannte (arta) Haut und lässt … platzen : Das von den meisten Editoren akzeptierte Attribut arta (gespannt) lässt sich aus zwei Gründen gegen das überlieferte atra (schwarz) verteidigen:911 Da erstens im Folgevers das Feuer erwähnt wird, das den Erkrankten ins Gesicht steigt, müsste nach der Überliefe- rung auf die unnatürliche Schwärzung der Haut nun ihre Rötung folgen, die das innere Feuer nach außen hin sichtbar macht. Zweitens ist die Spannung der Haut eine notwen- dige Begründung dafür, dass cutis in der Folge als Subjekt für das Platzen der Augen an- genommen werden kann.912 Die Augen sind durch die Krankheit distenta (aufgedunsen) und werden durch die Haut, die sich ringsum spannt, zum Platzen gebracht. Das Platzen der Augen stellt eine Steigerung der Beschreibung bei Seneca dar (vgl. oben Komm. zu Oed. 186). Es ist auffällig, dass Lucan, dem sonst das Etikett des „Hyperrealismus“ und der „krude[n] Detailversessenheit“913 im Zusammenhang von Gewalt und körperlicher Entstellung anhaftet, sich in der Symptombeschreibung ansonsten beschränkt. Eine Be- Ekelhaften an, er wird gerne als Schimpfwort gebraucht (vgl. Opelt 1965, 92f. und 139) und von Ver-gil lediglich an dieser einen Stelle im Epos verwendet.910 Zur Einschätzung des Kopfes als körperliches Zentrum, bisweilen als Träger der Seele, vgl. Speyer (2006), 514f. und Sen. Oed. 185 corporis arcem . Für die Bedeutung des Kopfes im Krankheits-fall ist auch die sprichwörtliche Tradition des Mittelalters vielsagend, vgl. Mumprecht (1997), 431–435.
911 So bereits Gottlieb Kortte (bei Weber 1829, 17): „Hic vero atra cutis prorsus importuna et absurda est; neque enim illa lumina rumpit , neque cum Ignea peste , quae mox memoratur, conciliari potest.“ Vgl. jedoch Hp. Coac. 209 (= 5,628 L.).
912 Die Verwendung von cutis (Haut) im Epos findet sich erst bei Ovid (neun Belegstellen), Vergil nutzt das Wort kein einziges Mal. Der Ausdruck hat seinen Ursprung im Griechischen und ist der medizi-nischen Fachsprache zuzuordnen, vgl. André (1991), 200 und Grondeux (2005), 115.
913 Wick 2010, 109, vgl. auch Fuhrmann (1968), 51, für den in Lucan eine Entwicklung ihren (vorläufi-gen) Höhepunkt erreicht, indem die Darstellung der Grausamkeit zum Selbstzweck wird. Dabei ist Lucan zugleich Teil einer Entwicklung: Man denke nur an den Teil in Ovids Beschreibung der Lapi-then und Kentauren (Ov. met. 12,268–270), in dem Gryneus beide Augen verliert, die sich teilweise auf der Waffe des Gegners (einem Votivgeweih) und teilweise im Bart des Sterbenden verteilen; auch
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung gründung für die ausbleibende Detailtiefe kann mit Gotter darin gesehen werden, dass der für Lucan charakteristischen Gewaltinszenierung nur im Zuge der Beschreibung von Bürgerkriegshandlungen eine Funktion zukommt – die Pest jedoch ist durch ihre lokale Begrenzung und die klare Linie zwischen Freund und Feind nicht geeignet, um Verwand- tenmorde zu inszenieren.914 Schließlich kann (wie ebenfalls Kortte nahelegte) die vorliegende Stelle möglicherweise eine direkte Bezugnahme auf Lukrez plausibel machen: Lucr. 6,1194–1196 frigida pellis duraque , molle patens rictum, frons tenta minebat. nec nimio rigida post artus morte iacebant.
Lucan. 6,95 iam riget arta cutis dis tenta que lumina rumpit . Eine solche wäre nicht zuletzt deshalb attraktiv, weil sich Lucan nach dieser Interpretation eines Symptoms der lukrezischen Facies Hippocratica bedient hätte – damit wäre der Indikator für den kurz bevorstehenden Tod bei ihm zu einem gewöhnlichen Symptom verarbeitet wor- den, wodurch auch die Regelhaftigkeit des Todes unterstrichen würde. Lucan. 6,96 die Pest steigt feurig lodernd mit der heiligen Krankheit ins Gesicht : Mit seiner Umschreibung stellt Lucan eine Verbindung zum sacer ignis her, der entweder Vergils (Georg. 3,566) oder Senecas (Oed. 187b) Beschreibung entnommen sein dürfte. Auch an dieser Stelle beschränkt sich der Dichter auf ein Minimum der Symptombeschreibung, aus dem lediglich ersichtlich wird, dass das Wirken der Krankheit durch das Element Feuer be- dingt ist.915 Äußere Erscheinungen wie Bläschenbildung werden ebenso wie der brennende Durst ausgespart. Die Auslassung des Durstes kann mit der hier vertretenen Deutung, nach der die Pest insbesondere die Untätigkeit des pompeianischen Heeres aufzeigen soll (vgl. unten Komm. zu 6,111–116), zufriedenstellend begründet werden, da der Durst eine mit Caesars Heer vergleichbare Aktivität zur Folge gehabt hätte. Daneben läge der Vorwurf einer Dopplung zum vierten Buch (vgl. Anm. 934, S. 315) nahe. Senecas Oedipus ließe sich anführen, ergießt sich doch nach der Selbstblendung ein Schauer aus Blut ( profusus imber , V. 953) über das Gesicht des Königs.
914 Vgl. Gotter 2011, 57–62.
915 Vgl. Loupiac (1998), 136. Die dort angenommene Verursachung der Symptome durch die vergiftete Luft scheint jedoch keine Entsprechung im Text zu finden. Vielmehr bezeugt die Korrelation duravit viscera … riget arta cutis (6,94f., vgl. König 1957, 50) ein Wandern der Symptome von den Eingewei-den nach oben (auch hierbei wider die Motivtradition, vgl. Gardner 2019, 198).
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Lucan. 6,97 das müde Haupt verweigert, sich selbst zu tragen : Das Symptom der Müdigkeit, das bei Lukrez noch explizit durch Schlaflosigkeit induziert wurde, ist hier prägnant in einer Geste der Ermattung umgesetzt. Aufgrund der Kürze der Schilderung wird nicht ersichtlich, ob das Niedersinken des Hauptes bereits den Tod andeutet oder sich gleichrangig zu den anderen Symptomen verhält.916 Lucan. 6,98–100 Schon treibt das Schicksal … Schwächegefühl und Tod fallen ineins : Nach einer Steigerung des Erzähltempos (durch iam … iam ) wird zum ersten und einzigen Mal in Lucans Beschreibung eine äußere Macht angeführt, die auf das Geschehen Einfluss nimmt: das Schicksal ( fatum ).917 Die Nennung erfolgt unmittelbar vor der Steigerung zum Hö- hepunkt der Pest, an der z. B. Vergil Tisiphone aus der Erde hat aufsteigen lassen.918 Für dessen Beschreibung wurde herausgearbeitet, dass die Klimax durch den Fortgang der Heiler bedingt war (vgl. Komm. zu Georg 3,552). Lucan hingegen kennt keinen Widerstand (weder rituell noch pharmazeutisch), der Höhepunkt des Sterbens wird allein durch das Schicksal herbei- geführt, das nun Erkrankung und Tod zusammenfallen lässt.919 Hiermit greift der Dichter die916 Gardner (2019, 197f.) hat eine Parallele zum Anfang der Ursachenforschung plausibel gemacht (Lucan. 1,70–72): invida fatorum series summisque negatum | stare diu nimioque graves sub pondere lapsus | nec se Roma ferens . Neben der ebendort gelieferten komplexen metaphorischen Deutung, die in einem Symptom ein gesamtes politisches System widergespiegelt sieht, ist die schlichtere Möglichkeit einer Parallelität von Makro- und Mikrokosmos zu erwägen, wie sie in dieser Ausarbeitung bereits für viele der Seuchenbeschreibung beobachtet wurde. Vgl. zur Ursachenforschung auch Lebek (1976), 45–74.
917 Schotes (1969, 113) spricht bei Lucan von einem „umrißlosen Begriff des Fatums, aus dem er das meiste des philosophischen Gehalts entfernt und den er in gewisser Weise durch den Fortunabegriff ergänzt. Fatum übernimmt so eine bunte Fülle von Funktionen, vereint die sonst den Göttern an-gehängten Schwächen, Unstetigkeiten, Launen summiert auf sich, nähert sich hier der Tyche, ist dort – und oftmals sehr bestimmt – identisch mit der stoischen Allgottheit.“ Zur mittlerweile häu-fig als synonym eingestuften Verwendung von fatum und fortuna bei Lucan vgl. Radicke (2004), 91f. mit Anm. 35 (Forschungsüberblick) und 36 (Stellensammlung) sowie Glaesser (2018), 116–124. Doch sind zahlreiche Differenzierungsversuche unternommen worden: Kißel (1979, 79) bspw. sieht eine solche insbesondere durch einen höheren Grad an Anschaulichkeit begründet, vgl. auch Walde (2012). Die Implementierung des stoischen fatum in eine negativ-teleologische Geschichtsauffassung vor dem Hintergrund der Theodizee erinnert an die problematische Fatumskonzeption, die oben für den Oedipus beschrieben wurde (vgl. Narducci 2002, 162–164 und Anm. 49, S. 103). Damit stehen Seneca und Lucan in der Tradition eindeutig der Vorstellung des Manilius gegenüber.
918 Mit der Vorlage teilt die Stelle auch das allmähliche Erstarken der Krankheit (Verg. georg. 3,552f.): pallida Tisiphone Morbos agit ante Metumque, | inque dies avidum surgens caput altius effert . (‚Jetzt tobt Tisiphone, die, bleich aus dem stygischen Dunkel ins Licht entlassen, Krankheiten und Furcht vor sich hertreibt, und erhebt das Haupt in ihrer Gier Tag um Tag höher .‘)
919 Dass das gesamte Ereignis (inkl. der Hungersnot) dadurch final motiviert ist, wie Radicke (2004), 96f. für einige der Katastrophen im Werk aufgezeigt hat, kann aufgrund der Parallelen zumindest für wahrscheinlich gehalten werden.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Plötzlichkeit der Krankheit auf, die (als Grundelement des Thukydides) bereits bei Ovid eine Modifikation erfuhr, indem die Kranken am verseuchten Wasser starben (vgl. oben Komm. zu Ov. met. 7,571). Lucan. 6,100f. Mit der Menge an Toten erstarkt die Pest : Angesichts des Umstands, dass die Beschreibung weder eine psychische Reaktion der Be- troffenen noch den Versuch, die Erkrankung durch Medizin zu bekämpfen, enthält, scheint an dieser Stelle das Element der Ansteckung durch gegenseitige Pflege verarbeitet. Doch erhält die Pest durch die Entkopplung des Wachstums von der direkten menschlichen Interaktion eine Eigendynamik, die fast personifizierte Züge aufweist und an Vergils Tisiphone erinnert. Im Zusammenhang mit dieser selbstständigen Verbreitung macht sich Lucan die pathogene Wir- kung der Leichen, die Ovid vorbereitet und er selbst in Form der Pferdekadaver aufgegriffen hat, zunutze und entwickelt den Gedanken konsequent fort. Es ist dabei kaum zu ermitteln, ob der Dichter eine frühe Beobachtung exponentieller Ansteckungsraten verarbeitet oder ledig- lich in einem feinen Sprachspiel den gegenläufigen Niedergang der Menschen (eig. im Prozess des Fallens, cadentum ) und die Erhebung der Krankheit zeichnen wollte. Lucan. 6,102f. ihre beklagenswerten Mitbürger … deren Bestattung : Von einem unpersönlichen Blickwinkel auf die Erkrankten, in dem diese lediglich in Form ihrer Körper genannt werden ( mixta iacent incondita vivis | corpora ), wechselt der Erzähler un- vermittelt zu einer größeren Anteilnahme: In miseri (‚beklagenswert‘) findet sich nicht nur das erste wertende Attribut der Beschreibung,920 sondern die Soldaten werden anstelle in ihrer mi- litärischen Funktion als römische Bürger ( cives ) markiert.921 Paradoxerweise dient dies jedoch nicht ihrer Würdigung – vielmehr unterstreicht der Status als Bürger Roms umso deutlicher,
920 Die Charakterisierung der Kranken und Toten als miseri verbindet sie mit den Soldaten der Gegen-seite, die jedoch als miserabile volgus (‚jämmerlicher Haufen‘) eine Abwertung erfahren. Die von Gall (2005, 104) an anderen Stellen beobachtete Gleichwertigkeit der Heere (jeweils als Ansammlun-gen von Bürgern) scheint folglich an dieser Stelle durch den Kontrast cives – volgus nicht bestätigt. Eine plausible Erklärung für die negative Wertung der Soldaten kann jedoch darin liegen, dass es sich um Caesars Gedanken handelt, der in cernit als Subjekt auftritt, und nicht um die des Erzählers (vgl. König 1957, 52). Ludwig (2014, 115) sieht hier die Sicht der Caesarianer wiedergegeben, was jedoch eine schwer nachvollziehbare Trennung innerhalb des Heeres und eine merkwürdige Selbst-betrachtung nach sich zöge.
921 Zur Bezeichnung cives in Lucans Darstellung der Massen vgl. Delarue (2010), insbes. 134–136. Eine besondere Tragik ergibt sich, wenn man eine Aussage aus Curios Rede an Caesar (Lucan. 1,279) ver-gleicht, nach der dessen Sieg seine Anhänger zu Bürgern machen sollte. Wie im Folgenden deutlich wird (s. Komm. zu 6,106–109), macht der Krieg die Bürger zu hostes , zu Feinden Roms. Die Kraft, welche die Soldaten aus diesem Zustand zu befreien vermag, wird hier jedoch nicht im Sieg einer der Parteien gesehen – sondern im Tod.
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welches Unrecht den Toten widerfährt, wenn sie ohne Befolgung der Bestattungsriten vor die Zelte geworfen werden. Die Ungeheuerlichkeit der Tat strahlt naturgemäß auf die Täter aus, d. h. hier die anderen Soldaten. Es ist bezeichnend, dass der Dichter in diesem Zusammenhang auf jegliche Wertung oder Analyse verzichtet. Schließlich war insbesondere das Motivelement der ausbleibenden Bestattung oder des Kampfes um Scheiterhaufen in der sonstigen Tradition von einer Klage über den mit der Pest einhergehenden Werteverfall begleitet.922 Diese Aus- sparung ist für die Deutung der Beschreibung im Bellum civile von großer Bedeutung: Gerade die Schlichtheit der Darstellung, die nüchtern-deskriptive Schilderung der achtlos aus dem Zelt geworfenen Leichen, ohne dass eine Wertung erforderlich wäre, bildet den Zustand des Bürgerkriegs und seine Wertelosigkeit ab.923 Lucan. 6,103b–105 Dennoch linderten diese Leiden … Ernte aus der Ferne : Bereits in der Einleitung zu Lucan (Kapitel 2.1.7 mit Anm. 61, S. 114) war festgestellt wor- den, dass die Rückkehr zur historischen Erzählung sehr plötzlich wirken kann. Vor dem Hin- tergrund der Motivtradition wurde der jähe Abbruch der Darstellung unmittelbar nach dem Verfall der Bestattungsriten, der bei Lucans Vorgängern nicht selten das grauenvolle Ende darstellte, als Relativierung des Übels aufgefasst.924 Innerhalb der eigentlichen Seuchenbe- schreibungen hatte bislang lediglich Grattius eine Überwindung der Krankheit nahegelegt (Kapitel 2.1.3). Anders als bei ihm ist an der vorliegenden Stelle jedoch kein Ortswechsel von- nöten: Die örtliche Lage des Heers selbst (nicht Pompeius) ist es, die Linderung verschafft.925 In Anbetracht der Fortführung der Handlung durch Pompeius nach seinem Belieben (6,118 ut primum lib uit ), ohne dass noch eine Nachwirkung der Pest ersichtlich würde, erscheint922 Vgl. Ov. met. 7,609 et iam reverentia nulla est , Manil. 1,888 cesserat officium morbis und Oed. 65 nullus est miseris pudor . Dabei ist zu betonen, dass Lucan Ovid und Seneca ansonsten sehr intensiv in seiner Beschreibung rezipiert, vgl. Vallillee (1960), 146–150 und 156.
923 Die Untersuchungen zum Werteverfall bei Lucan sind ausgesprochen zahlreich, vgl. exemplarisch Schmitz (2007) und Ambühl (2015), 44f. mit Anm. 108. Nach der oben ausgeführten Deutung trifft denn auch Grimms (1965, 75) Kritik nicht den Kern, wenn er Lucans Beschreibung vorwirft, sie bilde die menschliche Realität hinter dem (möglicherweise) historischen Ereignis nicht ab.
924 König (1957, 51) begründet die Linderung zum einen mit der Handlung, da eine zu starke Schwä-chung des Heeres die sich anschließende militärische Aktion unglaubhaft hätte wirken lassen, zum anderen mit dem dadurch stärker pointierten Paradox, dass der Belagerer in größerer Not ist als der Belagerte.
925 Dabei kommen ihm alle anderen Elemente gegen das Feuer der Krankheit zu Hilfe, Wasser in Form des Meers ( pelagus ), die Nordwinde als Luft ( Aquilones ) und die Erde durch die Küste ( litora ), die in V.105f. durch collibus , aere , undis aufgegriffen werden. Dass die Aufzählung durch die Versorgungs-schiffe beschlossen wird, liegt nicht nur an deren logistischer Bedeutung, sondern sie versinnbild-lichen auch das Zusammenspiel der Elemente, indem sie, vom Wind über das Meer getragen, die Frucht der Erde ( messis ) zum Heer transportieren.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung die Annahme plausibel, dass in minuere (‚linderten‘) in der Tat die Aufhebung der Krank- heit impliziert wird.926 Es ergibt sich nichtsdestoweniger ein Spannungsverhältnis zwischen der Einleitung zur Pest ( inde labant populi ), dem sich anschließenden Massensterben, der Vermischung von Lebenden und Toten und der unbekümmerten Fortführung der Kriegs- handlungen. Dieses Spannungsverhältnis dient m. E. der Hervorhebung der Gewöhnlichkeit dieses Phänomens im Bürgerkrieg.927 Lucan. 6,106–109 Aber der Feind … von einem engen Belagerungsring eingeschlossen : Der Abschnitt zur Hungersnot in Caesars Lager (6,106–117) wird dadurch eingerahmt, dass der erste und der letzte Vers mit dem Wort hostis (‚Feind‘) enden. Dabei bringt die Begriffs- verwendung den widernatürlichen Konflikt des Bürgerkriegs auf den Punkt:928 Zunächst ist hostis eigentlich eine Bezeichnung für den äußeren Feind des römischen Reiches und wird bis- weilen als ‚Staatsfeind‘ wiedergegeben.929 Im Zuge des Bürgerkriegs wird der Ausdruck jedoch auf die jeweils andere (römische) Partei bezogen, in 6,106 aus der Perspektive des Pompeius, in 6,117 aus der Caesars. Zudem lädt die Rahmung zu einer Gegenüberstellung der Satzum- gebung ein – ist es zu Beginn der Erzählung ein hostis liber , der sich frei bewegen kann, steht am Schluss obsidet hostem , sodass die Soldaten des Pompeius als Gefangene erscheinen. Dieser Grundsituation, die Caesar im Vor- und Pompeius im Nachteil sieht, entspricht jedoch nicht die Heimsuchung des Heeres durch die Hungersnot. Das Paradox wird durch die Rahmung auf die Spitze getrieben, indem sich Caesars Heer als frei und hungernd, dasjenige des Pompei- us als belagert und satt ( saturum tamen ) gegenüberstehen. Lucan. 6,109f. Da die Halme … noch nicht zur Frucht angeschwollen sind : Die Fokussierung auf die Ähren hat Lucan der Beschreibung seines Onkels (Oed. 49b–51) entnommen, bei dem das Getreide trotz Wachstum keinen Ertrag einbrachte. Hieran zeigt sich ein bedeutsamer Unterschied: Handelte es sich im Oedipus um ein Anzeichen der Sympatheia des Kosmos, liefert Lucan sofort eine rationale Erklärung. Mit nondum (‚noch nicht‘) unter- streicht er, dass die Hungersnot kein Ausdruck kosmischen Leidens ist, sondern das Getreide 926 Dies scheint auch Gardner (2019, 199) anzunehmen.
927 Diese Gewöhnlichkeit besitzt einerseits ein Fundament in der historischen Wirklichkeit, anderer-seits im Werk selbst, in dem Massensterben als Alltag erscheint; vgl. Lucans zynische Verarbeitung von Vergils berühmter Lukrezrezeption (Lucan. 4,393f.): felix qui potuit mundi nutante ruina | quo iaceat iam scire loco. (‚Selig ist der, der beim Schwanken des Weltengebäudes bereits einen Platz zu kennen vermochte, an dem er Ruhe fände.‘)
928 Ähnlich prägnant ist auch die thematische Klammer bei Manilius, vgl. Komm. zu Manil. 1,883.
929 So schließt Lucan im ersten Buch (1,23) den Katalog potenzieller äußerer Feinde mit der bitteren Be-merkung nondum tibi defuit hostis . (‚Noch mangelte es dir nicht an [äußeren] Feinden.‘)
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lediglich mehr Zeit bräuchte. Damit knüpft der Dichter möglicherweise auch an das Caesarbild des Epos an, das von allzu großer Hast und Ungeduld geprägt ist (vgl. Anm. 880, S. 301) – so würde die zu lange Dauer, welche die Hungersnot unter seinen Soldaten bedingt, zur Strafe für sein übereiltes Handeln. Neben dieser zeitlichen Dimension nutzt Lucan auch die räumliche Vorstellung, indem er die (erwünschte) Höhe der Ähren mit dem sich anschließenden Nieder- werfen der Soldaten kontrastiert.930 Lucan. 6,111–116 zur Speise des Viehs … bis zu diesem Zeitpunkt unbekannt : Beschreibungen von Soldaten, die in ihrem Hunger alles nur Erdenkliche zu sich nehmen, um ihren Hunger zu stillen, finden sich sowohl innerhalb als auch außerhalb des Epos.931 Vor dem Hintergrund der Motivtradition erinnert die hier explizierte Vertierung der Menschen an Vergils Viehseuche, an deren Schluss (Verg. georg. 3,534–536) die Bauern ihre Feldfrüchte mit eigenen Händen eingruben und ihre Transportwagen auf den Schultern trugen, da all ihre Nutztiere von der Pest dahingerafft wurden. Dabei entspricht das rasende Verhalten auch dem werkintern vermittelten Bild von Caesars Truppe:Bei den Caesarianern akzentuiert Lucan wiederholt ihre Verrohung: Sie sind bereits über
Jahre hinweg Soldaten und haben sich an das Morden gewöhnt. In ihrer schwelgerischen
Neigung zu Mord und Verbrechen spiegeln sie den furor ihres Feldherrn wider.932 Dass sich in der Notsituation das Wesen der Caesarianer offenbart, entspricht den auch sonst in dieser Ausarbeitung getätigten Beobachtungen im Rahmen einer Anthropologie der Katastrophe (vgl. Kapitel 1.6). An dieser Stelle fallen das allgemein Menschliche und das Charakteristikum des Heers ineins. Dies wird insbesondere im direkten Vergleich mit dem des Pompeius deutlich: In der Entscheidungsschlacht bei Pharsalos (7,501f.) charakte- risiert Lucan die Parteien mit den Worten civilia bella | una acies patitur, gerit altera (‚Ein Heer erduldet den Bürgerkrieg, das andere führt ihn‘) und zeichnet damit die Caesarianer als aktiven, die Pompeianer als passiven Part der Grausamkeiten. Diese Rollenverteilung spiegelt sich auch in der Reaktion auf die Katastrophen wider: Während die Pest ertragen
930 Vgl. König (1957), 52.
931 Vgl. mit Chiesa (2005, 35) Lucan. 3,345–348 und 4,410–414, aber auch Sen. dial. 5,20,2f . Eine sprach-liche Untersuchung zeigt, dass sich Lucan bei der Beschreibung der Soldaten kunstvoll des Sach-feldes der Kriegsführung bedient ( spoliare , frangere , diripiens ), um deren eigentliche Profession zu pervertieren.
932 Gall (2005), 105.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung und ausgestanden wird,933 versuchen die Hungernden, ihren Zustand mit allen Mitteln zu ändern.934 2.2.8 Silius Italicus Sil. 14,580–584 Unverzüglich hätte … wenn nicht … hätte : Die Einleitung stellt dem Rezipienten einen alternativen Handlungsverlauf in Aussicht, der jedoch durch die Pest verhindert wird, sodass wie bereits bei Lucan von einer retardierenden Funktion gesprochen werden kann. Konkret handelt es sich um eine abgeschwächte Form von ungeschehenem Geschehen, das ein traditionelles Element der epischen Tradition darstellt und dessen Funktion Heinz-Günther Nesselrath wie folgt beschrieben hat: [O]n the one hand, such an episode might have brought the ultimate objective of the epic action to a much earlier conclusion (as in the case of Patroclus almost conquering Troy), on the other, it might have totally prevented this ultimate objective from happening […].
Moreover, this poetic device can save a narrative (especially one depicting fights, as the
Iliad so often does) from becoming monotonous and enrich an epic tale with a consider-able additional amount of interest and suspense.935 Um eine abgeschwächte Form handelt es sich deshalb, weil die bereits angedeutete Eroberung der Mauern936 von Syrakus durch Marcellus schließlich erfolgt, die Pest demnach tatsächlich lediglich einen zeitlichen Aufschub bedeutet.937 Nichtsdestoweniger wird insbesondere die zweite Funktion, nämlich das Durchbrechen der Monotonie und die Erhöhung der Spannung im Moment der ersten Rezeption, durch die Schilderung erfüllt. Nach dem Sieg der römischen Truppen in der Seeschlacht wäre eine unmittelbar anschließende Einnahme der Stadt flacher
933 Im Zuge einer stoischen Lesart des Epos (vgl. bspw. Wiener 2006 und zur Übersicht Ambühl 2015, 11f.) mag sich hierin auch die Akzeptanz des fatum widerspiegeln, die zur Erduldung der Krankheit und des Todes anhält, vgl. bspw. Sen. epist. 54 und Grimm (1965), 70 zu Manilius.
934 Wie durch den Kommentar zu Lucan. 6,80 und das Zitat von Gall deutlich wird, entsprechen die Heere damit der Disposition der Feldherrn bei Dyrrhachium, vgl. ebenso König (1957), 52: „Lukan ist es also gelungen, im Verhalten der Heere den typischen Gegensatz der beiden Führer durchschei-nen zu lassen.“ Möglicherweise fand Lucan die Opposition von Duldsamkeit und Tatendrang bereits in Vergils Pferd und Stieren angelegt, vgl. Klepl (1940), 74f. und Raabe (1974), 51.
935 Nesselrath (2019), 566, vgl. zum Phänomen generell Ders. (1992).
936 Zur Untersuchung der Rolle von Mauern in den Punica (insbesondere derjenigen Roms) vgl. v. Albrecht (1964), 24–46.
937 Diese Unterscheidung trifft auch De Jong (1987), 262 Anm. 59.
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ausgefallen:938 Beispielsweise hätte die psychologische Motivation, welche die Soldaten nach der Überwindung der Krankheit über die Möglichkeit des Schlachtentods empfinden und der Silius breiten Raum gibt (14,627–637), keinen Platz gefunden.939 Sil. 14,583 Missgunst der Götter : Als eine von zwei Ursachen der Pest wird die Missgunst der Götter ( invidia deum , Wir- kursache) genannt.940 In Abgrenzung von Lucans historischem Epos (vgl. Anm. 55, S. 112) findet bei Silius erneut ein Götterapparat Anwendung.941 Anders als bei Ovid, der mit Juno die göttliche Intervention in die Motivtradition eingeführt hat, wirkt die invidia an dieser Stelle vom Kontext nur bedingt motiviert.942 Neben der bereits genannten Funktion der Span- nungserzeugung wird Marcellus dadurch, dass sein Erfolg vor Syrakus die invidia deum weckt, in eine Reihe mit Regulus und den 300 Fabiern gestellt, da der Ausdruck ausschließlich im Zusammenhang mit ihnen genannt wird.943 Schließlich handelt es sich bei der Zuschreibung einer Katastrophe an die Götter wohl um die gängigste Form der Sinnsuche, wie bereits in der bisherigen Auseinandersetzung mit der Motivtradition deutlich geworden ist. Eine Reduktion938 Dahingehend ist möglicherweise auch die Änderung bei Silius einzuordnen, dass beide Kriegspartei-en gleichermaßen von der Pest heimgesucht wurden, s. u. Komm. zu Sil. 14,614–617.
939 Vgl. Burck (1984), 53. Hierin zeigt sich ein fundamentaler Unterschied zu Lucan: War dort die feh-lende Anbindung an die epische Handlung augenfällig (vgl. oben Kapitel 2.1.7), hat Silius die Pest nicht nur zum Zwecke der Retardation genutzt, sondern auch im weiteren Verlauf aufgegriffen. So verbergen die Soldaten ihre durch die Krankheiten abgemagerten Gesichter in ihren Helmen, auf dass der Feind keine Hoffnung schöpfe (14,636f.; zum Helm als Mittel der Überdeckung vgl. auch Sil. 10,648f. [Alter] und 12,553f. [Tränen]).
940 Zu Seuchen als gottgesandte Kompensation von Erfolgen vgl. Horstmanshoff (1989), 181; der spät-antike Historiker Orosius (Hist. 3,21,7) sieht hierin gar ein Wirkprinzip römischer Geschichte. Die Beschreibung bei Livius (25,26,7–15) kennt keine metaphysische Begründung. Hingegen findet sich bei Diodorus Siculus (14,70,4ff., Rezeption des Philistos von Syrakus) eine Pest bei der Belagerung von Syrakus durch die Karthager im Jahr 396 v. Chr. als Folge des Götterzorns, weil jene den Tempel der Demeter und der Kore geplündert hatten (vgl. Lane Fox 2020, 280). Auf diese Schilderung wird im Folgenden noch mehrfach eingegangen, da Silius bemerkenswerte Parallelen zu ihr aufweist.
941 Vgl. Baier (2006 [2010]).
942 Vgl. Vallillee (1960), 170, der nicht ganz nachvollziehbar von dem Umstand, dass die Pest auf bei-den Seiten wütet, darauf schließt, dass es sich bei der invidia deum hier nicht um ein traditionelles episches Darstellungsmittel handelt. Zum Spannungsverhältnis der Wirkursache und der späteren Ausbreitung, das diese Verwirrung ausgelöst haben mag, vgl. unten Komm. zu Sil. 14,614–617. Die Funktion der Pest vor allem in der Darstellung der virtus des Marcellus sehen zu wollen (vgl. Gard-ner 2019, 225) wird der Gesamtdarstellung nicht gerecht.
943 Vgl. Sil. 6, 400–402 und 7,58–61, möglicherweise auch mit Varro durch Sil. 9,425 ira superum .
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung des Ausdrucks auf ein „rein topische[s] Versatzstück“944 täuscht jedoch über die vielseitigen Implikationen an dieser Stelle hinweg. Sil. 14,583 pelagique labore parata: Der dunkle Ausdruck hat zu unterschiedlichen Interpunktionen, Konjekturvorschlägen und semantischen Diskussionen um das Wort labor geführt.945 Duff hat in seiner Loeb-Aus- gabe versucht, labor als Ursache für die Pest anzusehen und interpretiert es entweder als Aus- druck für die Leichen im Wasser (vor ihm bereits von Ernesti vertreten)946 oder die durch die Anstrengung der Seeschlacht ausgelaugten Soldaten, was in Bailey einen Kritiker fand.947 Deshalb bezieht Bailey (wie bereits Drakenborch) parata auf gaudia und interpungiert nach divum , wodurch jedoch der Ablativ in invidia an inimica nur unbefriedigend angeschlossen wird.948 Heinsius erwog als Konjektur pelagine vapore coorta , sodass der Ausdruck pelagi vapo- re erneut eine Ursache der Pest anzeigen konnte.949 Inhaltlich ist Heinsius zuzustimmen: Eine multiple Verursachung war bspw. auch in Ovids Beschreibung zu beobachten. Es bleibt jedoch zu erörtern, ob eine Änderung von labore in vapore tatsächlich notwendig ist, oder ob nicht auch labor die geforderte Semantik bietet. In dieser Sache ist zunächst festzustellen, dass labores pelagi bei Silius zwei Mal die Gezeiten beschreibt.950 Der Ausdruck kann sich demzufolge auf natürliche Prozesse beziehen, die eine Aktivität des Meeres einschließen. Eine solche Aktivität muss m. E. nicht nur in den Bewe- gungen bei Ebbe und Flut gesehen werden, sondern könnte auch in der Abgabe von Dämpfen bestehen. Weiterhin ruft ein Blick auf die Tradition in Erinnerung, dass bereits bei Vergils Beschreibung ein Ausdruck vorhanden war, der den Kommentatoren ebenfalls Probleme be- 944 So Kißel (1979), 81 Anm. 241.
945 Watt (1985, 279) nimmt sogar einen Versausfall nach 14,582 an und rekonstruiert: pestis | < orta gra- ves multis morbos mortesque tulisset > | invidia divum pelagique … , weil er ebenfalls (s. im Folgenden) den Anschluss von inimica pestis an invidia divum als problematisch ansieht. Delz sieht den Ausfall in seiner Teubneriana zumindest als Möglichkeit an.
946 Vgl. bei Lemaire (1823), 202: „In calamitate pugnae navalis cogitari possunt adfecta ex humoribus marinis, frigore, cadaveribus, quibus pollutum caelum dicitur, corpora: quae omnia per partes mox poeta enumerat.“
947 Vgl. Duff (1934), 314 und Bailey (1959), 179: „I do not know which of these suggestions to call the more implausible.“ Zu Duffs Verteidigung ist anzumerken, dass Leichen im Wasser durchaus Teil von Seuchenbeschreibungen waren (vgl. Amm. 19,4,5).
948 Auch Delz spricht sich im textkritischen Apparat der Teubneriana für einen Bezug von invidia di- vum zu parata aus und verzichtet auf jegliche Interpunktion.
949 Vgl. Ruperti (1798), 391f.: „qui recte monuit, inter causas pestilentiae etiam maris ac fluuiorum exha-lationes recenseri.“ Drakenborch (1717, 732f.) generell zustimmend, jedoch gegen das von Heinsius vorgeschlagene coorta , da parata ausreiche.
950 Vgl. Sil. 3,58 und 14,348, jedoch in 4,53 für Schlachten zu Wasser und zu Lande.
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reitete: der morbus caeli (vgl. Komm. zu Georg. 3,478). Es erscheint durchaus plausibel, dass Silius seinen Vorgänger an dieser Stelle nachgeahmt hat, möglicherweise ebenfalls mit Impli- kationen kosmischer Sympatheia.951 Demzufolge ist dafür zu plädieren, weder eine Änderung der Überlieferung vorzunehmen, noch parata auf gaudia zu beziehen, sondern den gesamten Vers als Apposition zur Pest zu verstehen. Die gaudia sind aus dem Zusammenhang unmittel- bar begreiflich und benötigen keinen erklärenden Zusatz. Sil. 14,586f. hüllte Cyane … in den infernalischen Gestank des Cocytus : Mit der bildhaften Beschreibung des Gestanks (im Lat. eigentlich mit dem Attribut ‚stygisch‘ versehen, hier demnach synekdochisch aufgefasst und substituiert) konkretisiert Silius das in der Einführung genannte vergiftete Klima ( polluto caelo ) und verbindet Elemente der Motiv- tradition mit der Miasmentheorie. Dass der Fluss Cyane (und nicht etwa der für sein sumpfiges Mündungsgebiet berüchtigtere Anapus) in einer derart redundanten Beschreibung mit der Un- terwelt verbunden wird, muss nicht nur der etablierten Einbindung derselben in die Motivtradi- tion geschuldet sein (vgl. oben Komm. zu Sen. Oed. 160–163);952 vielmehr kann es sich auch um eine Anspielung auf den ätiologischen Mythos des Flusses handeln, wie er bei Ovid beschrieben wird.953 Das Sumpfgebiet als Ursache für eine Heeresseuche nennt bereits Thukydides bei der Belagerung von Syrakus durch die Athener, was wiederum von Diodor für die Karthagerkriege aufgegriffen wurde.954 In der Schilderung des Silius ist der Sumpf ebenfalls nicht von sich aus pathogen, sondern nur in Verbindung mit der Hitze (personifiziert in Titan=Apoll=Sol).955 Sil. 14,588 entstellte die Jahreszeit des Herbstes : Die explizite Nennung des Herbstes knüpft an Vergil (Georg. 3,479) an, der in der für Seu- chen typischen Jahreszeit die Ursache für die Aktualisierung des Krankheitspotenzials sah.956951 Auch Spaltenstein (1990, 330f.) schließt eine Verbindung der Ausdrücke nicht aus. Zur semantischen Überschneidung von labor und morbus vgl. Lumpe, TLL VII,2 (1970), s.v. labor , 792, 64.
952 Zur Redundanz vgl. Spaltenstein (1990), 331. Ansonsten wird die Unterwelt von Silius ausgeklam-mert. Diese Beschränkung kann wie bei Lucan durch den Gesamtzusammenhang erklärt werden: Am Ende des 13. Buches befindet sich die Totenbeschwörung Scipios im Anschluss an die literari-sche Tradition (vgl. Ahl 2010), sodass der Einbezug der Unterwelt im Folgenden nicht nur sachlich, sondern auch kompositorisch fern liegen musste.
953 Den Mythos, nach dem Cyane Plutos Raub der Proserpina zu verhindern sucht und aufgrund ihres Misserfolgs in Tränen zerfließt, beschreibt Ovid (Met. 5,409–437); vgl. dazu Krebs (2021), 343f.
954 Vgl. mit Seibert (1983, 80–85) Thuc. 7,47,2 und Diodorus Siculus 14,70,5, daneben Liv. 25,26,7 ( locis natura gravibus ), ungenau daher Breitwieser (2018), 143.
955 Damit reiht sich die Darstellung in die Vorstellungswelt der Rezipienten ein, vgl. die bekannte Be-schreibung bei Varro rust. 2,5,14 mit Leven (1998), 157.
956 Ebenso möglich ist eine Bezugnahme auf Liv. 25,26,7 nam tempore autumni et locis natura gravibus .
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Silius hingegen beschreibt den Herbst für sich genommen als positiv, da er reich an Gaben ist. Diese werden jedoch durch die verpestete Luft, die durch die Hitze aus den Sümpfen hinü- berzieht, entstellt und unbrauchbar gemacht ( foedavit ).957 Hierdurch kann Silius neben Vergil auch an Seneca anknüpfen, bei dem das Leiden der Natur selbst eine größere Rolle gespielt hatte, und verzichtet darauf, die allgemeine Vorstellung des Herbstes als Krankheitsmonat aufzugreifen (vgl. Anm. 302, S. 169).958 Sil. 14,589 so schnell wie ein Blitz : Das Genitivattribut ( fulminis ) zum instrumentalen Ablativ ( rapido igni ) wurde an dieser Stelle als Adjektiversatz (‚blitzartig‘) aufgefasst, sodass es als Vergleichsebene zum Entzünden des Herbstes dient.959 Eine interessante Parallele findet sich in der Beschreibung der Belage- rung von Syrakus, wenn der römische Soldat Cimber eine Fackel auf einen Turm wirft, der als technisches Meisterwerk beinahe wie ein Organismus wirkt. Auch an dieser Stelle nutzt Silius den Vergleich der Schnelligkeit des Blitzes, um den Einsturz und die Einäscherung des Turmes zu versinnbildlichen, wohlgemerkt in Form eines direkten Vergleichs.960
957 Eine nicht nur konzeptuelle, sondern sprachliche Parallele sieht Vallillee (1960, 172) zu Sen. Oed. 154–158.
958 Bemerkenswert ist vor diesem Hintergrund auch eine Formulierung bei Vegetius (mil. 3,2,12): Si au- tumnali aestivoque tempore diutius in isdem locis militum multitudo consistat, ex contagione aqua- rum et odoris ipsius foeditate vitiatis haustibus et aere corrupto perniciosissimus nascitur morbus, qui prohiberi non potest nisi frequenti mutatione castrorum . (‚Wenn die Soldatentruppe zur Herbst- oder Sommerzeit länger am selben Ort Halt macht, entsteht aus der Verderbnis der Gewässer, aus der Scheußlichkeit ihres Gestanks, aus der Tatsache, dass jene das krankmachende Wasser trinken, und aus der vergifteten Luft eine sehr gefährliche Krankheit, die man nur verhindern kann, indem man den Lagerplatz häufig wechselt.‘)
959 Vgl. LHS II 64, anders Spaltenstein (1990), 331, der fulmen als Metapher auffasst.
960 Sil. 14,305–315: huic procul ardentem iaculatus lampada Cimber | conicit et lateri telum exitiabile figit. | pascitur adiutu<s> Vulcanus turbine venti, | gliscentemque trahens turris per viscera labem | perque altam molem et totiens nascentia tecta | scandit ovans rapidusque vorat crepitantia flammis | ro<bo>ra et, ingenti simul exundante vapore | ad caelum, victor nutantia culmina lambit. | implentur fumo et nebula caliginis atrae, | nec cuiquam evasisse datur, ceu fulminis ictu | correptae rapido in cineres abi<e>re ruinae. (‚In diesen Turm schleuderte von weitem Cimber eine brennende Fackel und durchbohrte seine Flanke mit dem tödlichen Geschoss. Vulkan (=Feuer) frisst sich hindurch, unter-stützt vom Wehen des Windes, und zieht das wachsende Unheil durch die Eingeweide des Turms, erklimmt jubelnd das hohe Ungetüm und die immer von Neuem auftauchenden Stockwerke; in Eile verschlingt er mit seinen Flammen das knackende Eichenholz und er züngelt unter gewaltigem Aus-stoß von Qualm in den Himmel siegreich über das schwankende Dach. Dieses füllt er mit Rauch und schwarzem Nebeldunst und niemand erhält die Gelegenheit zur Flucht – wie von einem schnellen Blitz getroffen stürzte der Turm zu Asche zusammen.‘)
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Sil. 14,590 Die Luft war dunkel durch dichte Nebelschwaden : Nach der ortsbezogenen Angabe der Erwärmung der Sümpfe im Gebiet des Cyane und der dar- aus resultierenden Verpestung der Luft folgt eine allgemeine Beschreibung derselben. Silius spricht als einziger der Dichter explizit von Nebel,961 der sich in der Luft bildet, wenngleich die Dunkelheit in der Naturbeschreibung Senecas eine bedeutende Rolle spielte (vgl. oben Komm. zu Sen. Oed. 1–5). Im Erzählzusammenhang gewinnt der Nebel ähnlich ominösen Charakter wie bereits im Oedipus : Seneca hatte zuvor in seinen Naturales Quaestiones geschrieben, Sonne und Wärme ver- trieben Nebel,962 weshalb es plausibel erscheint, dass der trotz der großen Hitze auftretende Nebel den Rezipienten die Widernatürlichkeit der göttlich verursachten Pest vor Augen führen sollte. Sil. 14,591 die glühende Erde bekam auf ihrem erkrankten Rücken Risse : Die Konzeptionalisierung der Erde mittels menschlicher Körperteile hat Silius bereits bei der geographischen Beschreibung Siziliens zu Beginn des Buches angewandt.963 Vor dem Hin- tergrund der Motivtradition wirkt eine Erkrankung der Erde wie eine Reminiszenz an die kos- mische Sympathie, die insbesondere im Zusammenhang mit Senecas Schilderung beobachtet worden ist. Die Vorlage für dieses konkrete Bild scheint jedoch nicht bei Seneca, sondern bei Ovid zu liegen, dessen Boden als vermeintlich kühlendes Element durch die Erkrankten eben- falls zu glühen ( fervet ) begann (vgl. Anm. 593, S. 236). Sil. 14,592 gab … weder irgendeine Nahrung noch irgendeinen Schatten : Dass die Erde den geschwächten Kranken keinen Schatten spendet ist eine implizite Aus- drucksweise für das ausbleibende Wachstum von Bäumen, die einen solchen Schatten spenden können, wodurch sich eine Parallele zu Seneca ergibt.964 Die Unfruchtbarkeit der Erde war bereits Element vieler Darstellungen und erhob stets hohe Ansprüche an das zeitliche Vorstel-961 Nur Lucan. 6,91f. hatte die dunkle Wolke, die sich aus den Pferdekadavern erhoben hat, mit dem Hauch von den nebelbedeckten Felsen ( nebulosis saxis ) auf Nesis verglichen. Bruère (1959), 239 und Vallillee (1960), 170 sehen Ovid (Met. 7, 528–532) als Vorlage.
962 Sen. nat. 5,9,5 Etiamnunc natura calor omnis abigit nebulas et a se repellit; ergo sol quoque idem facit. (‚Ferner vertreibt von Natur aus jede Hitze Nebel und stößt ihn von sich; also tut auch die Sonne dassel-be.‘)
963 Sil. 14,76–78 at qua diversi lateris frons tertia terrae | vergit in Italiam prolato ad litora dorso , | celsus harenosa tollit se mole Pelorus. Hierbei mag es sich um einen Einfluss römischer Geographie han-deln, die nicht nur Teile des menschlichen Körpers, sondern auch Formen von Gegenständen ver-wendete, um Inseln zu beschreiben, vgl. Borca (2000). Zu Silius’ großem Interesse an der Geographie vgl. v. Albrecht (32012), 813.
964 Sen. Oed. 154f. Non silva sua decorata coma | fundit opacis montibus umbras . (‚Nicht übergoss der Wald mit seiner Blätter Zier die Berge mit dunklem Schatten.‘)
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung lungsvermögen der Rezipienten; die größte Ähnlichkeit im Ausdruck scheint mit der kleineren Seuchenbeschreibung im dritten Buch von Vergils Aeneis zu bestehen.965 Sil. 14,593 schwarzer Dampf entwich im pechschwarzen Äther : An dieser Stelle findet sich der einzige Hinweis darauf, dass Silius womöglich auch die Be- schreibung des Grattius (Gratt. 375f.) kannte und als Vorlage verwendet hat: atque ater picea vapor expirabat in aethra . seu vitium ex alto spiratque vaporibus aether pestiferis.
… schwarzer Dampf entwich im pechschwarzen
Äther.
… oder dass die Krankheit aus der Höhe stammt und der Aether seuchenbringende Dämpfe aus-dünstet. Das Attribut pestifer wird weiter unten aufgegriffen (vgl. Anm. 997, S. 328). Über die sprach- liche und inhaltliche Anspielung hinaus scheint keine tiefere Referenz vorzuliegen. Denkbar ist höchstens, dass der Dichter an dieser Stelle eine Ablehnung der bei Grattius anempfohlenen Abkehr von der Ätiologie vornimmt. Sil. 14,594b–597 als erste … Bald … Daraufhin … Dann : Es ist auffällig, in wie rascher Aufeinanderfolge Silius den Tod der Tiere beschreibt, nur um schließlich zur Ansteckung der Menschen zu gelangen. Gerade mit Blick auf die Beschreibun- gen von Ovid und Lucan, die jeweils die Tierkadaver nutzten, um die Verbreitung der Krank- heit zu begründen, erscheint diese labes Tartarea bei Silius als selbstständige und lebendige Entität, was auch durch die Fortbewegungsart des Kriechens ( serpere ) unterstrichen wird.966 Diese Art der Darstellung dürfte nicht zuletzt ein Mittel gewesen sein, um Spannung zu erzeu- gen, und steht damit in deutlichem Gegensatz zu der von Grimm für den historischen Typus behaupteten „nüchterne[n] Registrierarbeit“.967
965 Vgl. (mit Vallillee 1960, 168) Verg. Aen. 3,142 arebant herbae et victum seges aegra negabat . (‚… das Gras brannte und die erkrankte Saat versagte uns die Nahrung.‘). Bemerkenswert ist auch die Be-zeichnung der seges als aegra , was bei Silius durchaus im vitiato dorso eine Entsprechung gefunden haben mag.
966 Vgl. Verg. georg. 3,468f.: continuo culpam ferro compesce, priusquam | dira per incautum serpant contagia vulgus. (‚… diesen Krankheitsherd unterdrücke sofort mit dem Stahl, bevor sich die unheil-volle Ansteckung durch deine nichtsahnende Herde schlängelt .‘)
967 Grimm (1965), 228.
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Sil. 14,594 Ihre Macht spürten als erste die Hunde : Zur besonderen Rolle der Hunde, die in der Motivtradition damit einhergeht, dass sie zu- meist als erste sterben, vgl. Komm. zu Lucr. 6,1222b–1224.968 Sil. 14,594 nubibus atris: Otto Zwierlein schlug in einer Miszelle vor, anstelle des überlieferten atris müsse altis ge- lesen werden. Dies begründete er zum einen mit dem Referenztext der Georgica (3,546f.), zum anderen aufgrund der nach der Korrektur gelungeneren gedanklichen Abfolge; die Verschrei- bung wurde u. a. durch das Textumfeld ( ater , aethra ) begründet und Parallelen wurden auf- gezeigt.969 Nun zeigt sich Silius aber an gerade dieser Stelle in seiner Formulierung fast voll- ständig unabhängig sowohl von Lukrez, der in seiner Schilderung zum Avernersee (6,743f.) ebenfalls ein Vorbild geliefert hätte, als auch von Vergil selbst.970 Weiterhin lässt sich die von Zwierlein postulierte Polarität (Luft, Erde, Äther) nicht konsequent auf die Tiere (Erde, Luft, Erde) anwenden;971 stattdessen macht es den Eindruck, als wäre hier die bei Vergil beobachtete Gliederung nach Weltteilen (vgl. oben Komm. zur Stelle) in den Nachfolger projiziert worden. Die vielleicht anstößige Wiederholung von atris ist in der Sache begründet: Wurde vorher von der Ursache gesprochen, nämlich der Ausdünstung der Erde, die zur Bildung von schwarzem Dampf führte, wird dies in der Folge (logisch stringent und doch durch nubibus variiert) wie- der aufgegriffen. Aus diesen Gründen wurde an der Überlieferung nubibus atris festgehalten. Sil. 14,598 eiskalter Schweiß strömte aus dem Innern des Körpers : Bei diesem Symptom ergeben sich zwei Fragen, nämlich hinsichtlich seiner Stellung im Ka- talog und der Übersetzung des Ausdrucks per viscera . Während (erneut gemäß dem Katalog-968 Für den Humanisten Claudius Dausqueius Sanctomarius (1618, 633) erklärt sich das Hundesterben mit ihrem spezifischen Verhalten: „Est et in canibus peculiaris ratio, quia narem mergunt odoribus, et auram vitiatam uberius sibi inspirant“ (‚Es gibt für die Hunde eine eigene Erklärung, nämlich dass sie sich mit ihrer Nase in Gerüche stürzen und die vergiftete Luft in größerem Maße einatmen‘), s. außerdem die Diskussion bei Nardi (1647), 580f. Zur möglichen Inspiration dieser Vorstellung durch geogenetische Gasseen vgl. Anm. 337, S. 175.
969 Vgl. Zwierlein (1978), 62. Die Änderung wurde in der Teubneriana von Josef Delz im textkritischen Apparat unterstützt.
970 Die Unabhängigkeit in der Formulierung kann dennoch nicht über die Überschneidung in der Sache hinwegtäuschen: Beide Dichter beschreiben einen plötzlichen Tod der Vögel. Spaltensteins (1990, 332) Differenzierung in die Ansteckung in der Luft und den Kollaps verkennt, dass ein plötzlicher Tod bereits Teil der Tradition ist.
971 In der Reihenfolge folgt Silius eher Ovid (Met. 7, 536f.): strage canum primo volucrumque oviumque boumque | inque feris subiti deprensa potentia morbi (‚Zuerst wurde an Leichenhaufen der Hunde , Vögel , Schafe, Rinder und an wilden Tieren die Wirkmacht der plötzlich auftretenden Krankheit ersichtlich‘), vgl. bereits Drakenborch (1717), 733 und Bruère (1959), 239.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung prinzip a capite ad calcem , vgl. Kapitel 1.5.4 2a)972 der Fortgang von der Zunge über den Hals zur Lunge nachvollziehbar erscheint, wirkt der Schweiß, der über die Glieder strömt, fehl am Platz. Möglicherweise wurde die Aufnahme des Symptoms von Lukrez (6,1147 sudabant etiam fauces ) inspiriert, wo der Prozess des Schwitzens jedoch als Analogie Verwendung fand. Zu jener Stelle wurde bereits Theophrasts Theorie zu unterschiedlichen Formen von Schweiß er- läutert (vgl. Anm. 108, S. 128), die auch den Ausdruck per viscera erläutern kann – es handelt sich um den Schweiß, der aus dem Inneren des Körpers (durch die Eingeweide) nach außen tritt.973 Bei der Temperatur des Schweißes handelt es sich um eine Steigerung von Vergil, der durch einen Zusatz erklärt hatte, dass es jener kalte Schweiß ist, der den Tod ankündigt (vgl. oben Komm. zu Georg. 3,500–502).974 Sil. 14,600 verschriebenen Speisen /iussorum … ciborum: Um diesen Vers besteht sowohl in Fragen der Semantik der Satzbestandteile, der Syntax als auch der Textkonstitution Uneinigkeit. Die Notwendigkeit von Konjekturvorschlägen, welche die Konstruktion des AcI umzudrehen gedenken, wird mir auch nach mehrmaliger Prüfung nicht ersichtlich.975 Die trockenen Hälse sind problemlos als Subjekt aufzufassen, descendere kann absolut stehen und die Objektperiphrase alimenta ciborum iussorum er- scheint ebenso unproblematisch.976 War die Überlieferung akzeptiert, regten sich dennoch Unsicherheiten hinsichtlich der Bedeutung des iussorum . Bei Celsus ist eindeutig belegt, dass die Empfehlungen des Behandelnden mit iubere ausgedrückt werden, obwohl sich das Partizip nicht nachweisen lässt;977 das Tätigkeitsfeld von Militärärzten unterschied sich in Friedenszeiten nicht von dem normaler Ärzte und auch eine Behandlung von Wunden
972 Unter Berücksichtigung von Sil. 2,461–474, wo Silius die Symptome einer Krankheit in Sagunt voll-kommen losgelöst von diesem Gliederungsschema beschreibt, kann dessen Verwendung an dieser Stelle ebenfalls als Markierung der Bezugnahme auf die Tradition gesehen werden.
973 Vgl. ebenso Spaltenstein (1990), 332.
974 Vallillee (1960), 167 stellt außerdem Lucr. 6,1172 und Sen. Oed. 37 neben Silius, die jedoch lediglich lexikalische Überschneidung aufweisen.
975 Vgl. etwa Watt (1997–98), 154, der mit Drakenborch siccae zu siccas und iussorum zu haustorum ändert.
976 Vgl. Vetter, TLL V,1 (1911), s.v. descendo , 642,2ff. Ob es sich dabei um eine ‚banale‘ Ausdrucksweise handelt (so Spaltenstein 1990, 332), mögen andere beurteilen – ästhetisches Unbehagen bildet jedoch keine zureichende Grundlage für einen textkritischen Eingriff.
977 Vgl. Cels. 6,11,4 Sed inprimis nutrix cogenda est exerceri et ambulationibus, et iis operibus, quae superiores partes movent: mittenda in balneum, iubenda que ibi calida aqua mammas perfundere. (‚Aber insbesondere die Amme muss man dazu zwingen, sich sowohl durch Spaziergänge zu be-tätigen als auch durch Aktivitäten, die ihren Oberkörper in Bewegung bringen: Man soll sie ins Bad schicken und sie dazu anhalten , dort warmes Wasser über ihre Brüste zu gießen.‘), daneben 7,14,6 und 7,26,2c.
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schloss wohl die Verabreichung bestimmter Nahrungsmittel ein.978 Der explizite Verweis auf eine diätetische Maßnahme ist in der Motivtradition einzigartig, wenngleich in der Be- sprechung von Vergils Georgica (vgl. Komm. zu 3,527–30) eine Bezugnahme auf die Diätetik festzustellen war. In Anbetracht von Silius’ intensiver Vergilrezeption überrascht das Ele- ment daher nicht. Dass die Erkrankten nicht in der Lage sind, das Essen hinunterzuschlu- cken, kann (neben einer Rezeption von Lucr. 6,1148) eine Bezugnahme auf die Hungersnot bei Lucan sein, bei der die Caesarianer sich durch ihre ungewöhnliche Kost die Hälse von innen zerschneiden.979 Sil. 14,601 erschütterte die Lunge (pulmonem): An dieser Stelle findet sich die erste und damit einzige Nennung des Ausdrucks pulmo in der Motivtradition; entsprechend wird nur hier expliziert, dass die Lunge als für die Atmung zuständiges Organ angesehen wird.980 Dies ergibt sich zum einen durch die Verknüpfung mit dem Husten, zum anderen dadurch, dass der Symptomkatalog erneut a capite ad calcem (Zun- ge, Hals, Lunge) vorgeht, jedoch mit dem Atem den Weg aus der Lunge zurück bis zum Mund nimmt und danach wieder im Gesicht verweilt. Der Begriff wird in den Epen der Vorgänger (Vergil: 2, Ovid: 3, Lucan: 4) selten und beinahe ausschließlich in Schlachten zur Illustration von Verletzungen verwendet.981 Sil. 14,603 das als unangenehm empfundene Tageslicht : Die Lichtempfindlichkeit der Erkrankten ist in dieser Form ein neues Symptom in der Tra- dition, wenngleich bspw. die Rötung bei Lukrez (6,1146) oder das Brennen bei Vergil (3,505)978 Vgl. Wilmanns (1995), 125–128, Salazar (2013), 304 und Steger (2021), 357–360. Aussagekräftig ist Veg. mil. 3,2,6 (nach Einnahme schlechten Wassers): Iam vero ut hoc casu aegri contubernales opor- tunis cibis reficiantur ac medicorum arte curentur , principiorum tribunorumque et ipsius comi- tis, qui maiorem sustinet potestatem, iugis quaeritur diligentia. (‚Ferner bedarf es dafür, dass die nach einem solchen Fall erkrankten Kameraden durch gesundheitsfördernde Speisen gestärkt und durch die Heilkunst behandelt werden, der beständigen Sorgfalt der Anführer, der Tribunen und des Gruppenführers.‘)
979 Lucan. 6,115–117 quaeque per abrasas utero demittere fauces, | plurimaque humanis ante hoc incog- nita mensis | diripiens miles … (‚… was sie durch die aufgerissenen Hälse in den Magen herunter-bekommen – der Großteil war auf den Tischen der Menschen bis zu diesem Zeitpunkt unbekannt – reißen die Soldaten an sich …‘). Danach ist die Absolutheit von Vallillees (1960, 173) Aussage, eine Rezeption Lucans sei bei Silius nicht nachzuweisen, zumindest in Frage zu stellen, vgl. auch Spalten-stein (1990), 332.
980 Illustrativ ist ein Vergleich mit Verg. georg. 3,505f., den Spaltenstein (1990), 332 gar als Vorlage an-sieht.
981 So auch in Sil. 5,257 und 10,162.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung sie vorbereitet haben düfte.982 Möglicherweise hatte die Unfähigkeit, Licht zu ertragen, medizi- nische Implikationen. In seiner Abhandlung über die Krankheit insania schildert Celsus eine Diskussion, ob die Erkrankten dem Licht ausgesetzt werden sollten oder nicht:983 Nun hielten die Alten solche Kranken in der Regel deshalb in der Dunkelheit, weil es ihnen schadete, sich zu erschrecken, und weil sie meinten, gerade die Dunkelheit trage etwas zur Beruhigung des Gemüts bei. Aber Asklepiades sagte, als würde die Dunkel-heit selbst die Kranken in Schrecken versetzen, sie müssten im Hellen gehalten werden.
Nichts von beiden ist jedoch allgemeingültig: Denn den einen beunruhigt eher Licht, den anderen Dunkelheit; man findet auch solche, bei denen sich kein Unterschied in die eine oder andere Richtung feststellen lässt. Deshalb ist es das Beste, beides zu erproben und denjenigen, der sich im Dunkeln fürchtet, im Licht, und denjenigen, der sich im
Licht fürchtet, im Dunkeln zu halten. Wo aber kein solcher Unterschied besteht, muss man einen Kranken, wenn er bei Kräften ist, an einem hellen, wenn aber nicht, an einem dunklen Ort halten. Entscheidend ist an dieser Stelle der letzte Satz, da er nach der Diskussion um psychische Kon- sequenzen Licht und Schatten eine grundsätzliche Wirkung zuzuschreiben scheint. Sollte man beim Erkrankten keinen Unterschied feststellen, formuliert Celsus die Regel, dass der Ent- kräftete ( si non [ vires ] habet ) in der Dunkelheit behalten werden soll, die offenbar im Zweifel bei Schwäche vorzuziehen war.984 Die Unerträglichkeit des Lichtes kann demnach ein Indiz für den jetzigen oder künftigen Zustand des Kranken darstellen.
982 Vallillees (1960, 169) Idee, hier werde die Sterbeszene des Stiers aus Verg. georg. 3,523 aufgegriffen, ist nicht naheliegend.
983 Cels. 3,18,5: Fere vero antiqui tales aegros in tenebris habebant, eo quod is contrarium esset exterreri, et ad quietem animi tenebras ipsas conferre aliquid iudicabant. At Asclepiades, tamquam tenebris ipsis terrentibus, in lumine habendos eos dixit. Neutrum autem perpetuum est: alium enim lux, alium tenebrae magis turbant; reperiunturque, in quibus nullum discrimen deprehendi vel hoc vel illo modo possit. Optimum itaque est utrumque experiri, et habere eum, qui tenebras horret, in luce, eum qui lucem, in tenebris. At ubi nullum tale discrimen est, aeger, si vires habet, loco lucido; si non habet, obscuro continendus est.
984 Eine Parallele findet dieses Vorgehen laut Veg. mul. 2,95 in der Behandlung der Hydrophobie bei Pferden: Cui hac ratione succurres: sanguinem ei de inferioribus detrahes et a cibariis abstinebis, in loco clauso ut lumen videre non possit constitues , magno silentio aquam in situla vel alveo ita ap- ponis, ne audiat sonitum. Zur Parallele von Hydrophobie und Wahnsinn beim Menschen vgl. May (2014), 120.
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Sil. 14,606f. Den ausgezeichneten Krieger … raffte der Tod in Untätigkeit dahin : Mit dem ausgezeichneten Krieger tritt (neben Marcellus) der einzige Personentypus unter den sterbenden Massen hervor.985 In ihm wurde in erster Linie die Szene des Pferdes verarbei- tet, das ausschließlich bei Lucan. 6,84 als belliger sonipes mit dem Krieg verbunden wurde. Hinsichtlich der Motivelemente scheinen jedoch eher Vergil und Ovid als Vorbilder gedient zu haben.986 Auffällig ist dabei, dass die szenische Gestaltung bei Silius nur bedingt wieder aufgegriffen wird, da insbesondere die Inszenierung des gewaltsamen Sterbens ausgespart wird.987 Pferd und Krieger verbindet der starke Kontrast zwischen den Errungenschaften der Vergangenheit, der damit verbundenen Tatkraft und der durch die Krankheit hervorgerufe- nen Situation, die nur einen Tod in Untätigkeit zulässt.988 Diese Todesart steht in besonderem Spannungsverhältnis dazu, dass der Krieger bereits kampfbereit ist; die Rüstung ( arma ), die er trägt, ist dabei aber nicht nur Signal seiner Kampfbereitschaft, sondern auch kennzeichnend dafür, dass nichts vor der Krankheit zu schützen vermag.989 Die Unwürdigkeit des Sterbens durch die Pest wird nach ihrer Überwindung erneut aufgegriffen, wenn die Soldaten mit Freu- de in den Kampf ziehen, um in der Schlacht zu sterben – ihre Kameraden, die unehrenhaft dahinsiechten, werden bemitleidet.990985 Bezeichnenderweise wird der bellator im Gegensatz zu den anderen Personentypen der Tradition (vgl. Anm. 411, S. 193) ausschließlich durch seine Leistungen im Krieg charakterisiert, ohne dass weiter auf seinen inneren Zustand hingewiesen würde. Hierdurch lässt sich auch eine Verbindung zu dem bereits in Lucr. 6,1245 beobachteten gestörten Tun-Ergehen-Zusammenhang ziehen.
986 Vgl. Gardner (2019), 230f.
987 Vor dem Hintergrund, dass Silius eigentlich „rich in the grotesque and ingenious treatment of de-ath“ (Hutchinson 1993, 289) ist, können hierfür zwei Gründe angeführt werden: Erstens wurde das Sterben der Menschen bereits unmittelbar vorher ausgemalt, sodass eine gewisse Eintönigkeit droh-te. Zweitens liegt der Schwerpunkt nun eindeutig auf der Entwertung der Verdienste und des Kriegs-ruhms, den Silius damit unterstrich.
988 Dass Silius an die Stelle von Ovids (Met. 7,544) letum iners ein letum ignavum gesetzt hat, weist eine chiastische Vorgehensweise zu Lucan auf, der die ignavos aestus bei Ovid (7,529) zum caelum iners verändert hat (vgl. oben Komm. zu Lucan. 6,89f.).
989 War bereits auf die Kriegsmetaphorik insbesondere im Zusammenhang der Beschreibung medizi-nischer Behandlungsversuche hingewiesen worden (s. Komm. zu 14,609), steht an dieser Stelle ein Soldat der Krankheit gegenüber und trägt das Bild auf die Handlungsebene.
990 Vgl. Sil. 14,627–634. In der Vorlage bei Livius (25,26,11) führt der Wunsch nach dem Tod in der Schlacht sogar dazu, dass die Soldaten vereinzelt unter die Feinde stürmen. Silius greift diesen As-pekt jedoch nicht auf, wenngleich damit eine Parallele zum Motivelement der Selbsttötung (Lukrez, Ovid, Seneca) hätte hergestellt werden können. Bei Diodorus Siculus (14,71,3) findet sich Neid auf den Schlachtentod aufgrund der großen Schmerzen der Erkrankten. Interessant ist auch ein Ver-gleich der Soldaten mit den Meuterern bei Lucan, die darum bitten, dass es ihnen erlaubt sei, im Alter an Krankheiten zu sterben (Lucan. 5,282 liceat morbis finire senectam ) – eine bewusste Verkehrung epischen Heldentums. Schließlich ist noch auf Parallelen in der Darstellung der Erkrankten und von Soldaten in der Schlacht hinzuweisen, vgl. Erbig (1931), 60f.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Sil. 14,607f. Ins Feuer geschleudert wurden die Abzeichen der Männer : Spaltenstein deutet das Verbrennen der militärischen Abzeichen (vermutlich torques , armilla , phalerae o.Ä.)991 als Mittel zur Verdeutlichung der Unwürdigkeit des Todes.992 Darüber hinaus ist das Handeln der Soldaten jedoch als Ausdruck einer Relativierung bisheriger Wertungsmaßstäbe und Hierarchien zu verstehen, wie oben auch in der Be- schreibung des Soldaten deutlich wurde: Ebenso wie die Rüstung keinen Schutz gegen die Krankheit gewährte, kann kein Verdienst davor bewahren. Vor diesem Hintergrund gewinnt superba neben der Bedeutung des Stolzes auch die des Übermuts, da im Ange- sicht der Krankheit ein Spannungsverhältnis zwischen der vermeintlichen Bedeutung der Abzeichen (und damit des militärischen Erfolgs) und ihrer tatsächlichen Nichtigkeit ent- steht.993 Sil. 14,609 Die Medizin ging vor dem Übel in die Knie : Die Personifikation der Medizin teilt Silius mit Lukrez (6,1179), wählt mit succubuit jedoch ein Bild der Unterlegenheit, das auch im militärischen Zusammenhang Verwendung findet.994 Mit der gedanklichen Abfolge ‚Scheitern der Medizin – Verfall des Bestattungsritus‘ schließt Si- lius an Manilius (1,887–890) an.995 Insgesamt reiht sich der Dichter nahtlos in die Tradition ein, indem im Scheitern der Medizin eine Grundvoraussetzung dafür gesehen wird, dass Mensch und Gesellschaft kein Mittel mehr zur Verfügung steht, um der Krankheit zu begegnen. Bei Silius ist das Massensterben die Folge, ohne jedoch die Drastik Lucans aufzugreifen, der die Sol- daten Kranke und Leichname aus den Zelten werfen ließ (Lucan. 6,103 spargere funus erat ).996 991 Vgl. Maxfield (1981), 86–95.
992 Vgl. Spaltenstein (1990), 332.
993 Dass es sich bei dem Verbrennen der Abzeichen um einen symbolischen Akt handelt, wird auch durch einen Vergleich mit der Belagerung von Sagunt deutlich (2,600–608), wo dessen Einwohner all ihre Habseligkeiten (inklusive ihrer Waffen) auf einem großen Scheiterhaufen verbrennen, weil Iuno mit Tisiphone den Wahnsinn in die Stadt gebracht hat. Nichtsdestoweniger begründet Silius das Vorgehen der Menschen damit, dass dem Feind nichts in die Hände fallen solle.
994 Vgl. OLD s.v. succumbo (3a), 1858. Damit erinnert die Szenerie an das Schlagen einer Schlacht zwischen Krankheit und Medizin, wie es bereits für Thukydides und Ovid beobachtet wurde (vgl. Anm. 535, S. 223).
995 Bemerkenswert ist auch die Parallele im Bild zu Manil. 4,73–76, in denen es um die Unberechenbar-keit von Krankheiten geht: ecce levis perimit morbus graviorque remittit; | succumbunt artes (‚am Boden sind die Künste‘) , rationis vincitur usus, | cura nocet, cessare iuvat, mora saepe malorum | dat pausas; laeduntque cibi parcuntque venena ,vgl. dazu auch Lühr (1969), 129f. Der Gedanke der Un-berechenbarkeit von Krankheiten und der daraus resultierenden Machtlosigkeit der Medizin findet sich bereits bei Solon (frg. 13, 57–62 2West) und noch bei Prokop (Pers. 2,22,32–34).
996 Vgl. Spaltenstein (1990), 333.
329
Sil. 14,609b–612 Hoch häuften … die Krankheit übertrugen : In vier Versen skizziert Silius zwei mögliche Reaktionen der Soldaten, indem er die jewei- ligen Resultate ihrer Handlungen zeichnet: Auf der einen Seite stehen in Entsprechung zu den stets höher werdenden Leichentürmen riesige Haufen von Asche, wenn die Soldaten sich dazu entscheiden, ihre Kameraden zu verbrennen und zu bestatten. Auf der anderen Seite sieht man unbestattete Leichname, wie sie in allen Beschreibungen als Indiz des Werteverfalls Verwendung gefunden haben. Ein wichtiger Unterschied zu den Vorgängern besteht in der Explizierung des Wissens um die Ansteckung: War bereits in der Beschreibung des Thuky- dides deutlich geworden, dass die Athener die Erkrankten mieden und ein Erfahrungswissen hinsichtlich der Ansteckungsgefahr bezeugten (vgl. Kapitel 1.5.3), wird an dieser Stelle zum ersten und einzigen Mal in der Motivtradition geäußert, dass die Bestattungen aufgrund der Furcht vor Ansteckung über Berührung unterbleiben.997 Das Wissen um die Ansteckung, das bislang tendenziell auf der Ebene des Erzählers verblieb, wird demnach in die Handlungsträ- ger verlegt.998 Das Interesse des Dichters liegt dabei weniger in der Darstellung medizinischen Wissens als in der Zeichnung der Psychologie der Soldaten, die auch im Anschluss an die Pest breiten Raum einnimmt (vgl. Komm. zu 14,580–584). Sil. 14,613 Das Unheil des Acheron … wuchs mit seiner Nahrung : Die Vorstellung, dass die Pest mit der Zeit und ihren Opfern wächst, wurde von Vergil (Georg. 3,552f.) durch Tisiphone begründet, die ihr Haupt höher und höher in die Luft empor- hebt. Das Element dient hier nicht dazu, innerhalb des römischen Lagers das Sterben noch zu vergrößern (wie etwa bei Lucan. 6,100f.), sondern der zusätzlichen Begründung der Aus- breitung der Krankheit, die eine wichtige Voraussetzung für die sich anschließende Gleich- heit beider Seiten bildet. Dabei tritt die Eigendynamik der Krankheit im Vergleich mit Ovid oder Lucan, bei denen die Ausbreitung im Zusammenhang mit der Verwesung von Tierka- davern stand, deutlich hervor. Die Fortbewegungsform der sich ausbreitenden Krankheit, das Kriechen ( serpere ), weckt nach 14,596 erneut die Assoziation einer Schlange ( serpens , vgl. Anm. 555, S. 228) und damit verbunden den Gedanken an eine unberechenbare Bedrohung, die erst dann sichtbar wird, wenn es zu spät ist. Die Wahl desselben Verbums ( serpere ) zeugt dabei nicht nur von einer einheitlichen Vorstellung, sondern suggeriert neben der gleichen Be- troffenheit der Parteien auch eine gleiche Abfolge des Geschehens.997 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Verwendung des Attributs pestifer , das sich in der Motivtradition außer bei Silius nur bei Gratt. 376 findet, der bereits oben (Komm. zu 14,593) als mögliche Quelle aufgezeigt wurde.
998 Wohl zu weit geht daher Harper (2017, 109), wenn er von einer Gesellschaft spricht, der „no prior social learning“ in Hinsicht auf Seuchenbewältigung zuteilwurde.
330
2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung Sil. 14,614–617 erschütterte die Mauern … dasselbe Antlitz des Todes : Die auffällige Betonung der gleichen Betroffenheit von Römern, Syrakusanern und Kartha- gern hat Burck zusammen mit anderen Abweichungen zu der Annahme verleitet, dass Silius an dieser Stelle nicht Livius zugrundegelegt haben kann, in dessen Darlegung die Karthager von der Pest heftiger betroffen sind als die Römer.999 Mit Nesselrath ist jedoch eher davon aus- zugehen, dass die Abänderung der Vorlage als Ergebnis der Bezugnahme auf die Motivtradi- tion anzusehen ist:1000 Beinahe alle Vorläufer haben das Motivelement der Gleichheit der Men- schen vor dem Tod verarbeitet. Dass es Silius an der vorliegenden Stelle insbesondere darum ging, dieses Element aufzugreifen, zeigt das dafür in Kauf genommene Spannungsverhältnis zur invidia deum am Anfang der Beschreibung, die eine gleiche Betroffenheit beider Parteien durch eine Verselbstständigung der Krankheit zumindest nicht nahelegt.1001 Sil. 14,618–620 Dennoch bricht … ein einziges unversehrtes Haupt : Diese Verse sind m. E. entscheidend für das Verständnis der Seuchenbeschreibung: Sie wer- den hier als Gnome ( fregit als gnom. Perfekt daher im Präsens übersetzt) aufgefasst, die sich aus dem unmittelbaren Zusammenhang herauslösen lässt und Anspruch auf überzeitliche Gültigkeit erhebt.1002 Gardner hat in ihrer Besprechung der Stelle zu Recht betont, dass sich die Figur des Marcellus der gleichschaltenden Kraft der Pest widersetzt und als Individuum inmit- ten anonymer Leichenhaufen hervortritt.1003 Doch es geht nicht primär um die Darstellung der virtus des Marcellus1004 – seine clementia wird erst am Schluss des Buches bei der Verschonung
999 Vgl. Burck (1984), 46 und Liv. 25,26,12 multo tamen vis maior pestis Poenorum castra quam Romana <adfecerat; nam Romani> diu circumsedendo Syracusas caelo aquisque adsuerant magis . (‚Viel stär-ker aber traf die Gewalt der Pest das Lager der Punier als das der Römer; denn die Römer hatten sich durch die lange Belagerung von Syrakus in größerem Maße an Klima und Wasser gewöhnt.‘)
1000 Vgl. Nesselrath (1986), 220f., der einen weiteren Grund darin sieht, dass die Leistung der römischen Eroberer nicht dadurch geschmälert werden sollte, dass vor allem die Feinde dezimiert wurden. Spaltenstein (1990, 333) bleibt mit seiner Aussage „[l]’idée tragique de l’égalité devant le malheur aura paru à Sil. plus efficace“ allgemein.
1001 Gardners (2019, 223) Konzentration auf eine metatextuelle Bezugnahme auf Lucan in Form des ea- dem leti imago ist angesichts ihrer These verständlich, aber dennoch als selektiv einzustufen. Vgl. Vallillee (1960), 173, der im Gegenteil überhaupt keine Rezeption Lucans annimmt (was ebenso zu relativieren ist, vgl. Appendix A2).
1002 Vgl. LHS II 318f. Eine solche Doppelbödigkeit liegt angesichts der Verbindung zwischen Marcellus und dem Kaiser nah, vgl. Ripoll (1998), 460f.
1003 Vgl. Gardner (2019), 227f. Die von ihr im Folgenden getätigten Beobachtungen zur Vereinigung der Mengen unter der Leitung des caput treffen freilich ebenso für die hier vertretene Deutung zu.
1004 Burck (1984, 52–57) hat herausgearbeitet, dass bei der Einnahme der Stadt sogar eher die Soldaten mit Rückgriff auf die Seuchenbeschreibung in den Blick genommen werden als ihr Anführer.
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von Syrakus in Szene gesetzt.1005 Vielmehr liegt der Schwerpunkt auf dem Verhältnis des Kol- lektivs zum leitenden Individuum und der Feststellung, dass die Römer auch in größter Not durchzuhalten vermögen, solange ihr Kaiser unversehrt an der Spitze des Staates steht.1006 Die Äußerung ist insbesondere im Vergleich mit den Beschreibungen Ovids und Senecas bemer- kenswert, die in Form zweier Könige beide das Potenzial eines ähnlichen Gedankens aufwie- sen, das jedoch keine Umsetzung fand. Es handelt sich bei Silius um Herrscherpanegyrik,1007 die jedoch Grenzen kennt: Im Folgenden wird ersichtlich, dass es nicht Marcellus ist, der die Pest überwindet – wie der Fischer vom Meer abhängig ist, so kann auch jener nur günstigere Bedingungen abwarten; dennoch ist es seine Führung, die es den Römern ermöglicht, bis zur Änderung der widrigen Umstände auszuharren.1008 Sil. 14,620–622 Sobald also das Sinken des Sirius … Pest weniger ansteckend : Die Hitze des Hundssterns und die mit dem Aufgang des Sternbilds verbundenen Hunds- tage wurden bereits mehrfach im Zuge der Tradition aufgegriffen (vgl. Komm. zu Manil. 1,895 und Sen. Oed. 37–40), eine direkte Nennung des Sirius findet sich in der kleineren Seuchen- beschreibung in Vergils Aeneis .1009 Waren es bei Lucan günstige Sekundärfaktoren (Wind, Mee- resluft, Warentransporte), die den Pompeianern eine Krankheitslinderung verschafften, ist es hier die Hitze selbst, die nachlässt. Von der ursprünglichen Wirkursache, der Missgunst der Götter ( invidia divum ), ist keine Rede mehr. Anders als bei Grattius und bei Lucan ist die Überwindung der Pest nicht an die eigene Souveränität oder die Willkür der Fortuna gebun-1005 Vgl. Pomeroy (1990), 134f. und Ripoll (1998), 452–462, für unser Vorhaben insbesondere 460: „De plus, l’association seruator - conditor renvoire à la phraséologie du culte impérial: le princeps est con-sidéré à la fois comme le conservateur de l’État et comme son refondateur, à l’égal de Romulus.“
1006 Zum Haupt als politische Metapher speziell bei Silius vgl. Marks (2008) und generell zum Staat als Körper Walters (2020). Die Verbindung von Marcellus und Domitian (auch durch das Lob in 14,684–688) hat auch Stocks (2014, 161) herausgearbeitet.
1007 Möglicherweise lässt sich vor diesem Hintergrund auch die abweichende Charakterisierung des Marcellus im vierzehnten Buch erklären, die Burck (1984, 72) und Fucecchi (2010, 231) beobachtet haben. Zur kontrastreichen Konzeption von Marcellus und Claudius Nero im Moment des Sieges vgl. Ahl/Davis/Pomeroy (1986), 2536–2542.
1008 Die Bedeutung des Katastrophenmanagements der Kaiser (vgl. auch Anm. 203, S. 68) hat Toner (2013, 3) pointiert formuliert: „Disasters, whether in the form of events such as fires, floods or earth-quakes, gave emperors a tremendous opportunity to bring into operation that key Roman social force, patronage.“ Toner betont die selektive Durchführung dieser Maßnahmen, die stets im Blick behielten, welche Region sozialpolitisches Gewicht besaß.
1009 Verg. Aen. 3,140–142 linquebant dulcis animas aut aegra trahebant | corpora; tum sterilis exurere Sirius agros, | arebant herbae et victum seges aegra negabat . (‚Sie ließen ihre jungen Seelen oder schleppten ihre kranken Körper umher; da verbrannte der Hundsstern die Felder und machte sie unfruchtbar, das Gras brannte und die erkrankte Saat versagte uns die Nahrung.‘). Die Verse wurden oben bereits als Vorlage für die Unfruchtbarkeit des Bodens wahrscheinlich gemacht.
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2.2 Anmerkungen zu Text, Interpretation und Übersetzung den, sondern hängt einzig und allein vom Durchhaltevermögen der Betroffenen unter ihrem unbeschadeten Anführer ab. Der Erfolg des Unternehmens liegt demnach in den Händen des Feldherrn (Kaisers).1010 Sil. 14,623f. wie der Fischer : Das Gleichnis des Fischers, der nach dem Ende eines Sturms in See sticht, ist eines von drei- en im gesamten Werk mit grob vergleichbarer Thematik.1011 Es ist auffällig, dass der Fischer mit keinem Attribut versehen und die Affektebene ausgeklammert wird. Dadurch konzentriert sich das Gleichnis vollständig auf die Situation und das dargestellte Verhalten. Der Fischer bildet den Vergleichspunkt zu Marcellus, der den richtigen Zeitpunkt abgewartet hat, um nach der Abschwächung der Pest (~Abflauen des Sturms) den Angriff auf die Stadt zu beginnen (~in See zu stechen). Die Vergleichsebene strahlt dabei auf das Gleichnis aus, indem die Tätigkeit des Fischers mit Kriegsvokabular wiedergegeben wird ( invadit ).1012 Die Parallele zwischen Pest und Sturm besteht in erster Linie in der Machtlosigkeit des Betroffenen, der sich einer größe- ren Macht ausgeliefert sieht, aber die erste Möglichkeit zur Tat ergreift.1013 Sil. 14,625f. so bewaffnete schließlich Marcellus … dem Brauch gemäß gereinigt hatte : Bereits gegen Ende der Seuchenbeschreibung in Homers Ilias (1,314–317) gibt Agamem- non den Griechen den Auftrag, sich im Meer von der Befleckung der Pest zu reinigen. Unter der Reinigung ( lustratio ), die Marcellus durchführt, ist wohl nicht die lustratio exercitus zu verstehen, bei der vor dem Aufbruch des Heeres oder der Übernahme durch einen ande- ren Feldherrn mithilfe von Opfertieren (den sog. Suovetaurilia ) ein Kreis um das Heer ge- zogen wurde.1014 Worin genau die Reinigungsmaßnahmen bestehen, bleibt unklar. Wichtiger
1010 In diesem Prinzip sieht Harper (2017, 63) die Grundlage für den militärischen Erfolg im zweit-en Jahrhundert: „When aligned behind unified leadership, concentrated in a specific theater, and plugged securely into imperial supply lines, the Roman armies of the second century were an insu-perable force, even against the empire’s most formidable rival.“
1011 Vgl. v. Albrecht (1964), 193. Spaltenstein (1990, 333) will im Gleichnis eine Vertrautheit des Autors mit der Arbeit des Fischers entdecken.
1012 In seiner Verwendung des Ausdrucks cumba (Kahn, Nachen) für das Fischerboot kann Silius durch-aus von Sen. Oed. 166 inspiriert worden sein – es handelt sich um die einzige Verwendung des Wor-tes in den Punica .
1013 Die Konzentration auf diese Elemente lässt außer Acht, dass das Meer Voraussetzung und Hemm-nis für die Fischertätigkeit zugleich ist, was keine Entsprechung auf der Vergleichsebene findet. Es handelt sich nach v. Albrechts (1964, 116) Kategorisierung folglich um ein abstrakt-synthetisches Gleichnis.
1014 Zur Diskussion, ob es sich dabei um einen kathartischen oder apotropäischen Ritus handelt, bzw. zur Frage, ob dieses Begriffspaar an dieser Stelle nicht ohnehin einer Überarbeitung bedürfte, vgl. Rüpke (1990), 144–146; daneben von Osten (2011), 223–225, Rich (2013), 547 und Scheid (2016).
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als die religionsgeschichtliche Frage ist für das Verständnis zum einen die Betonung, dass Marcellus die Durchführung der Riten dem Brauch gemäß vornimmt ( rite ),1015 zum anderen der Umstand, dass es nicht Marcellus ist, der die Pest beseitigt: Vielmehr erweist er sich als Mensch, der sich in das Gesetz der Götter fügt und die rechten Maßnahmen zur rechten Zeit ergreift.10161015 Vgl. Spaltenstein (1990), 333f.
1016 Darin zeigt er sich erneut als Gegenbild zu Hannibal, der in seinem Kampf gegen die Götter die Hybris in Person darstellt, vgl. Tipping (2010), 63f. Für eine sehr ausführliche Literaturübersicht zu Hannibal u. a. in den Punica vgl. Siepe (2019), 23 Anm. 99.
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3 Rekonstruktion der Krankheitsvorstellung
Nachdem im zweiten Kapitel die einzelnen Beschreibungen der Motivtradition miteinander verglichen und erläutert wurden, folgt nun eine Auswertung der Quellen unter ausgewählten Gesichtspunkten mit dem Ziel der Rekonstruktion der Krankheitsvorstellung. Da es sich, wie in Kapitel 1.6 dargelegt, bei Katastrophen stets um ein soziales Phänomen handelt, insofern das biophysische Ereignis (in diesem Fall eine fiktive Epidemie) seine Bedeutung erst durch die Ver- arbeitung und Reaktion der Menschen erhält, folgt auch dieses Kapitel dieser Grundstruktur: Die Reaktion auf die Krankheit ist freilich stark davon beeinflusst, welches Bild sich Mensch und Gesellschaft von einer Krankheit machen, weshalb vor deren Betrachtung in einem ersten Schritt die Pathologie zu beleuchten ist. Zum Zweck terminologischer Differenzierung wird in der Folge das von Rothschuh ausgearbeitete Beziehungsgeflecht zwischen Arzt, Gesellschaft, Krankem und Krankheit mit geringen Modifikationen (s. Anm. 134, S. 41) zugrundegelegt.1 Abbildung 5: Relationsmodell von Karl Eduard Rothschuh (1975), 414. 1 Zur Erklärung der einzelnen Begriffe des Modells vgl. Rothschuh (1975), 415f.: Aegritudo = subj. Hilfsbedürftigkeit des Kranken. Nosos/Pathos = Klinischer Befund und pathol. Substrat der Krank-heit (Arzt–Krankheit). Insanitas = Kranker als Objekt ärztlicher Hilfe (Arzt–Kranker). Infirmitas = Kranker als Objekt sozialer Hilfe (Gesellschaft–Kranker). Insalubritas = Krankheit als Anlass öffent-licher Maßnahmen (Gesellschaft–Kranker).
335
3.1 Pathologie
Vor Beginn der chronologischen Untersuchung sind zwei erzählerische (und zugleich patholo- gische) Gemeinsamkeiten der Beschreibungen zu nennen. Zum einen findet eine Verdichtung der Seuchen auf ein einzelnes Infektionsereignis und ein in eine Szene gefasstes Infektions- geschehen statt, wie es auch für Thukydides charakteristisch war (s. Anm. 142, S. 44). Zum anderen zeugt die Entwicklung der Pest niemals von Irrationalität (bspw. im Sinne unerklär- licher Ausnahmen von der Infektion), sondern erfolgt stets vollständig. Damit widersprechen die Fiktionen sowohl modernen als auch (spät)antiken Beobachtungen zu Infektionsverläufen bei Epidemien.2 Es wurde jedoch bereits zu Beginn dieser Arbeit festgestellt (Kapitel 1.1), dass gerade in dieser künstlerischen Reduktion des Geschehens einer der Reize des Motivs liegt. Angesichts der daraus resultierenden Informationsdichte, die im Zuge der Betrachtung der Quellen im zweiten Kapitel offenbar wurde, sollte vielleicht eher von einer Konzentration der Krankheitsvorstellung gesprochen werden. Im Folgenden wird daher der Versuch unternom- men, die Krankheitstheorien3 der jeweiligen Werke herauszuarbeiten. Das Vorgehen bei die- ser Rekonstruktion orientiert sich an den Quellen: Diese blicken in der Regel zu Beginn auf die Ursache der Krankheit, bevor sie sich der näheren Beschreibung der Kranken über einen Zeitraum hinweg zuwenden.4 Entsprechend erfolgt unsere Untersuchung in drei Abschnitten: Ätiologie, Pathophysiologie und Symptomatik. Dabei werden nicht nur die im zweiten Ka- pitel kommentierten Primärquellen berücksichtigt, sondern auch die ihnen vorangestellten Theorieteile (Lukrez, Vergil) und thematisch verwandten Textstellen (Grattius, Ovid, Seneca) herangezogen. 2 Vgl. Slack (1988), 435f. und Meier (2005b, 96) zur Justinianischen Pest: „Das für Pestepidemien typi-sche schubweise Vordringen machte Angst; denn bestimmte Gebiete wurden von der Seuche erfaßt, andere aus unbekanntem Grund zunächst verschont, später aber dann doch noch heimgesucht. Wie sollte man dies erklären?“
3 D. h. systematisch durchdachte und begründete Vorstellungen von Krankheit, s. Anm. 50, S. 23. Nur wenige Dichter haben neben den eigentlichen Seuchenbeschreibungen eine systematische Darlegung zu Krankheiten verfasst, sodass eine Vorstellung von Ursprung und Wirkung der Krankheit bruch-stückhaft aus den fiktionalen Schilderungen zu gewinnen ist.
4 Vgl. Nutton (22013), 28. Ausnahmen von diesem Vorgehen, etwa bei Seneca, der den Symptomkata-log am Schluss der Beschreibung anführt, wurden bereits im Kommentar vermerkt.
336
3.1 Pathologie 3.1.1 Ätiologie In einem ersten Schritt stellt sich die Frage nach der Ursache der Krankheit, die auch in der An- tike nicht selten kausal überdeterminiert ist:5 Zunächst gibt es bei allen Beschreibungen eine primäre Ursache der Krankheit. Diese ist bisweilen von einer sekundären Ursache zu unter- scheiden, nämlich den konkreten Faktoren, welche die Pest unter den Lebewesen verursachen. So kann zwar im Falle von Homers Ilias keine solche Unterscheidung vorgenommen werden, da Apoll einziger und letzter Verursacher ist, in Sophokles’ Oedipus rex hingegen schon: Hier ist die Tat des Oedipus die erste, die Umwelt die sekundäre Ursache für die Erkrankung der Menschen (s. auch unten zu Seneca). Die ausführlichste Untersuchung über die Genese von Krankheiten liefert Lukrez am Schluss des sechsten Buches (1090–1137). Dasjenige, was den Organismus erkranken lässt, wird vom Dichter als morbida vis (‚krankmachende Kraft‘) bezeichnet,6 was jedoch im Fol- genden schlicht durch ‚Krankheit‘ wiedergegeben wird. Voraussetzung dafür, dass Krankhei- ten überhaupt entstehen, ist im Rahmen der atomistischen Lehre Epikurs das Vorhandensein von Atomen, die unserer Gesundheit schaden und zum Tod führen.7 Diese können jedes für sich genommen keine Krankheit herbeiführen, sondern müssen sich vorher zusammenbal- len.8 Für die Theologie des Epikureismus (und besonders für Lukrezens Streit mit der religio ) ist es dabei von größter Bedeutung, dass diese Zusammenballung von Krankheitsatomen zu- fällig geschieht (betont in 6,1096 casu, forte ). Entsprechend kann keine metaphysische Ursache und damit kein Zweck der Erkrankung angenommen werden.9 Stattdessen kann gerade die Grundlosigkeit des Leidens in Lukrezens Argumentation gegen die religio Verwendung finden. Sind nun entsprechende Atomkonfigurationen gegeben, interagieren diese mit dem caelum (‚Himmel‘ als den Menschen umgebender Raum inkl. der in ihm beobachtbaren Wetterphä-
5 Vgl. Lloyd (2021), 49: „Disease is a classic area where the phenomenon of over-determination oc-curs.“ Diese Überdeterminierung hat häufig eine Vermischung der Wirkvorstellungen zur Folge, wie sie von Michelakis (2019, 385) in Form von Vergöttlichung, Beseelung, Verdinglichung und Ver-menschlichung herausgearbeitet wurden.
6 Lucr. 6, 1090–1093: Nunc ratio quae sit morbis aut unde repente | mortiferam possit cladem confla- re coorta | morbida vis hominum generi pecudumque catervis, | expediam . (‚Nun will ich ausfüh-ren, welches Prinzip den Krankheiten zugrundeliegt oder wie eine plötzlich entstandene Krankheit Mensch und Vieh todbringendes Unheil bereiten kann.‘)
7 Lucr. 6, 1095f.: contra quae sint morbo mortique necessest | multa volare . (‚Auf der anderen Seite ist es notwendig, dass viele Atome umherfliegen, die uns Krankheit und Tod bringen.‘)
8 Dabei scheint sich die atomistische Theorie der Vorstellung der ‚Pestwolke‘ zu bedienen, s. Anm. 899, S. 305 und im Folgenden.
9 Grimm (1965, 48) betont zu Recht, dass die fehlende Einwirkung der Götter in Lukrezens Welt-bild von einem Atheismus zu unterscheiden ist; zu Lukrezens Auffassung der Götter vgl. Butterfield (2018).
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nomene), indem sie jenen durcheinanderbringen ( perturbarunt ) und die Luft zum anstecken- den Medium machen ( fit morbidus aër ).10 An dieser Stelle schließt die Atomtheorie nahtlos an die Vorstellung der Miasmentheorie an. Die Aufnahme der Krankheit kann jedoch, wie noch zu zeigen sein wird, nicht nur über die Luft, sondern auch über die Nahrung und das Wasser erfolgen. Im Rahmen seiner Erläuterung, wie die Luft durch Krankheitsatome zum Überträgerme- dium wird, gibt Lukrez noch eine Differenzierung des räumlichen Ursprungs an, der a) im extrinsecus (‚außen‘) liegen kann, wie es bei Wolken und Nebel der Fall ist, oder b) aus einer Fäulnis ( putor )der Erde aufsteige, wobei hier als notwendige Voraussetzung Feuchtigkeit ( pluvium ) und Wärme ( sol ) genannt werden.11 Während gerade das Aufsteigen der Krank- heit aus der Erde erneut an die Miasmentheorien anknüpft,12 wirft der Begriff des ‚Außen‘ die Frage danach auf, welches Außen gemeint sein könnte. Zwei Möglichkeiten wurden in Betracht gezogen: Entweder es handelt sich um fremde Länder, also um ein Außen innerhalb unserer Welt ( mundus ), oder die Wolke der Krankheitsatome dringt von außerhalb in unsere Welt hinein.13 Nach Pigeaud ist die Ambiguität des Begriffs dem Aufeinandertreffen der me- dizinisch-‚rationalen‘ und philosophischen Tradition geschuldet und sei darüber hinaus ein Schlüssel zum Verständnis der Pest am Schluss des Buches.14 Zuletzt hat Deufert sich in der Besprechung des Verses 955 für das Eindringen der Krankheit von außerhalb des mundus , d. h. die kosmische Deutung des extrinsecus , ausgesprochen.15 Dies geschah vermutlich nicht zuletzt, um die eigene Konjektur in Vers 954 durch mundus plausibel zu machen, wobei je- doch vorausgesetzt wurde, was zu erweisen ist. An dieser Stelle wird mit West und van Raalte10 Zur Einordnung dieser Vorstellung in den medizintheoretischen Diskurs vgl. den gleichnamigen Aufsatz von van Raalte (1979), für die Behandlung des Lukrez insbes. die Seiten 108–112.
11 Lucr. 6, 1098–1102: atque ea vis omnis morborum pestilitasque | aut extrinsecus ut nubes nebulaeque superne | per caelum veniunt aut ipsa saepe coorta | de terra surgunt, ubi putorem umida nactast | intempestivis pluviisque et solibus icta . (‚Und all diese Arten von Krankheiten, jede Pest kommt ent-weder von außerhalb wie Wolken und Nebel oben am Himmel, oder sie erheben sich mitten aus der Erde, in der sie oft entstehen, wenn diese – nass geworden und von unzeitigen Regenschauern und Sonnenstrahlen getroffen – sich Fäulnis zugezogen hat.‘)
12 Darüber hinaus entspricht dies wiederum dem bereits getätigten Vergleich mit dem Nebel, wie Lucr. 6,476f. zeigt: Praeterea fluviis ex omnibus et simul ipsa | surgere de terra nebulas aestumque videmus . (‚Außerdem sehen wir Nebelströme überall aus Flüssen und ebenso von der Erde selbst aufsteigen.‘)13 Vgl. u. a. Bailey (1947), 1720.
14 Vgl. Pigeaud (1988), 227f. Zur Vorsicht, die bei der Benennung der griechisch-römischen Medizin und deren Tradierung als ‚rational‘ an den Tag gelegt werden muss, siehe den Überblick über die medizinhistorische Forschungsgeschichte bei van der Eijk (2011), 22–29, insbes. 23f.
15 Vgl. Deufert (2018), 444f. mit folgendem Text: denique qua circum caeli lorica coercet | <mundum, elementa meant per caulas aetheris multa,> | morbida uisque simul, cum extrinsecus insinuatur.
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3.1 Pathologie (verweisend auf Lucr. 6,579) angenommen, dass extrinsecus sich rein geographisch auf andere Gebiete bezieht.16 Eine Unterstützung dieser geographischen Deutung des extrinsecus ist durch den nachfol- genden Abschnitt der Krankheitstheorie zu gewinnen, in dem der Dichter Beispiele für ende- mische Krankheiten aus allen Himmelsrichtungen anführt (6,1106–1108: Britannien, Ägyp- ten, Pontus, Gades).17 Wenn man sich dorthin begebe, geschehe es schließlich nicht selten, dass man Krankheiten begegne, die man aus der Heimat nicht kenne, und die einen aufgrund der novitas caeli (‚ungewohnten klimatischen Umgebung‘) überwältigen.18 Folglich muss es eine örtliche Gebundenheit von Krankheiten geben, die er in der Folge anhand dreier Beispiele ver- anschaulicht. Als Ursache für diese Unterschiede werden Komponenten geographisch-medi- zinischer Tradition genannt: Einerseits bestehen äußere Einflussfaktoren in Form des caelum , das in den vier Himmelsrichtungen jeweils unterschiedlichen Winden ausgesetzt ist. Diese äußeren Bedingungen wirken auf den Organismus ein, der sich ebenfalls je nach Lebensraum unterscheidet, wobei die individuellen Faktoren (etwa die ‚Typen‘) der hippokratischen Me- dizin hier lediglich auf die äußere Erscheinung (6,1112 color et facies ) reduziert sind.19 Durch diese unterschiedlichen Konfigurationen von äußeren klimatischen Bedingungen und innerer Prädisposition komme es dazu, dass die Krankheiten sich unterschiedlich auswirken.20 Ein Ortswechsel ist für Menschen jedoch nicht das einzige Risiko, mit den ungewohnten Krankheitsatomen in Berührung zu kommen. Diese können sich auch selbst bewegen und in andere Gebiete ‚kriechen‘ ( serpere , s. Komm. zu Sil. 14,594b–597), wo sie ihrerseits das caelum verderben.21 Von dort wiederum kann die Krankheit entweder in der Luft bleiben, wo sie von
16 Vgl. West (1979), 221 Anm. 2 und van Raalte (1979), 116f. Anm. 38, ebenso bereits Grimm (1965), 46. Einflüsse aus anderen Welten sind nach epikureischem Denkmodell prinzipiell möglich. Zumindest die Grundlage, das Vorhandensein mehrerer Welten, ist auch bei Lukrez (5,528 variis mundis , ebenso 5,1345) explizit genannt. Problematisch bleibt jedoch, dass es gerade im Zusammenhang der Krank-heitsschilderung (und auch im Vergleich mit den Wolken oder Nebel) eine derart explizite Äußerung über zwischenweltliche Interaktion der Atome nicht gibt, das mehrdeutige extrinsecus einmal aus-genommen. Entsprechend wird von einem innerweltlich autarken Erklärungsmodell am Ende von Buch 6 ausgegangen. Vgl. jedoch Kany-Turpin (1997, 184), die für eine „attitude réservée“ plädiert.17 Zur Tilgung von Lucr. 6,1109 vgl. Deufert (2018), 458f.
18 Nach Grmek (1984), 58 findet dabei eine Verschmelzung aus drei Traditionssträngen statt: Histori-ker (geographische Lage), Hippokratiker (Klima) und Epikureer (Atomtheorie); vgl. zur medizini-schen Tradition jüngst Rover (2021), 36f.
19 Vgl. Kollesch (1976), 274f.
20 Lucr. 6, 1117f.: inde aliis alius locus est inimicus | partibus ac membris; varius concinnat id aër . (‚Des-halb ist jeder Ort für andere Körperbereiche schädlich; die unterschiedliche Luft verursacht dies.‘)
21 Lucr. 6, 1123f.: fit quoque ut, in nostrum cum venit denique caelum, | corrumpat reddatque sui simile atque alienum . (‚So geschieht es auch, dass, wenn jenes schließlich zu unserem Himmelsabschnitt gelangt, es diesen verdirbt und ihn an sich angleicht, d. h. es für uns schädlich hinterlässt.‘). In die-
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den Lebewesen eingeatmet wird, oder Wasser und Feldfrüchte vergiften. Es ist bemerkens- wert, dass Lukrez den Ansteckungsweg der Luft ausführlich beschreibt (Einsaugen der ver- gifteten Luft), während derjenige über Wasser und Nahrungsmittel nicht näher beschrieben wird.22 Dies ist womöglich vor dem Hintergrund zu erklären, dass die Vergiftung der Luft als Teil medizinischer Theorie den Rezipienten ferner lag als etwa die der Nahrung.23 Der Dichter schließt den theoretischen Teil mit der Gegenüberstellung beider Formen der Ansteckung und der Feststellung, dass es unerheblich sei, ob ein Organismus sich selbst in ein fremdes Gebiet begibt und dort mit einer endemischen Krankheit anstecke oder ob die Krankheiten selbst ihr Gebiet verließen. In der eigentlichen Seuchenbeschreibung tritt letzterer Fall ein, da die Krankheit sich von ihrem Ursprungsort Ägypten nach Norden bewegt. Weniger umfangreich ist die theoretische Behandlung der Krankheiten in Vergils Georgica (3,440–469) vor der Beschreibung der Viehseuche. Der Ätiologie widmet der Dichter die ersten fünf Verse: Morborum quoque te causas et signa docebo. turpis ovis temptat scabies, ubi frigidus imber altius ad vivum persedit et horrida cano bruma gelu, vel cum tonsis inlotus adhaesit sudor et hirsuti secuerunt corpora vepres.Auch von Krankheiten will ich dich nun die Ursachen und Anzeichen lehren. Grässliche Räude sucht deine Schafe heim, wenn sich die Kälte des Regens und die starrende Winterkälte mit ihrem grauen Eis zu tief im Lebewesen einnisten; oder wenn nach der Scherung dreckiger Schweiß auf der Haut bleibt und stachelige Büsche ihre Körper zerschneiden. Es wird demnach zwischen den klimatischen (auffälligerweise ausschließlich in Form der Käl- te) und anderen Faktoren (Verletzung und Verunreinigung) unterschieden. In der Folge wird eine Vielzahl an Heilungsmethoden genannt. Im direkten Vergleich ist rasch festzustellen, sem Modell der Ansteckung zweier caela kann auch die Vorlage für Vergils Formulierung morbus caeli bestanden haben.
22 Lucr. 6, 1125–1130: haec igitur subito clades nova pestilitasque | aut in aquas cadit aut fruges persidit in ipsas | aut alios hominum pastus pecudumque cibatus, | aut etiam suspensa manet vis aëre in ipso | et, cum spirantes mixtas hinc ducimus auras, | illa quoque in corpus pariter sorbere necessest . (‚Daher taucht dieses plötzlich entstandende Unheil, diese neuartige Pest entweder in Wasser hinab, setzt sich auf Feldfrüchten fest oder auf anderes Menschenfutter und andere Viehspeise, oder die schäd-liche Substanz bleibt schwebend inmitten der Luft und, wenn wir atmen und sie aus der damit ver-mischten Luft aufnehmen, saugen wir auch jene notwendigerweise zugleich in unseren Körper mit ein.‘)
23 Eine vergleichbare Undeutlichkeit in der Beschreibung von Ansteckung über Wasser findet sich (mit Ausnahme von Lucan, s. Anm. 906, S. 307) auch in den anderen Seuchenbeschreibungen und wird im Laufe der Auswertung mehrmals angesprochen werden.
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3.1 Pathologie dass sich Lukrez im vorgeschalteten Teil mehr mit der Theorie, Vergil mehr mit dem prakti- schen Umgang mit der Krankheit beschäftigt.24 Neben Methoden zur Kühlung (Wasser, Schat- ten) stehen reinigende und versiegelnde Substanzen (Ölschaum, Quecksilber, Pech, Wachs und Nieswurz; Georg. 3,448–451) und sogar der invasive Eingriff des Aderlasses. All diese Maß- nahmen werden in der Seuchenbeschreibung nicht aufgegriffen – doch zunächst zur dortigen Ursachensuche. In den Georgica liegt eine doppeldeutige Ätiologie vor:25 Zum einen wird zu Beginn, vergleichbar mit Lukrez, eine physikalische Erklärung für den Ursprung der Krank- heit angegeben, nämlich eine Krankheitsatmosphäre in Verbindung mit großer Hitze (und nicht wie im Theorieteil mit großer Kälte). Dabei scheint ein analoges Verhältnis zwischen der Krankheit im Himmel und dem auf der Erde zu bestehen. Zum anderen findet sich am Höhepunkt der Krankheit das Auftreten der Furie Tisiphone, die eine metaphysische Ursache nahelegt. Auf diese Weise hat sie auch der Dichter Grattius aufgefasst, der in seiner Ätiologie lediglich die seiner Vorgänger kurz paraphrasiert, um sich schließlich von der Ursachensuche abzuwenden (V. 377): Die nachfolgende Betrachtung einzelner Krankheiten beginnt bei ihm entsprechend erst, nachdem die Ansteckung bereits erfolgt ist. Die kurze Beschreibung in der Aeneis nennt knapp als sekundäre Ursache das verdorbene Klima (3,138 corrupto caeli tractu ), primäre Ursache ist das Missverständnis des Orakelspruchs durch Aeneas und damit gött- licher Natur. In Ovids Beschreibung der Pest auf Aegina liegt erneut eine ausführlichere Untersuchung des Krankheitsursprungs vor. Aeacus differenziert in seinem Bericht zwischen der primären Ursache, dem (ungerechten) Zorn der Iuno, und dem, was die Krankheit verursacht, d. h. den physikalischen Prozessen. Neben den bekannten Elementen wie Hitze und Krankheitsstoff in der Luft ( aestus ) treten nun auch Dunkelheit, möglicherweise der Mond, und das Gift von Schlangen als Einflussfaktoren hinzu (7,528–535). Im Falle der Schlangen findet eine explizite Einschränkung auf das Element des Wassers statt; später erfolgt noch eine Ergänzung durch Leichen, die das Wasser zum Krankheitsüberträger machen. Bei genauerer Betrachtung wur- de deutlich, dass die Menschen auf Aegina von der Unbehandelbarkeit der Krankheit selbst- ständig auf eine göttliche Verursachung geschlossen haben. Auf vergleichbare Weise wenden sich die Römer im fünfzehnten Buch der Metamorphosen an das Orakel von Delphi, um die Ursache für die Vergiftung der Luft (15,626 vitiaverat auras ) in Erfahrung zu bringen – es folgt die Einrichtung des Asklepioskults im Jahr 293 v. Chr.26 Göttlicher Einfluss wurde auch
24 Vgl. auch Glei (2013), 347. Es ginge wohl zu weit, mit Formicola (1988, 180) Vergil ein Interesse an den Ursachen der Krankheit abzusprechen. Insbesondere vor dem Hintergrund der separaten Pa-thophysiologie (s. im folgenden Kapitel) dürfte es sich hierbei um eine Fehleinschätzung handeln.
25 Harper (2017, 88) spricht in vergleichbarem Zusammenhang von einer „indecipherable combination of divine wrath and environmental disturbance.“
26 Vgl. Engels (2007), 398–402 mit Anm. 147 für eine Quellenübersicht.
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bei Manilius als Ursache genannt, für den nicht nur die Pest (als Teil des von der stoischen Gottheit durchwirkten Weltgeschehens) metaphysisch bedingt ist, sondern darüber hinaus von Kometen angekündigt werden kann. Wenngleich ein Kausalitätsverhältnis nicht explizit genannt wird, ist ein solches vor dem Hintergrund astrologischer Vorstellungen durchaus möglich.27 Die bei Seneca dargestellte Pest in Theben weist insofern eine leichte Verschiebung auf, als nun nicht mehr die persönliche (und moralisch verurteilte) Empfindung einer Gottheit, wie bei Ovids Iuno, der Grund für die Krankheit ist, sondern die Untat des Oedipus. Es han- delt sich folglich um die erste Beschreibung der Motivtradition, in der von der Krankheit als göttlicher Bestrafung im engeren Sinne gesprochen werden kann.28 Seneca bringt mit seiner Ätiologie die seiner Vorgänger in ein zusammenhängendes Bild, indem er die Hitze geschickt mit den Sternen verbindet (V. 39f.); eine Ansteckung durch das Wasser lässt er jedoch (zu- gunsten der kosmischen Tendenz der Krankheit) aus. Bemerkenswerterweise besteht keine echte Überschneidung mit seiner eigenen Theorie über Seuchen im sechsten Buch der Natura- les Quaestiones , in denen er den Zusammenhang von Epidemien und Erdbeben schildert (Sen. nat. 6,27,2f.):Multa enim mortifera in alto latent. Aer ipse, qui vel terrarum culpa vel pigritia et aeterna nocte torpescit, gravis haurient- ibus est, vel corruptus internorum ignium vitio, cum e longo situ emissus est, purum hunc liquidumque maculat ac polluit, insuetumque ducentibus spiritum affert nova genera morborum. Quid quod aquae quoque inutiles pestilentesque in abdito latent, ut quas numquam usus exerceat, numquam aura liberior everberet?
Vieles nämlich, das uns den Tod bringt, ist in der Tiefe ver-borgen. Die Luft selbst, die entweder durch eine Krankheit der Erde oder die eigene Trägheit in ewiger Dunkelheit faul geworden ist, schadet denen, die sie einatmen; oder sie wurde verdorben durch das krankmachende Potenzial von Flammen unter der Erde, und verschmutzt vollständig, sobald sie aus ihrem langen Modern entlassen wird, die reine und klare Luft hier, und bringt denen, die diesen un-gewohnten Hauch einatmen, neue Krankheitsarten. Wozu noch sagen, dass auch ungenießbares und krankmachendes Wasser in der Tiefe verborgen ist, das ja niemals durch Ge-brauch, niemals von Luft aus freien Gefilden in Bewegung versetzt wird?
27 Vgl. Volk (2009), 89f.
28 Auch im dritten Buch der Aeneis (s. o.) liegt letztlich eine Form der Bestrafung vor. Grund war hier jedoch ein Irrtum, kein Verbrechen, weshalb die Pest und ihre Folgen wenig problematisiert werden – sie dient letztlich nur dazu, die Ansiedelung auf Kreta zu verhindern, vgl. Grimm (1965), 60.
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3.1 Pathologie Von alledem ist in der Seuchenbeschreibung selbst nichts zu lesen. Vielmehr entsteht beim Re- zipienten der Eindruck, dass neben der primären Ursache (ritueller Befleckung) ausschließlich die Hitze für die Krankheit verantwortlich ist. Angesichts des uneindeutigen Verhältnisses von Senecas Prosa und Poesie (s. Anm. 49, S. 103) kann aus der Diskrepanz jedoch kein Argu- ment für eine frühere Datierung der Tragödie gewonnen werden. Mit Senecas Neffen Lucan wird (nach Lukrez zum ersten Mal) erneut eine rein physika- lische Verursachung der Krankheit beschrieben. Der Verzicht auf göttliche Verursachung hängt mit Lucans Bruch mit der epischen Konvention des Götterapparats zusammen, mit dem er sich von der Tradition abzuheben sucht (s. Anm. 55, S. 112). Aufgrund der kausalen Überdeterminierung der Pest in rascher Abfolge ist die Ätiologie recht undurchsichtig: Das Niedertrampeln des Grases (6,82f.) führt zum Verhungern der Pferde (6,86f.), deren Verwe- sung wiederum die Luft verpestet (6,88–90). Letztlich erfolgt die Ansteckung der pompeia- nischen Soldaten aber über krankmachendes Wasser (6,94). Anders als bei Ovid sind es hier nicht Schlangen, die das Wasser vergiften, sondern Schmutz ( caenum ). Auffällig ist an dieser Stelle die Priorisierung der Übertragbarkeit, insofern Lucan Wasser als besseres Überträger- medium für Krankheiten als Luft beschreibt. Die Unübersichtlichkeit der kausalen Abfolge kann auch so gedeutet werden, dass Lucan den Nutzen einer Ursachensuche durch seine un- klare Darstellung in Zweifel zieht. Silius Italicus bildet den Abschluss der Tradition und führt beinahe sämtliche Möglich- keiten der Verursachung auf: Die Erstursache ist die Missgunst, die nicht näher spezifizierte Götter gegenüber Marcellus empfinden. Im Folgenden werden Wasser, Luft und Erde als se- kundäre Ursache miasmatischer Dämpfe genannt, die Übertragung findet für Silius demnach eindeutig über die vergiftete Luft statt (14,584 caelum pollutum ), womit er an Lukrez, Vergil, Ovid und Seneca anschließt. Grattius und Lucan ähneln sich dahingehend, dass eine Viel- zahl an Ursachen genannt wird. Während Grattius sich des Urteils enthält und sich von der Ätiologie abwendet, gibt Lucan in Opposition zu seinen Vorgängern das Wasser als Haupt- überträgermedium an. Manil ius steht mit seiner Verbindung aus göttlicher Verursachung und Sterneneinfluss nahezu alleine. Für die Krankheitsvorstellung generell ist jedoch festzustellen, dass die Autoren das damals gängige Bild der Miasmentheorie in durchaus unterschiedlichen Facetten verarbeitet haben. 3.1.2 Pathophysiologie Überlegungen zur Pathophysiologie (Krankheitsvorgängen) lassen sich in der Antike grob in die Positionen der Humoral- und der Solidarpathologie unterteilen. Während die einen in hippokratischer Tradition die Krankheit in einem Missverhältnis von Körperflüssigkei-
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ten bzw. Säften verursacht sehen,29 siedeln sie die anderen (z. B. die Methodiker in der Tradition des Asklepiades, s. Kapitel 1.2) in festen Körperteilen oder Organen an.30 Die sich nun anschließende Untersuchung wird u. a. zeigen, dass eine klare Zuordnung der Dichter zu diesen Positionen nicht immer möglich ist. Gleichwohl weckt ein Blick auf Langholfs caveat zur Erarbeitung einer homerischen Physiologie Hoffnung:31 Diese sei nach Langholf deshalb nicht möglich, weil die Aussagen zu verstreut und in ihrem Gehalt zu undifferen- ziert seien. Im Rahmen der Motivtradition jedoch findet, wie oben festgestellt, zum einen eine Konzentration physiologischer Beschreibung statt, zum anderen ist diese an vielen Stellen mit medizinischer Terminologie angereichert und weist deshalb potenziell einen höheren Differenzierungsgrad auf. Auch an dieser Stelle bietet sich eine chronologische Vorgehensweise an, da pathophysiologische Konzeptionen von den Nachfolgern rezipiert worden sein können. Wie bereits im letzten Unterkapitel ersichtlich wurde, liefert Lukrez die umfangreichste Theorie zur Krankheitsentstehung. Vor diesem Hintergrund ist es bemerkenswert, dass man verhältnismäßig wenige Aussagen zur pathogenen Wirkweise der Atome in seiner Darstellung vorfindet. Zunächst lässt sich von der Auswirkung der Krankheit auf die Umgebung des Men- schen analog auf die im Menschen schließen (Lucr. 6,1119–1124): proinde ubi se caelum, quod nobis forte alienum, commovet atque aër inimicus serpere coepit, ut nebula ac nubes paulatim repit et omne qua graditur conturbat et immutare coactat, fit quoque ut, in nostrum cum venit denique caelum, corrumpat reddatque sui simile atque alienum.Sobald sich daher ein Klima, das uns zufälligerweise schadet, bewegt und die feindliche Luft zu kriechen beginnt, wie Nebel und Wolken sich langsam wa-bernd nähern und alles, wohin sie gelangen, durch- einander bringen und zur Veränderung seines Zu-standes zwingen, so geschieht es auch, dass, wenn jenes schließlich zu unserem Klima gelangt, es die-ses verdirbt und es an sich angleicht, d. h. es für uns schädlich hinterlässt.
29 Auf den Variantenreichtum der Humoralpathologie wurde bereits mehrfach hingewiesen, s. Anm. 177, S. 58.
30 Vgl. Gundert (2005b), 819f. und Potter (2005), 672f.
31 Langholf (1990), 39: „This collection of ,physiological‘ passages, however, should not mislead the modern reader into thinking that it is possible to reconstruct a system of Homeric ,physiology‘.“
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3.1 Pathologie Aus der ätiologischen Betrachtung lässt sich ein allgemeines Prinzip der ‚Unordnung‘ ablei- ten ( conturbare , immutare ), das letztlich zur verdorbenen Luft ( corrumpat ) führt.32 Ganz ver- gleichbar lässt sich das Wirken der Krankheit im Körper vorstellen, insofern die Atomkonfi- gurationen aus ihrer ursprünglichen Verbindung gebracht werden. Hierfür lässt sich neben dem Symptom der perturbata mens (6,1183) nur ein Beleg im vierten Buch anführen.33 In der Seuchenbeschreibung selbst zeigt sich eine mechanische Vorstellung der Bewegung der morbi- da vis als Atomstrom (6,1152 confluxerat ) vom Kopf durch den Körper hinab bis zum Herzen,34 wo sie sich vermutlich anreichert (6,1257 confertos ) und von wo aus sie die Vielzahl an Symp- tomen zu bewirken scheint.35 Ein weiterer Hinweis auf die Physiologie findet sich in 6,1204, wo nach der ersten Krise (s. Anm. 176, S. 141) von einer Flussrichtung ( fluebat ) der vires cor- pusque des Menschen in den Kopf (s. Anm. 191, S. 144) gesprochen wird.36 Es wurde bereits angemerkt, dass eine Festlegung darauf, welche Krankheitsvorstellung pathophysiologisch zugrundegelegt wird, schwer fällt, da sich sowohl humoral- als auch solidarpathologische Ele- mente finden. Eindeutig ist lediglich, dass die asklepiadeische Korpuskulartheorie, nach der Krankheiten durch die Ansammlung von Atomen und eine daraus resultierende Verstopfung der Kanäle im Körper entstehen (s. Anm. 89, S. 30), keine direkte Verarbeitung findet.37 Hier- für bieten sich zwei Erklärungen: Entweder die Theorie (und damit vermutlich auch die Arbeit des Asklepiades, contra Stückelberger) war Lukrez unbekannt, oder die enge Rezeption des Thukydides legte eine solche Umsetzung nicht nahe – dies ist m. E. wahrscheinlicher, wenn- gleich beide Erklärungen vorerst unbeweisbar bleiben. Vergil gibt in seiner theoretischen Behandlung von Krankheiten einige Hinweise darauf, wie man sich deren Wirken vorzustellen hat: Sie sind etwas, das sich vergrößert, sich an seinem
32 Vgl. mit Stückelberger (1984, 151f.) die asklepiadeische Ätiologie der obtrusio corpusculorum sowie Pigeaud (1980) über das Verhältnis der lukrezischen zur asklepiadeischen Physiologie.
33 Lucr. 4,664–667 quippe ubi cui febris bili superante coorta est | aut alia ratione aliquast vis excita morbi | pertubatur ibi iam totum corpus et omnes | commutantur ibi positurae principiorum . (‚Denn bei wem ein Fieber aufgrund eines Überflusses an Galle entsteht oder auf andere Weise irgendeine Krankheit hervorgerufen wird, dort wird schnell der ganze Körper durcheinander gewirbelt und alle Atompositionen verändern sich.‘). Der Dichter scheint hier eine Vereinbarkeit von Humoral- und Atomarpathologie nahezulegen – letztere wird als tiefere Ebene der ersten aufgefasst.
34 Neben dem Ordnungsschema des a capite ad calcem bestand auch die pathophysiologische Vorstel-lung des Krankheitsflusses vom Kopf abwärts, vgl. Craik (2021), 200.
35 Dies hängt mit der Vorstellung des Herzens als Sitz des animus zusammen, s. Anm. 125, S. 131.
36 Dieser Fluss wird im Folgenden durch das neutrale Verb der Bewegung ire aufgegriffen, Lucr. 6,1206f. tamen in nervos huic morbus et artus | ibat .
37 Im Gegenteil evozieren die Formulierungen in 6,1153 ( lababant ) und 1162 ( dissolvebat ) die Vorstel-lung, dass die Krankheit eine auflösende Wirkung entfaltet. Der Ausdruck aestu confertos in 6,1256f. bezeichnet in der hier vertretenen Deutung keine Ver stopfung der Kanäle, sondern lediglich eine große Anreicherung der Krankheitsatome in den Erkrankten.
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‚Wirt‘ nährt (3,454 alitur vitium ) und sich immer tiefer in ihn hineinfrisst (3,457f. lapsus ad ossa … artus depascitur ). Mit dem Ausdruck depascitur evoziert der Dichter das Bild eines Raubtiers, das sein wehrloses Opfer Stück für Stück verzehrt.38 Daneben widmet Vergil der Pathophysiologie direkt zu Beginn (3,482–485) der eigentlichen Seuchenbeschreibung einen eigenen Passus: nec via mortis erat simplex: sed ubi ignea venis omnibus acta sitis miseros adduxerat artus, rursus abundabat fluidus liquor omniaque in se ossa minutatim morbo conlapsa trahebat.Und nicht kam der Tod nur auf einem Wege, sondern gerade hatte ein brennender Durst die Venen zur Gänze durchzogen und die Glieder der Elenden ver-schrumpeln lassen, da quoll immer wieder schwal-lartig Flüssigkeit auf und verflüssigte vollständig die Knochen, indem sie diese im Laufe der Krankheit all-mählich in sich zusammenfallen ließ. Daraus wird ersichtlich, dass der beschriebene Wirkmechanismus mit den gegensätzlichen Elementen Feuer und Wasser sowie mit ihren jeweiligen Primärqualitäten agiert; damit be- trachtet Vergil eine höhere Konstitutionsebene des Seins als Lukrez, dessen Atome keine sol- chen Qualitäten aufweisen.39 Bereits im Kommentar wurde eine These zur Funktion dieses Abschnitts geäußert, die auch erklären kann, weshalb die Gegensätze nicht in dieser Form im Verlaufe der Beschreibung wieder aufgegriffen werden: Die vier Verse dienen dazu, die Unnatürlichkeit der Krankheit zu unterstreichen und die konservative Therapie des contraria contrariis nutzlos werden zu lassen.40 Mit Blick auf das pathophysiologische Prinzip wird er- sichtlich, dass die Ursache für die Ausbildung der Krankheit ein Ungleichgewicht im mensch-
38 Vgl. Verg. Aen. 2,213–215 (von den Schlangen, die Laokoon und seine Söhne töten): et primum parva duorum | corpora natorum serpens amplexus uterque | implicat et miseros morsu depascitur artus . Die Grundlage für diese heimtückische Personifikation findet sich bereits bei Lukrez: Dort erwartet die Krankheit die Erkrankten nach der Krise (6,1201 manebat ) oder packt sie in Form des Vergessens (6,1213 cepere ).
39 Vgl. mit Wardy (1988, 123–128) Lucr. 2,730–864.
40 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der junge Friedrich Schiller seine medizini-sche Abschlussarbeit De discrimine febrium inflammatoriarum et putridarum (1780) mit einer Apo-rie zu „fauligen Fiebern brandiger Art“ (§ 38) beschloss (Text und Übersetzung nach Neuhausen et al. 2020, 60f.): Id ipsum fatale inflammationis cum putredine connubium Malignitatem harum febri- um præcipue constituit, dum Indicationes quasi collidant, et quæ uni malo infringendo conducerent, in pejus alterum vertant. Quid quæso artium Saluberrimæ in Morbis relinquitur in quibus non agendo negligit, agendo depravat? („Eben diese verhängnisvolle Vermählung von Entzündung und Fäulnis macht vor allem die Bösartigkeit dieser Fieberarten aus, während die Heilanzeigen gewissermaßen aufeinanderprallen und diejenigen, die zur Schwächung des einen Übels führen würden, ein anderes verschlimmern würden. Was bleibt, so frage ich, der heilbringendsten der Künste im Fall von Krank-
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3.1 Pathologie lichen (bzw. tierischen) Körper ist. Die einzige weitere Aussage zur Wirkweise der Krankheit findet sich in der Benennung des äußeren (3,479 incanduit aestu ) und inneren Feuers (3,512 ardebant ); die kleine Schilderung der Aeneis liefert keine weiteren Informationen. Für Grattius besteht bei der Behandlung von Hundekrankheiten eine klassische Unterschei- dung in äußere und innere Krankheiten, wobei Letztere noch in oberflächliche und tiefe einge- teilt werden. Die oberflächlich inneren Krankheiten gilt es freizulegen, um direkte Sicht auf die Ursache der Krankheit zu erlangen.41 Die tiefergehenden inneren Krankheiten sind diejenigen, die bei ausbleibender Behandlung eine Pest unter der Meute verursachen können. Über die Wirk- weise im Hundekörper äußert sich Grattius bei dieser allgemeinen Betrachtung nicht explizit; die Krankheit ist für ihn etwas, das sich im Innern der Hunde aufhält, um dann plötzlich mit einer nicht zu bewältigenden Kraft hervorzubrechen (V. 366–368). Dies knüpft an die bereits bei Vergil beobachtete Vorstellung einer Entität an, die sich an ihrem Wirt labt und dadurch erstarkt. Ein Blick auf die sich anschließende Behandlung der konkreten Krankheitseinheiten ( rabies, scabies, robur , s. auch das nächste Kapitel) unterstützt diesen Eindruck und erweitert ihn sogar dahinge- hend, dass der Krankheit eine Form intentionalen Handelns und Fühlens zugeschrieben wird.42 Die Beschreibungen der Nachfolger greifen fast vollständig auf die soeben dargelegten Vor- stellungen zurück, sodass die Stellen zum Zweck einer Redundanzvermeidung summarisch aufgeführt werden: 1. Krankheit als selbstständig agierende Entität: Ov. met. 7,524 incidit und 553 dominatur ; Sil. 14,596 serpere labes . 2. Krankheit als (tief eindringender) Parasit, der sich am Wirt labt und dadurch wächst: Ov. met. 7,601 tristes penetrant ad viscera morbi; Sil. 14,605 membris … peresis und 613 serpit pascendo crescens Acherusia pestis . 3. Krankheit als Quelle der Überhitzung: Ov. met. 7,554 flammaeque latentis , 555 ductus an- helitus igni und 560 humus de corpore fervet ; Manil. 1,881 corripit exustis letalis flamma medullis; Sen. Oed. 38 anhela flammis corda , daneben V. 39f., 42, 153, 185; Lucan. 6,96f. ignea … fervida … pestis ; Sil. 14,602 igneus … spiritus . heiten übrig, bei denen sie sich durch Nichteingreifen der Nachlässigkeit schuldig macht, durch Ein-greifen aber den Zustand verschlechtert?“)
41 Gratt. 360f. contra pande viam fallentisque argue causas | morborum . (‚Dann hingegen eröffne dir einen Weg und mache die Krankheitsursachen, die sich deinem Blick zu entziehen suchen, aus.‘)
42 Zu rabies : Gratt. 386 Heimliches Eindringen ( subit ), 389 Brennen ( aestivos vibrans … ignes ), 391 Schmerz durch Bewegung des Wurms ( motu stimulisque potentibus ); zu scabies : 411f. Beharrlichkeit ( sequaci … malo ), 418f. Zorn und Kraft ( ira … rigor ), 423 Etwas, das man ausschwitzen kann ( ex- sudent vitium ), 461 Zerfressen des Wirts ( exedit ), 463 Krankheit als Herrscher ( regnantem excuties morbum ; vgl. Ov. met. 7,553); zu robur : 469 Unruhe ( in subito … tumultu ), 476 Wüten ( morbo … furenti ).
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4. Krankheit als Quelle der Verflüssigung: Ov. met. 7,550 dilapsa liquescunt und 585 putria . Die einzige Wirkung, die sich unter diese Aspekte nicht einordnen lässt, ist die Verhärtung der Eingeweide in Lucan. 6,94 ( duravit viscera ), die jedoch sowohl eine Vorlage in Ovid be- sitzt (7,559 praecordia dura ) als auch bereits im Zusammenhang der Ätiologie als Beson- derheit herausgestellt wurde. Insgesamt wird durch den Vergleich deutlich, dass sich die Wirkvorstellung der Krankheit insbesondere auf die Überhitzung der Erkrankten bezieht. Daneben steht die Verflüssigung des Körpers im Fäulnisprozess, der eng mit der Hitzeent- wicklung zusammenhängt und u. a. durch den analogen Vorgang des Schmelzens begriffen wird. Schließlich ist eine Tendenz zu beobachten, die Pest als selbstständige Entität aufzufas- sen, der nicht selten unheimliche Attribute zugeschrieben werden. Man kann demnach von einem ontologischen Krankheitskonzept sprechen, das auf den Primäreigenschaften von warm, trocken, flüssig basiert und von den Dichtern insbesondere zu pathetischen Zwecken verwendet wird. 3.1.3 Symptomatik Im Zuge des Kommentars wurden die verschiedenen narrativen Funktionen der Symptom- kataloge (s. auch Anm. 20, S. 15) herausgearbeitet. Im Folgenden liegt das Augenmerk auf den Katalogen als Zeugnis der Vorstellung von Körper und Krankheit. Zu diesem Zweck wird eine Aufstellung der beschriebenen Symptome geliefert, anhand derer zum einen die Bezugnahme der Autoren auf ihre Vorgänger (zumindest in dieser Hinsicht43), zum anderen ihr Gestal- tungswille und -prinzip ersichtlich werden. Zur besseren Nachverfolgung stehen Symptome, die eine Innovation darstellen, im Fettdruck.Thukydides: Fieber (τῆς κεφαλῆς θέρμαι ἰσχυραί), Rötung der Augen (τῶν ὀφθαλμῶν
ἐρυθήματα καὶ φλόγωσις), Blutung in Mund und Rachen (τὰ ἐντός, ἥ τε φάρυγξ καὶ
ἡ γλῶσσα εὐθὺς αἱματώδη), Mundgeruch (πνεῦμα ἄτοπον καὶ δυσῶδες), Niesen und
Heiserkeit (πταρμὸς καὶ βράγχος), Husten (βήξ), verschiedenartiger Auswurf von
Galle (ἀποκαθάρσεις χολῆς πᾶσαι), große Schmerzen (μετὰ ταλαιπωρίας μεγάλης), unproduktives Würgen mit begleitenden Krämpfen (λύγξ κενή σπασμὸν ἐνδιδοῦσα),
43 Dass nicht allein auf Basis eines Symptomvergleichs die durchaus komplexen Möglichkeiten gegen-seitiger Anspielung abgebildet werden können, wurde in den Anmerkungen bereits herausgestellt. So ist bspw. die einfache Aussage des Thukydides, die Pest habe unabhängig von der Ernährung zu-geschlagen, bei Vergil in die Theodizee eingearbeitet worden.
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3.1 Pathologielauwarme Haut (σῶμα οὔτ’ ἄγαν θερμὸν ἦν οὔτε χλωρόν), Bläschen und Geschwü-re auf der Körperoberfläche (φλυκταίναις μικραῖς καὶ ἕλκεσιν ἐξηνθηκός), Brennen im Innern (τὰ δὲ ἐντὸς οὕτως ἐκάετο), unstillbarer Durst (τῇ δίψῃ ἀπαύστῳ), Tod am neunten oder siebten Tag, Magengeschwüre und Durchfall (ἐς τὴν κοιλίαν καὶ ἑλκώσεώς τε αὐτῇ ἰσχυρᾶς ἐγγιγνομένης καὶ διαρροίας ἅμα ἀκράτου ἐπιπιπτούσης), Befall der Geschlechtsteile (κατέσκηπτε γὰρ ἐς αἰδοῖα), Amnesie (τοὺς δὲ καὶ λήθη ἐλάμβανε)
Lukrez: Fieber ( caput incensum fervore ), Rötung der Augen ( oculos suffusa luce ruben- tes ), Blutung in Mund und Rachen ( sudabant etiam fauces intrinsecus atrae … manabat lingua cruore ), Geschwüre im Rachen ( ulceribus vocis via saepta coibat ), schwer beweg- liche, raue Zunge ( motu gravis, aspera tactu ), verwesungsähnlicher Mundgeruch ( tae- trum volvebat odorem ), bange Beklemmung ( anxius angor ), Stöhnen und Klagen ( gemi- tu commixta querella ), in seiner Häufigkeit ermüdendes Würgen ( singultusque frequens ), lauwarme Haut ( tepidum manibus proponere tactum ), Geschwüre auf der gesamten Körperoberfläche ( ulceribus quasi inustis , vergleichbar mit dem ‚Heiligen Feuer‘ , sacer ignis ), Brennen im Magen ( flagrabat stomacho flamma ), unstillbarer Durst ( insedabiliter sitis … mersans ), Schlaflosigkeit ( lumina versarent oculorum expertia somno ), geistige Verwirrung ( perturbata animi mens ), Stimmungstief ( triste supercilium ), rasende Mi- mik ( furiosus voltus et acer ), Rauschen im Ohr ( plenaeque sonoribus aures ), unregelmä- ßige Atmung ( creber spiritus aut ingens raroque coortus ), Schweißausbrüche am Hals ( madens per collum splendidus umor ), dünner und verringerter Speichelfluss ( tenuia sputa minuta ), Husten mit gelbem und salzigem Auswurf ( croci contacta colore | salsa- que per fauces rauca vix edita tussi ), Muskelkontraktion ( in manibus vero nervi trahere ), Zittern ( tremere artus ), Kälteaufstieg von den Füßen aus ( a pedibusque minutatim suc- cedere frigus ), verengte Nasenlöcher ( conpressae nares ), dünn zulaufende Nasenspitze ( tenue acumen nasi primoris ), eingefallene Augenpartie und Schläfen ( cavati oculi, cava tempora ), kalte und harte Haut ( frigida pellis duraque ), schlaffer offenstehender Mund ( molle patens rictum ), schnelle Leichenstarre ( nec nimio rigida post artus morte ), Tod am siebten/achten Tag, Magengeschwüre und schwarzer Ausfluss ( ulceribus taetris et nigra proluvie alvi ), Kopfschmerz ( multus capitis cum saepe dolore ), Nasenbluten ( corruptus sanguis expletis naribus ibat ), Befall der Geschlechtsteile ( ibat et in partis genitalis corpo- ris ), Amnesie ( oblivia rerum )
Vergil: [Tiere:] Plötzlicher Kollaps ( cecidit / concidit ), wenig Eiterausfluss aus Wun- den ( ieiuna sanie ), Tollwut ( rabies ), Husten ( tussis anhela ), Luftnot ( faucibus angit obesis ), Nahrungsverweigerung ( immemor herbae … fontisque avertitur ), herabhän-
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gende Ohren ( demissae aures ), unregelmäßige , kalte Schweißausbrüche ( incertus … sudor … frigidus ), Trockenheit und Härte der Haut ( aret pellis … dura resistit ), Bren- nen (Glänzen/Rötung) der Augen ( ardentes oculi ), schwere Atmung ( attractus … ge- mitu gravis ), Dehnung des Abdomen ( ilia singultu tendunt ), Nasenbluten ( it naribus ater sanguis ), Schwellung der rauen Zunge ( obsessas fauces premit aspera lingua ), Auswurf von Blut und Speichel ( mixtum spumis vomit ore cruorem ), Wesensverkeh- rung des Menschen und wilder Tiere , [Menschen:] brennende Bläschen ( ardentes pa- pulae ), stinkender bzw. schmutziger Schweiß ( immundus … sudor ),‚Heiliges Feuer‘ ( sacer ignis )Grattius:44 [Tiere:] Knoten unter der Zunge ( vermiculum , RA), salzige Eingeweide und Durst ( salsa siti … viscera , RA), Fieber ( aestivos … accensis febribus ignes , RA), Toben ( furias , RA), körperliche Entstellung ( lacerum … corpus , S), Jucken ( dulcedi- ne , S), Plötzlichkeit der Krankheit ( praecipitem … labem , RO), Ermattung ( fessum … corpus , RO)
Ovid: [Tiere:] Plötzlicher Befall ( subiti deprensa potentia morbi ), Kollaps bei guter Ge-sundheit ( concidere infelix validos miratur arator … tauros ), Verlust der Wolle ( sponte sua lanaeque cadunt ), Zersetzung ( corpora tabent ), Seufzen ( gemit ), Trägheit ( leto mori- turus inerti , languor ), Wesensverkehrung wilder Tiere, ansteckende Fäulnis der Kada- ver ( dilapsa liquescunt ), [Menschen:] Brennen der Eingeweide ( viscera torrentur ), Rötung der Haut ( rubor ), heißes Keuchen ( ductus anhelitus igni ), Schwellung der rauen Zunge ( aspera lingua tumet ), Mundtrockenheit ( arentia ora ) und Durst, verhärteter Ober- bauch ( praecordia dura )
Manilius: langsame Zersetzung ( lenta tabe ), inneres Feuer ( exustis letalis flamma me- dullis )
Seneca: [Tiere:] Plötzlicher Kollaps ( circa funus exequiae cadunt ), Nahrungsverweige-rung ( laniger pingues male carpsit herbas ), Eiterausfluss aus Wunden ( nec cruor … turpis sanies ), Wesensverkehrung wilder Tiere, Kargheit in der Natur (V.154–159), Ermattung ( piger languor ), Rötung des Gesichts ( rubor in vultu ), Fleckenbildung ( maculaeque cutem
44 Die für Grattius gesammelten Symptome beziehen sich nicht auf die eigentliche Seuchenbeschrei-bung, sondern auf die im Anschluss an sie aufgeführten Krankheiten rabies (RA), scabies (S) und robur (RO). Zur Rezeption von Vergils Georgica in diesem Abschnitt vgl. Trevizam (2016), 146–154.
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3.1 Pathologie sparsere leves ), Erhitzung des Kopfs ( vapor ipsam corporis arcem flammeus urit ), Span- nen der Augen durch Blutfluss ( genas sanguine tendit ), Starren der Augen ( oculique rigent ), Rauschen in den Ohren ( resonant aures ), Krümmung der Nase ( naris aduncae ),
Nasenbluten ( stillatque niger cruor ), Aufbrechen der Venen ( venas rumpit hiantes ), ‚ zi- schendes Seufzen‘ ( gemitus stridens ), unstillbarer Durst ( aliturque sitis latice ingesto )
Lucan: Verhärtung der Eingeweide ( duravit viscera ), Spannung der Haut ( riget arta cu- tis ), Platzen der Augen ( distenta lumina rumpit ), Brennen/Rötung im Gesicht ( igneaque in voltus et sacro fervida morbo pestis abit ), Ermattung ( fessumque caput se ferre recusat ), plötzlicher Tod ( languor cum morte venit ), Wesensverkehrung
Silius Italicus: Trockene Zunge ( arebat lingua ), Kaltschweißigkeit ( gelidus sudor ), Zit-tern ( tremulo corpore ), Trockenheit im Rachen ( fauces siccae ), rauer Husten ( aspera tus- sis ), heißer Atem( igneus spiritus ), Lichtempfindlichkeit ( lumina vix sufficientia lucem ),
Krümmung der Nase ( unca nare ), Auswurf von Eiter und Blut ( saniesque immixta cruo- re ), Atrophie ( membris peresis ) Der direkte Vergleich der Symptombeschreibungen führt zu interessanten Befunden: Zu- nächst lassen sich Eigenheiten der Autoren bereits mittels dieser begrenzten Gegenüber- stellung skizzieren. Lukrez erweitert seine Vorlage sowohl um psychische als auch physische Symptome, die er dem Corpus Hippocraticum oder vergleichbarem Schriftgut entnommen hat. Vergil scheint darum bemüht, neben seinem Perspektivwechsel auf die Tiere auch eine möglichst geringe Überschneidung in den Symptomen zu erzielen, wobei er geschickt lukre- zische Versatzstücke nutzt, um neue Erscheinungen zu beschreiben. Grattius nutzt das Seu- chenmotiv als bloße Einleitung für die Behandlung spezieller Krankheitseinheiten und dreht damit das Vorgehen in den Lehrgedichten des Lukrez und des Vergil um. Ovid setzt weniger durch neue Symptome als vielmehr durch deren Arrangement in der gemeinsamen Beschrei- bung von Mensch und Tier einen eigenen Akzent. Manilius nimmt eine starke Beschränkung der Symptome und keine Innovation vor – er spielt lediglich auf das Motiv an (vergleichbar mit Valerius Flaccus, s. Anm. 295, S. 168). In seiner Adaptation an das Genre der Tragödie trennt Seneca seine Behandlung in zwei Teile und verschiebt die Symptome in den zweiten Teil; hervorzuheben ist weiterhin seine Ausweitung der Pest (wenngleich bereits bei Lukrez, Vergil und Manilius angelegt) auf ein kosmisches Leiden. Im Vergleich zur Ausführlichkeit seines Onkels liegt bei Lucan eine drastische Reduktion der Symptome vor. Schließlich findet sich bei Silius Italicus in Opposition zu Lucan eine erneute Ausweitung und Traditionalisie- rung des Motivs, die sich in einer Vermischung von klassischen und innovativen Symptomen niederschlägt.
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Nach diesem ersten Blick werden die Variation und Konstanz von Symptomen näher unter- sucht. Grundsätzlich unterscheidet sich die Pestliteratur im engeren Sinne (s. Anm. 20, S. 15) von medizinischen Fachschriften, insbesondere den nosologischen, die sich durch Schlichtheit und Uniformität auszeichnen, durch ihren (ästhetisch motivierten) Drang zur Innovation.45 Diese Diskrepanz liegt auch in der jeweiligen Intention begründet: Dienten die einen Schriften der Ermöglichung von Diagnose, Prognose und Therapie, hatten demnach stets Praxisbezug, bezweckten die anderen die Unterhaltung bzw. (freilich rein theoretische) Belehrung der Rezi- pienten. Trotz dieses Unterschieds in der Intention gibt es zu Beginn der Tradition (Thukydi- des, Lukrez) eine methodische Überschneidung im Arrangement der Symptome, das sich nach dem bereits in mesopotamischen Quellen und in der Folge auch im Corpus Hippocraticum angewandten Beschreibungsmuster des a capite ad calcem richtet.46 In der Gegenüberstellung der Symptome lässt sich jedoch beobachten, dass bereits Vergil von diesem Gliederungsschema abweicht und es im Verlauf der Tradition immer weniger Anwendung findet. Dies hat mehrere Gründe, die zum Teil bei Vergil ihren Ausgang nehmen: a) Szenische Gestaltung : Als maßgebliche Innovation der vergilischen Schilderung wurde im Kommentar herausgearbeitet, dass einzelne Szenen gestaltet werden, in denen die erkrank- ten und sterbenden Tiere gezeigt werden. Damit macht sich der Dichter in besonderer Art und Weise das von Lausberg skizzierte rhetorische Potenzial des Seuchenmotivs zunutze (s. Anm. 29, S. 18). Zugleich führt die Streuung der Perspektive auf mehrere Arten von Tie- ren weg von einem fingierten ‚Durchschnittspatienten‘ bei Thukydides und Lukrez hin zu unterschiedlichen Individuen mit je eigenen Symptomen und damit zum Bruch mit einer linearen Verlaufsbeschreibung.47 b) Ursachensuche : Ovid und Lucan beginnen die Symptombeschreibung mit dem Inneren des Körpers, womit sie verstärkt die Verursachung in den Blick nehmen. Bei Lucan bilden sogar erstes Symptom und Krankheitsursache eine syntaktische Einheit. Darin kann eine Entsprechung zu Vergils separatem Abschnitt zur Pathophysiologie (Georg. 3,482–485) ge- sehen werden.45 Vgl. Roselli (2018), 193.
46 Vgl. ibid., 198f. Im vorigen Unterkapitel wurde herausgestellt, dass sich dieses Gliederungsschema bei Thukydides und Lukrez nicht nur auf die Anordnung der Symptome bezieht, sondern auch den Weg der materia peccans vorgibt, vgl. dazu Craik (2021), 200. Neben diesem räumlichen Gliederungssche-ma finden sich bei Thukydides, Lukrez und Vergil noch zeitliche Aufteilungen: Bei den ersten beiden in hippokratischer Manier in Form kritischer Tage, bei Vergil durch die Einteilung in die ersten und späteren Tage der Krankheit. Keine der beiden wird von den Nachfolgern übernommen.
47 Möglicherweise hat bereits die Beschreibung von Tieren per se die Abkehr vom a capite ad calcem zur Folge: Auch in der Mulomedicina des Vegetius lässt sich eine größere Flexibilität des Beschreibungs-musters beobachten (vgl. Fischer 1988, 198f.); grundsätzlich hat das Schema jedoch Bestand, vgl. Veg. mul. 1,64,2 a vertice usque ad ungulas .
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3.1 Pathologie c) Reduzierung : Insgesamt findet eine Reduzierung der Symptome statt, die nicht ausschließ- lich mit der Länge der Beschreibungen zu erklären ist. Vielmehr scheint eine Schwerpunkt- verschiebung stattzufinden, in der manche Autoren besonderes Augenmerk auf die Auswir- kungen auf die belebte Natur legen, manche die Reaktionen von Mensch und Gesellschaft in den Vordergrund rücken. Eine Ausnahme bilden Grattius und Manilius, die sich allein schon durch die enorme Kürze der Beschreibung von ihren Vorgängern abzusetzen ver- suchen. d) Fokussierung auf das Gesicht : Mit dem Fortschreiten der Motivtradition zeigt sich, dass die Dichter bestimmte Elemente immer wieder verarbeiten, während andere ausgespart werden – unter jene ist auch die Beschreibung des Gesichts zu fassen, die eine sparsamere Schilderung der anderen Körperpartien zur Folge hat. Gründe hierfür werden weiter unten erörtert. Nach diesen Beobachtungen zu Veränderungen in der Art und Weise der Symptomanordnung werden unterschiedliche Formen der Symptom variation exemplarisch vorgestellt.48 Nicht auf- geführt werden Hinzufügungen oder Auslassungen, die hinreichend durch die typographi- sche Darstellung der Listen illustriert wurden.49 Stattdessen werden ausschließlich Arten der Adaptation betrachtet. 1) Intensivierung auf inhaltlicher Ebene bei Seneca (186f.) und Lucan (6,95): multoque genas sanguine tendit , oculique rigent … iam riget arta cutis distentaque lumina rumpit …
… dehnte die Augen mit einer großen Menge Blut, der Blick war starr …
Schon erstarrt die gespannte Haut und lässt die aufgedunsenen Augen platzen …
48 Ausführliche Gegenüberstellungen, die leider nicht immer den Zusammenhang berücksichtigen, finden sich bei Vallillee (1960) zu den jeweiligen Autoren. Für einen Eindruck der Interdependenz der Autoren auch über die Symptome hinaus wird auf die Appendices A1 und A2 verwiesen.
49 Dabei ist hervorzuheben, dass ein Großteil der Symptome, die Lukrez der thukydideischen Beschrei-bung hinzugefügt hat und die ihm in der Forschung das Etikett der psychologischen Deutung des Motivs eingebracht haben (s. o. Komm. zu 6,1158f. mit Anm. 127, S. 131), von der Motivtradition nicht aufgegriffen wird. Anstelle dieser verstärkten Introspektion findet sich bei Ovid und Seneca eine ausführlichere Darstellung der Reaktionen und der sozialen Bindungen in Zeiten der Katastro-phe, s. dazu das nächste Kapitel.
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2) Intensivierung auf sprachlicher Ebene bei Thuc. 2,49,5 und Lucr. 6,1168f.:τὰ δὲ ἐντὸς οὕτως ἐκάετο …… innerlich jedoch wurde ein so starkes Brennen empfunden … intima pars hominum vero flagrabat ad ossa , flagrabat stomacho flamma ut fornacibus intus .
Das Innere der Menschen jedoch brannte bis auf die Knochen , im Magen loderte eine Flamme wie im Innern von Schmelzöfen . 3) Abmilderung bei Ov. met. 7,559f. und Sen. 192bf.: nec fit corpus humo gelidum, sed humus de corpore fervet .
Iamque amplexu frigida presso saxa fatigant …
… aber nicht wurde ihr Körper durch den Boden gekühlt, sondern der Boden glühte von ihren Kör-pern.
Bald umschlangen sie unablässig kalte Steine … 4) Fachsprachliche Präzisierung bei Sen. 191f. und Sil. 14,601: intima creber viscera quassat gemitus stridens … aspera pulmonem tussis quatit …
Die Eingeweide im Innern erschütterte häufig ein zischendes Seufzen …
Ein rauer Husten erschütterte die Lunge … 5) Verdichtung bei Sil. 14,601f.:50 aspera pulmonem tussis quatit, et per anhela igneus efflatur sitientum spiritus ora.
Ein rauer Husten erschütterte die Lunge und der Atem der Dürstenden trat wie Feuer mit einem Keuchen aus ihrem Mund. Schließlich stellt sich die Frage nach Symptomen, die den Dichtern (und den Rezipienten?) als unabdingbar galten und daher immer wieder aufgegriffen wurden. Zu diesem Zweck wur- de Tabelle 4 erstellt, in der diejenigen Symptome aufgeführt werden, die mehr als zwei Ok- kurrenzen in der Motivtradition aufweisen. Die Reihenfolge entspricht jeweils ihrem ersten
50 Ab 601b finden sich auf engstem Raum die Symptome der Atemnot, des Durstes, der Mundtrocken-heit und des inneren Feuers. Standen diese bei den Vorgängern noch zum Teil für sich, werden sie bei Silius knapp in einen Zusammenhang gestellt. Gerade hierin zeigt sich der souveräne Umgang des Silius mit den literarischen Vorgängern (s. Anm. 72, S. 117).
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3.1 Pathologie Vorkommen in der Tradition. Symptome mit mind. fünf Okkurrenzen stehen im Fettdruck, Klammern deuten auf eine implizite oder anteilige Verarbeitung hin. Von den insgesamt ca. 50 Symptomen der Tradition erfüllen 20 diese Kriterien, davon besitzen elf Symptome fünf oder mehr Okkurrenzen.
Thuc.Lucr.Verg.Gratt.Ov.Manil.Sen.Lucan. Sil.
Fieber xxxx(x)xx(x) Rötung
(Augen, Gesicht) xxxxx
Hustenxxxx
Galle-/Blutauswurf x(x)xxx Ermattung xxxxxx
Bläschen/Geschwüre xxx(x)x
Brennen im Innern xxxxxx(x) Unstillbarer Durst xxxxx(x)
Wesens-/
Werteverkehrung xxxxxxxxx Raue, trockene, geschwollene Zunge xx(x)xxStöhnen und Klagenxxx
Heiliges Feuerxxx(x)
Atemprobleme xxxx(x)(Kalte) Schweißaus-brüchexxxVerengte Nasenlöcher,
Krümmung der Nasexxx
Eingefallene Augenxx(x)Kalte, harte,gespannte Hautxxx
Nasenblutenxxx
Plötzlicher Kollaps x(x)xxxxEiter anstelle von Blutxxx Tabelle 4: Übersicht über die Symptome der Motivtradition mit mehr als zwei Okkurrenzen Durch die Gegenüberstellung ergibt sich der bemerkenswerte Befund, dass sieben der elf am meisten verwendeten Symptome bereits bei Thukydides angelegt sind. Da jedoch nur in selte-
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nen Fällen ein direkter Rückgriff auf den Archetyp des Motivs aufgezeigt werden konnte, er- gibt sich diese Stabilität einerseits durch die Vermittlung über Lukrez und Vergil, andererseits durch den allgemeinen Charakter bzw. die Funktion der Symptome im Zusammenhang der Krankheitsvorstellung: So ist Fieber, das (wie bereits dargelegt) nur vom modernen Stand- punkt aus als Symptom gilt, eigentlich die primäre Wirkursache der Krankheit in Form über- mäßiger Hitze; das Brennen im Innern steht damit in ebenso enger Relation wie die Rötung der Haut, die Bläschenbildung und der unstillbare Durst. Die häufige Erwähnung von Auswürfen, Atemproblemen, plötzlichem Kollaps und Ermattung lässt sich auf ihren pathetischen Effekt zurückführen.51 Am auffälligsten jedoch ist das Element der Wesens- und Werteverkehrung, das (wenngleich in unterschiedlicher Ausprägung und Ausformung) in jeder Beschreibung verarbeitet wird. Da diese im folgenden Kapitel ausführlicher behandelt wird, ist hier lediglich darauf hinzuweisen, dass diese Frequenz u. a. mit dem Bestreben zusammenhängt, die Pest kosmisch auszuweiten und das Massensterben als Störung der Weltordnung zu inszenieren.523.2 Reaktionen
In engem Zusammenhang mit der Vorstellung von Ursache, Wirkweise und Erscheinung der Krankheit ist die Frage zu erörtern, wie Autoritäten, Gesellschaft und Erkrankte in den Beschrei- bungen auf sie reagiert haben. Findet sich dort eine Form der ‚Pestethik‘, wie Horstmanshoff meint, derzufolge die Kranken im Stich gelassen und religiöse Bräuche aufgegeben wurden?53 Zumindest ist anzunehmen, dass sich die Reaktionen bei Seuchen auf vielen Ebenen anders gestalten müssen als bei anderen Katastrophen.54 Vor der eigentlichen Betrachtung erfolgt eine terminologische Klä- rung der in diesem Zusammenhang nützlichen Begriffe ‚Resilienz‘ und ‚Vulnerabilität‘, mit denen Reaktionen auf Katastrophen beschrieben und beurteilt werden können. Diese Begriffe sind nicht nur hinsichtlich ihres Gehalts, sondern auch ihres Verhältnisses zueinander umstritten.55 51 Farrell (1991, 85) sieht bereits bei Vergil die klinische Präzision des Lukrez zugunsten emotionaler Affektion vermindert. Der direkte Vergleich mit nosologischen Schriften des Corpus Hippocraticum relativiert die vermeintlich klinische Präzision, doch ist Farrells Aussage sicherlich mit der reduktio-nistischen Tendenz der späteren Dichter übereinzubringen.
52 Eine solche Entgrenzung und Anteilnahme der Natur an der Katastrophe hat Borsch (2018, 285–300) auch für antike Beschreibungen von Erdbeben festgestellt.
53 Vgl. Horstmanshoff (1989), 206.
54 Vgl. Stathakopoulos (2004), 146.
55 Dara Nix-Stevenson (2013, 8) führt bspw. in ihrer Übersicht 21 Definitionen von Resilienz aus unter-schiedlichen Analysekategorien (physikalisch, ökologisches System, Stadt, Gemeinschaft, Individu-um) auf – und auch dies stellt nur eine Auswahl dar.
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3.2 Reaktionen Als Orientierungshilfen liefert Martin Voss zwei heuristische Grundprinzipien der Resi- lienz, die sich in ihrer Auffassung von Stabilität und in ihrer Perspektive unterscheiden: eco- logical resilience und engineering resilience .56 Während ecological resilience die Eigenschaft eines Systems (z. B. einer Gesellschaft) beschreibt, unter einem dynamischen Wechselspiel von Variablen seine Struktur beizubehalten, fasst die engineering resilience denselben Prozess als linear auf, insofern das System trotz Störfaktoren zu einem Equilibrium zurückkehrt. Diese Unterschiede in der Auffassung des Prozesses finden eine Entsprechung in der Bewertung der äußeren Einflüsse: Nach der ecological resilience können die Variablen wertfrei betrachtet wer- den, für die engineering resilience sind Störungen grundsätzlich negativ zu beurteilen.57 Mit seiner konservativen Tendenz und der Notwendigkeit einer Erhaltung oder Wiederherstellung des Gleichgewichts eignet sich das Begriffsverständnis der engineering resilience sehr gut für eine Anwendung auf die römische Gesellschaft – man denke nur an den mos maiorum .58 Wenn im Folgenden von Resilienz gesprochen wird, ist demnach die Eigenschaft bezeichnet, die es einem System erlaubt, sein Gleichgewicht gegen Störfaktoren zu halten oder nach einer erfolg- ten Störung wiederherzustellen. In engem Zusammenhang mit der Resilienzforschung versucht die Vulnerabilitätsanalyse, die Gründe für nicht vorhandene Resilienz und daraus resultierende innere Zerfallsprozesse durch den katastrophalen Druck von außen anhand einer (strukturellen) Anfälligkeit des Sys- tems nachzuvollziehen. Katastrophen sind danach stets auch Indikatoren für die Reliabilität eines gesellschaftlichen Systems und offenbaren kritische Stellen innerhalb der bestehenden Strukturen.59 Mit Voss sind auch für Vulnerabilität zwei Ansätze zu unterscheiden, nämlich der Natural - Hazard -Ansatz (kurz: NH-Ansatz) und der Livelihood -Ansatz (kurz: LH-An- satz).60 Jener blickt auf die physische Umgebung, dieser auf soziale und sozioökonomische Faktoren, die in der Realität eng miteinander verflochten sind.61 Die Seuchenbeschreibungen 56 Vgl. Voss (2010), 70f.
57 Vgl. Folke (2006), 256: „Engineering resilience therefore focuses on maintaining efficiency of func-tion, constancy of the system, and a predictable world near a single steady state. It is about resisting disturbance and change, to conserve what you have.“
58 Winterling (2005, 119f.) nennt für griechisch-römische Gesellschaften drei strukturstabilisierende Faktoren in Zeiten einer Seuche, nämlich 1) gesellschaftliche Realitäten, die schlicht akzeptiert wer-den, 2) die Betroffenheit von der Seuche unabhängig von der sozialen Schicht und 3) Möglichkeiten sozialer Mobilität, die aus den Todesfällen in der Oberschicht resultieren.
59 Vgl. Toner (2013), 89.
60 Vgl. Voss (2010), 74f.
61 Aldrete (2018) hat bspw. aufgezeigt, inwiefern die Vulnerabilität niedrigerer sozioökonomischer Schichten in Rom nicht zuletzt aufgrund der Lebensverhältnisse in engen Holzhäusern unter man-gelnden Hygieneverhältnissen als hoch einzuschätzen ist.
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nehmen hier jedoch keine Differenzierung vor:62 Es wird sich zeigen, dass sie das Bild einer Ge- sellschaft und von Institutionen zeichnen, die tendenziell in höchstem Maße vulnerabel und wenn überhaupt auf sozialer Ebene resilient erscheinen.63 Dabei ist zu betonen, dass sich hierin nicht (zwangsläufig) die tatsächlich vorliegenden Vulnerabilitätsfaktoren widerspiegeln, son- dern lediglich diejenigen, die von den Dichtern (und womöglich ihren Rezipienten) als kritisch betrachtet wurden.64 3.2.1 Autoritäten Stathakopoulos unterscheidet drei Gruppen von Autoritäten, nämlich 1) die Regierung (in- klusive ihrer Exekutive), 2) den Klerus und 3) wohlhabende Bürger.65 Ersetzt man die zweite Gruppe durch 2) Priester und Mediziner,66 erhält man eine geeignete Kategorisierung für die Betrachtung von Quellen in unserem Beobachtungszeitraum. Dabei besteht ein Abhängig- keitsverhältnis zwischen den Autoritäten der ersten und zweiten Gruppe (s. u.).67 In der bis- herigen Untersuchung zeigte sich eine Tendenz fast aller Dichter, die Autoritäten in höchstem Maße vulnerabel zu zeichnen. Dazu trägt auch die Reduktion möglicher positiver Einfluss-62 Eine Ausnahme bilden Thuc. 2,52,2 und Lucr. 6,1248f., die beide die engen Wohnverhältnisse an-sprechen.
63 Darin stimmen sie mit Kyle Harpers (2017 passim , insbes. 65–118) Urteil über die Resilienz des rö-mischen Reiches gegenüber Seuchen im zweiten nachchristlichen Jahrhundert überein.
64 Dabei werden auch Gedanken der Psychoanalytikerin Martha Wolfenstein angeführt, die sie im Vorwort zu ihrem Essay (1998 [1957], xii) über Katastrophen wie folgt charakterisierte: „All the ways of acting and feeling which I describe and the underlying motives which I suggest may be supposed to occur in some people at some times and in some places. But the question of frequencies, like that of conditions, remains to be decided.“ Wolfensteins Darlegungen beziehen sich auf grundle-gende Emotionen und Verhaltensmuster des Menschen in Reaktion auf Katastrophen und weisen bemerkenswerte Parallelen zu den Seuchenbeschreibungen auf. Ergänzend wird die Monographie des Psychologen Steven Taylor (2019) angeführt, in der er die Wechselwirkungen von Pandemien und Psyche aus der modernen Perspektive beleuchtet hat.
65 Vgl. Stathakopoulos (2004), 62.
66 Beide Personengruppen verbindet, dass sie „weten en zien, wat het normale menselijk ken- en waar-nemingsvermogen te boven gaat“ (Horstmanshoff 1989, 181), was ihnen in Zeiten der Krise eine be-sondere Autorität verleiht. Zur Überschneidung von Religion und Medizin vgl. jüngst Lloyd (2021), 52f.
67 Illustrativ hierfür ist das Lob Suetons an den Kaiser Titus (Tit. 8,2,4): medendae valitudini le- niendisque morbis nullam divinam humanamque opem non adhibuit inquisito omni sacrificiorum remediorumque genere. (‚Um die Gesundheit wiederherzustellen und die Krankheit zu lindern wandte er jedes göttliche und menschliche Mittel an und versuchte jede Art von Opfer und Heil-mittel.‘)
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3.2 Reaktionen faktoren, darunter auch der beteiligten Autoritäten, bei. Konkret wird dies dadurch, dass in keiner Beschreibung von der Einflussnahme wohlhabender Bürger berichtet wird;68 daneben ist auch sonst (fast) nie explizit von Vermögen und unterschiedlichen ökonomischen Schichten die Rede, obwohl in der Nachfolge von Thukydides (T XXI) eine solche Umsetzung möglich gewesen wäre.69 Dass dieses Potenzial nicht ausgeschöpft wird, ist womöglich damit zu be- gründen, dass die Skizze der betroffenen Personengruppe möglichst allgemein gehalten wer- den soll, um einerseits ein hohes Maß an Identifikation mit den Menschen zu gewährleisten, andererseits keine zu unmittelbare Überschneidung mit der Rezipientengruppe aufzuweisen.70 Zu den Autoritäten der ersten Gruppe zählen die Könige Aeacus und Oedipus sowie die Feldherren Pompeius und Marcellus. Das Ergebnis der Reaktionen der Könige ist vergleich- bar, insofern sie während der Beschreibung des akuten Leids trotz ihrer Bemühungen nicht in der Lage sind, die Pest zu überwinden. Dies äußert sich bei Aeacus im Versuch, selbst (!) ein Opfer für sich, seine Familie und Aegina darzubringen (7,596f.), das jedoch fehlschlägt: Das Opfertier bricht zusammen und die Eingeweideschau liefert keine deutbaren Resultate. Auf der Gefühlsebene reagiert Aeacus mit Weltschmerz und dem Wunsch, Teil seines Volkes zu sein und zu sterben (7,583), um dessen Leid nicht länger mit ansehen zu müssen. Hierin besteht ein wichtiger Unterschied zu Oedipus, der zwar ebenfalls einen Todeswunsch äußert (V. 71f.), diesen jedoch anders begründet. Die Worte des thebanischen Königs sind (wie seine ganze Person im Prolog) bestimmt von Furcht, die Äußerung zum Leid seines Volkes im We- sentlichen ich-bezogen. Auf Handlungsebene stellt letztendlich die gesamte Tragödie den Versuch des Königs dar, auf die Pest zu reagieren, indem er ihren Verursacher findet und aus dem Reich verbannt. Mittel der Wahl sind auch an dieser Stelle kultische Handlungen, d. h. die Konsultation des delphischen Orakels und eine Totenbeschwörung. Doch liegt die Handlungsunfähigkeit des
68 Dieser Befund ist insbesondere vor dem Hintergrund des Phänomens der erwarteten Patronage be-merkenswert, vgl. Harper (2017), 57: „The classical cities had a strong ideological expectation that the wealthy would pour their resources into visible public goods; this culture of civic euergetism, so characteristic of the moral economy of the classical city, was nothing but the enlargement of the norms of reciprocity and patronage that cushioned individuals against the vagaries of the environ-ment.“
69 Zu ökonomischen Indikatoren als Zeichen der Adaptationsfähigkeit eines Systems vgl. Voss (2010), 73. Mit der Ausblendung ökonomischer Unterschiede entfällt die klassische soziale Dichotomie, die in der Realität bestanden haben dürfte (s. Anm. 25, S. 17), und mit ihr die Vorurteile der höheren gegenüber der niedrigeren Schicht, vgl. Slack (1988), 446–449.
70 Ein anderer Grund mag in der oben beschriebenen Besonderheit von Seuchenbeschreibungen lie-gen, bei denen finanzielle Mittel schlechterdings keinen Einfluss besitzen. Schließlich gibt es freilich Beschreibungen, in denen sich eine Differenzierung von Gesellschaftsschichten entweder aufgrund der Kürze oder des Schauplatzes (im Kriegslager) nicht anbietet. Es ist jedoch gerade Silius, der mit seinem Kriegshelden in 14,606 eine vergleichbare Ebene eröffnet.
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Oedipus (anders als bei Aeacus) nicht in göttlicher Willkür, sondern in seinem Unwissen be- gründet. Am Schluss der Tragödie verlässt der König nach der Selbsterkenntnis Theben und mit ihm mutmaßlich auch die Pest: die Selbstenthebung der Autorität stellt den Schlüssel zur Heilung dar (s. Anm. 741, S. 269). Aeacus hingegen wendet sich an Iuppiter (7,615 Iuppiter o! ), erwirkt durch sein Gebet die Verwandlung von Ameisen in die Myrmidonen und erhält damit ein neues Volk.71 In ihren Bewältigungsstrategien entsprechen die Könige ziemlich genau den aus historischen Quellen gewonnenen Ergebnissen von Caroline Wazer, nach denen politische Autoritäten im Falle einer Epidemie in der Regel Zuflucht beim Kult suchten.72 Wenngleich beide Könige schließlich einen Lösungsansatz finden, ist auffällig, dass nicht eine einzige Maß- nahme zur Abhilfe des akuten Leids ergriffen wird. Ein Kernelement der Motivtradition stel- len die unbestatteten Leichen dar, die auch in historischen Beschreibungen als administrative Herausforderung beschrieben werden. Während jedoch in deren Darstellung, etwa zur Zeit der Justinianischen Pest, Militär mit der Beseitigung der Leichen beauftragt und ein Meldesys- tem eingerichtet wurde,73 zeigen sich die Autoritäten der Beschreibungen in Sachen Nothilfe völlig mittellos, ja scheinen das Problem der Leichen nicht einmal lösen zu wollen. Beim Vergleich der Feldherren offenbaren sich zugleich Überschneidungen und Diskre- panzen: Die Beschreibungen stimmen darin überein, dass die Feldherren in der gesamten Schilderung nur am Anfang und am Schluss genannt werden. Pompeius und Marcellus haben weiterhin gemeinsam, dass sie von ihrem eigentlichen Ziel (mit Caesar zu kämpfen bzw. Syra- kus einzunehmen) durch die Pest abgehalten werden. Doch dann fallen bereits Unterschiede ins Auge: Zwischen Heer und Feldherr besteht bei Silius ein lebenserhaltendes Band – die Unversehrtheit des Marcellus sichert zugleich den Mut und das Durchhaltevermögen der rö- mischen Soldaten (14,618f.);74 und auch wenn Marcellus die Pest nicht aufhalten kann, was im Gleichnis des Fischers impliziert wird, vollzieht er nach ihrem Abklingen die notwen- digen Reinigungsrituale und beweist damit Handlungsfähigkeit und Anteilnahme. Nichts dergleichen liest man von Pompeius: Heer und Feldherr sind vollständig getrennt, Linderung verschaffen äußere Faktoren, die nicht auf das Handeln des Feldherren zurückzuführen sind.71 Möglicherweise spiegelt sich hierin eine der wenigen Resilienzstrategien, nämlich die Steigerung der Geburtenrate nach einer Seuche, vgl. Harper (2017), 58.
72 Vgl. Wazer (2016) und zum Wechselspiel von Religion, Resilienz und Urbanität Rüpke (2020), 114–144.
73 Vgl. Stathakopoulos (2004), 148f. Beispielsweise wurden die Leichen am Strand gesammelt und im Anschluss auf nahegelegene Inseln gebracht; besäßen wir nur die literarischen Seuchenbeschreibun-gen, wäre auch die Profession der Bestatter unbekannt geblieben, vgl. Bodel (2000), 134–143.
74 Vgl. Wolfenstein (1998 [1957]), 62: „The presence of a trusted leader in an organized group (as in an army unit in war time) has a similar effect of seeming to assure protection to his followers. The ap-pearance of calm and confidence in the leader suggests to the followers that it is he who copes directly with the danger, that he intervenes between it and themselves.“
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3.2 Reaktionen Die erste Handlung des Pompeius, ein Ausfall des Heeres, erfolgt unmittelbar im Anschluss an Seuche und Hungersnot der Caesareaner und wird durch ut primum libuit (6,118), das im Kommentar als Relativierung der Krankheit aufgefasst wurde, eingeleitet. Eine Reaktion auf Gefühlsebene, wie sie bei den Königen zu beobachten war, liegt bei den Feldherren nicht vor. Die Betrachtung der Autoritäten der ersten Gruppe hat den Eindruck vollständiger Vulne- rabilität bestätigt, wobei unterschiedliche Ursachen für deren Handlungsunfähigkeit auszu- machen sind.75 Für die zweite Gruppe der Autoritäten (Priester und Mediziner) ist vor dem Hintergrund antiker Tradition eine narrativ bedeutsamere Funktion und größere Ausführlichkeit zu er- warten: Mediziner und vor allem Priester werden bspw. in historischen Quellen geradezu als Hoffnungsträger von Volk und Würdenträgern dargestellt.76 Während jene die Symptome zu lindern versuchten, konnten Priester den Ursprung der Pest, die bekanntlich häufig als göttlich verursacht galt, ausfindig machen und Lösungsvorschläge unterbreiten, mithilfe derer der Frie- den mit den Göttern ( pax deorum ) wiederhergestellt wurde. Anlass zu größter Verzweiflung musste es demnach geben, dass in Vergils Beschreibung Chiron und Melampus als Repräsen- tanten von Kult und Medizin vor der Krankheit wichen und die Gegend verließen (3,549f.);77 hiernach bestand keine Möglichkeit des Widerstandes mehr, die sich anschließende Klimax der tobenden Tisiphone erscheint nur folgerichtig.78 Die Funktion innerhalb der Erzählung wird insbesondere im Vergleich mit dem Archetyp des Motivs bei Thukydides deutlich, der das Scheitern von Kult und Medizin direkt an den Beginn seiner Beschreibung gestellt hatte (2,47,4, T I A,B). Die meisten Beschreibungen nehmen jedoch eine gesonderte Behandlung der beiden Gruppen vor, was ein entsprechendes Vorgehen bei ihrer Besprechung anempfiehlt. Die Tätigkeit der Priester besteht in der Opferung selbst, der Eingeweideschau und im weite- ren Verlauf von Senecas Tragödie auch einer Totenbeschwörung.79 Nachdem Lukrez (6,1266– 1271) nur den Geltungsverlust göttlicher Gebote in Form der Leichenhaufen in den Tempeln
75 Toner (2013, 178) hat herausgearbeitet, dass die historischen Autoritäten aufgrund der Zuschreibung der Katastrophen an die göttliche Sphäre häufig untätig bleiben konnten, ohne negative Konsequen-zen zu fürchten. Damit bildet die göttliche Verursachung auch ein geeignetes Mittel, um die Schuld-zuweisung von der eigenen Person abzuwenden.
76 Diese Hoffnungen standen freilich in enormem Missverhältnis zu ihren therapeutischen Möglich-keiten (vgl. Meier 2021, 427–431), wie im Folgenden ersichtlich wird.
77 Vgl. Wolfenstein (1998 [1957]), 63: „The presence of authority figures in a city undergoing bombing contributes to the citizens’ feelings of being protected. Where such personages leave the city, those left behind are likely to feel abandoned.“
78 Im auffälligen Kontrast dazu steht Manilius (1,887), der zwar ebenfalls die Ohnmacht der Autori-täten nennt, mit ihr jedoch den Abschnitt vielmehr abzuschließen scheint.
79 Die Vogelschau (vgl. Leven 2005f, 912f.) wurde in keiner Beschreibung umgesetzt, obwohl hier durchaus pathetisches Potenzial in Form von hinabstürzenden Vögeln bestanden hätte.
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beschrieben hatte, führte Vergil als erster auch Priester als aktive Repräsentanten dieser Ge- bote in die Tradition ein: Noch während der Opferung bricht das Opfertier zusammen, Wun- den lassen kein Blut hervorströmen, sondern eine eitrige Flüssigkeit. Vor dem Hintergrund der strengen römischen Opferpraxis dürfte es dem Dichter gelungen sein, damit Entsetzen hervorzurufen. Es ist auch Vergil, der beschreibt, dass die Deutung der Eingeweideschau nicht möglich ist (3,491). Durch diese Aspekte hat Vergil die Motivelemente eingeführt, die Ovid und Seneca ohne größere Änderungen in ihre Beschreibungen aufnehmen, während Manilius, Lucan und Silius sie übergehen.80 Das Scheitern der rituellen Autoritäten besteht demnach im Misslingen der Kommunikation mit der göttlichen Sphäre. Die Tätigkeit der Ärzte bleibt andererseits weitgehend im Dunkeln: Nur bei Thukydides (2,51,2) und Lukrez (6,1225) ist die Rede von der Verabreichung von Heilmitteln, die jedoch, wenn überhaupt, nur einzelnen Erkrankten für eine kurze Zeit Abhilfe schaffen; eine genau- ere Information zu dieser vermutlich pharmakologischen Behandlung findet man nicht. Bei Silius liegt eine Anspielung auf diätetische Maßnahmen vor (14,600). Die Automedikation mit Wein in Vergils Beschreibung (3,509f.) entspricht, wie gezeigt werden konnte, veterinär- und humanmedizinischen Standards, wird aber von einer Sonderform der Autorität durchgeführt, nämlich dem Viehbesitzer selbst.81 Das facettenreiche Vorgehen der antiken Ärzte – man den- ke nur an die Bandbreite von Diätetik, Purgation, der Anwendung von Bädern und der Phar- makologie – ebenso wie die Vielfalt der Professionen (s. Kapitel 1.2) liest sich reduziert und uniform.82 Dabei bestehen durchaus Unterschiede im Hinblick auf das ‚Wie‘ des Scheiterns: Von Thukydides übernimmt Ovid das heroische Bild der erfolglosen Schlacht der Mediziner gegen die Krankheit, das in starkem Kontrast zum beschämten Murmeln der Medizin bei Lu- krez oder ihrem Kniefall bei Silius steht.83 Der Auszug der medizinischen Autoritäten bei Ver- gil wurde bereits oben angesprochen. Zugleich besteht das Scheitern der Medizin nicht nur darin, dass sie die Kranken nicht heilen kann, sondern dass ihre Vertreter sogar besonders häufig krank werden, was prägnant von Seneca (V. 70) beschrieben wurde. Erscheint dies vor dem Hintergrund des modernen Wissens um Ansteckung nur folgerichtig, kann es aus einer Pespektive, die zwar Ansteckung als Erfahrungstatsache kennt, jedoch den Prozess nicht ge-80 In Manil. 1,887 werden unspezifische vota (‚Gebete‘) genannt. Für Manilius dürfte die quantitative
Reduktion, für Lucan und Silius die geänderte Szenerie eine zufriedenstellende Begründung liefern.
81 Gleiches gilt für den implizierten Adressaten bei Grattius, der zumindest in der dichterischen Fik-tion das Gedicht rezipiert, um seine Hunde selbstständig gesundpflegen zu können.
82 Das bis ins Mittelalter tradierte Vorurteil der geldgierigen Ärzte, die sich an der Katastrophe zu be-reichern suchen (vgl. Bergdolt 1991, 50 und zur Einordnung in Rom Mayer 2020), findet ebenfalls keine Erwähnung.
83 Lucr. 6,1179, Ov. met. 7,525–527, Sil. 14,609.
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3.2 Reaktionen nau versteht, auch bloß als bittere Ironie und Ausweis der Unfähigkeit interpretiert werden. Es steht jedoch ohne Zweifel fest: von den Ärzten ist keine Hilfe zu erwarten. Es ist deutlich geworden, dass die Seuchenbeschreibungen bewusst ein Scheitern der Autori- täten inszenieren. Während die Könige dem Sterben ihres Volkes machtlos zusehen und alle kultischen Maßnahmen misslingen, treten die Feldherren weitestgehend in den Hintergrund; im Falle des Pompeius kann man im Vergleich mit Marcellus sogar davon sprechen, dass er seine Soldaten im Stich lässt. Das Misslingen der Orthopraxie wird dem Rezipienten anhand der Auswirkungen der Krankheit (plötzlicher Kollaps, Verformung der Eingeweide) unmittel- bar vor Augen geführt. Anders verhält es sich mit der Unfähigkeit der Ärzte – zwar ist die Ursache in Form von deren Unwissenheit ersichtlich, sie wird jedoch kaum am konkreten Beispiel ärztlichen Handelns illustriert. Die Profession und ihre Akteure wirken wie undeut- liche Schemen im allzu grellen Licht der überwältigenden Katastrophe und nehmen dennoch nicht selten eine bedeutende Funktion in der Erzählung ein. Eine Aristie der Autoritäten gibt es während der Pest an keiner Stelle: Versagen ist die einzige Option. 3.2.2 Gesellschaft Die Gesellschaft kann erstens nach Lebensraum in Land- und Stadtbevölkerung, zweitens nach gesellschaftlicher Rolle in Bürger und in Soldaten, drittens nach sozialer Beziehung in Verwand- te bzw. Freunde und ein unbestimmtes Verhältnis zu den Erkrankten unterteilt werden, wobei im Einzelfall freilich Überschneidungen untereinander bestehen. Weiterhin zeigt sich eine Dis- krepanz zwischen einer statischen Seite der Gesellschaft, die untätig als Opfer der sich auf sie niedersenkenden Krankheit beschrieben wird, und einer dynamischen, die auf die Krankheit reagiert und handelt. Wie auch das Verhalten der Autoritäten unterscheidet sich die zwischen- menschliche Reaktion bei Seuchen naturgemäß von dem bei anderen Katastrophen: Die ansons- ten aufkommende Solidarisierung mit Betroffenen tritt nämlich im Falle von Seuchen nur unter erschwerten Bedingungen ein. Ist der Nachbar von einem Hauseinsturz betroffen, kann man ihm bei Räumung und Aufbau helfen.84 Bei einer Erkrankung liegt jedoch eine andere Dynamik vor, insofern die infirmitas des Erkrankten und die damit verbundenen Anforderungen an eine Hilfestellung die Kompetenzen der Mitbürger nicht selten überstiegen haben dürften. Hinzu tritt die Erfahrungstatsache der Ansteckung und mit ihr die insalubritas der Kranken, die Solidari- tät zu einem gefährlichen Habitus werden lässt. Aus diesem Grund und mit Blick auf andere
84 Allerdings sind für Erdbeben solche kurzfristigen Hilfen im Gegensatz zu strukturellen (und zu-gleich öffentlichkeitswirksameren) Maßnahmen von Seiten der Herrscher kaum überliefert, vgl. Borsch (2018), 325–330.
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Seuchenbeschreibungen sind Veränderungen im Sozialverhalten zu erwarten. Eine Extremform stellen hierbei Schuldzuweisungen und Verfolgungen von vermeintlich Schuldigen, häufig auch von Minderheiten, dar – solche finden sich jedoch nicht in der römischen Dichtungstradition.85 Für die Zivilbevölkerung auf dem Land und in der Stadt eröffnen Thukydides und Lukrez zwei Möglichkeiten des direkten Umgangs mit den Erkrankten in Form von Flucht und Pfle- ge.86 Die Flucht lässt sich wiederum in eine vollständige Flucht und die Landflucht unterteilen.87 Als Sonderform der Pflege wurde die Isolation bei Seneca durch einen Wächter ( custos ) be- obachtet (s. Komm. zu Sen. Oed. 194–196), die bei ihm leider keine ausführliche Erläuterung erhalten hat.88 Die Entscheidung zur Pflege der eigenen Familienangehörigen89 lässt sich ana- log zu den Autoritäten der zweiten Gruppe in Form einer Begleitung am Krankenbett sowie von Bittgesuchen und Opfern in den Tempeln denken. Erstere findet jedoch im Gegensatz zur Hinwendung zu den Göttern keine explizite Erwähnung. Die Dichter legen damit nahe, dass auch die Bevölkerung (ebenso wie die Autoritäten der ersten Gruppe) um eine Lösung von göttlicher Seite ersucht.90 Aber in Entsprechung zu den Autoritäten zeigen sich sämtliche Bemühungen unabhängig von der Strategie als Misserfolg; die Bewältigungsversuche werden in der Regel nicht kollektiv, sondern individuell durchgeführt.91 Das Motivelement der Flucht85 Vgl. zum Phänomen des othering im Seuchenfall Thießen (2015), 11–14. Diese anschließenden Be-obachtungen unterstützen Samuel Cohns (2012) These, dass auf eine Pest nicht immer eine Schuld-zuweisung an Minoritäten erfolgen musste. Eine Ausnahme bildet die Autorität des Oedipus, der im Verlauf der Tragödie mehrere Schuldige auszumachen glaubt.
86 Zu Egoismus und Altruismus als Reaktion auf eine Katastrophe vgl. Wolfenstein (1998 [1957]), 91–103 sowie Taylor (2019), 30 und 57f. (als Teil des Verhaltens-Immunsystems); Grimm (1965, 230) spricht vom „radikalen Gegensatz Entartung – Aufopferung“. Im Zuge der Cyprianischen Pest im dritten nachchristlichen Jahrhundert nutzten die frühen Christen Altruismus und Märtyrertum zur Abgrenzung von den Heiden, vgl. Preiser-Kapeller (2021), 289f.
87 Die Binnenmigration während der Epidemie dient hier ausschließlich als Katalysator der Katastro-phe, wobei Harper (2017, 58) jene auch als mögliche Resilienzstrategie im Anschluss erwähnt.
88 Hieran zeigt sich jedoch im Ansatz, dass man sich den Erkrankten eben nicht nur in seiner infirmi- tas , sondern auch in seiner insalubritas vorstellte, und entsprechende institutionelle Maßnahmen einleiten ließ.
89 Paul Slack (1988, 440) hat für Seuchen der europäischen Neuzeit beobachtet, dass sich diese Pflege als „a hard-headed and sometimes ruthless care for the preservation of self and family“ äußert. Zwar findet sich in den Beschreibungen kein direkter Ausschluss entfernterer Verwandter, doch wenn soziale Rollen genannt werden, beschränken sie sich in der Tat auf die Kernfamilie.
90 Für kollektive Bewältigungsversuche, z. B. das Aufstellen von Statuen oder die Durchführung von Prozessionen, vgl. Meier (2021), 430. Toner (2013, 43) spricht von einer twin reaction : Die Katastro-phe kann sowohl zu einer Hinwendung als auch zu einer Abwendung von der Religion führen.
91 Eine Ausnahme bilden die Hirten und Bauern in Vergils Noricum (3,531–536 und 559–562) deren Verhalten kollektiv erscheint. Als historisches Beispiel kann die Praxis der Lokrier verglichen wer-den, jedes Jahr eine Jungfrau in den Athenatempel zu senden, um die Pest von ihrem Volk abzuwen-den, die vom Frevel des Aiax herrührte, vgl. Horstmanshoff (1989), 141.
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3.2 Reaktionen oder Pflege ermöglicht es dem Erzähler, entweder den Werteverfall in der sozialen Einheit Familie auszumalen oder im Gegenteil deren Stärke und gegenseitige Stützung unter Beto- nung des Pflichtbewusstseins und Schamgefühls des Einzelnen zu beschwören.92 Eine beson- dere Stellung bezieht Lukrez, der nihilistisch anmutend das eine wie das andere Verhalten als nutzlos charakterisiert. Bemerkenswerterweise greifen seine Nachfolger das Element der Flucht der Angehörigen nicht auf,93 sondern zeichnen entweder eine in dieser Hinsicht durch und durch pflichtbewusste Gemeinschaft oder lassen das Element schlicht unerwähnt.94 Der moralisierende Aspekt, der bei Lukrez allgegenwärtig ist, findet sich in der späteren Tradition einerseits im Verhalten der Erkrankten (s. Kapitel 3.2.3), andererseits bei der Beschreibung der Bestattungspraxis, auf die im nächsten Schritt einzugehen ist. Zuvor ist festzuhalten, dass die Motivtradition nach Lukrez eine idealisierende Beschränkung der Verhaltensoptionen der Be- völkerung vornimmt, insofern die Flucht vor der infirmitas bzw. insalubritas der Angehörigen keine Erwähnung mehr findet und überwiegend Pflegemaßnahmen in Form von Kultprakti- ken ergriffen werden. Auf die große Bedeutung, die der korrekten Bestattungspraxis aus Sicht des gebildeten rö- mischen Rezipienten zukommt, wurde bereits im Kommentar eingegangen (vgl. Komm. zu Lucr. 6,1273–1281 mit Anm. 271, S. 163). Es ist daher wenig verwunderlich, dass die Dichter gerade dieses Element genutzt haben, um die Notlage und den Werteverlust oder -erhalt der Gesellschaft in Zeiten der Pest zu illustrieren. Gleichwohl lässt sich auch hier ein Wandel in der Tradition beobachten: Mit Veränderungen wird das lukrezische Modell (unbestattete Leichen, unbegleitete Leichenzüge, Diebstahl der Scheiterhaufen, blutige Kämpfe, Geschrei) in der ein oder anderen Art von Ovid, Manilius und Lucan aufgegriffen.95 Insgesamt ist eine Tendenz zur Abmilderung der Gewalt und Drastik zu beobachten, die am deutlichsten bei Ovid hervor- tritt. Vergil schildert knapp die Bestattung von Tieren (3,558), Grattius übergeht den Punkt vollständig, sodass aufgrund der Betrachtung von Tieren das Moment des Frevels entfällt. Eine Erweiterung findet sich bei Seneca, der das Element ausführlich behandelt und zur In- szenierung des Pflichtbewusstseins der Familie in Form von Vater und Mutter nutzt (V. 59f.). Schließlich ist auf die jeweiligen Begründungen für die ausbleibende Bestattung hinzuweisen:
92 Ausführlich geschieht dies in Ov. met. 7,589–592, wohingegen Manil. 1,887 und Sen. Oed. 69 ledig-lich die Gebete ( vota ) erwähnen. Es findet dahingehend eine Reduktion dieses Elements statt.
93 Vielleicht kann die Erwägung des Oedipus (Oed. 77–81) als Reflex dieses Elements gedeutet werden.94 Bemerkenswert ist dies auch deshalb, weil es sich historisch bei der Flucht zwar um eine der letzten Reaktionen auf Subsistenzkrisen, aber eine der ersten bei Seuchen gehandelt hat, vgl. Stathakopoulos (2004), 78f. und 146f.
95 Bei Lucan tritt die Reaktion der Soldaten fast vollständig hinter der Ätiologie und der Symptomatik der Krankheit zurück. Beim Blick auf die Autoritäten wurde ersichtlich, dass auch Pompeius (in Übereinstimmung mit seiner Darstellung im Gesamtwerk) nichts unternimmt.
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Ovid etabliert den Gedanken, dass Platz und Ressourcen ausgehen, der von Manilius und Se- neca rezipiert wird; Silius spricht von der Angst (wohlgemerkt nicht dem Ekel) der Kameraden vor Ansteckung durch die Berührung der Leichen.96 Mit diesen Beobachtungen schließt sich der Kreis zur oben herausgearbeiteten Ausklammerung der Fluchtoption: Die Todesfurcht, die bei Lukrez zur Flucht der Angehörigen führte, findet sich lediglich in der Begründung der ausbleibenden Bestattung bei Silius. Die Darstellung der anderen Autoren führt folglich zu einer moralischen Entlastung der beteiligten Personen – selbst wenn sie es wollten, könnten sie die Toten nicht bestatten. Damit entfernen sich die späteren Dichter auch immer weiter von der Vorlage des Thukydides, indem der dort beschriebene Bruch mit weltlichem Recht (Thuc. 2,53) ausgespart wird und der mit göttlichem Recht (Thuc. 2,52,3f.) eine Rechtfertigung erhält. Nachdem insbesondere das Verhältnis der Gesellschaft zu den Erkrankten betrachtet wurde, muss abschließend ein Blick auf dasjenige zu den Autoritäten geworfen werden. In dieser Hin- sicht zeigt sich in Übereinstimmung mit dem Verhalten der Erkrankten, dass die betroffene Bevölkerung kein subversives Verhalten (etwa in Form von Aufständen oder Plünderungen) aufweist, sondern ausschließlich in die Auseinandersetzung mit Krankheit und Erkrankten verstrickt ist.97 Hierin kann sich einerseits eine Eigenheit der römischen Gesellschaft wider- spiegeln, die sich auch in Zeiten der Katastrophe als resilient (im Sinne der engineering resi- lience , s. die Einleitung zu diesem Kapitel) erwiesen hat.98 Andererseits kann es sich auch um ein Resultat der Rezipientenorientierung handeln: Bestand der primäre Rezipientenkreis vor allem aus Angehörigen der senatorischen Oberschicht, hätte ein Aufstand der Gesellschaft gegen die Autoritäten vermutlich wenig Begeisterung geweckt. Entsprechend lag der Schwer- punkt der Betrachtung auf den Erkrankten selbst, die im letzten Schritt zu untersuchen sind. 3.2.3 Erkrankte Die Gruppe der Erkrankten teilt sich in Menschen, Tiere und die als beseelt aufgefasste Na- tur. Am ausführlichsten beschrieben ist die Reaktion der erkrankten Menschen, die jedoch in96 Dabei bestätigt neuere psychologische Forschung, dass die Angst selbst ansteckend sein kann, vgl. Taylor (2019), 71: „The perception of a common threat can lead to behavioral mimicry of fear reac-tions, thereby promoting the spreading of fear“.
97 Perilli (2020, 361) sieht in dieser fatalistischen Reaktion, die keine Umstrukturierung des gesell-schaftlichen Systems anstrebt, ein archaisches Element, das bei Thukydides in Form des Gesetzes-bruchs aufgehoben wird. Umso bemerkenswerter ist der Umstand, dass die römische Tradition zu der von ihm als archaisch bezeichneten Gesinnung zurückkehrt. Für generelle Überlegungen zu subversivem Verhalten als Reaktion auf Pandemien vgl. Taylor (2019), 30–34.
98 Vgl. Toner (2013), 179: „The resilience of the Roman social and belief system meant that disasters were not opportunities for the introduction of radical reforms or the trigger for rapid change.“
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3.2 Reaktionen einem engen Verhältnis zur Erkrankung von Tier und Natur steht. Deshalb beginnt unsere Untersuchung bei der Umgebung der Menschen. Die Erkrankung von Tieren findet sich bereits zu Beginn der Tradition: Bei Thukydides (2,50,1f.) und Lukrez (6,1215–1224) wird hervorgehoben, dass Beutetiere die Kadaver nicht an- rühren, sondern sie vermeiden oder, sollten sie davon gefressen haben, zugrundegehen. Hierin steckt schon der Kern aller nachfolgenden Verarbeitungen, nämlich, dass neben dem bloßen Sterben eine Wesens- und/oder Verhaltensänderung der Tiere vorliegt. Diese Verwandlung erhielt von Vergil (3,537–547) ihre entscheidende Prägung und wurde von Ovid (7,538–551) und Seneca (145–159) variiert;99 Manilius lässt das Motivelement des Tiersterbens aus, Lucan (6,88–90) nutzt die Pferdekadaver für seine Ätiologie und Silius (14,594–596) beschreibt den topischen Hundetod, Wildsterben und vom Himmel herabfallende Vögel. Gerade Letzteres leitet zur besonderen Funktion der Tierbetrachtung über: Einerseits ist das Tiersterben an sich ein Zeichen der Wirkmacht der Pest und ihrer Ausbreitung auf alle Teile der Lebenswelt, an- dererseits wird die Wesensveränderung als Bestandteil von Aufzählungen von Adynata ein- gesetzt – eigentlich Unmögliches wird möglich, die Gestörtheit der natürlichen Ordnung tritt gerade hierin offen zu Tage. Durch diese Erweiterung erhält die Krankheit einen unbegreif- lichen (weil metaphysischen) und kosmischen Charakter. Dieser äußert sich ebenso in der Betrachtung der Natur, die in Analogie zum Menschen als krank beschrieben wird (Makrokosmos-Mikrokosmos-Gedanke). Ausgehend von Vergils Er- krankung des Himmels (3,478) steigern Ovid und (gattungsbedingt in noch größerem Maße) Seneca den Umfang der Naturbeschreibung zu einer düsteren Drohkulisse, bei Silius ist die Deutung der Natur als Organismus in Form der Erddarstellung als Rücken (14,591) greifbar. Eine Sonderform stellt die Umsetzung des Manilius dar (1,894f.), der die Sterblichkeit der Welt in seiner Schilderung aus stoischer Perspektive mitverarbeitet hat. Die Betrachtung von Tier und Natur ist für Dichter und Rezipienten deshalb von großer Bedeutung, weil sie offenbart, dass das epidemische Krankheitsgeschehen den gesamten Kosmos erfasste.100 Zwar besteht durch die Konzentration auf die Symptome und das Verhalten von Individuum und Gesell- schaft gewiss ein Anthropozentrismus, doch wird der Mensch zugleich als Teil eines größeren Systems begriffen. Wie aber reagiert der Mensch, der an der Pest erkrankt? Die Beschreibungen liefern eine große Zahl an Verhaltensoptionen, die in der Regel un- abhängig von Alter, Geschlecht, körperlicher Konstitution oder Lebensführung geschildert werden. Diesem Vereinheitlichungsprozess der poetischen Beschreibungen wird durch
99 Für Vergil ist weiterhin zu differenzieren zwischen den mit stark vermenschlichten Zügen dargestell-ten Tieren (insbesondere Pferd und Stier) und den ‚echten‘ Tieren, die ausschließlich im Kollektiv geschildert werden.
100 Damit stehen die Fiktionen in starkem Kontrast zu Winterlings (2005, 122–125) These, nach der historische Seuchen von 1000 v. Chr.–500 n. Chr. im Mittelmeerraum stets räumlich begrenzt waren.
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unsere undifferenzierte Betrachtungsweise auf ‚die Kranken‘ adäquat entsprochen. Kurz abgehandelt werden können Reaktionen wie Zuversicht und Durchhaltevermögen, die ex- plizit nur bei Silius (14,618–620, in Abhängigkeit vom Zustand der Autorität des Marcellus) Erwähnung finden. Ansonsten findet sich, ebenfalls abhängig von den Reaktionen der Au- toritäten und der Gesellschaft, bisweilen ein panisches, häufiger ein passiv-resignierendes Verhalten.101 Scheitert seine Umgebung, sieht sich der Erkrankte auf sich zurückgeworfen und muss sich selbst Abhilfe schaffen. Lukrez legt seinen Schwerpunkt bewusst auf die To- desangst der Erkrankten, um sie als Negativbeispiel mangelnder philosophischer Einsicht aufzuzeigen. Dies führt sogar so weit, dass sich die Kranken selbst verstümmeln, nur um am Leben bleiben zu können (6,1209–1211) – ein Element, das seine Nachfolger in dieser Form nicht in ihren Seuchenbeschreibungen aufgegriffen haben. Ein weniger drastisches Mittel zur Selbsthilfe besteht im Sprung in Flüsse und Zisternen, um den brennenden Durst zu löschen und sich zu kühlen, was bei Ovid (7,570f.) eine moralisierende Ausdeutung erfährt. Dieses Verhalten ist vergleichbar mit dem Versuch der Kühlung mithilfe des Bodens bzw. von Steinen, den die Erkrankten bei Ovid (7,559f.) und bei Seneca (192f.) unternehmen. Be- gleitet wird dies von einem (bei Seneca von der Gesellschaft durch Isolation unterdrückten) Drang der Kranken, sich nach draußen an die Luft zu begeben,102 der einerseits mit der ge- fühlten Hitze und Atemnot, andererseits bei Ovid mit der (gefühlten) Enge der Häuser zu- sammenhängt. Folglich sind es insbesondere die Elemente, die den Kranken als Mittel zur Selbsthilfe zu Gebote stehen.103 Dagegen weisen diejenigen, die für sich keine Hoffnung mehr sehen,104 teilweise resignier- tes, teilweise destruktives Verhalten auf, wobei hervorzuheben ist, dass ausschließlich Ag- gression gegen die eigene Person vorliegt;105 die Erkrankten schädigen sich selbst, aber nicht101 Dadurch heben sich die Seuchenbeschreibungen von anderen Katastrophenschilderungen ab, in denen eine Tendenz zu beobachten ist, die Masse als blindwütig und panisch darzustellen; vgl. dazu Toner (2013), 32 mit Anm. 14 und Slack (1988), 439: „But there was in fact much less blind panic in plague-time than some popular writers and even some historians have supposed. There was some rationale to most reactions to plague, whether private, popular, or public; there was surprisingly little in the way of simple crowd hysteria or individual psychopathology.“
102 Daraus resultieren die endzeitähnlichen Szenerien bei Lukrez und Ovid, in denen halbtote Erkrank-te apathisch durch die Straßen irren.
103 Die reinigende Funktion der Elemente Feuer und Wasser wurde im Komm. zu Verg. georg. 3,559 behandelt.
104 Lukrez prägt in 6,1231 die feine Formulierung implicitum morbo , das die Innenperspektive der Er-krankten im Bild des Verstricktseins ( implicitum ) in die Krankheit, des Gefangenseins und der ge-fühlten (und durch Beobachtung bestätigten) Unentrinnbarkeit zum Ausdruck bringt.
105 Erneut in Entsprechung zu Wolfenstein (1998 [1957]), 87: „A situation of real or imagined entrap-ment thus seems to be the most likely to induce destructive or self-destructive behavior.“
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3.2 Reaktionen ihre Umwelt.106 Womöglich inspiriert von der Automutilation der Menschen bei Lukrez oder der Pferde bei Vergil, hängen sich Menschen bei Ovid am Altar auf und töten sich bei Seneca in den Tempeln. Dabei ist anzumerken, dass nicht gesagt wird, ob diese Menschen bereits erkrankt sind, d. h. ob bereits die Erwartung des nahenden Todes als Antrieb fungiert. Die genannte Motivation der Menschen differiert zwischen Ovid und Seneca: Bei jenem töten sich die Menschen einerseits aus Furcht vor dem Tod – ein Paradox, von dem bereits Lukrez zynisch zu berichten wusste;107 andererseits inszenieren sie ihren Freitod als Schmach der Götter. In Senecas Beschreibung wechseln die Vorzeichen dahingehend, dass sich die Men- schen den Tod angesichts der Qualen im Diesseits wünschen und versuchen, die mutmaß- liche Blutlust der Götter mit ihrem Freitod zu sättigen. Diese beiden Umsetzungen zeigen, wie im Angesicht des als unvermeidlich wahrgenommenen Sterbens der Tod selbst zu einer Ausdrucksform wird. Die Betrachtung der Erkrankten hat ergeben, dass sie, da in ihrer infirmitas nicht auf die Hilfe der Ärzte zu hoffen war, entweder Versuche der Selbsthilfe unternahmen, oder aber jede Hoffnung aufgaben und sogar den Freitod suchten. Die Mittel zur Selbsthilfe reichten von der Nutzung natürlicher Ressourcen bis hin zur Selbstverstümmelung. Als immer wichtigerer Faktor der Tradition stellte sich die Erkrankung der Umwelt heraus: Steht bei Lukrez noch der Mensch und sein Unvermögen im Umgang mit der Krankheit im Vordergrund, nimmt bei Seneca die Beschreibung der Welt, die aus den Fugen geraten ist, einen bedeutenden Raum der Schilderung ein. Die Seuche wird als kosmisches Ereignis inszeniert, der Mensch ist krank – und mit ihm die Welt.
106 Das Motivelement eines verbrecherischen Mobs, das von Thuc. 2,53 nahegelegt wird, findet in der lateinischen Tradition keine Entsprechung.
107 Lucr. 3,79–82 (als Klimax einer Aufzählung menschlicher Irrtümer): et saepe usque adeo, mortis for- midine, vitae | percipit humanos odium lucisque videndae | ut sibi consciscant maerenti pectore letum | obliti fontem curarum hunc esse timorem. (‚Häufig erfasst die Menschen aus Todesfurcht ein derart großer Hass auf ihr Leben und das Tageslicht, dass sie traurigen Herzens Selbstmord begehen, weil sie vergessen haben, dass die Quelle ihrer Sorgen diese Furcht selbst ist.‘)
Sobald sich daher ein Klima, das uns zufälligerweise schadet, bewegt und die feindliche Luft zu kriechen beginnt, wie Nebel und Wolken sich langsam wa-bernd nähern und alles, wohin sie gelangen, durch- einander bringen und zur Veränderung seines Zu-standes zwingen, so geschieht es auch, dass, wenn jenes schließlich zu unserem Klima gelangt, es die-ses verdirbt und es an sich angleicht, d. h. es für uns schädlich hinterlässt.
29 Auf den Variantenreichtum der Humoralpathologie wurde bereits mehrfach hingewiesen, s. Anm. 177, S. 58.
30 Vgl. Gundert (2005b), 819f. und Potter (2005), 672f.
31 Langholf (1990), 39: „This collection of ,physiological‘ passages, however, should not mislead the modern reader into thinking that it is possible to reconstruct a system of Homeric ,physiology‘.“
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3.1 Pathologie Aus der ätiologischen Betrachtung lässt sich ein allgemeines Prinzip der ‚Unordnung‘ ablei- ten ( conturbare , immutare ), das letztlich zur verdorbenen Luft ( corrumpat ) führt.32 Ganz ver- gleichbar lässt sich das Wirken der Krankheit im Körper vorstellen, insofern die Atomkonfi- gurationen aus ihrer ursprünglichen Verbindung gebracht werden. Hierfür lässt sich neben dem Symptom der perturbata mens (6,1183) nur ein Beleg im vierten Buch anführen.33 In der Seuchenbeschreibung selbst zeigt sich eine mechanische Vorstellung der Bewegung der morbi- da vis als Atomstrom (6,1152 confluxerat ) vom Kopf durch den Körper hinab bis zum Herzen,34 wo sie sich vermutlich anreichert (6,1257 confertos ) und von wo aus sie die Vielzahl an Symp- tomen zu bewirken scheint.35 Ein weiterer Hinweis auf die Physiologie findet sich in 6,1204, wo nach der ersten Krise (s. Anm. 176, S. 141) von einer Flussrichtung ( fluebat ) der vires cor- pusque des Menschen in den Kopf (s. Anm. 191, S. 144) gesprochen wird.36 Es wurde bereits angemerkt, dass eine Festlegung darauf, welche Krankheitsvorstellung pathophysiologisch zugrundegelegt wird, schwer fällt, da sich sowohl humoral- als auch solidarpathologische Ele- mente finden. Eindeutig ist lediglich, dass die asklepiadeische Korpuskulartheorie, nach der Krankheiten durch die Ansammlung von Atomen und eine daraus resultierende Verstopfung der Kanäle im Körper entstehen (s. Anm. 89, S. 30), keine direkte Verarbeitung findet.37 Hier- für bieten sich zwei Erklärungen: Entweder die Theorie (und damit vermutlich auch die Arbeit des Asklepiades, contra Stückelberger) war Lukrez unbekannt, oder die enge Rezeption des Thukydides legte eine solche Umsetzung nicht nahe – dies ist m. E. wahrscheinlicher, wenn- gleich beide Erklärungen vorerst unbeweisbar bleiben. Vergil gibt in seiner theoretischen Behandlung von Krankheiten einige Hinweise darauf, wie man sich deren Wirken vorzustellen hat: Sie sind etwas, das sich vergrößert, sich an seinem
32 Vgl. mit Stückelberger (1984, 151f.) die asklepiadeische Ätiologie der obtrusio corpusculorum sowie Pigeaud (1980) über das Verhältnis der lukrezischen zur asklepiadeischen Physiologie.
33 Lucr. 4,664–667 quippe ubi cui febris bili superante coorta est | aut alia ratione aliquast vis excita morbi | pertubatur ibi iam totum corpus et omnes | commutantur ibi positurae principiorum . (‚Denn bei wem ein Fieber aufgrund eines Überflusses an Galle entsteht oder auf andere Weise irgendeine Krankheit hervorgerufen wird, dort wird schnell der ganze Körper durcheinander gewirbelt und alle Atompositionen verändern sich.‘). Der Dichter scheint hier eine Vereinbarkeit von Humoral- und Atomarpathologie nahezulegen – letztere wird als tiefere Ebene der ersten aufgefasst.
34 Neben dem Ordnungsschema des a capite ad calcem bestand auch die pathophysiologische Vorstel-lung des Krankheitsflusses vom Kopf abwärts, vgl. Craik (2021), 200.
35 Dies hängt mit der Vorstellung des Herzens als Sitz des animus zusammen, s. Anm. 125, S. 131.
36 Dieser Fluss wird im Folgenden durch das neutrale Verb der Bewegung ire aufgegriffen, Lucr. 6,1206f. tamen in nervos huic morbus et artus | ibat .
37 Im Gegenteil evozieren die Formulierungen in 6,1153 ( lababant ) und 1162 ( dissolvebat ) die Vorstel-lung, dass die Krankheit eine auflösende Wirkung entfaltet. Der Ausdruck aestu confertos in 6,1256f. bezeichnet in der hier vertretenen Deutung keine Ver stopfung der Kanäle, sondern lediglich eine große Anreicherung der Krankheitsatome in den Erkrankten.
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‚Wirt‘ nährt (3,454 alitur vitium ) und sich immer tiefer in ihn hineinfrisst (3,457f. lapsus ad ossa … artus depascitur ). Mit dem Ausdruck depascitur evoziert der Dichter das Bild eines Raubtiers, das sein wehrloses Opfer Stück für Stück verzehrt.38 Daneben widmet Vergil der Pathophysiologie direkt zu Beginn (3,482–485) der eigentlichen Seuchenbeschreibung einen eigenen Passus: nec via mortis erat simplex: sed ubi ignea venis omnibus acta sitis miseros adduxerat artus, rursus abundabat fluidus liquor omniaque in se ossa minutatim morbo conlapsa trahebat.Und nicht kam der Tod nur auf einem Wege, sondern gerade hatte ein brennender Durst die Venen zur Gänze durchzogen und die Glieder der Elenden ver-schrumpeln lassen, da quoll immer wieder schwal-lartig Flüssigkeit auf und verflüssigte vollständig die Knochen, indem sie diese im Laufe der Krankheit all-mählich in sich zusammenfallen ließ. Daraus wird ersichtlich, dass der beschriebene Wirkmechanismus mit den gegensätzlichen Elementen Feuer und Wasser sowie mit ihren jeweiligen Primärqualitäten agiert; damit be- trachtet Vergil eine höhere Konstitutionsebene des Seins als Lukrez, dessen Atome keine sol- chen Qualitäten aufweisen.39 Bereits im Kommentar wurde eine These zur Funktion dieses Abschnitts geäußert, die auch erklären kann, weshalb die Gegensätze nicht in dieser Form im Verlaufe der Beschreibung wieder aufgegriffen werden: Die vier Verse dienen dazu, die Unnatürlichkeit der Krankheit zu unterstreichen und die konservative Therapie des contraria contrariis nutzlos werden zu lassen.40 Mit Blick auf das pathophysiologische Prinzip wird er- sichtlich, dass die Ursache für die Ausbildung der Krankheit ein Ungleichgewicht im mensch-
38 Vgl. Verg. Aen. 2,213–215 (von den Schlangen, die Laokoon und seine Söhne töten): et primum parva duorum | corpora natorum serpens amplexus uterque | implicat et miseros morsu depascitur artus . Die Grundlage für diese heimtückische Personifikation findet sich bereits bei Lukrez: Dort erwartet die Krankheit die Erkrankten nach der Krise (6,1201 manebat ) oder packt sie in Form des Vergessens (6,1213 cepere ).
39 Vgl. mit Wardy (1988, 123–128) Lucr. 2,730–864.
40 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der junge Friedrich Schiller seine medizini-sche Abschlussarbeit De discrimine febrium inflammatoriarum et putridarum (1780) mit einer Apo-rie zu „fauligen Fiebern brandiger Art“ (§ 38) beschloss (Text und Übersetzung nach Neuhausen et al. 2020, 60f.): Id ipsum fatale inflammationis cum putredine connubium Malignitatem harum febri- um præcipue constituit, dum Indicationes quasi collidant, et quæ uni malo infringendo conducerent, in pejus alterum vertant. Quid quæso artium Saluberrimæ in Morbis relinquitur in quibus non agendo negligit, agendo depravat? („Eben diese verhängnisvolle Vermählung von Entzündung und Fäulnis macht vor allem die Bösartigkeit dieser Fieberarten aus, während die Heilanzeigen gewissermaßen aufeinanderprallen und diejenigen, die zur Schwächung des einen Übels führen würden, ein anderes verschlimmern würden. Was bleibt, so frage ich, der heilbringendsten der Künste im Fall von Krank-
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3.1 Pathologie lichen (bzw. tierischen) Körper ist. Die einzige weitere Aussage zur Wirkweise der Krankheit findet sich in der Benennung des äußeren (3,479 incanduit aestu ) und inneren Feuers (3,512 ardebant ); die kleine Schilderung der Aeneis liefert keine weiteren Informationen. Für Grattius besteht bei der Behandlung von Hundekrankheiten eine klassische Unterschei- dung in äußere und innere Krankheiten, wobei Letztere noch in oberflächliche und tiefe einge- teilt werden. Die oberflächlich inneren Krankheiten gilt es freizulegen, um direkte Sicht auf die Ursache der Krankheit zu erlangen.41 Die tiefergehenden inneren Krankheiten sind diejenigen, die bei ausbleibender Behandlung eine Pest unter der Meute verursachen können. Über die Wirk- weise im Hundekörper äußert sich Grattius bei dieser allgemeinen Betrachtung nicht explizit; die Krankheit ist für ihn etwas, das sich im Innern der Hunde aufhält, um dann plötzlich mit einer nicht zu bewältigenden Kraft hervorzubrechen (V. 366–368). Dies knüpft an die bereits bei Vergil beobachtete Vorstellung einer Entität an, die sich an ihrem Wirt labt und dadurch erstarkt. Ein Blick auf die sich anschließende Behandlung der konkreten Krankheitseinheiten ( rabies, scabies, robur , s. auch das nächste Kapitel) unterstützt diesen Eindruck und erweitert ihn sogar dahinge- hend, dass der Krankheit eine Form intentionalen Handelns und Fühlens zugeschrieben wird.42 Die Beschreibungen der Nachfolger greifen fast vollständig auf die soeben dargelegten Vor- stellungen zurück, sodass die Stellen zum Zweck einer Redundanzvermeidung summarisch aufgeführt werden: 1. Krankheit als selbstständig agierende Entität: Ov. met. 7,524 incidit und 553 dominatur ; Sil. 14,596 serpere labes . 2. Krankheit als (tief eindringender) Parasit, der sich am Wirt labt und dadurch wächst: Ov. met. 7,601 tristes penetrant ad viscera morbi; Sil. 14,605 membris … peresis und 613 serpit pascendo crescens Acherusia pestis . 3. Krankheit als Quelle der Überhitzung: Ov. met. 7,554 flammaeque latentis , 555 ductus an- helitus igni und 560 humus de corpore fervet ; Manil. 1,881 corripit exustis letalis flamma medullis; Sen. Oed. 38 anhela flammis corda , daneben V. 39f., 42, 153, 185; Lucan. 6,96f. ignea … fervida … pestis ; Sil. 14,602 igneus … spiritus . heiten übrig, bei denen sie sich durch Nichteingreifen der Nachlässigkeit schuldig macht, durch Ein-greifen aber den Zustand verschlechtert?“)
41 Gratt. 360f. contra pande viam fallentisque argue causas | morborum . (‚Dann hingegen eröffne dir einen Weg und mache die Krankheitsursachen, die sich deinem Blick zu entziehen suchen, aus.‘)
42 Zu rabies : Gratt. 386 Heimliches Eindringen ( subit ), 389 Brennen ( aestivos vibrans … ignes ), 391 Schmerz durch Bewegung des Wurms ( motu stimulisque potentibus ); zu scabies : 411f. Beharrlichkeit ( sequaci … malo ), 418f. Zorn und Kraft ( ira … rigor ), 423 Etwas, das man ausschwitzen kann ( ex- sudent vitium ), 461 Zerfressen des Wirts ( exedit ), 463 Krankheit als Herrscher ( regnantem excuties morbum ; vgl. Ov. met. 7,553); zu robur : 469 Unruhe ( in subito … tumultu ), 476 Wüten ( morbo … furenti ).
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4. Krankheit als Quelle der Verflüssigung: Ov. met. 7,550 dilapsa liquescunt und 585 putria . Die einzige Wirkung, die sich unter diese Aspekte nicht einordnen lässt, ist die Verhärtung der Eingeweide in Lucan. 6,94 ( duravit viscera ), die jedoch sowohl eine Vorlage in Ovid be- sitzt (7,559 praecordia dura ) als auch bereits im Zusammenhang der Ätiologie als Beson- derheit herausgestellt wurde. Insgesamt wird durch den Vergleich deutlich, dass sich die Wirkvorstellung der Krankheit insbesondere auf die Überhitzung der Erkrankten bezieht. Daneben steht die Verflüssigung des Körpers im Fäulnisprozess, der eng mit der Hitzeent- wicklung zusammenhängt und u. a. durch den analogen Vorgang des Schmelzens begriffen wird. Schließlich ist eine Tendenz zu beobachten, die Pest als selbstständige Entität aufzufas- sen, der nicht selten unheimliche Attribute zugeschrieben werden. Man kann demnach von einem ontologischen Krankheitskonzept sprechen, das auf den Primäreigenschaften von warm, trocken, flüssig basiert und von den Dichtern insbesondere zu pathetischen Zwecken verwendet wird. 3.1.3 Symptomatik Im Zuge des Kommentars wurden die verschiedenen narrativen Funktionen der Symptom- kataloge (s. auch Anm. 20, S. 15) herausgearbeitet. Im Folgenden liegt das Augenmerk auf den Katalogen als Zeugnis der Vorstellung von Körper und Krankheit. Zu diesem Zweck wird eine Aufstellung der beschriebenen Symptome geliefert, anhand derer zum einen die Bezugnahme der Autoren auf ihre Vorgänger (zumindest in dieser Hinsicht43), zum anderen ihr Gestal- tungswille und -prinzip ersichtlich werden. Zur besseren Nachverfolgung stehen Symptome, die eine Innovation darstellen, im Fettdruck.Thukydides: Fieber (τῆς κεφαλῆς θέρμαι ἰσχυραί), Rötung der Augen (τῶν ὀφθαλμῶν
ἐρυθήματα καὶ φλόγωσις), Blutung in Mund und Rachen (τὰ ἐντός, ἥ τε φάρυγξ καὶ
ἡ γλῶσσα εὐθὺς αἱματώδη), Mundgeruch (πνεῦμα ἄτοπον καὶ δυσῶδες), Niesen und
Heiserkeit (πταρμὸς καὶ βράγχος), Husten (βήξ), verschiedenartiger Auswurf von
Galle (ἀποκαθάρσεις χολῆς πᾶσαι), große Schmerzen (μετὰ ταλαιπωρίας μεγάλης), unproduktives Würgen mit begleitenden Krämpfen (λύγξ κενή σπασμὸν ἐνδιδοῦσα),
43 Dass nicht allein auf Basis eines Symptomvergleichs die durchaus komplexen Möglichkeiten gegen-seitiger Anspielung abgebildet werden können, wurde in den Anmerkungen bereits herausgestellt. So ist bspw. die einfache Aussage des Thukydides, die Pest habe unabhängig von der Ernährung zu-geschlagen, bei Vergil in die Theodizee eingearbeitet worden.
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3.1 Pathologielauwarme Haut (σῶμα οὔτ’ ἄγαν θερμὸν ἦν οὔτε χλωρόν), Bläschen und Geschwü-re auf der Körperoberfläche (φλυκταίναις μικραῖς καὶ ἕλκεσιν ἐξηνθηκός), Brennen im Innern (τὰ δὲ ἐντὸς οὕτως ἐκάετο), unstillbarer Durst (τῇ δίψῃ ἀπαύστῳ), Tod am neunten oder siebten Tag, Magengeschwüre und Durchfall (ἐς τὴν κοιλίαν καὶ ἑλκώσεώς τε αὐτῇ ἰσχυρᾶς ἐγγιγνομένης καὶ διαρροίας ἅμα ἀκράτου ἐπιπιπτούσης), Befall der Geschlechtsteile (κατέσκηπτε γὰρ ἐς αἰδοῖα), Amnesie (τοὺς δὲ καὶ λήθη ἐλάμβανε)
Lukrez: Fieber ( caput incensum fervore ), Rötung der Augen ( oculos suffusa luce ruben- tes ), Blutung in Mund und Rachen ( sudabant etiam fauces intrinsecus atrae … manabat lingua cruore ), Geschwüre im Rachen ( ulceribus vocis via saepta coibat ), schwer beweg- liche, raue Zunge ( motu gravis, aspera tactu ), verwesungsähnlicher Mundgeruch ( tae- trum volvebat odorem ), bange Beklemmung ( anxius angor ), Stöhnen und Klagen ( gemi- tu commixta querella ), in seiner Häufigkeit ermüdendes Würgen ( singultusque frequens ), lauwarme Haut ( tepidum manibus proponere tactum ), Geschwüre auf der gesamten Körperoberfläche ( ulceribus quasi inustis , vergleichbar mit dem ‚Heiligen Feuer‘ , sacer ignis ), Brennen im Magen ( flagrabat stomacho flamma ), unstillbarer Durst ( insedabiliter sitis … mersans ), Schlaflosigkeit ( lumina versarent oculorum expertia somno ), geistige Verwirrung ( perturbata animi mens ), Stimmungstief ( triste supercilium ), rasende Mi- mik ( furiosus voltus et acer ), Rauschen im Ohr ( plenaeque sonoribus aures ), unregelmä- ßige Atmung ( creber spiritus aut ingens raroque coortus ), Schweißausbrüche am Hals ( madens per collum splendidus umor ), dünner und verringerter Speichelfluss ( tenuia sputa minuta ), Husten mit gelbem und salzigem Auswurf ( croci contacta colore | salsa- que per fauces rauca vix edita tussi ), Muskelkontraktion ( in manibus vero nervi trahere ), Zittern ( tremere artus ), Kälteaufstieg von den Füßen aus ( a pedibusque minutatim suc- cedere frigus ), verengte Nasenlöcher ( conpressae nares ), dünn zulaufende Nasenspitze ( tenue acumen nasi primoris ), eingefallene Augenpartie und Schläfen ( cavati oculi, cava tempora ), kalte und harte Haut ( frigida pellis duraque ), schlaffer offenstehender Mund ( molle patens rictum ), schnelle Leichenstarre ( nec nimio rigida post artus morte ), Tod am siebten/achten Tag, Magengeschwüre und schwarzer Ausfluss ( ulceribus taetris et nigra proluvie alvi ), Kopfschmerz ( multus capitis cum saepe dolore ), Nasenbluten ( corruptus sanguis expletis naribus ibat ), Befall der Geschlechtsteile ( ibat et in partis genitalis corpo- ris ), Amnesie ( oblivia rerum )
Vergil: [Tiere:] Plötzlicher Kollaps ( cecidit / concidit ), wenig Eiterausfluss aus Wun- den ( ieiuna sanie ), Tollwut ( rabies ), Husten ( tussis anhela ), Luftnot ( faucibus angit obesis ), Nahrungsverweigerung ( immemor herbae … fontisque avertitur ), herabhän-
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gende Ohren ( demissae aures ), unregelmäßige , kalte Schweißausbrüche ( incertus … sudor … frigidus ), Trockenheit und Härte der Haut ( aret pellis … dura resistit ), Bren- nen (Glänzen/Rötung) der Augen ( ardentes oculi ), schwere Atmung ( attractus … ge- mitu gravis ), Dehnung des Abdomen ( ilia singultu tendunt ), Nasenbluten ( it naribus ater sanguis ), Schwellung der rauen Zunge ( obsessas fauces premit aspera lingua ), Auswurf von Blut und Speichel ( mixtum spumis vomit ore cruorem ), Wesensverkeh- rung des Menschen und wilder Tiere , [Menschen:] brennende Bläschen ( ardentes pa- pulae ), stinkender bzw. schmutziger Schweiß ( immundus … sudor ),‚Heiliges Feuer‘ ( sacer ignis )Grattius:44 [Tiere:] Knoten unter der Zunge ( vermiculum , RA), salzige Eingeweide und Durst ( salsa siti … viscera , RA), Fieber ( aestivos … accensis febribus ignes , RA), Toben ( furias , RA), körperliche Entstellung ( lacerum … corpus , S), Jucken ( dulcedi- ne , S), Plötzlichkeit der Krankheit ( praecipitem … labem , RO), Ermattung ( fessum … corpus , RO)
Ovid: [Tiere:] Plötzlicher Befall ( subiti deprensa potentia morbi ), Kollaps bei guter Ge-sundheit ( concidere infelix validos miratur arator … tauros ), Verlust der Wolle ( sponte sua lanaeque cadunt ), Zersetzung ( corpora tabent ), Seufzen ( gemit ), Trägheit ( leto mori- turus inerti , languor ), Wesensverkehrung wilder Tiere, ansteckende Fäulnis der Kada- ver ( dilapsa liquescunt ), [Menschen:] Brennen der Eingeweide ( viscera torrentur ), Rötung der Haut ( rubor ), heißes Keuchen ( ductus anhelitus igni ), Schwellung der rauen Zunge ( aspera lingua tumet ), Mundtrockenheit ( arentia ora ) und Durst, verhärteter Ober- bauch ( praecordia dura )
Manilius: langsame Zersetzung ( lenta tabe ), inneres Feuer ( exustis letalis flamma me- dullis )
Seneca: [Tiere:] Plötzlicher Kollaps ( circa funus exequiae cadunt ), Nahrungsverweige-rung ( laniger pingues male carpsit herbas ), Eiterausfluss aus Wunden ( nec cruor … turpis sanies ), Wesensverkehrung wilder Tiere, Kargheit in der Natur (V.154–159), Ermattung ( piger languor ), Rötung des Gesichts ( rubor in vultu ), Fleckenbildung ( maculaeque cutem
44 Die für Grattius gesammelten Symptome beziehen sich nicht auf die eigentliche Seuchenbeschrei-bung, sondern auf die im Anschluss an sie aufgeführten Krankheiten rabies (RA), scabies (S) und robur (RO). Zur Rezeption von Vergils Georgica in diesem Abschnitt vgl. Trevizam (2016), 146–154.
350
3.1 Pathologie sparsere leves ), Erhitzung des Kopfs ( vapor ipsam corporis arcem flammeus urit ), Span- nen der Augen durch Blutfluss ( genas sanguine tendit ), Starren der Augen ( oculique rigent ), Rauschen in den Ohren ( resonant aures ), Krümmung der Nase ( naris aduncae ),
Nasenbluten ( stillatque niger cruor ), Aufbrechen der Venen ( venas rumpit hiantes ), ‚ zi- schendes Seufzen‘ ( gemitus stridens ), unstillbarer Durst ( aliturque sitis latice ingesto )
Lucan: Verhärtung der Eingeweide ( duravit viscera ), Spannung der Haut ( riget arta cu- tis ), Platzen der Augen ( distenta lumina rumpit ), Brennen/Rötung im Gesicht ( igneaque in voltus et sacro fervida morbo pestis abit ), Ermattung ( fessumque caput se ferre recusat ), plötzlicher Tod ( languor cum morte venit ), Wesensverkehrung
Silius Italicus: Trockene Zunge ( arebat lingua ), Kaltschweißigkeit ( gelidus sudor ), Zit-tern ( tremulo corpore ), Trockenheit im Rachen ( fauces siccae ), rauer Husten ( aspera tus- sis ), heißer Atem( igneus spiritus ), Lichtempfindlichkeit ( lumina vix sufficientia lucem ),
Krümmung der Nase ( unca nare ), Auswurf von Eiter und Blut ( saniesque immixta cruo- re ), Atrophie ( membris peresis ) Der direkte Vergleich der Symptombeschreibungen führt zu interessanten Befunden: Zu- nächst lassen sich Eigenheiten der Autoren bereits mittels dieser begrenzten Gegenüber- stellung skizzieren. Lukrez erweitert seine Vorlage sowohl um psychische als auch physische Symptome, die er dem Corpus Hippocraticum oder vergleichbarem Schriftgut entnommen hat. Vergil scheint darum bemüht, neben seinem Perspektivwechsel auf die Tiere auch eine möglichst geringe Überschneidung in den Symptomen zu erzielen, wobei er geschickt lukre- zische Versatzstücke nutzt, um neue Erscheinungen zu beschreiben. Grattius nutzt das Seu- chenmotiv als bloße Einleitung für die Behandlung spezieller Krankheitseinheiten und dreht damit das Vorgehen in den Lehrgedichten des Lukrez und des Vergil um. Ovid setzt weniger durch neue Symptome als vielmehr durch deren Arrangement in der gemeinsamen Beschrei- bung von Mensch und Tier einen eigenen Akzent. Manilius nimmt eine starke Beschränkung der Symptome und keine Innovation vor – er spielt lediglich auf das Motiv an (vergleichbar mit Valerius Flaccus, s. Anm. 295, S. 168). In seiner Adaptation an das Genre der Tragödie trennt Seneca seine Behandlung in zwei Teile und verschiebt die Symptome in den zweiten Teil; hervorzuheben ist weiterhin seine Ausweitung der Pest (wenngleich bereits bei Lukrez, Vergil und Manilius angelegt) auf ein kosmisches Leiden. Im Vergleich zur Ausführlichkeit seines Onkels liegt bei Lucan eine drastische Reduktion der Symptome vor. Schließlich findet sich bei Silius Italicus in Opposition zu Lucan eine erneute Ausweitung und Traditionalisie- rung des Motivs, die sich in einer Vermischung von klassischen und innovativen Symptomen niederschlägt.
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Nach diesem ersten Blick werden die Variation und Konstanz von Symptomen näher unter- sucht. Grundsätzlich unterscheidet sich die Pestliteratur im engeren Sinne (s. Anm. 20, S. 15) von medizinischen Fachschriften, insbesondere den nosologischen, die sich durch Schlichtheit und Uniformität auszeichnen, durch ihren (ästhetisch motivierten) Drang zur Innovation.45 Diese Diskrepanz liegt auch in der jeweiligen Intention begründet: Dienten die einen Schriften der Ermöglichung von Diagnose, Prognose und Therapie, hatten demnach stets Praxisbezug, bezweckten die anderen die Unterhaltung bzw. (freilich rein theoretische) Belehrung der Rezi- pienten. Trotz dieses Unterschieds in der Intention gibt es zu Beginn der Tradition (Thukydi- des, Lukrez) eine methodische Überschneidung im Arrangement der Symptome, das sich nach dem bereits in mesopotamischen Quellen und in der Folge auch im Corpus Hippocraticum angewandten Beschreibungsmuster des a capite ad calcem richtet.46 In der Gegenüberstellung der Symptome lässt sich jedoch beobachten, dass bereits Vergil von diesem Gliederungsschema abweicht und es im Verlauf der Tradition immer weniger Anwendung findet. Dies hat mehrere Gründe, die zum Teil bei Vergil ihren Ausgang nehmen: a) Szenische Gestaltung : Als maßgebliche Innovation der vergilischen Schilderung wurde im Kommentar herausgearbeitet, dass einzelne Szenen gestaltet werden, in denen die erkrank- ten und sterbenden Tiere gezeigt werden. Damit macht sich der Dichter in besonderer Art und Weise das von Lausberg skizzierte rhetorische Potenzial des Seuchenmotivs zunutze (s. Anm. 29, S. 18). Zugleich führt die Streuung der Perspektive auf mehrere Arten von Tie- ren weg von einem fingierten ‚Durchschnittspatienten‘ bei Thukydides und Lukrez hin zu unterschiedlichen Individuen mit je eigenen Symptomen und damit zum Bruch mit einer linearen Verlaufsbeschreibung.47 b) Ursachensuche : Ovid und Lucan beginnen die Symptombeschreibung mit dem Inneren des Körpers, womit sie verstärkt die Verursachung in den Blick nehmen. Bei Lucan bilden sogar erstes Symptom und Krankheitsursache eine syntaktische Einheit. Darin kann eine Entsprechung zu Vergils separatem Abschnitt zur Pathophysiologie (Georg. 3,482–485) ge- sehen werden.45 Vgl. Roselli (2018), 193.
46 Vgl. ibid., 198f. Im vorigen Unterkapitel wurde herausgestellt, dass sich dieses Gliederungsschema bei Thukydides und Lukrez nicht nur auf die Anordnung der Symptome bezieht, sondern auch den Weg der materia peccans vorgibt, vgl. dazu Craik (2021), 200. Neben diesem räumlichen Gliederungssche-ma finden sich bei Thukydides, Lukrez und Vergil noch zeitliche Aufteilungen: Bei den ersten beiden in hippokratischer Manier in Form kritischer Tage, bei Vergil durch die Einteilung in die ersten und späteren Tage der Krankheit. Keine der beiden wird von den Nachfolgern übernommen.
47 Möglicherweise hat bereits die Beschreibung von Tieren per se die Abkehr vom a capite ad calcem zur Folge: Auch in der Mulomedicina des Vegetius lässt sich eine größere Flexibilität des Beschreibungs-musters beobachten (vgl. Fischer 1988, 198f.); grundsätzlich hat das Schema jedoch Bestand, vgl. Veg. mul. 1,64,2 a vertice usque ad ungulas .
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3.1 Pathologie c) Reduzierung : Insgesamt findet eine Reduzierung der Symptome statt, die nicht ausschließ- lich mit der Länge der Beschreibungen zu erklären ist. Vielmehr scheint eine Schwerpunkt- verschiebung stattzufinden, in der manche Autoren besonderes Augenmerk auf die Auswir- kungen auf die belebte Natur legen, manche die Reaktionen von Mensch und Gesellschaft in den Vordergrund rücken. Eine Ausnahme bilden Grattius und Manilius, die sich allein schon durch die enorme Kürze der Beschreibung von ihren Vorgängern abzusetzen ver- suchen. d) Fokussierung auf das Gesicht : Mit dem Fortschreiten der Motivtradition zeigt sich, dass die Dichter bestimmte Elemente immer wieder verarbeiten, während andere ausgespart werden – unter jene ist auch die Beschreibung des Gesichts zu fassen, die eine sparsamere Schilderung der anderen Körperpartien zur Folge hat. Gründe hierfür werden weiter unten erörtert. Nach diesen Beobachtungen zu Veränderungen in der Art und Weise der Symptomanordnung werden unterschiedliche Formen der Symptom variation exemplarisch vorgestellt.48 Nicht auf- geführt werden Hinzufügungen oder Auslassungen, die hinreichend durch die typographi- sche Darstellung der Listen illustriert wurden.49 Stattdessen werden ausschließlich Arten der Adaptation betrachtet. 1) Intensivierung auf inhaltlicher Ebene bei Seneca (186f.) und Lucan (6,95): multoque genas sanguine tendit , oculique rigent … iam riget arta cutis distentaque lumina rumpit …
… dehnte die Augen mit einer großen Menge Blut, der Blick war starr …
Schon erstarrt die gespannte Haut und lässt die aufgedunsenen Augen platzen …
48 Ausführliche Gegenüberstellungen, die leider nicht immer den Zusammenhang berücksichtigen, finden sich bei Vallillee (1960) zu den jeweiligen Autoren. Für einen Eindruck der Interdependenz der Autoren auch über die Symptome hinaus wird auf die Appendices A1 und A2 verwiesen.
49 Dabei ist hervorzuheben, dass ein Großteil der Symptome, die Lukrez der thukydideischen Beschrei-bung hinzugefügt hat und die ihm in der Forschung das Etikett der psychologischen Deutung des Motivs eingebracht haben (s. o. Komm. zu 6,1158f. mit Anm. 127, S. 131), von der Motivtradition nicht aufgegriffen wird. Anstelle dieser verstärkten Introspektion findet sich bei Ovid und Seneca eine ausführlichere Darstellung der Reaktionen und der sozialen Bindungen in Zeiten der Katastro-phe, s. dazu das nächste Kapitel.
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2) Intensivierung auf sprachlicher Ebene bei Thuc. 2,49,5 und Lucr. 6,1168f.:τὰ δὲ ἐντὸς οὕτως ἐκάετο …… innerlich jedoch wurde ein so starkes Brennen empfunden … intima pars hominum vero flagrabat ad ossa , flagrabat stomacho flamma ut fornacibus intus .
Das Innere der Menschen jedoch brannte bis auf die Knochen , im Magen loderte eine Flamme wie im Innern von Schmelzöfen . 3) Abmilderung bei Ov. met. 7,559f. und Sen. 192bf.: nec fit corpus humo gelidum, sed humus de corpore fervet .
Iamque amplexu frigida presso saxa fatigant …
… aber nicht wurde ihr Körper durch den Boden gekühlt, sondern der Boden glühte von ihren Kör-pern.
Bald umschlangen sie unablässig kalte Steine … 4) Fachsprachliche Präzisierung bei Sen. 191f. und Sil. 14,601: intima creber viscera quassat gemitus stridens … aspera pulmonem tussis quatit …
Die Eingeweide im Innern erschütterte häufig ein zischendes Seufzen …
Ein rauer Husten erschütterte die Lunge … 5) Verdichtung bei Sil. 14,601f.:50 aspera pulmonem tussis quatit, et per anhela igneus efflatur sitientum spiritus ora.
Ein rauer Husten erschütterte die Lunge und der Atem der Dürstenden trat wie Feuer mit einem Keuchen aus ihrem Mund. Schließlich stellt sich die Frage nach Symptomen, die den Dichtern (und den Rezipienten?) als unabdingbar galten und daher immer wieder aufgegriffen wurden. Zu diesem Zweck wur- de Tabelle 4 erstellt, in der diejenigen Symptome aufgeführt werden, die mehr als zwei Ok- kurrenzen in der Motivtradition aufweisen. Die Reihenfolge entspricht jeweils ihrem ersten
50 Ab 601b finden sich auf engstem Raum die Symptome der Atemnot, des Durstes, der Mundtrocken-heit und des inneren Feuers. Standen diese bei den Vorgängern noch zum Teil für sich, werden sie bei Silius knapp in einen Zusammenhang gestellt. Gerade hierin zeigt sich der souveräne Umgang des Silius mit den literarischen Vorgängern (s. Anm. 72, S. 117).
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3.1 Pathologie Vorkommen in der Tradition. Symptome mit mind. fünf Okkurrenzen stehen im Fettdruck, Klammern deuten auf eine implizite oder anteilige Verarbeitung hin. Von den insgesamt ca. 50 Symptomen der Tradition erfüllen 20 diese Kriterien, davon besitzen elf Symptome fünf oder mehr Okkurrenzen.
Thuc.Lucr.Verg.Gratt.Ov.Manil.Sen.Lucan. Sil.
Fieber xxxx(x)xx(x) Rötung
(Augen, Gesicht) xxxxx
Hustenxxxx
Galle-/Blutauswurf x(x)xxx Ermattung xxxxxx
Bläschen/Geschwüre xxx(x)x
Brennen im Innern xxxxxx(x) Unstillbarer Durst xxxxx(x)
Wesens-/
Werteverkehrung xxxxxxxxx Raue, trockene, geschwollene Zunge xx(x)xxStöhnen und Klagenxxx
Heiliges Feuerxxx(x)
Atemprobleme xxxx(x)(Kalte) Schweißaus-brüchexxxVerengte Nasenlöcher,
Krümmung der Nasexxx
Eingefallene Augenxx(x)Kalte, harte,gespannte Hautxxx
Nasenblutenxxx
Plötzlicher Kollaps x(x)xxxxEiter anstelle von Blutxxx Tabelle 4: Übersicht über die Symptome der Motivtradition mit mehr als zwei Okkurrenzen Durch die Gegenüberstellung ergibt sich der bemerkenswerte Befund, dass sieben der elf am meisten verwendeten Symptome bereits bei Thukydides angelegt sind. Da jedoch nur in selte-
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nen Fällen ein direkter Rückgriff auf den Archetyp des Motivs aufgezeigt werden konnte, er- gibt sich diese Stabilität einerseits durch die Vermittlung über Lukrez und Vergil, andererseits durch den allgemeinen Charakter bzw. die Funktion der Symptome im Zusammenhang der Krankheitsvorstellung: So ist Fieber, das (wie bereits dargelegt) nur vom modernen Stand- punkt aus als Symptom gilt, eigentlich die primäre Wirkursache der Krankheit in Form über- mäßiger Hitze; das Brennen im Innern steht damit in ebenso enger Relation wie die Rötung der Haut, die Bläschenbildung und der unstillbare Durst. Die häufige Erwähnung von Auswürfen, Atemproblemen, plötzlichem Kollaps und Ermattung lässt sich auf ihren pathetischen Effekt zurückführen.51 Am auffälligsten jedoch ist das Element der Wesens- und Werteverkehrung, das (wenngleich in unterschiedlicher Ausprägung und Ausformung) in jeder Beschreibung verarbeitet wird. Da diese im folgenden Kapitel ausführlicher behandelt wird, ist hier lediglich darauf hinzuweisen, dass diese Frequenz u. a. mit dem Bestreben zusammenhängt, die Pest kosmisch auszuweiten und das Massensterben als Störung der Weltordnung zu inszenieren.524 Resümee und Ausblick
Das erste Ziel unseres Vorhabens war die Nachverfolgung von Rezeption und Entwicklung des Seuchenmotivs in der lateinischen Dichtung des ersten vor- und nachchristlichen Jahr- hunderts. Die Pest hat sich über das lateinische Lehrgedicht, das Epos und die Tragödie aus- gebreitet, einzelne Elemente wurden auch in anderen Gattungen wie der Liebeselegie oder im Epigramm nachgewiesen. Das Motiv ist ein einzigartiges Zeugnis literarischer aemulatio , das es uns erlaubt hat, Modifikationen und Schwerpunktsetzungen der Dichter nachzuverfolgen. Anders als in Lukians Kritik am Historiker Krepereios Kalpurnianos, der Thukydides lediglich kopiert haben soll, erwiesen sich die lateinischen Dichter als eigenständig. Die Vergleichsstu- die versteht sich an dieser Stelle als Grundlagenforschung: Anschlussprojekte, die aufbauend auf den hier zu Tage geförderten Erkenntnissen (ebenso bestätigend wie widerlegend) Schlüsse für einzelne Werke ziehen, sind notwendig und wünschenswert. Das zweite Ziel bestand in der Auswertung der Gedichte als Quelle der Vorstellungsge- schichte in Form einer Rekonstruktion der in ihnen angelegten Vorstellung von Krankheit. Unter Berücksichtigung der Wechselwirkung von Pathologie und sozialer Vorstellungswelt wurde herausgearbeitet, in welchem Maß und in welcher Hinsicht Mensch und Gesellschaft als vulnerabel oder (seltener) resilient gezeichnet wurden. Die Fokussierung der Dichter auf ein Scheitern des Menschen im Angesicht der Pest und die folgende Betrachtung der Beteilig- ten stehen einerseits im Zeichen des jeweiligen Erzählzusammenhangs, zeichnen andererseits in einem übergeordneten Rahmen eine Anthropologie der Katastrophe. Diese Anthropologie ist nicht rein anthropozentrisch, sondern fügt sich in eine holistische Naturbetrachtung ein. Nicht selten erfasst die Pest nicht nur den Menschen, sondern mit ihm seine gesamte Lebens- welt. Alles gerät aus den Fugen, aus Ordnung wird Unordnung: Die Pest wird Weltzustand. Diese Studie leistet einen Beitrag dazu, den Eigenwert der Poesie für die Medizingeschichte fernab des Wahrscheinlichkeitsspiels retrospektiver Diagnose darzulegen. Gefordert ist dabei nicht weniger als eine Rückbesinnung der Medizin auf ihre Wurzeln als soziale Wissenschaft. Nicht die Reduktion des Menschen und seiner Lebenswelt auf messbare Einheiten darf unser Erkenntnisinteresse bei der Betrachtung dieser Texte leiten. Stattdessen sollte deutlich gewor- den sein, dass insbesondere die Poesie den Erlebnishorizont der Beteiligten um einiges reicher abbildet und damit geeignet ist, ein lebendiges Bild des (imaginierten) Umgangs mit einem Phänomen zu vermitteln, das den Menschen über die Jahrtausende begleitet hat – und uns bis heute begleitet.
5 Appendices
5.1 Appendix A1: Tabellarische Übersicht über die Motivtradition aus Sicht des Silius Italicus (Lukrez, Vergil, Ovid)
SiliusLukrezVergilOvid Nec mora, quin trepidos hac clade inrumpere muros signaque ferre deum templis iamiamque fuisset, ni subito importuna lues inimicaque pestis, 7,523 dira lues ira popu- lis Iunonis iniquae invidia divum pelagique labore parata, polluto miseris rapuisset gaudia caelo.
Aen. 3,138 corrupto caeli tractu criniger aestiferis Titan fervoribus auras et patulam Cyanen late- que palustribus undis stagnantem Stygio
Cocyti opplevit odore temporaque autumni laetis florentia donis
3,479 totoque autumni incanduit aestu foedavit rapidoque accendit fulminis igni.
371
fumabat crassus nebulis caliginis aer,7,528f . principio caelum spissa caligine solem | pressit squalebat tellus vitiato fervida dorso
Ecl. 7,57 Aret ager, vitio moriens sitit aëris herba 7,548 vitiantur odoribus aurae 7,560 sed humus de corpore fervet nec victum dabat aut ullas languentibus umbras,
Aen. 3,142 victum seges aegra negabat. atque ater picea vapor expirabat in aethra. vim primi sensere canes. mox nubibus atris
6,1222f. cum primis fida canum vis | strata viis animam ponebat in omnibus aegre; 3,546f . ipsis est aër avibus non aequus, et illae | praecipites alta vitam sub nube relin- quunt 7,536f. strage canum primo volucrumque ovi- umque boumque | inque feris subiti deprensa potentia morbi. fluxit deficiens penna labente volucris.
6,1219ff. nec tamen omnino temere illis sol- ibus ulla | comparebat avis, nec tristia saecla ferarum | exibant silvis inde ferae silvis sterni. tum serpere labes
3,469 dira per incautum serpant contagia vulgus. Tartarea atque haustis populari castra ma- niplis.
6,1140 exhausit civibus urbem. arebat lingua et gelidus per viscera sudor
6,1187 sudorisque madens per collum splendidus umor 3,501 sudor et ille qui- dem morituris frigidus. corpore manabat tremu- lo. descendere fauces abnuerant siccae iusso- rum alimenta ciborum. aspera pulmonem tussis quatit, et per anhela
6,1189 salsaque per fauces rauca vix edita tussi. 3,496f . et quatit aegros | tussis anhela sues ac faucibus angit obesis. 7,555 indicium rubor est et ductus anhelitus igni igneus efflatur sitientum spiritus ora.
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5.1 Appendix A1: Motivtradition bei Lukrez, Vergil, Ovid lumina ferre gravem vix sufficientia lucem
6,1146 duplicis oculos suffusa luce rubentes unca nare iacent, sa- niesque immixta cruore 6,1193f . conpressae nares, nasi primoris acumen tenve 3,516 concidit et mix- tum spumis vomit ore cruorem expuitur, membrisque cutis tegit ossa peresis. 6,1264 pelli super ossi- bus una 3,561f. ne tondere qui- dem morbo inluvieque peresa | vellera heu dolor! insignis notis bellator in armis
2,1164 caput quassans grandis suspirat arator
3,517 it tristis arator 7,542ff . acer equus quondam magnaeque in pulvere famae | degen- erat palmas veterumque oblitus honorum | ad praesepe gemit leto moriturus inerti. ignavo rapitur leto. iactantur in ignem dona superba virum, multo Mavorte parata. succubuit medicina ma- lis. cumulantur acervo 6,1179 mussabat tacito medicina timore 3,549f . quaesitaeque nocent artes: cessere magistri, | Phillyrides Chiron Amythao- niusque Melampus. 7,526f. pugnatum est arte medendi: | exitium superabat opem, quae victa iacebat. labentum et magno ci- neres sese aggere tollunt. 7,608f. aut inhumata premunt terras aut da- ntur in altos | indotata rogos. passim etiam deserta iacent inhumataque late 3,476f. desertaque reg- na | pastorum et longe saltus lateque vacantis. corpora, pestiferos teti- gisse timentibus artus. serpit pascendo crescens Acherusia pestis
6,1120 aër inimicus serpere coepit 3,469 per incautum ser- pant contagia vulgus nec leviore quatit Trina- cria moenia luctu
Poenorumque parem castris fert atra labo- rem.
373
aequato par exitio et communis ubique ira deum atque eadem leti versatur imago. Nulla tamen Latios fre- git vis dura malorum, incolumi ductore, viros, clademque rependit unum inter strages tutum caput. ut gravis ergo primum letiferos repres- sit Sirius aestus,Aen. 3,141 tum sterilis exurere Sirius agros 7,532 letiferis calidi spi- rarunt aestibus Austri et minuere avidae mor- tis contagia pestes, 6,1235 ex aliis alios avidi contagia morbi ceu, sidente Noto cum se maria alta reponunt, propulsa invadit pisca- tor caerula cumba, sic tandem ereptam morbis grassantibus armat
Marcellus pubem, lus- tratis rite maniplis.
374
5.2 Appendix A2: Motivtradition bei Manilius, Seneca, Lucan5.2 Appendix A2: Tabellarische Übersicht über die Motivtradition aus Sicht des Silius Italicus (Manilius, Seneca, Lucan)
SiliusManiliusSenecaLucan Nec mora, quin trepidos hac clade inrumpere muros signaque ferre deum tem- plis iamiamque fuisset, ni subito importuna lues inimicaque pestis,
29f . ista Cadmeae lues | infesta genti invidia divum pelagique labore parata,
77 mors tam parata polluto miseris rapuisset gaudia caelo. criniger aestiferis Titan fervoribus auras
39f . sed ignes auget aestiferi canis | Titan et patulam Cyanen late- que palustribus undis
6,93f. caeloque paratior unda | omne pati virus duravit viscera caeno stagnantem Stygio
Cocyti opplevit odore
162f. Phlegethonque sua motam ripa | miscuit undis Styga Sidoniis 6,91f. emittit Stygium nebulosis aera saxis | antraque letiferi rabiem Typhonis anhelant temporaque autumni laetis florentia donis
156ff. non rura virent ubere glebae, | non plena suo vitis Iaccho | bracchia curvat foedavit rapidoque accendit fulminis igni. fumabat crassus nebulis caliginis aer,
6,91 emittit Stygium nebulosis aera saxis squalebat tellus vitiato fervida dorso
1,877 squalidaque elusi deplorant arva coloni
375
nec victum dabat aut ullas languentibus umbras,49f . denegat fructum Ceres | adulta,
154f . Non silva sua decorata coma | fundit opacis montibus umbras atque ater picea vapor expirabat in aethra.
47 sed gravis et ater incubat terris vapor vim primi sensere canes. mox nubibus atris
133 Prima vis tardas tetigit bidentes fluxit deficiens penna labente volucris. inde ferae silvis sterni. tum serpere labes
Tartarea atque haustis populari castra ma- niplis.
1,884 qualis Erechtheos pestis populata colonos arebat lingua et gelidus per viscera sudor corpore manabat tremulo. descendere fauces
6,115 quaeque per abrasas utero demittere fauces abnuerant siccae iusso- rum alimenta ciborum. aspera pulmonem tussis quatit, et per anhela
38 anhela flammis corda
191 intima creber vis- cera quassat igneus efflatur sitientum spiritus ora. lumina ferre gravem vix sufficientia lucem unca nare iacent, sa- niesque immixta cruore
189f . stillatque niger naris aduncae | cruor expuitur, membrisque cutis tegit ossa peresis.
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heu dolor! insignis notis bellator in armis113f. carpitur leto tuus ille, Bacche, | miles
6,84 belliger attonsis sonipes defessus in arvis ignavo rapitur leto. iactantur in ignem dona superba virum, multo Mavorte parata. succubuit medicina ma- lis. cumulantur acervo
1,887 nec locus artis erat medicae
70 cadunt medentes, morbus auxilium trahit labentum et magno ci- neres sese aggere tollunt. 1,888ff. cesserat officium morbis, et funera derant
| mortibus et lacrimae; lassus defecerat ignis | et coacervatis ardebant corpora membris
67 arsisse satis est — pars quota in cineres abit? passim etiam deserta iacent inhumataque late 6,101 dum mixta iacent incondita vivis | corpora corpora, pestiferos teti- gisse timentibus artus. serpit pascendo crescens
Acherusia pestis
6,100f . turbaque caden- tum | aucta lues nec leviore quatit Trina- cria moenia luctu
Poenorumque parem castris fert atra labo- rem.
52f. Nec ulla pars im- munis exitio vacat, | sed omnis aetas pariter et sexus ruit aequato par exitio et communis ubique ira deum atque eadem leti versatur imago.
180f . O dira novi facies leti | gravior leto
Nulla tamen Latios fre- git vis dura malorum, incolumi ductore, viros, clademque rependit unum inter strages tutum caput. ut gravis ergo
131 stat gravis strages
5.2 Appendix A2: Motivtradition bei Manilius, Seneca, Lucan
377
primum letiferos repres- sit Sirius aestus,6,103ff. tamen hos mi- nuere labores | a tergo pelagus pulsusque Aqui- lonibus aer | litoraque et plenae peregrina messe carinae et minuere avidae mor- tis contagia pestes, ceu, sidente Noto cum se maria alta reponunt, propulsa invadit pisca- tor caerula cumba,
166f. quique capaci tur- bida cumba | flumina servat sic tandem ereptam morbis grassantibus armat
Marcellus pubem, lus- tratis rite maniplis.
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5.3 Appendix C: Verwendung der Tempora
5.3 Appendix C: Verwendung der Tempora
In die Übersicht aufgenommen wurden alle Prädikate im Indikativ und diejenigen Verbfor- men, bei denen eine elliptische Kopula eindeutig ergänzt werden konnte. Für Seneca wurden die beiden Beschreibungsteile im engeren Sinne (Oed. 35–70 und 110–201) zugrundegelegt. PräsensImperfektPerfekt Plusquamperfekt Futur I Gesamt WortanzahlLukrez469910092920
Vergil569123080629
Grattius904011498
Ovid617234095620
Manilius9532017132
Seneca8012010102615
Lucan24150030249
Silius
Italicus
19671033279 Als dramatisches Präsens wurden in der Übersetzung diejenigen Formen gedeutet, die durch Vergangenheitsformen im näheren Umfeld oder durch den Erzählzusammenhang als solches ausgewiesen wurden. Dabei wurde berücksichtigt, ob die personalen Erzähler in der Rück- schau (wie Aeacus) berichten oder sich noch im Pestgeschehen befinden (wie der Chor der Thebaner bei Seneca). Entsprechend seiner Funktion der Pathossteigerung fand sich das Prä- sens insbesondere an denjenigen Stellen, an denen Symptome oder normüberschreitendes Ver- halten geschildert werden. Auffällig ist weiterhin die Verwendung des Imperfekts bei Lukrez (vgl. Anm. 102, S. 127), die in den nachfolgenden Beschreibungen auch als potenzieller Marker einer literarischen Bezugnahme gedeutet wurde. Vor diesem Hintergrund dürfte es ein loh- nendes Projekt sein, die Tempusverwendung auch in anderen antiken Katastrophenbeschrei- bungen genauer in Hinblick auf ihre Wirkung und Funktion zu untersuchen.
5.4 Appendix D: Erläuterungen zu historischen Personen und Orten
Diese Arbeit setzt sich zum Ziel, auch einen Anknüpfungspunkt für interdisziplinäre For- schung zu bieten. Aus der resultierenden Diversität fachlicher Zugänge ergibt sich die Not- wendigkeit, sachliche Erläuterungen zu historischen Personen und Orten anzufügen, deren Aufführung den Kommentar unnötig belastet hätten, für das inhaltliche Verständnis jedoch notwendig und außerhalb der Altertumswissenschaften nicht vorauszusetzen sind. Die In- formationen stammen allesamt aus den jeweiligen Artikeln des Neuen Pauly1 und werden in Paraphrase wiedergegeben. Sollte das Lemma im DNP vom hier aufgeführten abweichen, wird das dortige Lemma in eckigen Klammern beigestellt. Acheron:Der Totenfluss, der die Grenze zur Unterwelt bildet und der nur mit- hilfe des Fährmanns Charon überquert werden kann. In Sil. 14,613 wird er adjektivisch gebraucht und steht für die Unterwelt allgemein. Aeacus [Aiakos]:Sohn des Jupiter und der Aegina, der in der Antike mit Gerechtigkeit und Frömmigkeit in Verbindung gebracht wird. Nach seinem Tod wird er neben Minos und Radamanthos einer der drei Unterwelts- richter. Amphion:Sohn des Jupiter und der Antiope, der bei Euripides mit seinem Zwillingsbruder Zethos die Mutter vor der Todesstrafe rettet und die Herrschaft über Theben übernimmt. Mithilfe seines Leierspiels fügen sich die Stadtmauern Thebens von selbst zusammen, was zu Zwierleins Ergänzung in Sen. Oed. 178 führt. Cadmus [Kadmos]:Gründungsheros von Theben und damit der Ausgangspunkt des thebanischen Sagenkreises. Nach ihm werden die Bewohner The- bens Καδμεῖοι ( Kadmeîoi ) genannt, was in Sen. Oed. 29f. und 110 eine Entsprechung findet. Chiron:Kentaur, Sohn des Kronos und der Philyra (daher in Verg. georg. 3,550 als Phillyride, also Spross der Philyra bezeichnet). Eine Be- ziehung zu Aeacus hat er vermutlich durch dessen Tochter Endeis, die jener zur Frau nimmt. Er wird u. a. mit der pharmakologischen Heilkunst in Verbindung gebracht, deren Scheitern er in Vergils Be- schreibung versinnbildlicht. 1 Lizensierter Onlinezugang unter https://referenceworks.brillonline.com/browse/der-neue-pauly.
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5.4 Appendix D: Erläuterungen zu historischen Personen und Orten Cocytus [Kokytos]:Neben Styx, Phlegethon und Acheron einer der Unterweltsflüsse, deren genaue Topographie stets unterschiedlich beschrieben wird. Seine Nennung in Sil. 14,587 ist möglicherweise auf seine häufig ge- nannte schwarze Färbung zurückzuführen. Cyane:Bach in der Nähe von Syrakus, der sich im sumpfigen Hafengebiet der Stadt mit dem Anapus verbindet. Dirke:Fluss in der Nähe von Theben, nach dem auch die Bewohner der Stadt als Dircaei benannt sein können. Erebos:Bezeichnung für die Unterwelt, manchmal auch als Teil derselben angeführt. Ismenos:Fluß, der seine Quelle in Theben hat und sich außerhalb der Stadt mit der Dirke verbindet. Melampus:Sohn des Amythaon, bekannt für die Heilung des Wahnsinns der Proitostöchter Iphianassa, Lysippe und Iphinoe, und damit als Stell- vertreter religiöser Heilpraxis neben Chiron aufgeführt. Polybus:Myth. König von Korinth, der mit seiner Gattin Merope Oedipus aufzieht. Nach der Erteilung des Orakelspruches, Oedipus werde sei- nen Vater töten und seine Mutter heiraten, flieht dieser aus Korinth und erfüllt durch den Mord an Laios und der Ehe mit Iokaste sein Schicksal. Tainaron:Kap am südlichsten Punkt der Peloponnes, mit dem viele Sagen as- soziiert wurden; im Zusammenhang mit Sen. Oed. 171f. dachte der historische Rezipient vermutlich an die Heraklessage, nach der He- rakles an dieser Stelle Kerberos aus der Unterwelt geführt haben soll. Timavus:Fluss in Venetien und Histrien, der aufgrund seiner zahlreichen Quellen bekannt war. Als ‚japydisch‘ wird er in Verg. georg. 3,475 nach der in Illyrien siedelnden Gruppe der Iapydes bezeichnet.
5.4 Appendix D: Erläuterungen zu historischen Personen und Orten
Diese Arbeit setzt sich zum Ziel, auch einen Anknüpfungspunkt für interdisziplinäre For- schung zu bieten. Aus der resultierenden Diversität fachlicher Zugänge ergibt sich die Not- wendigkeit, sachliche Erläuterungen zu historischen Personen und Orten anzufügen, deren Aufführung den Kommentar unnötig belastet hätten, für das inhaltliche Verständnis jedoch notwendig und außerhalb der Altertumswissenschaften nicht vorauszusetzen sind. Die In- formationen stammen allesamt aus den jeweiligen Artikeln des Neuen Pauly1 und werden in Paraphrase wiedergegeben. Sollte das Lemma im DNP vom hier aufgeführten abweichen, wird das dortige Lemma in eckigen Klammern beigestellt. Acheron:Der Totenfluss, der die Grenze zur Unterwelt bildet und der nur mit- hilfe des Fährmanns Charon überquert werden kann. In Sil. 14,613 wird er adjektivisch gebraucht und steht für die Unterwelt allgemein. Aeacus [Aiakos]:Sohn des Jupiter und der Aegina, der in der Antike mit Gerechtigkeit und Frömmigkeit in Verbindung gebracht wird. Nach seinem Tod wird er neben Minos und Radamanthos einer der drei Unterwelts- richter. Amphion:Sohn des Jupiter und der Antiope, der bei Euripides mit seinem Zwillingsbruder Zethos die Mutter vor der Todesstrafe rettet und die Herrschaft über Theben übernimmt. Mithilfe seines Leierspiels fügen sich die Stadtmauern Thebens von selbst zusammen, was zu Zwierleins Ergänzung in Sen. Oed. 178 führt. Cadmus [Kadmos]:Gründungsheros von Theben und damit der Ausgangspunkt des thebanischen Sagenkreises. Nach ihm werden die Bewohner The- bens Καδμεῖοι ( Kadmeîoi ) genannt, was in Sen. Oed. 29f. und 110 eine Entsprechung findet. Chiron:Kentaur, Sohn des Kronos und der Philyra (daher in Verg. georg. 3,550 als Phillyride, also Spross der Philyra bezeichnet). Eine Be- ziehung zu Aeacus hat er vermutlich durch dessen Tochter Endeis, die jener zur Frau nimmt. Er wird u. a. mit der pharmakologischen Heilkunst in Verbindung gebracht, deren Scheitern er in Vergils Be- schreibung versinnbildlicht. 1 Lizensierter Onlinezugang unter https://referenceworks.brillonline.com/browse/der-neue-pauly.
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5.4 Appendix D: Erläuterungen zu historischen Personen und Orten Cocytus [Kokytos]:Neben Styx, Phlegethon und Acheron einer der Unterweltsflüsse, deren genaue Topographie stets unterschiedlich beschrieben wird. Seine Nennung in Sil. 14,587 ist möglicherweise auf seine häufig ge- nannte schwarze Färbung zurückzuführen. Cyane:Bach in der Nähe von Syrakus, der sich im sumpfigen Hafengebiet der Stadt mit dem Anapus verbindet. Dirke:Fluss in der Nähe von Theben, nach dem auch die Bewohner der Stadt als Dircaei benannt sein können. Erebos:Bezeichnung für die Unterwelt, manchmal auch als Teil derselben angeführt. Ismenos:Fluß, der seine Quelle in Theben hat und sich außerhalb der Stadt mit der Dirke verbindet. Melampus:Sohn des Amythaon, bekannt für die Heilung des Wahnsinns der Proitostöchter Iphianassa, Lysippe und Iphinoe, und damit als Stell- vertreter religiöser Heilpraxis neben Chiron aufgeführt. Polybus:Myth. König von Korinth, der mit seiner Gattin Merope Oedipus aufzieht. Nach der Erteilung des Orakelspruches, Oedipus werde sei- nen Vater töten und seine Mutter heiraten, flieht dieser aus Korinth und erfüllt durch den Mord an Laios und der Ehe mit Iokaste sein Schicksal. Tainaron:Kap am südlichsten Punkt der Peloponnes, mit dem viele Sagen as- soziiert wurden; im Zusammenhang mit Sen. Oed. 171f. dachte der historische Rezipient vermutlich an die Heraklessage, nach der He- rakles an dieser Stelle Kerberos aus der Unterwelt geführt haben soll. Timavus:Fluss in Venetien und Histrien, der aufgrund seiner zahlreichen Quellen bekannt war. Als ‚japydisch‘ wird er in Verg. georg. 3,475 nach der in Illyrien siedelnden Gruppe der Iapydes bezeichnet.
5.4 Appendix D: Erläuterungen zu historischen Personen und Orten Cocytus [Kokytos]:Neben Styx, Phlegethon und Acheron einer der Unterweltsflüsse, deren genaue Topographie stets unterschiedlich beschrieben wird. Seine Nennung in Sil. 14,587 ist möglicherweise auf seine häufig ge- nannte schwarze Färbung zurückzuführen. Cyane:Bach in der Nähe von Syrakus, der sich im sumpfigen Hafengebiet der Stadt mit dem Anapus verbindet. Dirke:Fluss in der Nähe von Theben, nach dem auch die Bewohner der Stadt als Dircaei benannt sein können. Erebos:Bezeichnung für die Unterwelt, manchmal auch als Teil derselben angeführt. Ismenos:Fluß, der seine Quelle in Theben hat und sich außerhalb der Stadt mit der Dirke verbindet. Melampus:Sohn des Amythaon, bekannt für die Heilung des Wahnsinns der Proitostöchter Iphianassa, Lysippe und Iphinoe, und damit als Stell- vertreter religiöser Heilpraxis neben Chiron aufgeführt. Polybus:Myth. König von Korinth, der mit seiner Gattin Merope Oedipus aufzieht. Nach der Erteilung des Orakelspruches, Oedipus werde sei- nen Vater töten und seine Mutter heiraten, flieht dieser aus Korinth und erfüllt durch den Mord an Laios und der Ehe mit Iokaste sein Schicksal. Tainaron:Kap am südlichsten Punkt der Peloponnes, mit dem viele Sagen as- soziiert wurden; im Zusammenhang mit Sen. Oed. 171f. dachte der historische Rezipient vermutlich an die Heraklessage, nach der He- rakles an dieser Stelle Kerberos aus der Unterwelt geführt haben soll. Timavus:Fluss in Venetien und Histrien, der aufgrund seiner zahlreichen Quellen bekannt war. Als ‚japydisch‘ wird er in Verg. georg. 3,475 nach der in Illyrien siedelnden Gruppe der Iapydes bezeichnet.
6 Literaturverzeichnis
6.1 Editionen, Kommentare, Übersetzungen
6.1.1 Lukrez Bailey (1947) = Bailey, C.: De rerum natura Libri Sex. Edited with Prolegomena, Critical Apparatus, Translation, and Commentary, Oxford 1947.
Barigazzi (1974) = Barigazzi, A.: Vita e morte nell’universo. Antologia dal „De rerum natura“, Turin 1974.Bockemüller (1874) = Bockemüller, F.: T. Lucreti Cari De Rerum Natura Libri Sex. Redigirt und erklärt, Stade 1874.
Deufert (2018) = Deufert, M.: Kritischer Kommentar zu Lukrezens De rerum natura , Berlin/Boston 2018.Deufert (2019) = Deufert, M.: Titus Lucretius Carus. De rerum natura libri VI, Berlin/Boston 2019.
Ernout/Robin (1928) = Ernout, A./Robin, L.: Lucrèce De rerum natura. Commentaire exégétique et cri-tique, précédé d’une introduction sur l’art de Lucrèce et d’une traduction des lettres et pensées d’Epi-cure. Livres V e VI (Bd. 3), Paris 1928.
Fowler (1983) = Fowler, P. G.: A commentary on part of book six of Lucretius De rerum natura, Oxford (Diss.) 1983.
Giussani (1898) = Giussani, C.: De rerum natura Libri Sex. Revisione del testo, commento e studi intro-duttivi. Libro 5 e 6 (Bd. 4), Turin 1898.
Godwin (1991) = Godwin, J.: De rerum natura VI. Ed. with translation and commentary, Warminster 1991.Heinze (1897) = Heinze, R.: T. Lucretius Carus. De rerum natura Buch III, Leipzig 1897.
Lachmann (1850) = Lachmann, K.: T. Lucreti Cari De rerum natura Libri Sex, Berlin 1850.
Leonard/Smith (1942) = Leonard, W. E./Smith, S. B.: De rerum natura Libri VI. Edited with introduction and commentary, Madison 1942.
Munro (41886) = Munro, H. A. J.: T. Lucreti Cari De rerum natura Libri Sex. With notes and a transla-tion, London 41886.
Nardi (1647) = Nardi, G.: Titi Lucretii Cari De rerum natura libri sex: Una cum paraphrastica explanati-one, & animadversionibus, Florenz 1647.
Rouse/Smith (21975) = Rouse, W. H. D.: Lucretius De rerum natura. Edited with an English translation, revised by M. F. Smith, Cambridge/London 21975.
Wakefield (1797) = Wakefield, G.: T. Lucretii Cari De Rerum Natura Libros Sex. Ad exemplarium MSS. fidem recensitos, longe emendatiores reddidit, commentariis perpetuis illustravit, indicibus instruxit et cum animadversionibus Ricardi Bentleii non ante vulgatis, London 1797.
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6.1 Editionen, Kommentare, Übersetzungen 6.1.2 Vergil
Cerda (1618) = de la Cerda, J. L.: P. Vergilii Maronis Bucolica et Georgica. Argumentis, explicationibus, et notis illustrata, Madrid 1618.
Conington/Nettleship (51898) = Conington, J./Nettleship, H.: The Works of Virgil. Vol. 1 Eclogues and Georgics. Revised by F. Haverfield, 51898.
Conte (2013) = Conte, G. B.: Publius Vergilius Maro. Georgica, Berlin 2013.
Erren (1985) = Erren, M.: P. Vergilius Maro. Georgica. Band 1, Einleitung. Praefatio. Text und Überset-zung, Heidelberg 1985.
Erren (2003) = Erren, M.: P. Vergilius Maro. Georgica. Band 2, Kommentar, Heidelberg 2003.
Heyne (1830) = Heyne, C. G.: Publius Virgilius Maro varietate lectionis et perpetua adnotatione illus-tratus, Leipzig 1830.
Keightley (1846) = Keightley, T.: Notes on the Bucolics and Georgics of Virgil. With Excursus, Terms of Husbandry, and a Flora Virgiliana, London 1846.
Ladewig/Schaper/Deuticke/Jahn (91915) = Ladewig, T./Schaper, C./Deuticke, P./Jahn, P.: Vergils Gedich-te, Berlin 91915.
Mynors (1990) = Mynors, R. A. B.: Virgil, Georgics, Oxford 1990.
Page (1898) = Page, T. E.: P. Vergilii Maronis Bucolica et Georgica. With an introduction and notes, London 1898.
Richter (1957) = Richter, W.: Vergil. Georgica, München 1957.de Rue (1675) = de Rue, C.: P. Virgilii Maronis Opera, Paris 1675.
Saint-Denis (1968) = Saint-Denis, E. de: Virgile. Georgiques, Paris 1968.
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422
6.3 Tabellenverzeichnis
6.3 Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Kognitive Schemata nach Holm ...................................................................................... 69 Tabelle 2: Verteilung der Motivelemente in Lucans Bellum civile ..............................................115 Tabelle 3: Gegenüberstellung der Symptome (Ausgangspunkt: Seneca) .................................. 293 Tabelle 4: Übersicht über die Symptome der Motivtradition mit mehr als zwei Okkurrenzen ........................................................................................................................ 353
6.4 Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Zeitgenössische Gedanken in der Reflexion von Mediengewalt, aus: Bartsch et al. (2016), 750. ................................................................................................................21 Abbildung 2: Relationsmodell von Karl Eduard Rothschuh (1975), 414. .................................... 41 Abbildung 3: Organon-Modell der Übersetzung nach Münzberg (2003), 69; ZT = Zieltext, AT = Ausgangstext ................................................................................................ 75 Abbildung 4: Ferdinand Hodler: Die sterbende Valentine Godé-Darel, 24. Januar 1915, Kunstmuseum Basel ..................................................................................................................... 140 Abbildung 5: Relationsmodell von Karl Eduard Rothschuh (1975), 414 ................................... 333 Der Abdruck der Abbildungen von Bartsch und Münzberg erfolgt nach freundlicher Geneh- migung der Autorinnen. Für das Relationsmodell von Karl Eduard Rothschuh war der Ver- bleib der Bildrechte mit einem vertretbaren Aufwand nicht zu klären. Hodlers Gemälde und Hollars Stich (Titelbild) wurden Wikimedia Commons entnommen.
6.5 Abkürzungsverzeichnis
BAMKöcher, F.: Die babylonisch-assyrische Medizin in Texten und Untersuchungen. 6 Bd., Berlin/New York 1963–80. CEBücheler, F.: Carmina epigraphica, Fasc. I, Leipzig 1895. CILCorpus inscriptionum Latinarum (Berlin 1862 –). DKDiels, H./Kranz, W.: Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin 101961. DNPCancik, H./Schneider, H.: Der neue Pauly, Enzyklopädie der Antike, Stuttgart 1996ff. KSKühner, R./Stegmann, C./Holzweissig, F.: Ausführliche Grammatik der latei- nischen Sprache. Bd. 1: Elementar-, Formen und Wortlehre (Hannover 21912 = Darmstadt 1974). Bd. 2, 1/2: Satzlehre, Hannover 1971. LHSLeumann, M./Hofmann, J. B./Szantyr, A.: Lateinische Grammatik. Bd. 1: Laut- und Formenlehre, München 51928; Bd. 2: Lateinische Syntax und Stilistik, München 1965; Bd. 3: Stellenregister und Verzeichnis nichtlateinischer Worte, München 1979. LSJLiddell, H. G./Scott, R./Jones, H. St.: A Greek-English Lexicon, Oxford 91996. OLDGlare, P. G. W.: Oxford Latin Dictionary, Oxford 22012. RACReallexikon für Antike und Christentum: Sachwörterbuch zur Auseinanderset- zung des Christentums mit der antiken Welt, Stuttgart 1950 –. REWissowa, G./Kroll, W./Mittelhaus, K./Ziegler, K.: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Stuttgart 1894ff. TLLThesaurus Linguae Latinae Bd. 1 –, Leipzig/ Stuttgart/ München, 1900 –.
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7 Index nominum et rerum – Namens- und Sachindex
a capite ad calcem 64, 145, 292, 323f., 343, 350
Adäquatheitsanspruch 34–36
Adynaton 39, 178, 200, 203, 236, 365
Aeacus 93f., 219f., 243–247, 251, 261, 288, 339, 357f., 377f. aemulatio /Aemulation 13, 15, 21, 104, 192, 368Ästhetik 18, 287
Ästhetik des Leids 19–21
ästhetische Motivierung 15, 300
Ätiologie 12, 29, 42, 57f., 61, 63, 85, 92, 104, 119, 167, 181, 205, 215f., 220, 227, 242, 299, 305f., 321, 335–341, 343, 346, 363, 365
Amnesie 61, 77, 140, 146, 153, 347
Anatomie 24, 144, 180
Ansteckung 18, 53, 62–64, 77, 82, 85, 94, 96, 119, 149f., 156, 208, 211, 213, 216, 219, 226, 231f., 255, 274, 279, 284, 297, 302, 311, 321f., 328, 338–341, 360f., 364
Apoll 60, 104, 127, 168, 222, 266, 281, 305, 318, 335
Apostase 143f., 189, 209
Archagathos 25f.
Asklepiades v. Prusa 30f., 189, 325, 342f.
Asklepios 228
Astrologie 99f.
Atmung 23, 132, 187f., 190, 233, 271, 324, 347f.
Atom atomistische Krankheitslehre 77, 125, 335
Atomstrom 125, 343
Krankheitsatome 144, 336, 343
Augustus 17, 25f., 68, 99, 195Ausscheidungen 143, 232Bacchus 88, 109, 281Belagerung 113, 115, 155, 203, 301, 316, 318f., 327,
329Blut Blut(aus)fluss 143, 177f., 189, 295, 349 Farbe des Blutes 128, 144, 171, 188 Nasenbluten 133, 143f., 178, 189, 347–349, 353Brennfieber 132f., 135, 137, 143, 189, 234Buchschluss 153, 163, 219, 254, 291Caesar (C. Iulius) 26, 112f., 117, 201, 228, 301f.,
311, 313, 358Cassius Hemina 25Cato ( censor ) 26–28, 189Celsus ( medicus ) 22f., 28f., 52, 128, 132–134, 137–139, 144, 173, 185, 227, 234, 246, 275, 279, 284, 293, 295, 305, 323, 325Chiron 89, 205, 359, 378Chirurgie 28, 139Cicero (M. Tullius) 30f., 188, 227, 244 contagium (s. Ansteckung) contraria contrariis 172f., 235, 344 Corpus Hippocraticum 23, 36, 52f., 55, 57f., 135,
138f., 143f., 170, 173, 178, 189, 235, 349f., 354Diätetik 28, 173, 189, 197, 324, 360Diogenes v. Oinoanda 140, 150, 163Diokles v. Karystos 226Dürre 59, 100, 228, 254, 256, 263, 271
425
Durst 79, 83, 86, 97, 112, 115, 133, 136f., 232, 236, 240, 296f., 309, 344, 347–349, 353f., 366
Eingeweide(schau) 87, 96, 98, 108, 111, 116, 175f., 187, 232, 246, 284, 307, 319, 323, 346, 348f., 352, 357, 359f., 361
Ekpyrosis (s. Weltenbrand)
Epikur 101, 123, 136, 138, 140, 146
Epiphonem 145, 164, 239f., 296
Erdbeben 34, 59, 136, 340, 354, 361
Facies Hippocratica 85, 139–142, 158, 184, 292, 309
Fäulnis 86, 90, 116, 170f., 174, 207, 212, 226, 231, 244, 304f., 336, 344, 348 fatum 99, 103, 226, 257, 268, 282, 298, 310, 315Fiktion 33, 35f., 70, 134, 167, 289, 360
Freitod 177, 191, 238, 247, 367
Galle(auswurf) 46, 129, 133, 143, 305, 343, 346, 353
Gedächtnisverlust (s. Amnesie)
Heilung 69, 114, 136, 140, 155, 172, 186, 218f., 269f., 281, 358, 379
Herbst 86, 169f., 319
Hippokrates 28, 52, 54, 122, 133
Hund 48, 61, 64, 85, 87, 92, 95f., 111, 120, 147, 159, 179f., 202f., 213, 215, 218, 229, 291, 322, 345, 360
Hundsstern ( Sirius ) 106, 121, 203, 263, 265, 267, 270, 274, 330
Hunger 19, 22, 51, 100, 113f., 117, 172, 274, 299f., 313f., 324, 359
Immunität 53, 61, 63, 65 indicia mortis 133, 139, 186, 295
Isolation (s. Quarantäne)
Katastrophe 66–72, passim
Anthropologie der Katastrophe 70f., 159, 314, 368
Kekrops 78, 125, 258
Kochung 135, 169, 305kognitive Schemata 68–72Kosmos 69, 252, 265, 273, 313, 365Krankheit passim Krankheitseinheit 11f., 132, 134, 172, 180,
345, 349 Krankheitskonzept 23, 44, 57, 149, 346 Krankheitsmodell 41, 333 Krankheitsstoff 116, 212, 225f., 305–307, 339 Krankheitstheorie 77, 125, 135, 137, 175, 216,
283f., 334, 337
Krankheitsvorstellung 35, 38, 40–42, 61, 333–
367
Ursache der Krankheit 29, 43f., 57–61, 172, 216–218, 242, 251, 256, 267, 269, 274, 280, 289, 304, 307, 317f., 322, 335–341, 345, 350Landflucht 77, 155, 204, 232, 362Leichen passim Leichenhaufen 36, 95, 109, 114f., 229, 243,
245, 260, 282, 322, 329, 359 Leichenzug 83, 102, 162, 258, 363Liebe 85, 137, 145, 182, 256Lukian 10Makrokosmos/Mikrokosmos 77, 99, 169, 252,
256, 264f., 270, 310, 365
Marcellus 118f., 121, 315f., 326, 329f., 331f., 341,
357f., 361, 366Medizin passim Einstellung zur Medizin in Rom 22–31 Laienmedizin 25, 27 Medizingeschichte 10, 25, 31–37, 40, 62, 73,
368 Medizinerkritik 27, 31, 58 Medizinische Anthropologie 13 Medizinische Fachsprache/-literatur/-schri-ften 22f., 25, 29, 31, 36f., 52, 55, 128, 134f., 170, 184f., 187, 189, 192, 235, 275, 295, 308
426
7 Index nominum et rerum –Namens- und Sachindex Medizinische Tradition 28
(Personifikation) 137f., 327
Veterinärmedizin(er) 22, 187, 196, 221, 360
Melampus 89, 205, 359, 379
Miasma 44, 135, 239 mors immatura 36, 154, 160f.
Motiv 10–18, 32, 35, 38f., 42f., 114, 125, 136, 193,
200, 216, 219, 245, 254, 276, 282, 299, 349, 368
Pathologie 334–354
Atomarpathologie 343
Humoralpathologie 35, 143, 189, 341f.
Solidarpathologie 35, 341
Pathologie des Universums 77
Pathophysiologie 12, 42, 61, 85, 148, 171, 180,
209, 334, 339, 341–346
Perikles 32, 43f., 60, 126, 128
Pest passim
Antoninische Pest 158
Cyprianische Pest 70
Justinianische Pest 248
Norische Viehseuche 100, 289
Pestliteratur 15, 350
Pest von Athen 10, 43, 45–51, 76–84, 259
Pharmakologie 28, 360
Philodem von Gadara 30 pietas 151f., 199, 245f., 248, 251, 261, 277
Pompeius Lenaeus 29
Pompeius Magnus 29f., 112f., 115, 228, 278, 298–
302, 312–314, 357–361 praecordia dura 232, 235f., 307, 346, 348
Priester 87, 98, 110, 175, 241, 284, 356, 359f.
Prognostik 100, 141f., 212, 226, 272
Prodigium 77, 100, 104, 175, 177f., 188f., 201, 253,
264, 291
Proöm 28, 136
Proserpina 92, 215, 318 providentia (dei) 103, 253
Quarantäne 134, 297, 362, 366
Referenz 12, 33, 37, 321 religio 77, 159, 162f., 164, 194, 292, 335
Resilienz 354–356retrospektive Diagnose 32f., 40, 44, 52–56, 76, 368 sacer ignis 90, 111, 134, 292f., 309, 347f.
Scaliger (d. Ä.) 14, 113
Scheitern 368 von Autoritäten 361 von Kult/Religion 77, 104, 137, 159, 162, 173, 176, 205, 248, 259, 278, 359f. von Medizin 77, 85, 93f., 104, 119, 137, 148, 173, 205, 221f., 224, 259, 278, 292, 327, 359f.
Schlange 95, 110, 179, 190, 200, 203, 215, 228, 285, 328, 339, 341, 344
Schweiß 87, 90, 120, 128, 184, 209, 305, 322f., 338, 348
Sophokles 103, 205, 265, 267f., 270, 275, 280, 335Sympathie ( sympatheia ) 236f., 254, 274, 313, 318, 320
Szene 85, 160, 174–176, 179, 181–185, 191f., 240, 243, 254, 260, 290, 296, 304, 326, 330, 334
Tempel 77, 83, 94, 98, 112, 119, 153, 155, 158, 243, 245, 247f., 251, 298, 316, 359, 362, 367
Theodizee 69f., 179, 200, 285, 310, 346
Tisiphone 89, 176, 205, 212, 215, 220, 237, 288f., 310f., 327f., 339, 359
Tod (Personifikation) 288–290
Topos 12, 39, 123, 126, 154, 249
Totenbeschwörung 113, 284, 291, 306, 318, 357, 359
Travestie des Goldenen Zeitalters 85, 180, 200f., 229, 285f.
Typhon 116, 306
427
Unterwelt 104, 115, 175, 215f., 220, 249, 251, 288,
290f., 306, 318, 378
Venus 124, 256
Verfall
Verfall der Bestattungsriten 77, 162, 276, 312,
327
Werteverfall 261, 277
Viererschema 236
Vorstellung
Vorstellungsgeschichte 13, 35, 75, 201, 368
Vorstellungswelt 17, 36, 71 318, 368
Vorzeichen (s. Prodigium)
Vulnerabilität 354–356
Wein 88, 98, 110, 184, 186, 189f., 196, 263, 286f., 360
Weltenbrand 261–265, 270
Wesensverkehrung 180, 203, 230f., 271, 285f., 287, 348f.
Zeus (/Jupiter) 97f., 200f., 306