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: Anspruch und Methode der Philosophie

Anspruch und Methode der Philosophie

Schriften zur Phänomenologie und Anthropologie, Band 2

Inhalt

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Anspruch und Methode der Philosophie als philosophisches Problem. Zur Einführung

Niklas Grouls / Laura Martena

Die Fragen, was Philosophie sein kann und sein soll, welchen epistemischen und womöglich auch praktischen Anspruch wir dabei erheben, was uns leitet und wie wir vorgehen können, begleiten sie seit ihren Anfängen.1 Während der Ort, an dem diese Fragen explizit verhandelt wurden, in der Philosophiegeschichte oft Vorreden, Nachworte und andere Rand-Texte innerhalb der philosophischen Werke selbst waren, hat sich der Diskurs darüber insbesondere im anglo-amerika-nischen Raum seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend verselbst-ständigt. Unter dem Titel ‚Metaphilosophie‘ hat er sich inzwischen als eigenes Teilgebiet philosophischer Forschung etabliert – um den Preis, dass die Reflexion und Begründung des eigenen Anspruchs und methodischen Vorgehens aus dem philosophierenden ‚Tagesgeschäft‘ gewissermaßen ausgelagert und an andere de-legiert wird.

Nicht erst in der Gegenwart nehmen solche ‚metaphilosophischen‘ Reflexionen ihren Ausgang immer wieder von einem Eindruck, der sich auch und gerade bei einer Beobachterin einstellen kann, die sich mit der Philosophie erst zu beschäfti-gen beginnt. Es handelt sich um die Beobachtung, dass in dieser Disziplin, anders als es in den Wissenschaften der Fall ist, auch nach rund zweieinhalb Jahrtausen-den über die Antworten auf zentrale Fragen noch immer tiefgreifende Dissense zu herrschen scheinen. Demnach scheint es jahrhundertelanger Denkanstrengungen zum Trotz bis heute wenige oder keine philosophischen Behauptungen und Argu-mente zu geben, die in der Gemeinschaft der Philosoph:innen selbst nicht radikal umstritten wären. Sofern Philosophie ihrem Anspruch nach nun aber auf die eine Wahrheit in der Vielfalt der Meinungen gerichtet zu sein scheint, und sofern sie diesen Anspruch allem Anschein nach auch nicht aufgeben kann, ohne sich selbst aufzugeben,2 wurde dieser Umstand nicht nur durch Beobachter:innen von au-ßen, die der Philosophie angesichts dessen ihren Wert oft rundheraus absprechen, sondern von Philosoph:innen selbst immer wieder als eklatanter Mangel wahr-genommen. Immerhin scheint die Wahrheit der Behauptungen, auf die sich das Philosophieren richtet, auf eine allgemeine Akzeptanz oder zumindest Akzepta-bilität zu verweisen – so jedenfalls eine oftmals unbefragte Annahme, die solchen Diagnosen unausgesprochen zugrunde zu liegen scheint. Deren notorisches Feh-len scheint das Projekt der philosophischen Wahrheitssuche insgesamt in Zweifel zu ziehen und kann insofern gerade den Philosophierenden selbst als Skandalon erscheinen (vgl. hierzu und im Folgenden Raatzsch 22014; Berthold 2011). Dies gilt umso mehr mit Blick auf die Erkenntnisfortschritte der Wissenschaften, die im-mer wieder als Maßstab herangezogen werden. Diese mögen zwar in sich durch-aus ambivalent sein, haben in jedem Fall aber auch unseren Alltag tiefgreifend verändert und zweifellos in vielerlei Hinsicht verbessert.

Die Problematisierung dieser Situation der Philosophie, auch und gerade im Kontrast zu den Wissenschaften, und der damit immer wieder verbundene An-spruch, sie durch den eigenen philosophischen Neuansatz endlich zu überwinden, durchzieht dann auch die Geschichte der Philosophie (nicht erst) in der Moderne. So bemerkt etwa René Descartes: „Von der Philosophie will ich nur so viel sagen: Ich sah, dass sie von den ausgezeichnetsten Köpfen einer Reihe von Jahrhunderten gepflegt worden ist und dass es gleichwohl noch nichts in ihr gibt, worüber nicht gestritten würde und was folglich nicht zweifelhaft wäre“ (AT VI, 8). Dies bildet den Ausgangspunkt seiner Suche nach einem unbezweifelbaren Fundament, auf dem künftig gesichert aufgebaut werden kann, um der Beliebigkeit zu entkom-men. Später wird Immanuel Kant in der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft die berühmt gewordene Metapher des „Kampfplatz[es] […] endloser Streitigkeiten“ (KrV A VIII) verwenden, als der die Geschichte der Philosophie erscheinen kann. Dieser „Kampfplatz“, auf dem „Dogmatiker“ und „Skeptiker“ einander seit jeher bekriegen – man mag an die ‚Gigantomachie‘ in Platons Sophistes erinnert sein –, soll erst durch die kritische Philosophie befriedet werden. Nur so soll das „bloße Herumtappen“ (KrV B XV), das sie bis dahin ausgezeichnet habe, überwunden werden und die Philosophie den „sicheren Gang einer Wissenschaft“ (KrV B XI, B XIV) nehmen können (vgl. zu diesem Topos Flasch 2009; Berthold 2011).

Dass dieser Anspruch aus Sicht der Rezipient:innen Kants nicht eingelöst wor-den ist, wird spätestens daran deutlich, dass eben diese Diagnose zu Beginn des 20. Jahrhunderts wenn nicht ungebrochen, so doch in sehr ähnlichen Worten wie-derholt werden kann. So stellt etwa William James den Pragmatismus in seinen Vorlesungen für ein breiteres Publikum gerade als Antwort auf die Auseinander-setzungen dar, welche die Geschichte der Philosophie beherrschen sollen und die „sonst endlos wären.“ (James 2016 [1907], 30) Erst durch die von ihm propagier-te Neuorientierung sollen diese behoben werden können, wobei der Pragmatis-mus zugleich nur einen „neue[n] Namen für einige alte Denkweisen“ darstelle, also namhafte Vordenker:innen für sich reklamieren könne (ebd., 33f.). Später wird Moritz Schlick noch einmal die „Anarchie der philosophischen Meinungen“ und das „Chaos der philosophische[n] Systeme“ konstatieren, um sogleich hinzuzufügen: „[Dies] eigentümliche Schicksal der Philosophie wurde so oft ge-schildert und beklagt, dass es schon trivial ist, davon überhaupt zu reden, und dass

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schweigende Skepsis und Resignation die einzige der Lage angemessene Haltung zu sein scheinen. Alle Versuche, dem Chaos […] ein Ende zu machen und das Schicksal der Philosophie zu wenden, können, so scheint eine Erfahrung von mehr als zwei Jahrtausenden zu lehren, nicht mehr ernst genommen werden.“ (Schlick 1930, 5) Dabei bleibt er freilich nicht stehen, sondern annonciert selbst eine neuer-liche Wende der Philosophie , die wiederum eine „durchaus endgültige[]“ zu sein beansprucht, insofern sie uns berechtigen soll, „den unfruchtbaren Streit der Sys-teme als beendigt anzusehen.“ (Ebd.) „[D]ie unausweichliche Notwendigkeit einer […] Umwendung der Philosophie“, wenn auch einer ganz anders gelagerten, pro-klamiert auch der Begründer der Phänomenologie Edmund Husserl noch einmal im Vorwort seiner späten Krisis -Schrift, und verdeutlicht diese zunächst durch eine „teleologisch-historische […] Besinnung auf die Ursprünge unserer kriti-schen wissenschaftlichen und philosophischen Situation“ (Hua VI, 1). Auch nach Husserl bedarf es einer solchen nicht zuletzt angesichts „des immer vordringli-chere[n] Gefühl[s] des Versagens“, das sich unter Philosoph:innen selbst mit Blick auf die „eindrucksvolle[n], aber leider sich nicht einigende[n], sondern einander ablösende[n] Systemphilosophien“ der vorangegangenen Jahrhunderte einstellen kann (ebd., 8f.).

Bemerkenswert ist, wie die Diagnose der als Mangel gedeuteten tiefgreifenden und scheinbar allumfassenden Dissense in der Philosophie und der Versuch, diese zu überwinden, immer wieder mit der Frage nach der Methode der Philosophie verknüpft worden ist (vgl. Raatzsch 22014). Schon Descartes wirft diese Frage in seinem Discours de la méthode auf, der ursprünglich als Vorrede zu seinen natur-philosophischen Studien fungiert. Auch Kant will die Kritik der reinen Vernunft explizit als „Tractat von der Methode, nicht [als] ein System der Wissenschaft selbst“ (KrV B XXII) verstanden wissen. James wiederum stellt den Pragmatismus nicht primär als Summe oder System philosophischer Lehren dar, wenngleich er ihn im Laufe seiner Vorlesungen auch als Bedeutungs- und Wahrheitstheorie dis-kutiert. Vielmehr präsentiert er ihn als Methode, die eben gerade die angesproche-nen Kontroversen zum Verstummen bringen soll. (James 2016 [1907], 34) Schlick wiederum zeigt sich überzeugt, dass wir zum Zeitpunkt, an dem er seinen Aufsatz verfasst, „bereits im Besitz der Mittel [sind], die jeden derartigen Streit [der Syste-me] im Prinzip unnötig machen; es kommt nur darauf an, sie entschlossen anzu-wenden.“ (Schlick 1930, 5) Und Husserl schließlich macht es sich noch einmal zum Ziel, die Philosophie zu einer ‚strengen Wissenschaft‘ zu entwickeln, sodass sie

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als „methodische Arbeitsphilosophie“ (Hua VI, 104) fortschrittsfähig wird. Auch hier wird die Frage, wie die Philosophie ihren Anspruch einlösen kann, also als Frage nach der Methode gerahmt, und diese wiederum als dasjenige begriffen, das Übereinstimmung, gemeinsame arbeitsteilige Forschung und damit echten Erkenntnisfortschritt ermöglichen soll.

Betrachtet man diese Reflexionen und Interventionen, so lässt sich allerdings konstatieren, dass sie zwar einflussreiche Strömungen begründet haben, welche die Landschaft des philosophischen Denkens in der Gegenwart maßgeblich mit-geformt haben. In diesem Kontext ist dann auch auf die in ihrem Sachgehalt um-strittene, aber zweifellos enorm wirkmächtige Trennung von ‚analytischer‘ und ‚kontinentaler‘ Philosophie hinzuweisen, einschließlich der neueren Versuche, die Gräben wieder zu überbrücken (vgl. bspw. die Beiträge in Bell et al. 2016). Gerade daran ließe sich aber auch zeigen, dass diese immer neuen Wenden den Ausgangs-befund eher noch verschärft zu haben scheinen.

Auf einen solchen Gedanken könnte man zumindest kommen, wenn man be-denkt, dass einer der Autoren der ersten Ausgabe der Zeitschrift Metaphilosophy im Jahr 1970, die einen frühen Kristallisationspunkt des sich nunmehr so be-zeichnenden Diskurses bildet, einmal mehr den altbekannten Topos einer „Ab-wesenheit unbestrittener Behauptungen und Argumente“ in der Philosophie aufrufen kann, um ausgehend davon das Projekt der „Metaphilosophie“ gerade als Versuch zu definieren, das Wesen der Philosophie im Angesicht dieses Feh-lens zu bestimmen. Dabei soll allerdings der ‚Kampfplatz endloser Streitigkeiten‘ dem Anspruch nach nicht mehr länger befriedet werden, sondern, vermeintlich bescheidener, nurmehr befriedigend erklärt werden (Lazerowitz 1970, 91) – auch das aber letztlich wohl eine indirekte ‚Pazifizierungsstrategie‘ (vgl. Berthold 2011). Entsprechend scheinen dann auch weite Teile des ‚metaphilosophischen‘ Diskur-ses, die durch den Wechsel auf eine Beobachtungsebene ‚zweiter Ordnung‘ für die Gegenstandsebene so viel leisten sollte, eher dadurch charakterisiert, dass hier Probleme ‚erster Ordnung‘ noch einmal repetiert worden sind. Damit droht das so verstandene Unterfangen in den Regress zu führen – oder aber in die Anerken-nung des Umstandes, dass es ein Außerhalb des ‚Kampfplatzes‘ mit Blick auf die Philosophie gar nicht geben könne, und damit auch keine Rettung auf eine so ver-standene Meta-Ebene.

So betrachtet schiene dann aber die Philosophie als epistemische Praxis gemes-sen an ihren eigenen Ansprüchen hoffnungslos. Es kann dann nämlich so ausse-

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hen, als gäbe es am Ende doch nur die Möglichkeit, sich auf diesem ‚Kampfplatz‘ selbst zu positionieren und ihn dadurch stetig zu reproduzieren, für die eigene Lehre und Methode um Gefolgschaft zu werben und alle anderen zu bekriegen, für sich zu vereinnahmen oder schlicht zu ignorieren, oder aber in die Haltung des Skeptizismus und der Resignation zu verfallen, von der etwa Schlick spricht. Nicht wenige Beiträge zur Philosophie im 20. Jahrhundert lassen sich dann auch als Abgesang auf sie oder jedenfalls den sie antreibenden Wahrheits-Eros lesen – wenngleich die Philosophie, wie Hilary Putnam einmal bemerkt, bislang noch alle ihre Totengräber überlebt hat (Putnam 1990, 18–21).

Die so nur angedeuteten Aporien, in die der Diskurs der ‚Metaphilosophie‘ füh-ren kann, sind nun allerdings ihrerseits längst erkannt. In den vergangenen Jahren sind angesichts dessen andere Wege gesucht worden, die aus ihnen herausführen sollen. Diese zeichnen sich zunächst durch das Bewusstsein der konstitutiven Re-flexivität des Philosophierens selbst aus, die schon die Vorstellung von einer so imaginierten ‚Metaebene‘ selbst problematisch erscheinen lässt. Umgekehrt wird deutlich, dass jede philosophische Reflexion immer schon in gewissem Sinne ‚me-taphilosophisch‘ ist. Begrifflich manifestiert sich dies in der Transformation der ‚Metaphilosophie‘ hin zu einer ‚Philosophie der Philosophie‘.

Neuere Beiträge in diesem Bereich versuchen häufig gerade, die Situation des ‚Kampfplatzes‘ nicht nur immer wieder auf höherer Ebene zu wiederholen. Eher lassen sie sich als Antworten auf die Frage verstehen, wie sich angesichts des Feh-lens unbestrittener philosophischer Behauptungen und Argumente und ohne Aussicht, hier Konsens zu erzielen, das Wesen der Philosophie denken und wie sich angesichts dessen praktisch philosophieren lässt. Dabei wird auch versucht, die ‚Kampfplatz‘-Situation selbst auf eine Weise neu zu beschreiben, die den Dis-sens nicht von vornherein als Defizit erscheinen lassen muss. Leitend sind dabei die Anerkennung einer Vielfalt und Diversität oder, radikaler gedacht, einer Viel-stimmigkeit des Philosophierens, deren Reduktion weder möglich noch eigentlich wünschenswert scheint, will man nicht die Philosophie selbst überwinden (vgl. hierzu Rescher 1997 [1985]; anders Raatzsch 22014, kritisch mit Blick auf Rescher und den Ansatz von Raatzsch aufnehmend Berthold 2011). So vertritt etwa Hampe (2006, 17) ausgehend von einem nicht-doktrinären Verständnis der Philosophie, das insbesondere deren kritische Potentiale betont, dass es eine „einzige Methode der Philosophie“ gar nicht geben könne, „sondern nur Methoden oder Stile des Philosophierens“. Diese „Vielfalt philosophischer Praktiken“ mache dann auch

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deutlich, „dass die Philosophie keine Wissenschaft ist“ – und auch keine werden kann, ohne sich selbst abzuschaffen. Die Herausforderung solcher Neuentwürfe scheint maßgeblich darin zu bestehen, diese Vorstellung einer irreduziblen Plura-lität auf eine Weise zu explizieren, die reflexiv konsistent ist, die Wahrheitsansprü-che der Philosophie ernst nimmt und wohl nur so der von Schlick angedeuteten Haltung zu entgehen vermag, die wiederum jedes Philosophieren zu verunmög-lichen droht.

Der Versuch, die Aporien metaphilosophischer Reflexion durch eine Verände-rung der Optik zu vermeiden, haben auch Einfluss darauf, auf welche Weise in der Gegenwart nach ‚der Methode‘ oder ‚den Methoden‘ der Philosophie gefragt wird. Einerseits scheint jede Philosophie ihren eigenen Anspruch explizieren und ihr Vorgehen begründen zu müssen, will sie nicht dem ‚dogmatischen Schlummer‘ verfallen und in bloßer Willkür enden – eine Aufgabe, die sich auch nicht ein-fach delegieren oder mit dem Hinweis erledigen lässt, dass bestimmte Praktiken wie etwa die ‚Begriffsanalyse‘ oder die Arbeit mit ‚Gedankenexperimenten‘ und ‚Intuitionen‘ in der Gegenwartsphilosophie nun einmal weit verbreitet sind. Dabei scheinen wir philosophische Entwürfe im Sinne von Kristallisationen des philo-sophischen Denkens, die versuchen, die eigenen Voraussetzungen einzuholen und damit auch nach methodischer Selbstbegründung streben, und die sie umgeben-den Forschungen weiterhin zu brauchen – wobei neu darüber nachzudenken ist, wie die Rede von den ‚Methoden der Philosophie‘ oder ‚philosophischen Metho-den‘ dabei genauer zu verstehen wäre und wie weit die Analogie zu den Wissen-schaften überhaupt trägt. Andererseits müssen diese Entwürfe und damit auch die ‚Methode(n)‘ des Philosophierens womöglich ihrerseits plural gedacht werden.3

Einen von Vielfalt gekennzeichneten Zugang suchen jüngst beispielsweise zwei umfangreiche, nahezu zeitgleich erschienene englischsprachige Lehrbücher, die das Philosophieren in der Gegenwart aus einem methodologischen Blickwinkel betrachten: das Oxford Handbook of Philosophical Methodology (2016) und der Cambridge Companion to Philosophical Methodology (2017). Beide Publikationen zeichnen sich zunächst dadurch aus, dass sie nicht mehr von einem Mangel an Konsens ausgehen, der nunmehr auf der Ebene der philosophischen Methode ver-ortet würde. Vielmehr versuchen sie von vornherein der Vielfalt oder Vielstim-migkeit der Traditionen und daran anschließenden Ansätzen Raum zu geben. Dabei lassen die Herausgeber:innen bewusst weitgehend offen, was genau mit ‚Methode‘ und ‚Methodologie‘ in der Philosophie gemeint sein soll, und verlegen sich eher darauf, diverse exemplarische Ansätze in einer solchen Hinsicht zu prä-sentieren, indem sie deren Verfechter:innen selbst zu Wort kommen lassen. Damit bleibt aber unklar, was, wenn überhaupt etwas, noch die Einheit in der Vielfalt dessen konstituierten soll, was hier als ‚Methoden‘ adressiert wird. Vor allem aber wird die grundlegende Frage nach der Methodisierbarkeit der Philosophie kaum je aufgeworfen, womit auch der Status dieser ‚Methoden‘ und die Rede von einer philosophischen ‚Methodologie‘ unklar bleiben.

Schon diese wenigen Schlaglichter machen aber gerade sichtbar, dass eben diese Fragen nach ‚dem Anspruch‘ und ‚der Methode‘ oder ‚den Methoden‘ ‚der Philoso-phie‘ auch und gerade in der Gegenwart weiterhin virulent sind – und es vielleicht auch bleiben müssen. Der Versuch, zu bestimmen, was Philosophie sein kann und sein soll, was sie zu leisten vermag und was wir genauer auf welche Weise, mit wel-chen epistemischen und praktischen Zielen und mit welchen methodologischen Idealen tun oder tun sollten, wenn wir philosophieren, und was uns dabei anleiten kann, scheint insofern weiterhin lohnenswert. Der vorliegende Band macht es sich deshalb zur Aufgabe, sich um Antworten zu bemühen – in dem Wissen, dass Kon-sens innerhalb der Gemeinschaft der Philosoph:innenhier kaum erwartbar ist.

Sofern auch uns der Versuch, allen philosophischen Ansätzen der Gegenwart in einem solchen Rahmen gerecht zu werden, von Anfang an aussichtslos erschien, verfolgt der Band ein bescheideneres Anliegen. Einerseits sollen im Folgenden möglichst unterschiedliche Gestalten der Philosophie im Gegenwartsdiskurs zur Darstellung kommen, ohne dass wir damit auf irgendeine Form der Vollständig-keit oder auch nur Repräsentativität abheben würden. Zu diesem Zweck haben wir die Beitragenden eingeladen, diese und damit verbundene Fragen aus ihrer Sicht aufzunehmen, indem sie einen bestimmten Ansatz, zumeist ihren eigenen origi-nären, noch einmal auf begrenztem Raum in einer methodologischen Hinsicht entfalten oder aber bestimmte methodische Aspekte des Philosophierens näher beleuchten. Dadurch sollen diese Ansätze nicht nur für sich genommen greifbarer werden, indem das zumeist unausgesprochene Selbstverständnis expliziter wird. Im so ermöglichten Vergleich sollen auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede hinsichtlich der Zielsetzungen des Philosophierens und möglicher Wege dorthin sichtbarer werden – auf der thematischen Ebene, anhand der in den Beiträgen an-gestellten Überlegungen, zugleich aber anhand der Performanz der so versam-melten Texte selbst. Dabei ist das Ziel zunächst ausdrücklich nicht, für eine be-stimmte Strömung oder Schule zu werben. Wir hegen vielmehr die Hoffnung, dass eine solche Zusammenstellung einen Beitrag leisten kann, für diese Pluralität, die in der Gegenwart im Übrigen institutionell bedroht zu sein scheint, zu sensibili-sieren – wenn nicht sogar dazu, diese künftig als interessanten Gegenstand des Nachdenkens und dabei vielleicht sogar als produktive und bewahrenswerte Viel-stimmigkeit statt von vornherein nur als Hindernis oder ständiges Ärgernis philo-sophischer Arbeit wahrnehmbar zu machen.

Andererseits sollte die Vielfalt der Erscheinungen dessen, was heute unter Philo-sophie zu firmieren beansprucht, selbst unter dem Aspekt ihrer Methode(n) zum Gegenstand werden, womit Fragen aufgeworfen sind, die im angesprochenen Dis-kurs tendenziell eher ausgeblendet oder als beantwortet vorausgesetzt werden. Ei-nige der Beitragenden tun dies, indem sie darüber nachdenken, worin angesichts dieser Pluralität das Philosophische selbst bestehen könnte, ob Philosoph:innen bei aller Vielfalt bestimmte Ziele, Zwecke und Ideale teilen oder jedenfalls tei-len sollten, und inwiefern sie sich, in Analogie zu Wissenschaftler:innen, dabei im Vorhinein feststehender Methoden bedienen können, bzw. was mit der Rede von ‚Methode(n)‘ im Kontext der Philosophie überhaupt genauer gemeint sein kann. Zugleich ist damit die Frage aufgeworfen, wer von welchem Ort aus und

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mit welchem Anspruch derartige Ansprüche gegenüber der Philosophie eigentlich erheben kann, und wie die am philosophierenden Diskurs Beteiligten sich zu den scheinbar so tiefgreifenden Dissensen über das eigene Tun angemessen verhalten können – wenn nicht nur durch den ständigen Versuch, im Namen ‚der‘ Philoso-phie das je eigene Verständnis theoriepolitisch durchzusetzen, sich dauerhaft hin-ter die Mauern einer bestimmten Schule zurückzuziehen oder gleich aus der Not eine vermeintliche Tugend zu machen und Beliebigkeit zu preisen. Die Beiträge lassen sich auch so lesen, dass sie sich dieser gemeinsamen Problemstellung jeweils aus einer dieser Richtungen nähern. Zur groben Orientierung haben wir sie ent-sprechend gruppiert. Bevor wir die Beitragenden selbst zu Wort kommen lassen, wollen wir vorab noch einen Überblick geben und dabei auch einige gemeinsame Themen und Verbindungen zwischen ihnen herausstellen.

Im ersten Teil des Bandes positionieren sich die Autor:innen zu der Frage und zeigen zugleich in actu auf, welchen Anspruch Philosophie heute aus ihrer Sicht erheben und wie sie vorgehen kann und soll, um diesen einzulösen. Die ersten drei Beiträge schreiben sich in die Tradition der Phänomenologie ein, die sie aller-dings auf sehr unterschiedliche Weise aufnehmen. Den Anfang macht Thorsten Streubel. Er geht aus von Überlegungen zum Zweck der Philosophie, sofern die-ser ihre Methode bestimme und ihr erst eine gesellschaftliche Daseinsberechti-gung gebe. Diesen Zweck sieht er in der Aufklärung des Menschen über sich selbst. Philosophie wäre damit immer schon Anthropologie im umfassenden Sinn. Das angestrebte theoretische Wissen über den Menschen sei aber nicht Selbstzweck, sondern solle uns praktische Orientierung in existentiellen Fragen geben. Dazu habe die Philosophin bestimmten Idealen zu folgen, nämlich der Voraussetzungs-losigkeit, Selbstbegründung und gleichzeitigen Offenheit für Revisionen. Der Weg der Philosophie führe damit notwendig über einen methodischen Zweifel. Dabei müsse sie so weit voranschreiten, bis sie auf ein unbezweifelbares Fundament sto-ße – andernfalls bliebe ihr Wissens- und Orientierungsanspruch von vornherein prekär. Ausgehend davon müsse sie jeden ihrer Schritte begründen, um sich so selbst nachträglich als begründet auszuweisen. Die Methode im Sinne des ‚Wegs‘ (μέθοδος) der Philosophie, die erst ihre Wissenschaftlichkeit ausmacht und sie von einer bloßen Weltanschauung unterscheidet, wäre somit das Gehen dieses Wegs selbst, wobei Methodenbegründung und Gegenstandskonstitution stets eine Einheit bilden müssten. Die Rede von „den Methoden“ der Philosophie käme so

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gesehen zu spät oder schiene ganz verfehlt. Vielmehr müsste sich jede Philoso-phierende ihren je eigenen Weg bahnen, dem andere dann nachgehen können. Im Weiteren zeigt Streubel, wie dieser sich konkret gehen ließe. Philosophie ge-winnt bei ihm die Gestalt einer Fundamentalanthropologie, die sich anhand einer Selbstbesinnung des philosophierenden Menschen auf sein unhintergehbares So-sein, wie es sich ihm in seiner Erfahrung zeigt, zu Einsichten in Wesensmomente menschlichen Daseins bewegt.

An der existentiellen Dimension der Philosophie hält dem Anspruch nach auch Tom Poljanšek fest. Ihr Ziel bestehe genauer darin, Aspekte der Selbsterfahrung thematisch zugänglich zu machen, die im Alltag für gewöhnlich unthematisch bleiben. Und auch er vertritt dabei die Auffassung, dass zu diesem Zweck ein Rückgang auf das Gegebene notwendig sei, wie es sich der Philosophierenden in der je ihren Erfahrung zeigt. Diese könne daran Strukturen freilegen, welche im Folgenden Mitmenschen sprachlich mitgeteilt werden können. Die Macht der Sprache, derer sie sich dazu bediene, bestehe damit weniger darin, durch Argu-mente zu überzeugen als vielmehr in deren Zeigefunktion. Sofern die Ergebnisse solcher Besinnungsversuche keineintersubjektive Geltung beanspruchen könn-ten, plädiert Poljanšek für eine Entspannung der epistemischen Ansprüche die-ses Projekts. Der Ansatz und die literarischen Beispiele, die diesen illustrieren sollen, lassen eine Reihe von Fragen offen, die auch spätere Beiträge beschäftigen werden: Wie könnte eine so verstandene Philosophie mehr und anderes werden als bloße ‚Introspektionspoesie‘? Wie müsste Philosophie selbst anders gedacht und praktiziert werden, um den Anspruch, transformatorisch zu sein und Neues zu schaffen, nicht nur zu erheben, sondern auch einzulösen?

Die Frage nach dem Neuen, hier dem ‚Erfinderischen‘ ist es auch, die Alex-ander Schnell als wesentlich für die philosophische Methodendebatte aus-weist. Auch er tritt für ein bestimmtes, nun allerdings entschieden spekulatives und konstruktives Verständnis der Phänomenologie ein. Seine programmatische Skizze wird eingerahmt von einer Auseinandersetzung mit Descartes’ analyti-scher und Spinozas synthetischer Methode in der Deutung von Deleuze. Für eine Rehabilitierung der cartesischen Position im von Deleuze nachgezeichneten Me-thodenstreit setzt Schnell sich insofern ein, als er seinen eigenen Entwurf einer „generativen Phänomenologie“ auch als Fortarbeitung der cartesischen (und kan-tischen) Motive im Feld phänomenologischer Philosophie ausweist. Die Phäno-menologie muss seines Erachtens nämlich keineswegs bei der bloßen Deskription

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‚flacher‘ Bewusstseinsphänomene stehenbleiben – zumindest nicht, wenn sie be-reit ist, sich dem spekulativen Denken zu öffnen. Tut sie dies, könne sie auch die transzendentale Ermöglichung sowie die ontologischen Implikationen der Sinn-bildung in den phänomenologischen Blick bringen. Die Grundeinsicht der gene-rativen Phänomenologie fasst Schnell so, „dass sich in der Selbstreflexion auf die transzendentalen und ontologischen Dimensionen der Sinnbildung ein Urphä-nomen herauskristallisiert, dass die spekulative Grundlage der Phänomenologie reflexiv, dabei aber immer auch genuin phänomenologisch einsichtig zu machen gestattet.“ Entlang der Begriffstrias „Korrelativität (Korrelation)“, „Signifikativität (Sinn)“ und „Reflexivität (Reflexion)“ und in einer gleichfalls dreistufigen „trans-zendentalen Induktion“ zeichnet Schnell die Bewegung nach, an deren Ende das idealistische credo „Sein ist Reflexion der Reflexion“ erreicht ist. Dieses „Sich-Er-fassen als Sich-Erfassen“ dürfe aber nicht als einfache Selbstbezüglichkeit gedacht werden, sondern müsse in der Sphäre phänomenologisch-generativer Konstruk-tion vollzogen werden, wobei im Akt der Reflexion selbst die Reflexionsgesetzlich-keit und mit dieser letztlich das „Sein selbst“ hervorspringe.

Die Frage nach dem Neuen nimmt, wenn auch aus ganz anderer Warte, Steffen Koch abermals auf. Im Gegensatz zu den vorangegangenen Beiträgen verortet sich dieser explizit innerhalb der (sprach-)analytischen Tradition.4 Die Ebene, auf der er die philosophische Arbeit ansetzt, ist dann auch nicht die der Erfahrung bzw. deren Möglichkeitsbedingungen, sondern diejenige der Begriffe, mit denen wir operieren. Als Grundbausteine unserer Gedanken dienten diese dazu, Ordnung in die Vielzahl der uns umgebenden Einzeldinge zu bringen, um Schlussfolge-rungen zu ziehen, Überzeugungen, Hoffnungen oder Wünsche zu formen und zu formulieren, kurz: Sie ermöglichen und bestimmen demnach unseren kognitiven Umgang mit der Wirklichkeit. Wenn Philosoph:innen nun mit und an diesen Be-griffen arbeiten, dominiert bis heute die Vorstellung, ihre Aufgabe bestünde darin, diese uns grundsätzlich vertrauten, allerdings oft vagen und uns selbst nicht voll-ständig transparenten Begriffe zu ‚klären‘. Oft wird sich dazu der Konstruktion hypothetischer Fallbeispiele bedient, die mit unseren ‚intuitiven‘ oder ad hoc -Ur-teilen über die Anwendung eines bestimmten Begriffs abgeglichen werden. Doch kann Philosophie nur das leisten, ist sie also nur Erhellung der herrschenden Be-griffsverwendung? Oder kann sie die Begriffe, mit denen wir operieren, auch kri-tisch prüfen und sie, sofern sich dies als notwendig oder wünschenswert erweist, revidieren? Kann philosophische Begriffsarbeit unseren Umgang mit der Wirk-lichkeit also auch transformieren? Diesen Fragen geht Koch nach, indem er den Ansatz des Conceptual Engineering vorstellt. Dessen Ziel bestehe zunächst darin, unsere Begriffe daraufhin abzuklopfen, ob sie in semantischer, epistemischer oder moralischer Hinsicht defizitär sind, und sie gegebenenfalls zu revidieren. Koch diskutiert nicht nur an Beispielen, wie sich eine so verstandene Arbeit genauer ge-stalten ließe, sondern stellt auch Überlegungen an, anhand welcher Strategien sich die Ergebnisse solcher Interventionen praktisch implementieren ließen. Sollte die-se wirksam werden, könne Philosophie nicht nur mit Blick auf das begrifflich ver-mittelte Selbst-, Fremd- und Weltverhältnis der Philosophierenden, sondern wo-möglich auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene transformative Kraft entfalten.

In der ‚analytischen‘ Philosophie der Gegenwart arbeiten Philosoph:innen oft-mals mit ‚Intuitionen‘, wie schon bei Koch angeklungen ist. Wenn Anne Clausen sich der Bedeutung der Intuition in einer methodologischen Hinsicht zuwendet, benutzt sie diesen Begriff allerdings ganz anders als sowohl in der Alltagssprache als auch im Diskurs der analytischen Gegenwartsphilosophie üblich. Vielmehr knüpft sie an Philosophen wie Descartes, Spinoza, Jacobi und Schelling an, bei denen das intuitive Vermögen bzw. die intellektuelle Anschauung für ein Erfassen des Ewigen, Unendlichen steht, das sich durch ein endliches Denken nicht erken-nen lässt. Hier setzt Clausen an, indem sie fragt, welche Rolle die so verstandene Intuition für die Philosophie als Erkenntnispraxis spielt. Als Gesprächspartner dient ihr Henri Bergson. Dieser geht davon aus, dass der Gegenstand der Philoso-phie, das Geistige, sich nicht auf dieselbe Weise erfassen lässt wie die Gegenstände der Wissenschaften. Im Philosophieren können wir deshalb unseren Gegenstand nicht einfach aus der distanzierten Beobachterperspektive analysierend erfassen. Auch kann demnach die Philosophie, anders als Koch es nahelegt, nicht mit den Begriffen beginnen, die unseren Wirklichkeitsbezug konstituieren und vermit-teln. Vielmehr müsse sie ihren Ausgang von einem vor-logischen und vor-sprach-

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lichen Einfühlen nehmen, das allein das Geistige aus sich zu erfassen vermag. Der Philosophie komme dabei die paradoxe Aufgabe zu, dieses Nicht-Diskursive zu versprachlichen, wobei die Intuition diese Artikulationsversuche antreibe, ohne jemals in ihr aufzugehen. Zugleich postuliert Bergson, dass am Grund jeder Philo-sophie, die Bestand hat, eine einzige originäre, ungeschichtliche und überzeitliche Intuition läge, die das Wertvollste an ihr darstelle und die sie in immer neuen Anläufen auf Begriffe zu bringen versuche. Clausen zeigt, inwiefern eine Sensi-bilisierung für diese Intuition und ihr Wirken den hermeneutischen Umgang mit philosophischen Werken leiten kann. Schließlich weist sie die bleibende Bedeu-tung einer solchen Sicht für die Gegenwartsphilosophie aus, zeigt aber auch deren Grenzen auf und diskutiert ihre Gefahren.

Die Tradition zu aktualisieren ist auch Ziel des Beitrags von Fausto Fraisopi. Dazu ruft er zunächst den Anspruch der Philosophie als Erster Wissenschaft oder Mathesis Universalis auf, die es immer wieder unternommen hat, die Formen und Strukturen des Wissens aufzuklären. Würde die Philosophie diesen umfassen-den und radikalen Anspruch aufgeben, könne sie nurmehr ‚von der Hand in den Mund‘ leben. Gleichwohl könne eine solche Erste Wissenschaft in der Gegenwart nicht einfach an die klassische Metaphysik anschließen, welche die Wissenschaf-ten und die wissenschaftliche Arbeit architektonisch zu denken und normativ zu kontrollieren versuchte. Stattdessen müsse sie die Komplexität gegenwärtiger Wissensformen ernst nehmen. Was für Akademiker:innen bloß wie ein interes-santes theoretisches Projekt erscheinen mag, ist nach Fraisopi für die jüngeren Generationen der digital natives ein existentielles Problem: die Orientierung in dem ‚kaleidoskopischen Multiversum‘ einer komplexen Lebenswelt, deren Dimen-sionalität mangels passender Grammatik nicht einmal artikuliert werden kann. Er macht es sich daher zur Aufgabe, eine solche Grammatik durch einen Sprung in die Dimension der Metatheorie zu ermöglichen. Verabschieden müssen wir im Zuge dessen sowohl den Anspruch auf Letztbegründung wie auch auf das Bild der Philosophie als Hüterin des Wissens. Gewinnen können wir auf einer solchen Reise, zu der uns Fraisopi einlädt, ein neues Selbstverständnis der Philosophie als Wegbereiterin im Angesicht offener Horizonte des Wissens. Ziel und Zweck seines Entwurfs ist es, das Unbewusste der Komplexität des Wissens begrifflich-strukturell zu erfassen, und so das Existentielle und das Epistemische wieder zu verbinden. Letztlich könne nur so der Philosophie wieder Leben eingehaucht, ein

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neues Verständnis des Wissens gewonnen und so kommenden Generationen die Möglichkeit gegeben werden, sich spekulativ in beidem zu orientieren.

Die Beiträge des zweiten Teiles verschieben demgegenüber den Blick. Ihnen geht es auf der thematischen Ebene teilweise auch, aber nicht mehr ausschließlich darum, eine bestimmte Vorstellung von Philosophie in methodologischer Perspektive zu artikulieren und hinsichtlich ihres Anspruchs und ihrer Vorgehensweise zu re-flektieren oder ein Moment philosophischer Arbeit genauer zu beleuchten. Viel-mehr machen sie die im ersten Teil des Bandes sichtbar gewordene Pluralität phi-losophischer Selbstverständnisse auf unterschiedliche Weise zum Problem, wobei sie wiederum zugleich performativ aufzeigen, wie Philosophie heute methodisch vorgehen kann. Sie bemühen sich dabei auch um Antworten auf die Frage, worin angesichts dieser Pluralität das Philosophische selbst bestehen kann und inwiefern die Philosophie überhaupt so etwas wie ein Repertoire von (Standard-)Methoden hat und haben kann. Zudem werfen sie die Frage auf, wer eigentlich von welchem Ort auf diese Weise über ‚die Philosophie‘ sprechen und mit welchem Anspruch Ansprüche an sie stellen kann.

Zu Beginn belebt Thomas Arnold die literarische und philosophische Form des platonischen Dialogs wieder, um in diesem Medium zugleich die Aktualität einer genuin platonischen Konzeption von Philosophie aufzuzeigen. Im Dialog re-den der eponyme Mathematiker und ein Philosoph namens Amerius über Wesen und Methode der Philosophie. Während es Ersterem anfangs selbstverständlich erscheint, dass Philosoph:innen so etwas wie ein Repertoire an Standardmetho-den haben müssten, weist der Philosoph eben diese Voraussetzung zunächst als solche aus und problematisiert sie. Er zeigt seinem Gegenüber schon damit durch die Tat, womit das Philosophieren, nicht als bloßes Behaupten und Begründen von gegebenen Prämissen aus, nicht als bloßes Theoretisieren, als Problemlösen oder als Begriffsarbeit, aber auch nicht als Introspektionspoesie, sondern als dialekti-sche Praxis erst beginnt. Der Anfang der Philosophie bestünde demnach in einer reflexiven Blickwendung, die nicht mehr, wie im alltäglichen und auch im wissen-schaftlichen Denken, von den Voraussetzungen her, sondern vielmehr auf diese Voraussetzungen hin denkt. Dabei mache sie jedoch nicht Halt. Vielmehr bestehe das Philosophieren, das sich so als Vollzug dieser Blickwendung beschreiben ließe, in dem Versuch, diese Voraussetzungen radikal zu durchdenken, um auf diesem Weg schließlich zu einem Voraussetzungslosen vorzustoßen. So unterschiedlich

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die in der Geschichte und Gegenwart gegebenen Antworten auf die Frage sind, worauf die Philosophierende dabei letztlich treffen kann  – auf ein Absolutes oder ein ‚Urphänomen‘, auf die Erfahrung eines vermeintlich originär Gegebe-nen, eine intellektuelle Anschauung oder unseren unhintergehbar begrifflichen Zugang zur Wirklichkeit –, so fange diese Beschreibung doch vieles dessen ein, was als Philosophie gilt. Vor allem wirft sie neues Licht auf die wiederkehrenden Themen der Philosophie, die aus einer solcher Sicht nicht irgendwo im Nirgend-wo immer schon vorliegen, sondern sich als Effekte dieser Thematisierung, der immer ähnlichen Denkbewegungen einstellen. Diese Reflexionsbewegungen sind nach Arnold (oder Amerius), im Gegensatz zu bestimmten ‚Methoden‘ für die Philosophie primär typisch. Das Ziel dieser Reflexionen bestünde in einem gut begründeten Angebot, etwas auf bestimmte Weise zu sehen, bestenfalls Wesent-liches oder Strukturelles einzusehen, auf dem andere dann aufbauen können.

Die Frage nach der Methodisierbarkeit der Philosophie nimmt auch Pirmin Stekeler-Weithofer auf. Er wendet sich ebenfalls gegen die Vorstellung von Standardmethoden der Philosophie im Sinne einfach lern- und anwendbarer Schemata. Dabei verbindet auch er das Problem der Methode mit dem der Ent-stehung des Neuen, das bereits in anderen Beiträgen prominent war. Gute Philo-sophie zeichne sich gerade dadurch aus, dass sie im unübersichtlichen Gelände des Wissens neue Wege zu bahnen vermag, auf denen sich das Gelände von innen heraus erschließen lässt. Der Versuch, bereits gebahnten Wegen bloß zu folgen, würde damit dem Anspruch der Philosophie gerade widersprechen. Um dieses Neue zu schaffen, müssten zunächst übliche Anfänge infrage gestellt und als sol-che geltende Selbstverständlichkeiten eingeklammert werden, wobei Stekeler-Weithofer betont, dass dies immer in einem spezifischen Kontext geschieht. Damit ziele gute Philosophie auf eine Rahmenverschiebung dessen, was in einem bestimmten Gebiet gemeinhin geglaubt wird, und sei so betrachtet immer kritisch und nichtkonform. Philosophische ‚Forschung‘ im Sinne eines linearen, akku-mulativen Wissensgewinns könnte es demnach gar nicht geben. Philosoph:innen werden so weniger zu ‚Arbeitern im Weinberg des Herrn‘ (oder Beitragenden zu einem immer schon vorliegenden ‚Forschungsdiskurs‘, wenngleich Philosophie, wie auch Arnold betont, immer auch responsiv ist). Vielmehr erscheinen sie aus einer solchen Sicht als berufsmäßige Querulanten und Anarchisten. Stekeler-Weithofer diskutiert unter anderem, inwiefern es für ein solches professionelles Querulantentum sehr wohl fundierten Wissens über den Kanon, ein Sachgebiet

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sowie durchaus auch die Beherrschung von Methoden des Nachdenkens bedarf, die sich aus einer solchen Sicht aber eben nicht als philosophische Methoden ver-stehen lassen.

Mit der Frage nach der Methodisierbarkeit der Philosophie befasst sich auch Tatjana Schönwälder-Kuntze, die diesen ebenfalls unter anderem mit Blick auf die Entstehung des Neuen nachgeht. Zunächst bemüht sie sich dazu um eine Klärung und Differenzierung dessen, was mit ‚Methoden‘ im Kontext der Phi-losophie gemeint sein kann und wozu diese dienen. Ausgehend davon fragt sie nach der Möglichkeit einer (Selbst-)Begründung philosophischer Theorien und Methoden, die in vorangegangenen Beiträgen bereits als Leitidee des philoso-phierenden Diskurses ausgewiesen worden war. Sie arbeitet dabei einen Typ die-ser Selbstbegründung philosophischer (Super-)Theorien in der (Post-)Moderne heraus, die sich selbst sowohl methodologisch grundzulegen als auch ihre eigene historische Genese zu erklären versuchen, damit in einem bestimmten Sinn als umfassend und referentiell geschlossen erscheinen, die Notwendigkeit ihres Ins-trumentariums allerdings nur reflexiv ausweisen können. Bedeutet das, so fragt Schönwälder- Kuntze, dass die Philosophie zwar kein zielloses und auch kein ungeregeltes, aber letztlich doch ein bloßes Herumtappen ist, wenn auch eines, das sich selbst noch einmal reflektiert? Einerseits sei dies, so Schönwälder- Kuntze, in Zeiten, in denen nicht mehr überzeugend an eine wie auch immer geartete Transzendenz appelliert werden kann, die das eigene Vorgehen begrün-det, in der Tat unsere Situation als Philosophierende. Philosophischen Methoden hafte deshalb auch stets etwas Ungewisses an, weil sie es eben gerade nicht ver-mögen, sich selbst als einzig richtigen Weg zur Wahrheit auszuweisen. Deshalb würden Methoden, die ihre Praxis in einem absoluten Sinne als wahrer als andere auszeichnen wollen, immer an ihren Legitimierungsgrenzen scheitern, oder sie müssten auf ein absolutes Gegebensein rekurrieren – das sich freilich dem Vor-wurf des nur Gesetzten nicht entziehen kann. Andererseits könnten sich Metho-den aber funktional begründen lassen, anhand der praktischen Zwecke, denen sie dienen. Ausgehend von einem solchen ‚Primat des Praktischen‘ unterscheidet Schönwälder- Kuntze im Folgenden mögliche Zwecksetzungen, denen sie be-stimmte philosophische Methoden zuordnet. Sie differenziert dazu zwischen re- trospektiver Aufklärung und transperspektiver Offenheit gegenüber Neuem. Ihres Erachtens brauchen wir beide im Zusammenspiel.

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Jürg Berthold nähert sich der Methodendebatte innerhalb der Philosophie noch einmal aus neuer Richtung. Er geht dabei von dem eingangs und dann auch bei Schönwälder-Kuntze problematisierten Befund aus, dass Philo-soph:innen nicht nur immer wieder versuchen, sich des von ihnen jeweils ge-gangenen Wegs reflexiv selbst zu vergewissern, ihn als begründet auszuweisen und anderen zum Nachgang anzuempfehlen, sondern diesen dabei oft genug als einzig wahren oder jedenfalls überlegenen zu behaupten. Berthold versucht dann die These zu plausibilisieren, dass mit Blick auf die Philosophie, die sich traditionell der Vernunft und Wahrheit verschreibe und alles Polemische als ihr Fremdes aus sich auszuschließen versuche, der Schein trüge: Entgegen ihrem Selbstverständnis sei sie nicht nur an ihrer Oberfläche, im Sinne gelegentlicher polemischer Rhetorik, die sich in psychologischen oder soziologischen Katego-rien fassen ließe, sondern durch und durch polemisch. Je nachdem, wie man diesen Befund einer polematischen Tiefenstruktur des Philosophierens deute, werfe er auch anderes Licht auf die eingangs angesprochenen andauernden Dis-sense rund um die Methode(n) des Philosophierens. Berthold versucht davon ausgehend zu zeigen, wie polematische Situationen in der Philosophie entstehen und entfaltet diese Überlegungen mit Blick auf das Verhältnis von Behauptung, Selbstbehauptung und Polemik. Dabei möchte er zeigen, wie Polemiken letzt-lich in den Strukturen des Behauptens selbst begründet sein können. Nachdem er dies an einem Beispiel illustriert hat, stellt er schließlich Überlegungen zu möglichen Umgangsweisen mit der polematischen Grundstruktur des Philoso-phierens an, die diese nicht bloß reproduzieren. Statt das Ziel zu verfolgen, sich mit den eigenen Behauptungen selbst zu behaupten, könnten Philosoph:innen auch Strategien der Verflüssigung, Überlistung und Unterbrechung verfolgen, die auf andere Weise in hegemoniale Diskursen intervenieren. Die methodo-logische Leitidee, die er angesichts dessen schließlich formuliert, ist gerade nicht mehr die der Apodiktizität, sondern vielmehr des Suchens und Findens einer eigenen Stimme. Nur diese sei heute der Anmaßung und Arroganz entgegenzu-setzen, die der Philosophie immer schon innewohne – gerade auch dann, wenn sie methodisch reflektiert vorgehe.

Nicht nur zu Zeiten Hegels und Schopenhauers, die Berthold als Beispiel die-nen, auch in der Gegenwart findet Philosophie, und damit das Spiel von Behaup-tung und Selbstbehauptung, nicht im luftleeren Raum statt, sondern wesentlich an der Akademie. So gern Philosoph:innen sich dabei als hauptberufliche Que-

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rulanten und Anarchisten verstehen mögen, so sehr es ihnen um das Neue, zuvor scheinbar Undenkbare gehen mag oder um das Suchen und Finden einer eigenen Stimme, so ist die akademische Philosophie doch längst institutionalisiert, pro-fessionalisiert und den gleichen Rahmenbedingungen unterworfen, denen auch andere Disziplinen unterliegen. Die Frage, was diese Bedingungen für die Vielfalt und Vielstimmigkeit des philosophierenden Diskurses bedeuten kann, und in-wiefern im Prozess ihrer Disziplinierung die Philosophie selbst zu verschwinden droht, geht Falk Bornmüller nach. Dabei beschreibt er zunächst die Krise der akademischen Philosophie in der Gegenwart mit Blick auf die Bologna-Reformen, die dazu geführt haben, dass die Pluralität philosophischer Denk- und Diskurs-formen zunehmend bedroht sei. Denn unter Bedingungen, unter denen Philoso-phie sich selbst den Anschein von Wissenschaftlichkeit zu geben und der Logik von Drittmittelakquise, Evaluierbarkeit und Verwertbarkeit zu unterwerfen habe, scheinen bestimmte Formen der Philosophie, konkret szientistische Selbst(miss)-verständnisse und die damit verbundenen Methoden, von vornherein im Vorteil. Die Frage, inwiefern diese überzeugend und tragfähig sind, gerate angesichts der normativen Kraft des Faktischen in den Hintergrund. Bornmüller nimmt die-se Beobachtungen zum Anlass einer genealogischen Skizze des philosophischen Selbstverständnisses seit dem 18. Jahrhundert, um aufzuzeigen, an welcher Stel-le wir heute stehen. Einerseits sei der Glaube an die eine, universale Erkenntnis, der die großen philosophischen Entwürfe noch prägte, endgültig erschöpft, und damit auch der Glaube an deren Wert für die Menschheit längst unter Pathos-verdacht geraten. Damit sei nicht nur das Selbstverständnis der Philosophie in der Gegenwart prekär geworden, sie könne auch ihrer Unterwerfung unter das Gegebene kaum mehr Widerstand leisten. In einer solchen Situation scheinen dann szientistische Spielarten des Philosophierens im Vorteil. Dagegen betont Bornmüller, dass diese Form des Philosophierens allein der Vielfalt und dem Reichtum menschlicher Erfahrungen kaum gerecht werden, und zeigt, warum die Pluralität des Philosophierens gegen diese Tendenzen zu verteidigen und zu be-wahren ist.

Bevor wir die Beiträge, deren Diversität und gemeinsame Motive sich in dieser Skizze andeuten, nun für sich sprechen lassen, möchten wir noch einige Bemer-kungen zur Entstehung dieses Buches und ein Wort des Dankes vorausschicken. Hervorgegangen ist der Band aus den Vorträgen und Diskussionen bei der Ta-gung Anspruch und Methode der Philosophie , die wir im Dezember 2019 an der

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Universität zu Köln organisiert haben. Wir erinnern uns gern an die gemeinsa-me Zeit und die in unserer Wahrnehmung angenehme, produktive, der poten-tiell ‚ polematischen‘ Grundsituation zum Trotz nur selten polemische, und – was durch die reflexive Problemstellung auf der Sachebene wie auch durch die län-geren Diskussionsphasen befördert worden sein mag –, bisweilen ungewöhnlich persönliche Gesprächsatmosphäre. Es schiene uns ein lohnenswertes Projekt, künftig über Publikationsformate nachzudenken, die es erlauben, die Reflexivität und Responsivität des philosophischen Sprechens, die in der Druckfassung der Beiträge verloren geht, in ein solches Buch hinüberzuretten. Immerhin sind wir als Philosoph:innen, wie Thomas Arnold bemerkt, weder „einsame[] Prophe-ten, die sich ihre einzig wahre Lehre zuschreien“, noch „Analyse-Mönche oder Deskriptions-Nonnen“ – oder sollten es jedenfalls nicht sein (wollen). Das Sam-melband-Format kann den Eindruck eines bloßen Gewirrs von Stimmen begüns-tigen, die nebeneinander her statt zueinander sprechen. Den Teilnehmenden an der Veranstaltung einschließlich des Organisationsteams sei jedenfalls noch ein-mal herzlich gedankt. Die Tagung wie auch dieses Buchprojekt selbst wären nicht möglich gewesen ohne Thiemo Breyer, dem wir hier nochmals für seine Offenheit und seine geduldige und verlässliche Unterstützung danken.

Zum Schluss noch eine Warnung, oder eher ein Versprechen, an die Leser:in-nen: Es liegt vielleicht in der Natur der Sache (der Philosophie als querulatorischer Angelegenheit), dass manche Beiträge dieses Bandes mit den Gepflogenheiten des akademischen Diskurses, hier: des akademischen Essays als „Fortentwicklung des Abiturientenaufsatzes“ (Pirmin Stekeler-Weithofer) auf die eine oder andere Weise brechen. Da werden (bei Tom Poljanšek) nicht nur ausgiebig Szenen aus den Romanen Robert Musils wiedergegeben, deren Kraft sich wesentlich Musils Beobachtungsgabe verdankt, oder (von Thomas Arnold) auf originelle Weise alternative Formen der philosophischen Mitteilung aktualisiert. Auch ein hoch-leistungsfähiges wie bedauernswertes Geschöpf der modernen Massentierhaltung hat einen prominenten Auftritt, der schon aus mnemotechnischen Gründen als gelungen gelten darf (im Beitrag von Falk Bornmüller). Wir wünschen uns an-gesichts dessen nicht nur, dass die Lektüre Einblicke in die – womöglich akut vom Aussterben bedrohte – Vielfalt dessen gewährt, was Philosophie in der Gegen-wart heißen kann, und diese in anderes Licht zu rücken vermag. Wir hoffen auch, dass sie zumindest für den akademischen Kontext, in dem oft eher versucht wird, die rhetorische, literarische und poetische Dimension philosophischer Texte zu

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eliminieren statt ihre Potentiale zu nutzen, vergleichsweise vergnüglich ist. Eines unserer Ziele haben wir erreicht, wenn sich der einen oder anderen Leserin die Frage aufdrängt, die Ruth Rebecca Tietjen in ihrer eindringlichen Performance am Ende unserer Tagung stellte: „Warum, wenn die Welt der Philosophie doch so groß ist, sind wir ausgerechnet in einem Gefängnis eingeschlafen?“

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I. Philosophie und Methode: Entwürfe in der Gegenwart

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Philosophie als Anthropologie. Ein Diskussionsbeitrag zur Bestimmung des Zwecks und der Methode der Philosophie

Thorsten Streubel

Im Folgenden möchte ich mich mit zwei zusammenhängenden Fragen beschäfti-gen:

(I) Was ist der Zweck der Philosophie („Weltbegriff“ der Philosophie)?

(II) Was könnte man unter einer oder gar der Methode der Philosophie verstehen?Um diese Fragen zu beantworten, werde ich zwölf Thesen formulieren und diese zu begründen versuchen.

1 Der Zweck der Philosophie (und dessen Beziehung zur philosophischen Methode)

These 1 ( Zweckrationalitätsthese ): Eine Methode ist stets Mittel, nicht Selbstzweck. Als Mittel dient sie der Verwirklichung oder Erreichung eines Zweckes. Sie muss daher diesem Zweck angemessen, d. h., sie muss zweckdienlich sein. Ihre Güte ist ihre Brauchbarkeit oder Funktionalität oder eben ihre Angemessenheit in Bezug auf den Zweck. Ihre Funktion ist es, dass mit ihrer Hilfe ein von ihr (relativ) un-abhängiges Ziel erreicht werden kann. Der Zweck bestimmt die Brauchbarkeit der

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Mittel, nicht umgekehrt.1 Nur wenn sich auf methodischem Wege apodiktisch zei-gen ließe, dass kein Mittel, also keine Methode, zum anvisierten Ziel führt, kann die Methode selbst eine Modifikation der Zwecksetzung motivieren. Dies gilt all-gemein und damit auch für die Methode der Philosophie.

Was ist der Zweck der Philosophie? Oder besser: Was sollte der Zweck der Phi-losophie sein? Zunächst: Niemandem kann man einen bestimmten Zweck, den er verfolgen soll, einfach vorschreiben. Aber wenn man den Zweck formal mit dem allgemeinen Nutzen der Philosophie für den Einzelnen, für die Gesellschaft oder gar für die ‚Menschheit‘ identifiziert, dann kann dieser Zweck inhaltlich nicht be-liebig bestimmt werden. Er muss in der Beantwortung derjenigen Fragen liegen, die uns Menschen interessieren, insofern wir Menschen sind . Und dies ist, um mit Kant zu sprechen, der Weltbegriff der Philosophie, den ich hier bei meinen Überlegungen zugrunde lege. „Weltbegriff“, so Kant, „heißt hier derjenige, der das betrifft, was je-dermann notwendig interessiert“ (KrV B 868). Nur wenn die Philosophie versucht, diesem allgemeinen Interesse zu entsprechen, lässt sie sich auch als gesellschaftli- che Institution rechtfertigen, nämlich – zusammen mit der Universitas der Einzel-wissenschaften – in den Worten Husserls als „universale[s] Vernunftorgan“ (Hua XXXV, 55) der Gesellschaft und als ‚Dienstleisterin‘ für jeden einzelnen Menschen in Orientierungsfragen. Philosophie ist hiernach, so Kant, „die Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Ver-nunft (teleologia rationis humanae)“ (KrV B 867). Sie – die Philosophie – beziehe daher „alles auf Weisheit, aber durch den Weg der Wissenschaft, den einzigen, der, wenn er einmal gebahnt ist, niemals verwächst, und keine Verirrungen gestattet.“ (KrV B 878) Dieser Weltbegriff der Philosophie vereinigt daher beides: den Begriff der Wissenschaft (Episteme) und den Begriff der Weisheit (Sophia), und verknüpft diese durch den Zweck-Mittel-Zusammenhang.2 Nach Kant ist der höchste unter den wesentlichen Zwecken nur ein einziger. Dieser sei „kein anderer, als die ganze Bestimmung des Menschen“ (B 868).3 Das Feld der Philosophie in dieser weltbürger-lichen Bedeutung lässt sich daher auf die berühmten drei Fragen bringen: Was kann ich wissen?, Was soll ich tun?, Was darf ich hoffen?, in die sich die eigentliche Haupt-frage der Philosophie unterteilen lässt, nämlich: Was ist der Mensch? Man kann also sagen, der Zweck oder der Nutzen der Philosophie liegt in der Aufklärung (und exis-tenziellen Orientierung) des Menschen und damit der Gesellschaft – und zwar über den Menschen selbst: Was er wissen kann, was er tun soll und was er sich erhoffen darf – und einiges mehr. ‚Weisheit‘ wäre die formale, „Bestimmung des Menschen“ die inhaltliche Seite des hier propagierten Zweckbegriffs. Weisheit ist das immanen-te und theoretische Ziel der Philosophie und sie – die Weisheit – besteht in einem umfassenden Wissen um die Bestimmung des Menschen. Das ‚transzendente‘ Ziel der Philosophie ist dagegen ein praktisches: die existenzielle Orientierung aller Menschen mittels ‚wissenschaftlicher Philosophie und wissenschaftlicher Weisheit‘.4Allerdings handelt es sich hier nur um eine analytische Differenzierung bei der Be-stimmung des Zweckbegriffs, nicht um mehrere separate Zwecksetzungen.

Es lassen sich hierbei zusammenfassend also vier Aspekte des Zwecks der Philo-sophie differenzieren:

(1) Formales immanentes Ziel: Weisheit

(2) Materiales immanentes Ziel: Bestimmung des Menschen

(3) Formales externes Ziel: Nutzen für die/den Menschen

(4) Materiales externes Ziel: Orientierung in existenziellen Fragen

These 2 ( Anthropologiethese ): Philosophie ist somit anthropologische Selbster-kenntnis, Aufklärung und Orientierungswissenschaft in einem – eben Anthropo- logie in einem umfassenden Sinne . Philosophie ist Anthropologie und ihr theoreti-scher Endzweck, nämlich Sophia zu werden, ist daher gleichbedeutend damit, die Philosophie als umfassende philosophische Anthropologie, d. i. als umfassende Bestimmung des Menschen zu realisieren.

These 3 ( Selbstbegründungsthese ): Warum sollte aber Philosophie Wissenschaft (Episteme) sein? Und in welchem Sinne sollte sie Wissenschaft sein? Die Wissen-schaftlichkeit der Philosophie besteht m. E. in mehr als nur in einem Repertoire von methodischen Verfahrensweisen und Instrumenten und der Bestimmung und Erkenntnis ihres Gegenstands mittels dieser methodischen Werkzeuge, nämlich vor allem auch in ihrer möglichst voraussetzungslosen methodologischen Selbst- begründung . Zunächst ist zu sagen: Die Philosophie als reales anthropologisches Unternehmen der Selbsterkenntnis und Aufklärung des Menschen über sich selbst ist Erkenntnisprozess und Erkenntnisweg. In diesem Sinne verstehe ich auch das Wort Methode , also ganz wörtlich: Die Methode der Philosophie ist der Weg der Philosophie. Aber dies ist die Methode nicht im Sinne des realen Erkenntnispro-zesses einzelner Philosophen, also im Sinne des ‚Entdeckungszusammenhangs‘ (oder der historischen Genese), sondern als dessen Ergebnis, das heißt als syste-matischer Begründungsgang , der selbst freilich ‚ work in progress ‘ ist. Der Weg oder die Methode der Philosophie ist jedoch nur als Begründung und Rechtfertigung jedes einzelnen methodischen Schrittes selbst begründet und damit gerechtfertigt. Dieser Methodenbegriff bezeichnet daher aus heutiger Sicht weniger ein reales Faktum, sondern stellt zunächst einmal ein Postulat und eine Aufgabenstellung dar, also eine zu realisierende Idee. Wenn die Philosophie Wissenschaft sein und nicht als weiteres Glaubenssystem auftreten möchte, dann muss sie sich autonom selbst konstituieren – oder genauer: Philosophen müssen die Philosophie auf eine möglichst voraussetzungslose Weise konstituieren und ins Werk setzen, um so zu gewährleisten, dass nur das in den Begründungsgang aufgenommen wird, was selbst auf einsichtige, aber revidierbare Weise begründet wurde. Man könnte also sagen: Methodologische Leitideen der Philosophie sind das Ideal der Vorausset- zungslosigkeit , der Selbstbegründungsgedanke sowie die Offenheit für Revisionen . Die Orientierung am Ideal der Voraussetzungslosigkeit gebietet nun als ersten methodischen Schritt, alle Meinungen einzuklammern, an denen man begrün-det zweifeln kann (und die daher falsch sein könnten, freilich nicht falsch sein

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müssen). Daher muss am Beginn der Philosophie, die als künftige Wissenschaft auftreten soll, eine existenzielle Besinnungstat stehen: der methodische Zweifel.5 These 4 ( Fundamentalismusthese ): Der Anfang der Philosophie muss ein apodik-tischer sein – und zwar in dem Sinne, dass ein unbezweifelbares Fundament auf methodische Weise aufgefunden wird.

Bevor ich hierauf näher eingehe, möchte ich aber zunächst die zweite, oben auf-geworfene Frage beantworten, warum nämlich die Philosophie überhaupt Wis-senschaft sein sollte. Ich würde hierauf eine mehrteilige Antwort geben: Erstens um Verlässlichkeit zu garantieren. Wenn die Philosophie ihre existenzielle Orien-tierungsfunktion wahrnehmen möchte, sollte sie etwas zu bieten haben, auf das man sich im Leben verlassen kann. Oder um noch einmal Kant zu wiederholen: Der Weg der Wissenschaft ist der einzige, „der, wenn er einmal gebahnt ist, nie-mals verwächst, und keine Verirrungen gestattet.“ (KrV B 878) Zweitens sollte die Philosophie als „strenge Wissenschaft“ auftreten, damit ihre Ergebnisse allgemein einsichtig sind und von jedermann – wenigstens prinzipiell – nachvollzogen wer-den können. Und drittens sollte auf diese Weise gewährleistet werden, dass die Philosophie nichtsdestotrotz für Revisionen offenbleibt (Fallibilitätsklausel).

Nun scheinen die Forderungen nach Verlässlichkeit und Irrtumsfreiheit philo-sophischer Erkenntnisse bzw. Einsichten auf der einen Seite und Revisionsoffen-heit und Fallibilität auf der anderen Seite in einem gewissen Spannungsverhält-nis, um nicht zu sagen: in einem klaren Widerspruch zueinander zu stehen. Dies ist richtig. Daher ist es m. E. so wichtig, dass zumindest die Grundlegung und methodologische Konstitution der Philosophie auf streng begründete Weise von-stattengehen.6 Die eigene philosophische Erkenntnispraxis, wie man nämlich zu philosophischen Einsichten kommt, sollte klar und transparent sein. Daher muss eine Erkenntnistheorie der philosophischen Erkenntnis dem Begründungsgang (nicht: dem Entdeckungszusammenhang) nach den Anfang der Philosophie bil-den. Aber der Weg der Philosophie als ganzer wird wohl nicht über jeden Zweifel erhaben sein können (wie sich das Kant noch erhoffte). Ich plädiere daher für ein bescheideneres Projekt: Die Verbindung von apodiktischer Grundlegung und be-währungsoffenem, aber sachorientiertem Erkenntnisgang. Das Ziel ist dann (i) ein echter Fortschritt im Problembewusstsein auf gesicherter methodologischer Grundlage und (ii) größtmögliche Durchsichtigkeit des eigenen Tuns, also ein Höchstmaß an philosophischer Selbstreflexivität. Wie weit man auf diese Weise erkenntnismäßig kommt, kann sich freilich nicht vorweg, sondern nur im Gehen des Weges selbst erweisen.

These 5 ( Einheitsthese ): Wenn die Methode der Philosophie der Begründungsgang der Philosophie ist, dann lässt sich dieser Weg nur als methodologischer denken, das heißt, als Einheit von Methodenbegründung und Gegenstandserkenntnis. Wenn aber die Methode dem Gegenstand angemessen sein und zugleich der Ge-genstand durch die Methode überhaupt allererst erkannt werden soll, dann droht ein gefährlicher Begründungszirkel: Die Methode setzt die Gegenstandserkennt-nis voraus und die Gegenstandserkenntnis die Methode. Um diesen Zirkel zu vermeiden, gilt es, dem Ideal der Voraussetzungslosigkeit gerecht zu werden und gleichzeitig die Methode der Philosophie als Wechselbeziehung von Gegenstands-erkenntnis und Methodenbegründung zu realisieren. Die Methode als Erkennt-nisweg ist somit nur als Einheit von Methodenbegründung und Gegenstandser-kenntnis möglich. Und weil dies so ist, muss am Anfang der methodische Zweifel stehen, der selbst ein erster methodischer Schritt ist und zugleich zu einer ersten unbezweifelbaren Sacherkenntnis führen soll. Konkret heißt dies: Wenn ich als Philosoph nach dem Menschen frage, gleichzeitig aber nichts voraussetzen darf, so darf ich auch keinen Begriff vom Menschen voraussetzen. Der Begriff ‚Mensch‘ wird zu einem vorerst (fast) leeren Artbegriff X. Nur dies wird nicht annulliert: dass das gesuchte X der Begriff meiner spezifischen Verfassung ist. Dies kann ich nicht auch noch wegstreichen, denn sonst hätte ich kein Erkenntnisziel mehr und der oben beschriebene Zweck-Mittel-Zusammenhang bräche zusammen. Und in-sofern Philosophie eine Erkenntnispraxis ist, würde sie als theoretische Praxis un-möglich. Doch verstößt dies nicht trotzdem gegen das Ideal der Voraussetzungs-losigkeit? – Nein, denn es geht hier ja nur um ein regulatives Prinzip, nicht um ein

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Präjudiz oder eine Petitio Principii. Damit wird ja gerade nicht vorausgesetzt, dass es einen solchen Begriff tatsächlich gibt, noch dass er tatsächlich erfasst oder kon-zipiert werden kann. Nur was ich suche, ist damit bestimmt. Die Frage nach dem Menschen ist nur der Kompass oder der Wegweiser, der beständig auf das Ziel der Unternehmung weist und diese reguliert.

Und noch dies sei gesagt: Wenn die Methode der Philosophie als methodolo-gischer Begründungsgang gegenständliche Erkenntnisse beinhaltet, dann ist der Zweck-Mittel-Zusammenhang nicht so zu verstehen, dass Zweck und Mittel strikt getrennt sind. Die (Teil-)Erkenntnisse als Zwecke sind der Methode nicht äußer-lich, sondern immanent. Nichtsdestotrotz regulieren die Ziele den Begründungs-gang, wenngleich sie Teil des Weges sind. Es gilt zwar weiterhin, dass die Methode nicht per se Selbstzweck ist. Aber die zu erreichenden Zwecke sind der Methode zunächst immanent, insofern die Einsichten, auf die es die philosophische Er-kenntnispraxis abgesehen hat, Teil des Weges der Philosophie sind. Sie liegen gewissermaßen auf dem Weg. Sie sind als legitime Wahrheitsansprüche Teil des Begründungsganges. Und nur in diesem Sinne wäre es richtig zu sagen, dass der Weg das Ziel ist. Wenn die Philosophie aber mehr sein soll als l’art pour l’art , dann ist ihr praktischer Nutzen und damit ihr praktischer Zweck letztlich doch ein ex-terner: denn die Philosophie soll ja mit ihren Erkenntnissen den Menschen dienen und nicht nur der privaten Selbstverwirklichung oder Selbstbeglückung einiger weniger Berufsphilosophen.

2 Der Weg der Philosophie

Wie könnte der Weg der Philosophie nun konkret aussehen? Und warum sollte der methodische Zweifel am Anfang der methodologischen Grundlegung stehen? Ich werde im Weiteren versuchen, einen gangbaren Weg zu skizzieren, der vom methodischen Zweifel über eine Theorie der Wahrheit (Aletheiologie) zu einer Fundamentalanthropologie führt. Man könnte den Weg der Philosophie zunächst durch folgende Fragen motivieren: 1. Gibt es etwas, das unbezweifelbar ist und zugleich als Fundament der (philosophischen) Erkenntnis fungieren kann – ein „fundamentum inconcussum“? 2.  Ist wahre philosophische Erkenntnis über-haupt möglich (die über die Erkenntnis des Fundaments hinausgeht)? Zudem gibt es weitere wichtige Fragen, die sich stellen werden, wie etwa: 3. Inwiefern ist jede originär-gebende Anschauung eine Evidenz- und Rechtsquelle der Erkennt-nis, auch der philosophischen? Oder: 4. Sind philosophische Wesenserkenntnisse möglich? – Diese Frage ist auch deswegen zu stellen, weil die Frage nach dem Men-schen (auch) eine Wesensfrage ist.

Doch zunächst zum methodischen Zweifel: Warum sollte dieser am Anfang ste-hen? Entscheide ich mich dazu, Philosophie als strenge Wissenschaft ins Werk zu setzen, etwa weil Wahrheit für mich ein hoher existenzieller Wert und die-ser zugleich regulative Idee meines philosophischen Berufsethos,7 dann habe ich auch ein Interesse daran, dass keines meiner im Laufe meiner Sozialisation übernommenen und erworbenen Vorurteile ungeprüft in den philosophischen Begründungsgang einfließen. Hieraus ergibt sich der Sinn des Ideals der Voraus-setzungslosigkeit. Wenn ich Philosophie nun als strenge Wissenschaft anstrebe, dann ist der methodische Zweifel nicht nur ein probates Werkzeug, sondern der methodische Anfang der Philosophie selbst als Erkenntnisweg. Denn er ist das einzig wirksame Mittel der Befreiung von allen Vorurteilen oder zumindest zu de-ren Außerkraftsetzung. Falsche Überzeugungen können, wenn sie zu Prämissen werden, die ganze Philosophie verderben. Ungeprüfte Überzeugungen müssen in ihrer Geltung bis zum Tag ihrer Prüfung gleichsam eingeklammert werden. Man könnte also sagen: Mit der Idee der Wissenschaftlichkeit der Philosophie ist die Idee der Wahrheit analytisch verbunden und aus beiden Ideen folgt (zumindest für einen entsprechenden Willen zur Wahrheit) der methodische Zweifel als Mit-tel (Methodenschritt), die Philosophie als Erkenntnisweg und Begründungsgang auf gelingende Weise ins Werk zu setzen.

Führt man den methodischen Zweifel streng durch, wird man nicht nur die ‚cartesischen‘ „cogitationes“ als unbezweifelbare Phänomene vorfinden, sondern generell das eigene Erleben samt seiner ‚Inhalte‘. Statt einer „res cogitans“ wird man – und dies ist wörtlich zu verstehen – den Raum des Erlebens entdecken, der als Faktum unbezweifelbar ist. Dieser Raum des Erlebens umfasst das Erleben selbst und all das, was in einem Moment erlebt wird. Dazu gehören eben nicht nur irgendwelche geistigen Akte („Cogito ergo sum“), sondern auch meine Leib-lichkeit, meine Körperlichkeit und meine Umwelt (inklusive all dessen, was in der Umwelt phänomenal gegeben ist, wie etwa andere Menschen). Nicht allein also ein ärmliches „Cogito“ finde ich als unbezweifelbar vor, sondern die umfassende räumliche Präsenz von ‚Selbst‘ und Umwelt.8 Diese Präsenz selbst nenne ich Er-leben oder Bewusstsein oder – insbesondere wenn es um epistemische Zusam-menhänge geht – auch Anschauung .9 Erleben oder Bewusstsein ist die bleibende Gegenwart vergehender Gegenwarten von vergehendem Gegenwärtigem.10

Aber nicht dieser Raum des Erlebens an sich (als factum brutum ) ist das funda- mentum inconcussum , sondern das Wissen darum, dass die aktuelle Präsenz von ‚Selbst‘ und Umwelt unbezweifelbar ist – also die Einheit von Wissen und Gewuss-tem (in originärer Gegebenheit). Denn nicht ein ungewusstes Faktum, sondern nur ein selbst Gewusstes kann als Fundament des Wissens fungieren. Und dieses Wissen wird durch den methodischen Zweifel methodisch erzeugt. Erst aufgrund dieses Grundbefundes kann ich dann eidetisch verallgemeinern und sagen: So-lange ich erlebe und auf dieses Faktum des Erlebens reflektieren kann, kann ich allgemein konstatieren: Mein Erleben ist generell solange unbezweifelbar, wie ich aktuell erlebe und mir des Erlebens als eines unbezweifelbaren Faktums bewusst werden kann (die Möglichkeit und Validität der eidetischen Verallgemeinerung muss freilich selbst methodologisch begründet und gerechtfertigt werden).

These 6 ( Antipsychologismusthese ): Das fundamentum inconcussum ist also die unbezweifelbare Gewissheit (und ‚Gewusstheit‘), dass die Anschauung von Selbst und Umwelt ein unbezweifelbares Faktum und damit die Grundlage jeder weite-ren Erkenntnis darstellt. Um eine anti-psychologistische Gewissheit handelt es sich hierbei, weil die Anschauung weder eine isolierte oder abgeschiedene res cogitans noch ein Weltinnenraum ( mind , Psyche) ist, sondern der Präsenzraum des Er-lebens, in dem auch die Welt, wenngleich in Grenzen, nämlich als phänomenale Umwelt , zur Darstellung kommt. Und zwar nicht eine bloße Vorstellung der Welt, sondern die empirische Welt selbst (wie auch immer man ihren ontologischen Sta-tus später bestimmen mag).

Aus diesem Grundbefund und dem beschriebenen Phänomen ergeben sich nun die nächsten Schritte gleichsam von selbst. Denn wenn ich aufklären möchte, ob und wie wahre gerechtfertigte philosophische Einsichten, niedergelegt in Sätzen, möglich sind, muss ich erstens analysieren, was ich überhaupt meine, wenn ich von Wahrheit spreche, und zweitens das Phänomen der Wahrheit selbst untersu-chen. Und dies ist deshalb möglich, weil das Verhältnis von Satz und Sachverhalt (bzw. Sachlage) selbst in die Anschauung fällt und daher als ‚Sache selbst‘ zum Gegenstand gemacht werden kann  – zumindest dann, wenn es um empirische und phänomenologische Beschreibungen/Behauptungen geht. Anders verhält es sich natürlich mit metaphysischen Sätzen, wenn diese sich auf etwas beziehen, was nicht originär gegeben oder gebbar ist.

Anstatt mit einer Analyse und Klärung des Wissensbegriffs zu beginnen, wie es die rezente analytische Erkenntnistheorie obsessiv exerziert,11 scheint es mir deshalb zielführender und praktikabler zu sein, mit der Analyse des Wahrheits-begriffs zu beginnen, weil es uns (als Philosophen) letztlich immer um die Er-reichung der Wahrheit gehen und zudem auch die Analyse des Wissensbegriffs wahrheitsorientiert verlaufen sollte. Damit möchte ich nicht sagen, dass es un-wichtig oder nebensächlich ist, was wir philosophisch unter ‚Wissen‘ verstehen sollten. Aber ich bin der Meinung, dass der Wissensbegriff aus einer Analyse des begrifflichen Erkennens (als eines Phänomens) hervorgehen muss (und nicht nur aus einer Analyse des normalsprachlichen Wissensbegriffs). Und als Erstes muss geklärt werden, ob wahre Erkenntnisse überhaupt möglich sind (Primat der Alet-heiologie vor der Analyse des Wissensbegriff). Die Frage nach dem, was Wissen ist, motiviert sich ja letztlich nur dadurch, dass ich mir scheinbar niemals sicher sein kann, die Wahrheit in einer bestimmten Hinsicht erfasst zu haben. Und da-durch stellt sich überhaupt erst die Frage, was ich wirklich weiß (oder wissen kann) und was ich nur zu wissen glaube – und damit in einem zweiten reflexiven Schritt: was Wissen überhaupt ist. Nur aus dem epistemischen Streben nach Wahrheit und gesichertem Wahrheitsbesitz lässt sich die Frage nach einem adäquaten Wissens-begriff adäquat entwickeln und auch motivieren.12

These 7 ( Wahrheit-zuerst-These ): An die Durchführung des methodischen Zweifels und die durch diesen ermöglichte Entdeckung des Raums des Erlebens als Prä-senz von ‚Selbst‘ und Umwelt muss sich als zweiter Schritt also die Aufklärung des Wahrheitsbegriffs anschließen. Das eigentliche Erkenntnisziel muss dabei sein, nachzuweisen, dass philosophische Sätze zumindest prinzipiell wahr sein kön- nen .13 Das ist gewissermaßen der eigentliche Zweck der Aletheiologie. Erst wenn dies geklärt ist, kann auch geklärt werden, wann eine Erkenntnis das Prädikat ‚Wissen‘ im strengen Sinne verdient und wann nicht: Nämlich nur dann, wenn die (vermeintliche) Wahrheit eines Urteils auch gewiss ist, weil ansonsten die Mög-lichkeit für den Erkennenden bestünde, dass Wissen sich später als Irrtum und damit als das Gegenteil von Wissen erweisen könnte.

Es gilt daher zwischen legitimen Wahrheits ansprüchen und legitimen Wis- sens ansprüchen zu differenzieren. Legitime Wahrheitsansprüche sind solche, die evidenzbasiert erhoben werden, ohne notwendig wahr sein zu müssen. Legitime Wissensansprüche sind solche, deren Wahrheit auf einsehbare Weise apodiktisch gewiss ist. Dies ist der strenge Wissensbegriff. Der nicht-strenge Wissensbegriff bezeichnet dagegen eben diejenigen legitim erhobenen Wahrheitsansprüche, die tatsächlich wahr sind oder sogar nur als wahr erscheinen. Da wir aber nie sicher wissen können, ob sie wirklich wahr sind, obgleich sie sich auf Erfahrungsevi-denzen berufen können, verbleiben sie für uns immer im Status eines Anspruchs auf Wahrheit und sollten daher besser schlicht legitime Wahrheits ansprüche und nicht legitime Wissens ansprüche genannt werden. Hieraus erhellt auch: Philoso-phie als strenge Wissenschaft, dies kann schon jetzt prognostiziert werden, wird nur weniges Wissen im strengen Sinne schaffen, nämlich Wissen, das sich auf apodiktische Evidenzen berufen kann. Was sie meistenteils schaffen bzw. erheben kann, sind vielmehr legitime Wahrheitsansprüche, also Ansprüche auf Wahrhei-ten, die evidenziell erworben wurden, ohne deshalb garantieren zu können, dass diese Wahrheitsansprüche tatsächliche oder gar gewisse Wahrheiten (und somit echtes Wissen) beinhalten.14 Man könnte auch sagen: Weil die Philosophie sich als fallible Erkenntnispraxis versteht, wird sie in der Regel nur Wahrheits- und keine Wissensansprüche erheben – zumindest wenn sie sich selbst richtig versteht. Für den Alltag gilt dann, dass immer dann, wenn von ‚Wissen‘ die Rede ist, es eigent-lich nur um die Legitimität von Wahrheitsansprüchen geht. Und dieses Beispiel zeigt, wie die Philosophie kritisch und praktisch zu orientieren vermag, ohne ihre Endgestalt erreicht zu haben oder jemals zu erreichen. Bildlich gesprochen: Nicht erst der Schmetterling ‚Sophia‘ kann praktisch werden, sondern schon die Raupe Philo-Sophia.

Die Theorie der Wahrheit hat vier Hauptaufgaben: 1. Eine Analyse des normal-sprachlichen Wahrheitsbegriffs, der tatsächlich eine Art Übereinstimmung zwi-schen vermeintem und tatsächlich existierendem Sachverhalt bedeutet. 2. Aufklä-rung der alethischen Übereinstimmungsrelation: Wie ist diese Übereinstimmung zu denken, wo doch Sätze bzw. Urteile und reale, ideale oder auch eidetische Sachverhalte in keiner Gleichheits- oder Ähnlichkeitsrelation zueinander stehen? 3. Wie ist es möglich, überhaupt reale Sachverhalte erkennend zu erfassen? 4. Wie ist es möglich, wesentliche Eigenschaften einer Sache und wesensnotwendige Re-lationen zu erkennen? Ich meine mit letzterer Frage den Unterschied z. B. zwi-schen der Aussage (i) „Mein Bewusstsein ist gerade Bewusstsein von etwas“ und (ii) „Bewusstsein ist immer (notwendig) Bewusstsein von etwas“. Diesbezüglich bedarf es der Methode der Eidetik oder eidetischen Variation statt der analyti-schen Begriffsanalyse, die eigentlich nur zu eruieren erlaubt, wie unsere normal-sprachlichen Begriffe konzipiert sind, aber nicht zur Erfassung des Wesens (des begrifflich Allgemeinen) einer Sache taugt. (Nichtsdestotrotz muss sich die Philo-sophie immer wieder der Begriffsanalyse bedienen, um keine Scheinprobleme zu produzieren. Aber sehr oft genügt die Begriffsanalyse nicht und muss durch Sach-analysen komplettiert werden.)

Auch wenn ich hier leider nicht näher auf die Details der Aletheiologie eingehen kann, möchte ich doch zwei Punkte herausgreifen. Erstens möchte ich zumindest die These formulieren, wie die alethische Übereinstimmung gefasst werden kann. Und zweitens möchte ich kurz auf das Anschauungs- oder Evidenzprinzip ein-gehen.

These 8 ( Spezifik-These ): Da weder sprachliche Sätze noch vermeinte Sachverhalte (Urteile als noematische Bedeutungsgebilde) realen Sachverhalten bzw. Sachlagen wirklich ähneln, scheint mir die Übereinstimmung nur dadurch möglich zu sein, dass man sie als Übereinstimmung zwischen vermeintem Sachverhalt und dem Spezifischen , also dem begrifflich Allgemeinen , einer realen Sachlage bestimmt. So mag etwa Hans real größer als Peter sein. Aber dieses reale Größersein ist eine ganz individuelle Hic-et-nunc -Relation. Das Größersein, das im Urteil vermeint wird, ist dagegen eine Relation, die auf endlos andere individuelle Relationen angewandt werden kann (z. B. die Erde ist größer als der Mond). ‚Übereinstimmung zwischen Urteil und realer Sachlage‘ kann dann nur so verstanden werden, dass die individu-elle reale Sachlage selbst als ein Fall von etwas Spezifischem gefasst wird, nämlich dem begrifflich Allgemeinen des Größer- oder Kleinerseins. Dieses nicht anthro-pologistisch (oder auch transzendentalistisch) misszuverstehende Spezifische ist es, was eine Übereinstimmung von vermeintem Sachverhalt und realer Sachlage er-möglicht – weil letztere selbst eine Realisation eines begrifflich Allgemeinen ist, das einen unendlichen Umfang von Einzelheiten bzw. „reinen Möglichkeiten“ definiert (vgl. EU, §90f.). (Das reale Größersein von Peter und dasjenige der Erde sind indivi-duell verschieden, aber beides sind Fälle von ‚Größersein überhaupt‘.)

Dies setzt freilich voraus, dass es so etwas wie das Spezifische oder Eidetische oder Allgemeine auf irgendeine Weise gibt. Es ist daher eine der wichtigsten Aufga-ben der Aletheiologie als zentraler Teil der Erkenntnistheorie der philosophischen Erkenntnis den entsprechenden Existenzaufweis durchzuführen, also aufzuweisen, dass es nicht nur Individuelles, sondern auch Allgemeines gibt. Nur wenn es All-gemeines gibt, ist auch Philosophie als allgemeine Anthropologie (inklusive einer eidetischen Fundamentalanthropologie) möglich. Die Methode der Erfassung des Allgemeinen heißt Eidetik oder eidetische Variation (und nicht Begriffsanalyse). Und natürlich muss diese genauso begründet werden, wie alles in der Philosophie begründet werden muss, soll Philosophie als Wissenschaft auftreten.15

These 9 ( Anschauungsthese ): Aus dem Wahrheitsbegriff ergibt sich methodisch und sachlich auch, dass Erkenntnisse bzw. Wahrheitsansprüche, wenn sie legi-timerweise erhoben werden sollen, sich nach der jeweiligen Sache selbst richten müssen. Da die Sache selbst für den Erkennenden nur in der Anschauung gegeben sein oder gegeben werden kann, ist die Anschauung das Fundament, die Rechts- und Evidenzquelle sowie die Bewährungsinstanz jeglicher Erkenntnis. Hieraus leitet Husserl das „Prinzip aller Prinzipien“ ab: „dass [nämlich] jede originär ge- bende Anschauung eine Rechtsquelle der Erkenntnis [ist], dass alles , was sich uns in der ‚Intuition‘ originär , (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) darbietet , einfach hinzunehmen [ist], als was es sich gibt , aber auch nur in den Schranken , in denen es sich da gibt . […] Jede Aussage, die nichts weiter tut, als solchen Ge-gebenheiten durch bloße Explikation und genau sich anmessende Bedeutungen Ausdruck zu verleihen, ist also wirklich […] ein absoluter Anfang “ (Hua III/1, 51).

Das „Prinzip aller Prinzipien“ ist beides: Die Formulierung einer Wesensein-sicht bezüglich begrifflicher Erkenntnis allgemein und ein methodisches Prinzip: Nur das ist ein legitimer Wahrheitsanspruch, der letztlich auf einer Sacheinsicht (Intuition, Evidenz) beruht und dieser Ausdruck verleiht. Und daher sollte auch die Philosophie methodisch ihre Ergebnisse durch Rückgang zu den Sachen selbst und damit durch Rückgang auf die Anschauung gewinnen. Und sie muss natürlich ihre legitim erhobenen Wahrheitsansprüche durch weitere Erfahrungsevidenzen stützen und bewähren. Daher ist die Anschauung Fundament und Rechtsquelle der Erkenntnis, auch wenn sie zumeist keine apodiktischen Evidenzen ermög-licht, die Wissen im strengen Sinne gewährleisten. Freilich kann und muss die Anschauung auch selbst Gegenstand der Erkenntnis werden. Und dies ist dadurch möglich, dass auch die Anschauung ein echtes Phänomen oder eine originäre Ge-gebenheit darstellt. Insofern die Anschauung zudem etwas ist, was zum Mensch-sein wesentlich dazugehört (nämlich als die Dimension oder das ‚Anthropoial‘ des Erlebens), ist die Erkenntnis der Anschauung zugleich der erste Schritt zur Realisierung einer veritablen Fundamentalanthropologie .

Das „Prinzip aller Prinzipien“ oder das Anschauungs- und Evidenzprinzip kann somit sowohl auf dieses selbst als auch auf den Menschen überhaupt angewendet werden. Eine fundierte Antwort auf die Frage: „Was ist der Mensch?“ erhält man weder durch Begriffsanalyse noch durch Spekulation, sondern nur durch Rück-gang auf die Anschauung.

Was der Mensch ist, lässt sich also nur durch Erfahrungsevidenzen ermitteln, wenngleich ich natürlich in ‚der‘ Anschauung nicht ‚den‘ Menschen finde, sondern nur einzelne Menschen. Und ich finde in der Anschauung sogar nur einen ein-zigen Menschen, der nicht nur als bloßes (mundanes) Objekt, sondern auch als (transzendentales und sich selbst originär erfahrendes) Subjekt gegeben ist, näm-lich mich selbst (was mich epistemisch privilegiert), weshalb ich mich als Subjekt-Objekt selbst reflexiv zum Gegenstand machen, also ‚objektivieren‘ kann. Zudem interessiere ich mich für den Menschen primär deswegen, weil ich selber einer bin. Philosophie ist jedoch spezifische , nicht individuelle Selbsterkenntnis (eidetische Anthropologie, nicht Autobiographie).

„Was ist der Mensch?“ ist die Frage der Philosophie. Und in der Anschauung bin ich mir originär (wenngleich sicherlich nicht vollständig und adäquat) selbst gegeben. Daher kann ich von mir als Phänomen ausgehen und mich als Phänomen danach befragen, was notwendig zu mir gehört, insofern ich nicht nur Individuum bin, sondern auch ‚Artvertreter‘, also Realisierung einer Lebensform oder Idee. Um das Eidos ‚Mensch‘ zu erfassen, muss ich mich eidetisch variieren. – Was kann ich nicht wegdenken bzw. wegfingieren, ohne dass ich zu einem spezifisch anderen Wesen würde oder gar aufhörte, zu existieren? Dabei muss ich alles, was ich über Menschen zu wissen glaube, einklammern oder außer Geltung setzen. Ich bin nicht nur dieses Individuum T. S., sondern auch ein X. Bezeichnen wir dieses X durch den Terminus ‚Mensch‘ oder etwas verfremdet, um nicht doch unvermerkt unge-prüfte anthropologische Überzeugungen in die Analyse einfließen zu lassen, durch den Terminus ‚Anthropos‘, dann fragen wir nach dem begrifflich Allgemeinen oder dem Eidos einer Lebensform, die zumindest in mir selbst Realisierung erfahren hat. ‚Anthropos‘, das sei hier angemerkt, ist dabei begrifflich nicht identisch mit ‚Homo sapiens‘! Homo sapiens bezeichnet eine biologische Spezies, Anthropos da-gegen eine supermundane Gattung und damit die Idee einer Lebensform, die mög-lichweise auch in anderen möglichen Welten möglich ist (wobei ich jedoch nicht behaupte, dass es solche mögliche Welten tatsächlich als mögliche gibt).

Die methodische Idee besteht genauer in folgendem Dreischritt:

1. Ich bin etwas und nicht nichts, das heißt, ich bin irgendwie beschaffen und die-se Beschaffenheit (Sosein) kann ich eidetisch verallgemeinern in dem Sinne, dass auch andere Wesen grundsätzlich so beschaffen sein können wie ich. Alle Wesen, die grundsätzlich so beschaffen sind wie ich, sind mir artgleich . Ich bezeichne nun die Art oder Spezies, der ich angehöre, als ‚Mensch‘, ohne mit diesem Terminus bereits einen bestimmten Begriff des Menschen vorauszusetzen, denn dieser soll ja allererst auf analytisch-deskriptivem Wege gewonnen werden. ‚Mensch‘ bezeich-net zunächst nur eine unbestimmte Art- bzw. Gattungsidee, nicht aber „animal rationale“, „Homo sapiens“ oder eine sonstige historisch überkommene Bestim-mung (wie „imago dei“).

2. Es erfolgt zunächst eine empirische Individualbeschreibung der Grundmomen-te meines Soseins. Unter einem Grundmoment verstehe ich dabei einen unselb-ständigen Teil meines konkreten Seins, der nicht selbst wiederum Teil eines Teils ist. So ist beispielsweise die phänomenale Umwelt ein unselbständiges Teilmoment meines Seins, da sie nicht abstückbar ist und damit auch nicht für sich bestehen kann – wohlgemerkt die Umwelt als Wahrnehmungsgegebenheit. So gelangt man zu einem topographischen System von mindestens sechs Teilmomenten (oder ei-detisch verallgemeinert: sechs Anthropoialien), die zusammen mein individuelles Menschsein konstituieren.

3. In einem dritten Schritt gilt es, ausgehend von dieser Individualbeschreibung durch eidetische Variation zu überprüfen, ob es sich bei diesen sechs Grundmo-menten tatsächlich um Grund momente oder essenzielle Momente meines Mensch- seins handelt. Ein Grundmoment oder ein essenzielles Moment ist ein solches, bei dessen Fehlen eine Entität die Gattungsgrenze überschreitet (das heißt in diesem Fall: zu einer anderen Seins- und Lebensform würde) oder ganz unmöglich wird. So kann ich zwar einen Arm verlieren, ohne deswegen aufzuhören, zu existie-ren oder ein Mensch zu sein, aber wenn ich den ganzen Körper verlöre, hörte ich

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auf, ein Mensch zu sein und möglicherweise hörte ich sogar auf, überhaupt zu existieren.

Dieser methodische Dreischritt verbürgt die Autonomie der Fundamental-anthropologie und lässt verstehen, warum es in Bezug auf den ‚Gegenstand Mensch‘ möglich ist, zu grundlegenden inhaltlichen Bestimmungen zu kommen, ohne einen unabschließbaren und unmöglichen empirischen Vergleich zwischen allen jemals existierenden Menschen durchzuführen. Die reine Induktion der eidetischen Variation kann ausgehend vom Einzelfall zur Idee des Menschen (Anthropos) aufsteigen und eine Art epistemisch-normativen Begriff des Men-schen konzipieren: So wie keine unausgedehnte Entität ein Körper sein kann, so kann nichts ein Mensch (Anthropos) oder eine anthropoiale Lebensform sein, die nicht anthropoial konstituiert ist und damit der Idee des Menschen (Anthropos) entspricht.

These 10 ( Anthropos-These ): Den Begriff, den man methodisch auf die beschriebene Weise gewinnt, ist der Begriff einer Lebensform, die nicht den Restriktionen des biologischen Artbegriffs unterliegt. Da ‚Anthropos‘ überhaupt kein biologischer Artbegriff (und damit auch kein biologisches Taxon) ist, lässt er sich auch nicht durch die Idee einer genetischen Abstammungsgemeinschaft restringieren. ‚An-thropos‘ ist vielmehr die allgemeine Idee einer Lebensform, die überhaupt nicht begrifflich an die Erde oder dieses Universum gebunden ist, sondern nur an eine Welt überhaupt. Jede Lebensform, die anthropoiales Leben verwirklichen kann, ist ein ‚Anthropos‘. Und dies kann durchaus auch durch alienische Lebensformen geschehen, die dann zwar nicht Angehörige der biologischen Spezies ‚Homo sapi-ens‘ sind, aber doch anthropoiale Lebensformen. Der Begriff ‚Anthropos‘ ist daher ein supermundaner , wenngleich reale anthropoiale Lebensformen natürlich nur in einer realen Welt selbst Realisierung erfahren können.

Da das Ausgangsphänomen der eidetischen Verallgemeinerung ich selbst als Subjekt-Objekt bin, tritt die Fundamentalanthropologie zudem als transzen-dentale Anthropologie auf – und zwar in dem Sinne, dass sie die anthropoiale Dopplung von transzendentalem Subjekt und mundanem Objekt (= Ich-selbst in meiner Umwelt) absolut ernst nimmt und nicht eine Seite verabsolutiert, also entweder den Menschen zu einem Ding-an-sich-Organismus oder zu einem rei-nen transzendentalen Subjekt hypostasiert. ‚ Transzendental ‘ ist dabei nicht der Gegenbegriff zu ‚phänomenal‘ oder ‚empirisch‘, sondern zu ‚mundan‘.16 Transzen-dentale Momente sind hiernach solche, die das Erscheinen und die Erkenntnis einer Welt und meiner selbst (als Subjekt und als mundaner Mensch) ermöglichen. Transzendental ist demgemäß der Leib als Wahrnehmungsorgan (im Unterschied zum Körper), das Erleben und auch die Sprache. Da zudem alles darauf hindeutet, dass der Mensch mehr ist als das, was von ihm erscheint oder prinzipiell erschei-nen kann, bestimmt die Fundamentalanthropologie den Menschen als mundane-transzendentale-transphänomenale Trinität. Zusammen mit der Anthropoialien-lehre ergibt dies ein holistisches Bild vom Menschen, das diesen nicht so darstellt, als ob er nur aus ein oder zwei Momenten oder gar Substanzen bestünde, näm-lich Körper ( body ) und/oder Geist ( mind ). Körper und Geist sind vielmehr nur zwei von insgesamt mindestens sechs Momenten oder Anthropoialien, die das Menschsein konstituieren. Neben Geistigkeit und Körperlichkeit sind dies: Ich, Leiblichkeit, Erleben und Umwelt.

These 11 ( These vomanthropologischen Sextett ‘): Der Mensch ist die spatiale Kom-plexion und das temporale Zusammenspiel von mindestens sechs Teilmomenten, die sein Da- und Sosein konstituieren und dadurch auch sein Existieren ermög-lichen, nämlich Leiblichkeit, Körperlichkeit, Erleben/Anschauung/Bewusstsein, Ich, Geistigkeit und Umwelt. Der Mensch ist daher mehr als nur ein transzenden-tales Subjekt (Husserl), mehr als ein heideggersches Dasein und natürlich auch mehr als eine rein-biologische Lebensform, mag man diese auch durch „exzentri-sche Positionalität“ auszeichnen (Plessner). Der Mensch ist in einem höheren Sin-ne aber tatsächlich sowohl ein transzendentales (und transphänomenales) Subjekt als auch „Dasein“ als auch eine konkrete Lebensform.

These 12 ( Dreistufigkeitsthese ): Disziplinär ist die Fundamentalanthropologie zwi-schen der Erkenntnistheorie der philosophischen Erkenntnis und den übrigen Disziplinen der Philosophie angesiedelt, deren Grundlage sie der Sache und der Prätention nach bildet. Die Fundamentalanthropologie steht damit auch nicht in Konkurrenz zur bisherigen P/philosophischen Anthropologie (gleich, ob man diese als Denkansatz des 20. Jahrhunderts oder als philosophische Disziplin ver-stehen möchte), sondern bildet vielmehr deren rein-philosophisches Fundament. Sie ist der autonome philosophische Part der Philosophie als allgemeiner Anthro-pologie, während die P/philosophische Anthropologie sinnvollerweise nur inter-disziplinär betrieben werden kann. Gegenstand der Philosophischen Anthropolo-gie ist primär der Erdenbewohner Mensch, also Homo sapiens; (Ziel-)Gegenstand der Fundamentalanthropologie ist dagegen Anthropos. Ein Vertreter der Spezies Homo sapiens ist nur dann auch ein Anthropos, wenn er anthropoiales Leben zu realisieren vermag. Aber es ist im Großen und Ganzen nicht falsch, wenn man sagt, dass sich ‚Anthropos‘ zu ‚Homo sapiens‘ wie Gattung zu Art verhält. Homo sapiens ist nur eine Menschenform oder Realisierungsform anthropoialen Lebens unter anderen möglichen.

Wenn ich abschließend noch einmal auf den Punkt bringen sollte, warum der Zielgegenstand der Fundamentalanthropologie nicht ‚Homo sapiens‘, sondern ‚Anthropos‘ heißt, dann aus methodischen und den hieraus sich ergebenden sach-lichen Gründen: Denn durch den Ausgang von mir selbst (Ausgangsgegenstand) gewinne ich durch reine Induktion oder eben eidetische Variation allgemeine Be-stimmungen von Grundmomenten, die nicht notwendig nur bei Angehörigen der Spezies Homo sapiens oder auch der Gattung Homo vorkommen müssen. Oder anders formuliert: Der gewonnene Begriff vom Menschen ‚passt‘ nicht nur auf Homo sapiens, sondern auf alle Wesen, die anthropoial verfasst sind. Das Sci-Fi-Genre hat eine bunte Vielfalt solcher Lebensformen entworfen, man denke nur an Meister Joda oder Mr. Spock. Aus einem Wesensbegriff folgt freilich nicht Wirk-lichkeit, aber doch Möglichkeit – zwar nicht Realmöglichkeit, aber doch Wesens-möglichkeit. Dies heißt konkret: Es sind Lebensformen denk- und vorstellbar, die anthropoial betrachtet so ‚sind‘ wie wir, aber – falls sie existieren – nicht Teil unse-rer genetischen Abstammungsgemeinschaft wären. Daher ist die Unterscheidung zwischen ‚Anthropos‘ und ‚Homo sapiens‘ gerechtfertigt.

‚Anthropos‘ ist schließlich auch keine andere Bezeichnung für den Begriff der Person, sondern soll den Begriff der Person vielmehr ersetzen. Denn zum anthro-poialen Menschsein gehören definitiv sechs Momente – unter anderem Leiblich-keit und Körperlichkeit. Körperlose Geist- oder Vernunftwesen mag man viel-leicht als Personen bezeichnen, aber aus Sicht der Fundamentalanthropologie sind es nicht nur keine anthropoialen Lebensformen, sondern sehr wahrscheinlich überhaupt keine möglichen Seinsformen.

Was ich zeigen wollte, ist dies: Es ist wichtig, auf strenge Methodenbegründung zu achten, um möglichst keine ungeprüften Vorurteile in die philosophischen Ana-lysen einfließen zu lassen. Eine solche Begründung ist möglich und sie ist frucht-bar. Mit ihr lässt sich die Philosophie auf ein sicheres Fundament stellen und als allgemeine Anthropologie realisieren, d. i. als mindestens dreistufiges Unterneh-men von 1. Erkenntnistheorie der philosophischen Erkenntnis, 2. Fundamental-anthropologie, 3. Philosophie als in Einzeldisziplinen aufgefächerte ‚Wissenschaft‘ (wobei die Philosophie ihre systematische Einheit über die Zweckbestimmung er-hält und ihre Disziplinen systematisch auf die Fundamentalanthropologie als ihre einigende Mitte zurückbezogen sind).

Die Fundamentalanthropologie zielt auf einen umfassenden Begriff vom Men-schen, einen Begriff, der den Menschen weder primär als organischen Körper noch als ätherisches Geistwesen bzw. transzendentale Monade oder ausschließ-lich als heideggersches Dasein begreift, sondern als Lebensform sui generis und mundanes-transzendentales-transphänomenales Subjekt-Objekt (Anthropos).

3 Fazit

Der Zweck und der Nutzen der Philosophie sei es, sagte ich anfangs mit Kant, auf die Fragen Antworten zu geben, die jeden interessieren, insofern ‚er‘ (unabhängig vom jeweiligen Geschlecht) Mensch ist. Die Methode der Philosophie wäre dann der methodologisch zu begründende Erkenntnisweg, um schließlich auf diese Fragen auf begründete Weise Antworten geben zu können. Ich bin zuversichtlich, dass auf die meisten existenziellen Fragen tatsächlich gut begründete, wenngleich vielleicht nicht apodiktisch gewisse Antworten gefunden werden können. Ledig-lich bei der Frage: ‚Was darf ich hoffen?‘ dürfte eine gewisse Skepsis angebracht sein, zumal wenn sie auf eine postmortale Weiterexistenz abzielt.17 Nichtsdesto-trotz kann niemand a priori , also gewissermaßen prä-methodisch, vor dem Gehen des Weges, wissen, ob hierauf nicht doch wissenschaftliche Antworten möglich sind. Aber befriedigende Antworten wird es nur geben, wenn wir uns selbst – als Menschen – richtig verstehen. Und das tun wir bisher keineswegs.

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Phänomenologie als deiktische Kartographie der Existenz

Tom Poljanšek

Selbstanzeige

Der folgende Text ist unter Voraussetzung der Idee geschrieben, dass die akade-mische Philosophie der offene, gedankenlustige und poetisch-präzise Ort sei, den sein Verfasser zu imaginieren begann, als er, jungbegeistert, mit philosophischer Theorie und Robert Musil in Berührung kam. Die Worte ‚Philosophie‘ und ‚Theo-rie‘ schienen damals noch nicht so sehr Bezeichnungen für bestimmte Gedan-kengegenstände, denen man in akademischer Profession nachforschen kann, um sein finanzielles Auskommen, symbolische Anerkennung und ein Büro zu finden, sondern Einladungen zu dem Versprechen, dass der Mensch durch das, was man Denken nennt, seine Welt und sich selbst besser zu begreifen vermag, als er sich ab den ersten Augenblicken eigener Bewusstwerdung unverschuldet in ihr vorfindet. Dass es möglich wäre, dieser – in vielerlei Hinsicht merkwürdigen – Stelle der eigenen Existenz nicht nur als einem dumpflebendig-verhängnishaften Gegenüber ausgesetzt zu sein, mit dem es, irgendwie vor sich hin lavierend, in perennierender Defensive klarzukommen gilt. Das Versprechen der Möglichkeit, sich durch Den- ken im Leben zu orientieren .

Jahre später, schon irgendwie involviert in das, was man heute den ‚akade-mischen Betrieb‘ nennt, äußerte eine Professorenperson in universitärem Zu-sammenhang, dass viele der Erstsemester „mit ganz falschen Vorstellungen von Philosophie“ – irgendwelche existenziell signifikanten Vorstellungen waren hier wohl gemeint – mit dem Philosophiestudium begännen, dass sie diese wohl von ihren Philosophielehrern an den Schulen übernommen haben müssten, [und weiter sinngemäß] dass man Wege finden müsste, ihnen diese Vorstellungen auszutreiben, um sie zur Einsicht zu bringen, dass [ab hier ein wenig polemisch

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verzerrt] die richtige Philosophie heute in existenzieller Hinsicht genauso fol-genlos sei wie die Einsicht in die Notwendigkeit eines mathematischen Beweises (womit nichts gegen die abstrakte Erhabenheit mathematischer Beweise gesagt sein soll).

Vor dem Hintergrund solcher Erfahrungen können sowohl der folgende Beitrag als auch die in ihm sprechende Stimme als ‚kontrafaktisch‘ gelesen werden. Jedenfalls entspringen sie dem Versuch, ein Milieu des Denkens vor-zustellen, das von Deprimierungen dieser Idee durch konkrete Realitäten  – anders als das Bewusstsein seines Verfassers  – weitestgehend ungezeichnet geblieben ist.

Vorspann

Der mögliche Einfluss sprachlicher Mitteilungen auf die Existenz des Einzelnen reicht über das Nehmen und Geben von Gründen hinaus. Vielleicht muss man nicht zuerst an die Psychoanalyse erinnern, um diesen Punkt zu verdeutlichen. Wem Erfahrungen der entsprechenden Art noch vertraut sind, braucht sich nur zu vergegenwärtigen, welche existenzverändernden Effekte die Lektüre literarischer oder philosophischer Texte mitunter zeitigen kann: Lebenswege werden geändert, Beziehungen beendet, Kleidungsstile gewandelt, diätetische Maßnahmen einge-leitet, sobald Menschen nur unter den evidenziellen Einfluss sie entsprechend an-sprechender, sprachlicher Mitteilungen geraten. Und häufig sind es nicht zuerst angegebene Gründe, die sie in dieser Weise berücken.

Es scheint daher beinahe verwunderlich, dass – trotz aller in der Philosophie auf das Thema ‚Sprache‘ im weitesten Sinn gerichteter Aufmerksamkeit  – der Spielraum dessen, was Sprache als wesentliches Medium des Philosophischen

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auch jenseits des Gründegebens vermag, nicht allzu häufig allzu deutlich in den philosophischen Fokus rückt.1 Fast scheint es, als sei die Vielfalt epistemischer Wirkungsmöglichkeiten des Sprachlichen jenseits logisch-argumentativer Kon-nektoren selbst Gegenstand einer gewissen Verlegenheit, über die man in der Phi-losophie lieber hinwegsieht als sich allzu lange mit ihr aufzuhalten.

Sicherer und unumstrittener als die Bestimmung des Ziels der Philosophie scheint jedenfalls, dass sie zu dessen Erreichung sich der Mittel der Sprache und der Sprache als Mittel bedient. Daher nimmt es auch nicht weiter Wunder, dass unter Philosophierenden die Überzeugung eine gewisse Verbreitung zu besitzen scheint, dass – was immer das anzustrebende Ziel der Philosophie auch sei – es sich jedenfalls mittels Sprache müsse erreichen lassen. Und sofern die sicht-barsten Resultate philosophischen Forschens und Fragens im Regelfall immer noch in Textform vorliegen, legt sich weiter leicht die Vorstellung nah, das Ziel der Philosophie habe selbst sprachliche Form, dass das wesentliche Mittel des Philosophischen auch die Form seines Zwecks , die Form seiner Realisierung vor-zeichne.

Weiterhin scheint heute in manchen gegenwartsphilosophischen Zusammen-hängen der Glaube an eine gewisse vorgebliche Harmlosigkeit der Philosophie verbreitet, die ihren Ausdruck in der Vorstellung findet, dass das, was philosophi-sche Texte den Einzelnen im Wesentlichen zu geben hätten, ‚Gründe‘ seien. Als solche ausgewiesen und vorgezeigte Gründe, zu denen sich die Einzelnen, denen sie zur Erwägung angeboten werden, vernünftig und frei von sonstigen Beein-flussungen ins Verhältnis setzen könnten. Besitzt auch das hinter einer solchen Vorstellung stehende Ideal, dem Anderen manipulationsfrei den epistemischen Freiraum zu lassen, sich freiwillig dem ‚zwanglosen Zwang‘ der besseren Gründe zu beugen, seine ethisch ernstzunehmende Berechtigung, so steht doch zu ver-muten, dass es ganz so unschuldig in der Philosophie nicht immer zugeht. Dass das Wesentliche einer philosophischen Überlegung sich nicht immer im in aller Sichtbarkeit vorgeführten Schließen von Prämissen auf Konklusionen vollzieht, sondern häufig in dem liegt, was einem schon während der Vorbereitung des ver-meintlich Wesentlichen als fraglose Selbstverständlichkeit untergeschoben wur-de.2 Wenn die Argumentation erst beginnt, ist oft das Wesentliche schon vorbei. Und so scheint häufig – noch bevor das Arsenal der je guten Gründe auf den je-weils gegenwärtigen Stand der Argumentationstechnik gebracht ist – hinter vielen philosophischen Texten auch ein Bedürfnis ihrer Verfasser zu stehen, ihre reale oder imaginierte Leserschaft etwas auf eine bestimmte Weise sehen zu lassen  – sei dieses etwas nun ein Sachverhalt oder auch gleich die Welt im Ganzen.3 Sie mittels sprachlicher Mitteilungen mit Ideen zu konfrontieren, welche die Welt – oder ei-nen Ausschnitt davon – in einem bestimmten „Weltstimmungsgehalt“4 (Luhmann 1981, 176) beleuchten, der sie wie mit feinen Vektorlinien in evokativer Orientie-rung artikuliert.

Im Folgenden soll entlang einer Auseinandersetzung mit der Phänomenologie als Methode gezeigt werden, inwiefern ein mögliches Ziel der Philosophie nicht so sehr auf der Ebene sprachlich begründ- und fassbarer Resultate zu verorten ist, vielmehr in Erkenntniseffekten liegt, die sie mittels Sprache in Einzelnen zu evo-zieren vermag. Eine so verstandene Philosophie zielt nicht (oder zumindest nicht ausschließlich) auf sprachliche Absicherung objektiver Wissensbestände, sondern auf spezifische Veränderungen , epistemische Effekte im jeweils einzelnen Subjekt.5Damit liegt dem Folgenden die Idee einer evokativ-orientierenden Philosophie zu-grunde.

Die Phänomenologie im Besonderen nimmt sich dabei zum Ziel, dem Einzel-nenmittels ‚verbaler Deixis‘ orientierende Einblicke in die kategoriale Struktur der Existenz zu ermöglichen. Im besten Fall erhält das Subjekt sich selbst und seine Welt durch Phänomenologie dieser Art wie zum ersten Mal noch einmal ,6 wechselt die Welt im Ganzen erhellend ihren Aspekt. (Die Dimension des Evokativen weist allerdings über das im Folgenden explizit Dargestellte hinaus).

Wäre die Aufgabe der Philosophie in diesem Sinne tatsächlich eine evokativ-orientierende, an das einzelne Subjekt gerichtete, ließe sie sich nicht ohne Weite-res beispielsweise als synoptische Synthetisiererin, als Bereitstellerin einer festen Grundlage aller menschlichen Erkenntnisbemühung, als Instanz kritischer Meta-reflexionen oder auch als Beischafferin ethischer Bewertungen mit den positiven Wissenschaften in einem gemeinsamen Projekt verorten, sofern diese – wie hier nur vorläufig behauptet werden kann – nicht auf das einzelne Subjekt im Beson-deren abzielen, es nicht spezifisch als Subjekt adressieren:7 Mag es für das Fort-kommen etwa der Physik als Wissenschaft gleichgültig sein, ob – und wenn ja, in welcher Weise – ihre elaboriertesten Theorien auf den Einzelnen im Allgemei-nen oder auf die Physikerin im Besonderen wirken, so bliebe doch der bestimmte Adressat der Philosophie der einzelne Mensch in der Wirklichkeit, in der er sich jeweils selbst und mit anderen vorfindet.8

1 Verbales Zeigen (auf kategoriale Gegebenheiten)

Bekanntlich hatte Husserl bezüglich der Phänomenologie den Schlachtruf ausge-geben, es gelte, sich (wieder) den ‚Sachen selbst‘ zuzuwenden. Die Rede von den ‚Sachen selbst‘ ist in zweierlei Hinsicht sprechend: Einerseits impliziert sie, dass die ‚Sachen selbst‘, während Husserl diesen Schlachtruf ausgibt, noch nicht oder nicht mehr hinreichend im Blick seien. Zum anderen scheint die Rede von ‚Sachen selbst‘ in stiller Opposition zu einer anderen Bezeichnung für die ‚eigentlichen‘ Gegen-stände zu stehen – der Rede von den Dingen an sich , die bei Kant bekanntlich mit den Erscheinungen kontrastieren. Tatsächlich lässt sich Husserls Parole auch so le-sen, dass er den Dingen an sich im kantischen Sinne zugunsten einer Aufsichstel- lung der Erscheinungen eine Absage erteilt. Die Sachen selbst , das sind bei Husserl gerade nicht die erscheinungstranszendenten Dinge an sich , sondern die erschei- nenden Phänomene selbst in den Schranken ihrer jeweiligen Gegebenheit.9

So geht Husserls verbale Beförderung der Erscheinungen zu den Sachen selbst mit der Überzeugung einher, dass es einer Art Inversion des erkenntnistheoreti-schen Dioramas bedarf: Nicht bedürfen die bloßen Erscheinungen einer ontolo-gischen Stütze im An-sich der Dinge an sich , vielmehr stellt Husserl sich vor, dass die Setzung erscheinungstranszendenter Dinge an sich ein immanenter Aspekt bewusster Erfahrung ist, der – motiviert durch hinreichende Einstimmigkeit des Erscheinenden – zur „natürlichen Einstellung“ (Hua III/1, 57) gehört. In diesem Sinne ist bei ihm die Setzung des (phänomenologisch einzuklammernden) An-Sich auf das selbsttragende Spiel des Erscheinens gestützt, nicht umgekehrt die Erscheinungen auf das An-Sich.

Husserl zieht damit die Konsequenz aus der sich aus dem cartesianischen Zwei-fel ergebenden Möglichkeit einer grundsätzlichen Außenwelt-Skepsis, die – posi-tiv gewendet – auch in der Einsicht besteht, dass die immanente Konsistenz und Einstimmigkeit dessen, was in der Wahrnehmung erscheint, zu ihrer Gewährleis-tung nicht zwingend einer Stütze im An-Sich bedürfen.10 Selbst, wenn ein böser Dämon uns ‚täuschte‘, könnten wir noch innerhalb der Immanenz dieser Täu-schung zwischen sich bewährendem und sich nicht bewährendem Gegebenen – und in diesem Sinne zwischen Sein und Schein  – unterscheiden. Wir müssen uns also von „keine[r] erdenkliche[n] Theorie“ darin „irre machen“, „alles, was sich uns in der ‚Intuition‘ originär, (sozusagen in seiner leibhaften Wirklichkeit) dar-bietet“, einfach als das hinzunehmen, „als was es sich gibt, aber auch nur in den Schranken, in denen es sich da gibt“ (ebd., 51).

Dreht man das erkenntnistheoretisch-ontologische Diorama in dieser Weise, erhalten die Erscheinungen gegenüber der Frage, von was sie Erscheinungen sind, epistemisch-ontologisches Eigenrecht . In der immanenten Sphäre bewusstseinsmä-ßiger Gegebenheit gibt es „keinen Unterschied zwischen Erscheinung und Sein“ (Hua XXV, 29), wohl aber einen Unterschied bezüglich der Bewährungsbereiche jeweiliger Seiender. Damit wird bewusstseinsmäßige Gebbarkeit zum Maß eines so verstandenen Seins.

An einem konkreten Beispiel: Menschen sind feinfühlig für Atmosphären: At-mosphären in bestimmten Umgebungen (die Unheimlichkeit im modrigen Keller usw.), Atmosphären in sozialen Situationen (die bedrückende Gehemmtheit einer unfreiwilligen Tischgesellschaft usw.). Atmosphären zeigen sich in der Erfahrung als nicht-kompakte, diffuse, ‚äußerliche‘ Aspekte oder Merkmale von Situationen. Fragt man allerdings in naturalistischer Einstellung danach, was einer erlebten Atmosphäre auf physischer Seite entspricht, kann man in eine gewisse Verlegen-heit geraten. Wir werden heute kaum geneigt sein, der Vorstellung eines physi-schen Atmosphärestoffs (im Raum verteilter Traurigkeitspartikel etwa) besondere Aufmerksamkeit zu schenken (auch wenn wir durchaus den sinnlichen Eindruck haben können, die Traurigkeit sei ‚beinahe mit den Händen zu greifen‘). Vielleicht wäre man sogar eher geneigt, die wahrgenommene Atmosphäre den sie wahrneh-menden Subjekten als ‚etwas in ihrem Kopf‘ zu introjizieren, also der Überzeu-gung, dass es sie in naturalistischer Hinsicht ‚gar nicht wirklich‘ gibt. Aus der von Husserl vorgezeichneten Perspektive lässt sich demgegenüber sagen: Eine Atmo-sphäre ist etwas, dass es für Subjekte einer bestimmten Art in bestimmten Kontex-ten als in der Wahrnehmung gegebene Charaktere oder Aspekte von Situationen gibt . Musil formuliert diesen Gedanken so, dass es „eine menschliche Taktlosig-keit“ gewesen sei, das „unverdiente Entgegenkommen der Natur in bestimmten Fällen“ – gemeint ist etwa die Möglichkeit, Prozesse, die dem phänomenal Gege-benem auf der Seite der Außenwelt korrelieren, physikalisch zu explizieren – „in allen Fällen zu verlangen“ (Musil 1981a, 1026).11

Ein solches Vorgehen erlaubt es Husserl, sich mit freierem Blick – ohne stets auf mögliche ontologische Stützen des Erscheinenden in einem An-sich zu schie-len – phänomenologisch der kategorialen Explikation des Erscheinenden selbst zuzuwenden. Diese explikative Zuwendung erfolgt ihrerseits mittels sprachlicher Anzeigen, wobei die diffizilen Bestimmungen und Unterscheidungen, die es phä-nomenologisch zu machen gälte, „dem in der Erfahrung wirklich Gegebenen ent-nommen“ werden sollten (Hua XXV, 24f.), statt sie aus einem übernommenen und mit allerlei historischen Vorurteilen behafteten „Fonds von Begriffen“ (ebd., 22) den Phänomenen überzustülpen oder unterzuschieben. Phänomenologie wäre so verstanden verbal vermittelte, kategoriale Explikation der im „natürlichen“ Zu-stand „verworrenen“ und „vagen“ Erfahrung (ebd., 24).

Spätestens seit Brentano wird dabei häufig die Rede von Deskription , von Be- schreibung , mit diesem explikativen Verfahren in Verbindung gebracht. Allerdings erscheint fraglich, inwiefern Deskription tatsächlich eine adäquate Bezeichnung des Verhältnisses von sprachlichem Ausdruck und der durch ihn zur bewusst-seinsmäßigen Erfassung (oder Realisierung) kategorial angezeigten Phänomene darstellt. Angemessener schiene es, worauf die in der Phänomenologie ebenfalls verbreitete Konzeption der evidenziellen Aufweisung und ihrer möglichen Erfül- lung verweist, von verbaler Deixis oder Anzeige zu sprechen. Phänomenologische Begriffe zeigen kategorial auf phänomenale Gebbarkeiten.

Als einfachste Beispiele für solches Zeigen nennt Husserl die Bezeichnung von „‚Farbe‘ im Unterschied von ‚Ton‘“, was „ein so sicherer Unterschied sei, wie es in aller Welt nichts sichereres gibt“ (ebd., 33). Jeder, der mit dem so angezeigten Unterschied auf phänomenaler Ebene vertraut ist, wird ihn sich unmittelbar vor Augen und Ohren führen können.

Allerdings liefert die Phänomenologie für gewöhnlich nicht besonders ein-drückliche, ontisch abschildernde Beschreibungen solcher Gegebenheiten (vgl. Heidegger SZ, 63). Sie beschreibt nicht – weder am Einzelfall noch kategorial – be-sonders eindrücklich, wie es ist, Töne zu hören, Farben zu sehen oder Atmosphä- ren zu erleben . Um ein phänomenologisches Zeigen auf erlebbare Phänomene zu gewährleisten, werden vielmehr Situationen evoziert, in denen das aufzuweisen-de Phänomen sich den adressierten Subjekten zeigt, wobei die subjektseitige Ver-trautheit mit diesen Situationen vorausgesetzt wird.

Ein zweites, instruktives Beispiel für ein solches verbales Zeigen auf phänome-nal-kategoriale Differenzen im Gegebenen findet sich bei Wilhelm Schapp (Schapp 1910, 22f.) in Bezug auf die Differenz von Festem und Flüssigem :

Jenseits der gewohnten Gegenstands- und Qualitätskategorien gibt es in der menschlichen Wirklichkeit auch subtilere qualitative Gegebenheitskategorien wie die des Flüssigen oder des Festen , des Lebendigen , des Rauen , des Glatten , des Glit- schigen , des Wolkigen usw., die je mit spezifischen Formen des Wie ihrer Gegeben-heit einhergehen.12

Ein in seiner Allgemeinheit schwer zu überbietendes Beispiel verbaler Deixis findet sich in den ersten Sätzen von §15 von Heideggers Sein und Zeit :

Heidegger zeigt hier verbal auf eine der allgemeinsten aller möglichen Situationen, in denen sich ein waches Menschenbewusstsein vorfinden kann – beim etwas mit etwas, mit dem es etwas auf sich hat, Anfangen . Salopp ließen sich die ersten zwei Sätze auch zusammenfassen mit „Kennt ihr die Situation, in der man irgendetwas macht?“.

Beschreibt Heidegger hier, wie sich etwas Bestimmtes anfühlt ? Nein. Er setzt vielmehr die kategoriale Vertrautheit der angesprochenen Subjekte mit den ver-schiedentlich bezeichneten phänomenalen Gegebenheiten im Wie ihrer Gege-benheit (sowie auch das Verständnis der dazugehörigen rudimentären Beschrei-bungen) voraus und beansprucht diese mit Bezeichnungen wie In-der-Welt-sein , Umgang in und mit und Besorgen „begrifflich-kategorial [zu] fixieren“ (ebd., 63).

So verstandene Phänomenologie ermöglicht es dem Subjekt, die verbal ange-zeigten kategorialen Gegebenheiten thematisch zu erfassen. Sie operiert wie eine verbale Ziel- oder Suchanweisung13 für kategoriale Phänomene.14 Phänomenolo-gische Begriffe und Beschreibungen sind auf kategoriale Gebbarkeiten zeigende Zeichen. In diesem Sinne können phänomenologische „Beschreibungen“ „nur in schauender Haltung verstanden und nachgeprüft werden“ (Hua XXV, 39). Phä-nomenologische Begriffe können dieser Vorstellung zufolge also ihren „Gehalt nicht erschöpfend mitteilen, sondern nur anzeigen“ und weisen „dem Vollzug des Philosophierens die Aufgabe zu[], den Begriff in seinem Gehalt zu aktualisieren“ (Imdahl 1994, 306).

Phänomenologie beschreibt also nicht irgendwelche „Wies“; sie ermöglicht es dem Subjekt vielmehr, bestimmte, ihm bereits implizit vertraute „Wies“ der Ge-gebenheit von Phänomenen thematisch in den Blick zu nehmen; wobei die zum Zielen benutzen Wörter nicht selbst die Erfassung der Phänomene bedeuten, son-dern als zu den Phänomenen hin übersteigbare Leitern fungieren. Phänomenolo-gie lässt sich verstehen als sprachlich vermitteltes Deuten auf für das Alltagsauge häufig unscheinbare kategoriale Strukturen bewusster Erfahrung. Ontologischer: Phänomenologie ist verbale Anzeige kategorialer Grundstrukturen menschlicher Wirklichkeit (im Unterschied etwa zur naturalistisch beanspruchten Explikation ‚natürlicher Arten‘ stipulierter Realität).

2 Epistemische Entspannung (des Anspruchs der Phänomenologie)

Wie die meisten Spielarten der Philosophie verlässt auch Phänomenologie sich darauf, dass das, was sie zu verstehen geben will, sich sprachlich  – bevorzugt textlich – vermitteln lässt. Anders als andere Spielarten der Philosophie beginnt sie dabei jedoch nicht bei als unproblematisch vorausgesetzten Prämissen oder sprachlichen Bedeutungen, von denen aus sie mittels logischer Schlüsse und be-grifflicher Analysen zu Konklusionen und Definitionen voranschreitet. Sie hebt bei der Faktizität der Gegebenheit von Phänomenen an, deren kategoriale Struk-turmerkmale sie sprachlich zur individuellen Realisierung anzuzeigen versucht.

Unmittelbar ergibt sich hieraus eine erkenntnistheoretische Krux, die phäno-menologische Autor:innen häufig nicht hinreichend betonen:15 Die erfahrungs-mäßigen Gebbarkeiten, die sich ‚innerhalb‘ eines Bewusstseins zeigen  – und selbst, sollten sie sich innerhalb dieses Bewusstseins als notwendige kategoriale und durchgängig einstimmige Invarianten erweisen – lassen sich nicht ohne Wei-teres (d. h. nicht ohne spekulative Setzung) als erfahrungsmäßige Gebbarkeiten eines anderen Bewusstseins oder gar aller Bewusstseine überhaupt behaupten (so-fern man nicht – was der phänomenologischen Grundanweisung, sich nur an das bewusstseinsmäßig Gebbare zu halten, entgegensteht – schlicht voraussetzt, dass andere Bewusstseine sich im Wesentlichen als so strukturiert erweisen wie das jeweils phänomenologisierende Bewusstsein).

Der epistemisch anspruchsvolle Ansatz der Phänomenologie droht so in einen ‚Solipsismus‘ zu kollabieren: Ihr Vermögen zur apodiktischen Erkenntnis könnte nicht über die ‚engen‘ Bezirke des jeweiligen Gegebenen, in dem die Phänome-nologisierende sich jeweils vorfindet, hinausreichen. Was eine solipsistische Phä-nomenologie im besten Fall apodiktisch aufzuweisen hätte, wären also nichts als strukturelle Invarianten oder kategoriale Gegebenheiten innerhalb des Bezirks eines jeweiligen Bewusstseins. Was jenseits dieser immanenten Sphäre der Geb-barkeit im jeweiligen Bewusstsein sein oder nicht sein mag, ließe sie außer Acht.

Soll die Phänomenologie über den Bezirk eines jeweils vereinzelten Bewusst-seins hinausreichen, muss sie einen Weg finden, ihre aus der Bewusstseinsimma-nenz gewonnenen Erkenntnisansprüche auf andere Bewusstseine zu übertragen oder sie von diesen prüfen zu lassen. Hierbei gerät sie in eine grundsätzliche Ver-legenheit: Die Rede von ‚anderen Bewusstseinen‘, die nicht bloß als erfahrungs-mäßige Korrelate der jeweils Phänomenologietreibenden – als erlebte alter egos  –, sondern als eigenständige Pole bewussten Erlebens, eigene ‚Monaden‘, begriffen werden sollen, überschreitet den Umkreis erfahrungsmäßiger Gebbarkeit. Man kann anderes Bewusstsein nicht als Bewusstsein erleben, man muss es vielmehr über das hinaus, was sich einem in der Erfahrung gibt, als eigenständiges Be-wusstsein setzen oder vermuten.16 Im Alltag unproblematisch angenommene an-dere Bewusstseine fallen so konsequenterweise der Epoché zum Opfer.17 Die Rede von verschiedenen existierenden Bewusstseinen scheint zudem die (ontologische) Setzung einer gebbarkeitsunabhängigen, mithin selbst phänomenal ungebbaren Sphäre zu implizieren, in der diese Bewusstseine irgendwie in Kontakt kommen und sich austauschen können.18 Die ontologische Setzung einer solchen Sphäre, in der in näher zu bestimmender Weise unterschiedliche Bewusstseine verortet wären, mag zwar durch die in alltäglicher Erfahrung sich bewährenden Evidenzen abduktiv hinreichend gedeckt erscheinen, ist jedoch nicht gerechtfertigt, sofern man sich am phänomenologischen Ideal orientiert, sich nur auf das zu beschrän-ken, was sich originär in der Erfahrung gibt, und zwar nur in den Schranken, in denen es sich da gibt .

Ohne eine gewisse Entspannung der epistemischen Ansprüche führt der Weg der Phänomenologie hier nicht aus der Immanenz des jeweiligen Bewusstseins – sollte diese auch die „immanente Transzendenz“ (Hua I, 134) bewusstseins-mäßiger Gegebenheiten einschließen – heraus. Eine solche besteht etwa darin, zwischen der Domäne des bewusstseinsmäßig Gebbaren und der Domäne des darüber hinaus hinreichend zuverlässig als gebbarkeitsunabhängig existierend Setzbaren zu unterscheiden.19 Sobald auf diese Weise etwa auch andere, für das phänomenologisierende Bewusstsein nichtselbstgegebene Bewusstseine hypo-thetisch als existierend gesetzt sind, zeigt sich allerdings auch bezüglich der in eidetischer Einstellung aus der Erfahrung herauspräparierten kategorialen Strukturmerkmale, dass diese nicht ohne Weiteres als für andere Bewusstseine geltend angesetzt werden können. Allenfalls besteht prima facie Grund zu der Vermutung, dass allgemeine Strukturmerkmale bewusster Erfahrung auch für andere Bewusstseine so gegeben sein müssten, wie sie sich für das phänomeno-logisierende Bewusstsein zeigen. Damit ließe die Phänomenologie allerdings die Idee intersubjektiv verbindlicher Apodiktizität zugunsten des immer als vorläu-fig zu verstehenden Versuchs hinter sich, in inter-immanenter Kommunikation und Abstimmung kategoriale Strukturen der Erfahrung aufzuweisen und frei-zulegen. Wer kontraintuitiven Formulierungen nicht ganz abgeneigt ist, könn-te sagen: Der Apodiktizitätsanspruch der Phänomenologie wird damit tentativ . Und da uns bis auf Weiteres keine Möglichkeit der unmittelbaren Übertragung bewussten Erlebens zwischen Subjekten zur Verfügung steht, bleibt die Phäno-menologie zur Erkundung dieser tentativen Apodiktizität auf sprachliche (min-destens zeigende) Vermittlung angewiesen.

Das methodische Gerüst einer in dieser Weise epistemisch entspannten Phä-nomenologie hätte dann folgende Form: Die Phänomenologisierende versucht zunächst kategoriale Strukturen bewusster Erfahrung am eigenen Erleben (eide-tisch) freizulegen, sie dann begrifflich-kategorial zu fixieren, um sie schließlich anderen mittels sprachlicher Anzeigen zur Realisierung am eigenen Erleben an-zubieten. Niklas Luhmann hat die phänomenologische Methode der „Evidenzbe-schaffung“ daher süffisant wie folgt beschrieben:

Diese Bemerkungen sind nicht ironisch aufzufassen. Eine konsequente Phäno-menologie kann sich einer kritischen Reflexion ihrer eigenen epistemischen Vor-läufigkeit nicht entwinden.20 Das ist allerdings nicht so zu verstehen, als sei die Phänomenologie genötigt, ihr eigenes Erkenntnisprojekt der Ägide der empi-risch orientierten Naturwissenschaften unterzuordnen, die ja in erkenntnistheo-retischer Hinsicht ihrerseits stets unter dem Vorbehalt möglicher Falsifizierung operieren. Während die Naturwissenschaften dabei mit der Voraussetzung einer ontologisch als unabhängig gesetzten, physischen Natur oder Realität arbeiten, die sie kategorial-nomologisch zu explizieren versuchen, hält sich die phänome-nologische Methode an das Prinzip der immanenten, einstimmigen Bewährung kategorialer Gegebenheiten in der Sphäre des Gegebenen. Die Naturwissenschaft richtet ihr Erkenntnisinteresse ontologisch gesprochen auf die wahrnehmungs-unabhängige Realität, die Phänomenologie ihres auf die bewussten Subjekten ge-gebenen Wirklichkeiten.

Allerdings unterstellt Luhmann in seiner Beschreibung, dass das Ziel der Phä-nomenologie in der Herstellung von Beschreibungen bestünde, die letztlich von allen erlebenden und kommunikativ erreichbaren Subjekten müssten geteilt wer-den können. Diese Voraussetzung ergibt sich nicht notwendig aus dem metho-dischen Ansatz einer epistemisch entspannten Phänomenologie. Eine Phänome-nologie, die kritisch auf die verschiedenen Reichweiten ihrer verbalen Anzeigen reflektiert, kann durchaus zulassen, dass verschiedene Anzeigen im Hinblick auf den Umfang ihrer intersubjektiven Zustimmungs- und Anschlussfähigkeit diver-gieren. Konkret bedeutet dies, dass die phänomenalen Wirklichkeiten mensch-licher Subjekte im Hinblick auf verschiedene Aspekte in unterschiedlichem Aus-maß divergieren können. Dies ist allerdings keine Schwäche, kein Nachteil einer so verstandenen Phänomenologie, vielmehr erlaubt es, auch intersubjektiven Nu-ancen und Divergenzen der Wirklichkeiten verschiedener Subjekte Rechnung zu tragen.

3 Der Sinn im Sinnlichen menschlicher Wirklichkeiten

Nach diesen allgemeinen Überlegungen zur phänomenologischen Methode soll das Gesagte im Folgenden an drei Beispielen konkretisiert werden, welche die möglichen Orientierungseffekte evokativer Philosophie ihrem Grundcharakter nach anzeigen.

Das erste der drei Beispiele knüpft variierend an die bisherigen Beispiele verba-ler Anzeigen an, es zeigt auf die phänomenale Gegebenheit einer Paarbeziehung aus der Perspektive der Involvierten. Die zwei weiteren Beispiele verweisen auf kategoriale Phänomene, die nicht so sehr anderes betreffen, was dem Bewusstsein als Gegenüber gegeben sein kann, sondern die Gegebenheit des Bewusstseins selbst .

Zum ersten Beispiel: In Musils Erzählung Die Vollendung der Liebe (1911) wird eingangs ein langjähriges Liebespaar beim gemeinsamen Teetrinken beschrieben:

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Mindestens zwei Dinge sind hier hervorzuheben: Zum einen die Beschreibung der farbigen Schatten in den Flächen der Kanne, die weniger als ein verbales Zeigen auf bereits vertraute Gegebenheiten im Sinne der Phänomenologie zu verstehen ist, sondern als Evokation eines poetischen Anders-Sehens , welches – wie wenn man jemanden auf eine in einer Wolkenformation schlummernde Figur hinweist – sich etwa durch folgende Aufforderung ausdrücken ließe: In einer Situation wie der beschriebenen, achte zuerst genauer auf die Farben der Schatten. Und nun sieh die farbigen Schatten nicht als geworfene Schatten, son- dern als selbstständige Flüssigkeiten, die dort zusammengeflossen sind und nicht weiterkönnen . Folgt man – auch nur imaginativ – dieser Anweisung, entsteht auf phänomenaler Ebene eine Veränderung im Gesehenen. Das Gesehene än-dert den Charakter seiner Gegebenheit. Es handelt sich hier also nicht nur um eine interessante, poetische Beschreibung einer vertrauten Szene, sondern um eine performative Anleitung für ein poetisches Anders-Sehen: Die Schatten, die zuvor noch als Anhängsel dessen gesehen waren, von dem sie Geworfene sind, erscheinen nun als selbstbewegliche Substanzen, Flüssiges, das von den einge-bogenen Flächen der Kanne gehalten wird. Um in einer solchen Weise verbal zu

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zeigen, muss man in der Lage sein, sich bietende Alternativen und Analogien des Sehens selbst zu sehen.21

Zum anderen verdeutlicht Musil in dieser Passage, inwiefern jenseits dessen, was man ‚sehen kann‘ , jenseits des ‚Sinnlichen‘ in einem engen Sinn, noch mehr zu dem gehört, was Menschen in ihrer Erfahrung phänomenal gegeben ist. So gehört zum Bereich des phänomenal Gegebenen etwa auch „jenes andere, beinahe Kör-perliche“ was die „beiden Menschen […] fast mit den Sinnen empfinden“ können. Dieses beinahe sinnlich Empfindbare bezeichnet die von den beiden Menschen in der beschriebenen Situation erlebte Verbundenheit „zu einer Einheit“.

Als was oder wie nimmt man eine solche wahr? Jeder, dem solches Erleben ver-traut ist, wird auch der Charakter der Gegebenheit einer solchen Verbundenheit mit einer anderen Person mehr oder minder vertraut sein, die entweder mehr zur Seite der „Strebe aus härtestem Metall“, oder eher zur Seite der leichten, „zärt-liche[n] Bewegtheit“ ausschlägt; oder die, wie im von Musil beschriebenen Fall, beides gegenstrebig umfasst.

‚Denken‘ nun die Beschriebenen sich dieses Empfinden zu ihren ‚bloßen Wahr-nehmungen‘ hinzu? ‚Fühlen‘ sie jenes beinahe Körperliche als einen Aspekt ihrer Situation? Und lässt sich ein solches Fühlen klar von einem sinnlichen Wahrneh- men abgrenzen? Problematisierend zu dieser Frage Wittgenstein:

Zum Umfang des Sinnlichen scheinen stets auch ‚über-sinnliche‘ Aspekte zu ge-hören; mehr jedenfalls, als was wir heutzutage vielleicht als ‚sinnlich‘ in einem engeren Sinn zu qualifizieren geneigt wären. Dieses Mehr lässt sich nun aber nicht dadurch adäquat verorten, dass man es terminologisch wahlweise einem Fühlen oder einem Denken im Gegensatz oder in Ergänzung zu einem bloßen sinnlichen Wahrnehmen zuschreibt. So ist auf der Ebene phänomenologischer Beobachtun-gen keineswegs klar, anhand welches erlebnisimmanenten Kriteriums die Grenze zwischen einem solchen ‚Fühlen‘ oder ‚Denken‘ auf der einen und einem reinen, ‚sinnlichen Wahrnehmen‘ auf der anderen Seite gezogen werden sollte. Man den-ke nur an die Wahrnehmung gesprochener oder geschriebener Sprache, um sich diese Unklarheit voll bewusst zu machen.

Die Vorstellung eines ‚Über-sinnlichen‘ im Sinnlichen legt sich allerdings nur insofern nahe, als man einen naturalistisch verkürzten Begriff von Sinnlichkeit voraussetzt, der auf der Ebene des phänomenal Gegebenen eine Sinnlichkeit von Qualitäten ohne Sinn unterstellt. Ein solcher Begriff reduziert das Sinnliche auf die vermeintlich sinnneutralen Modalitäten von Farbe, Ton, Wärme, Schwere usw., aus welchen sich das phänomenal Gegebene (als ‚neutral‘ vor sich hin tö-nende, taktile, schwere, wechselwarme, bunte Dreidimensionalität) vermeintlich zusammensetzt, um dann eventuell zusätzlich vom so wahrnehmenden Subjekt kognitiv erfasst , begriffen und beurteilt zu werden. Solche neutralen Modalitäten sind allerdings – oder ist das bei euch anders?  – im Bereich des phänomenal Ge-gebenen selbst nie wirklich anzutreffen. Wir können  – aus der Immanenz des Erlebens allein – an einem gehörten traurigen Seufzen nicht klar und eindeutig zwischen dem bloß Akustischen und dem Sinnhaften des Gehörten unterscheiden; wie wir auch an einem gesehenen Hasen oder einer gesehenen Gabel nicht das rein Visuelle vom Als- oder Aspekt-Sehen eindeutig abheben können.

Nur sofern man das Sinnliche von einem bestimmten ontologischen Begriff von Natur aus denkt, erscheinen die sinnhaften Aspekte des Gegebenen wahlweise als ‚kognitiver‘ oder ‚emotionaler‘ Zusatz zu einem ‚reinen‘ Sinnlichen.22 Die phäno-menologische Gegenthese läuft auf den verbal-deiktischen Hinweis hinaus, dass wir im sinnlich Gegebenen nicht scharf zwischen einem bloßen Sinnlichen und sinnhaften Zusätzen zu unterscheiden vermögen. Um ein Beispiel Roland Barthes’ zu gebrauchen: Der mit einem Rosenstrauß beschenkte kann „im Bereich des Erle-bens“ nicht eindeutig zwischen dem bloß Gesehenen (Signifikanten) und dem er-lebten Ausdruck leidenschaftlicher Zuneigung (Signifikat) unterscheiden (sofern er denn aufgrund seiner Sozialisation Rosen unwillkürlich entsprechend semanti-sierend auffasst) – „genaugenommen gibt es hier nur ‚verleidenschaftlichte‘ Rosen“ (Barthes 2010, 256).

In den Stoff, aus dem die menschlichen Wirklichkeiten sind, sind Fäden verwo-ben, die sich einer voreiligen naturalistischen Perspektivierung entziehen. Hierzu gehört etwa das Sinnhafte im Sinnlichen ebenso wie Atmosphärisches und die Phänomene der Semantisierung und Bedeutsamkeit im weitesten Sinn. Diese fal-len dem Fehlschluss der Naturalisierung zum Opfer, sobald das „Gebiet der Reak-tivität des Individuums gegen die Welt und die anderen Individuen“ (Musil), die menschliche Wirklichkeit, mit der naturalistisch unterstellten, wahrnehmungs-unabhängigen Realität identifiziert wird.

Umgekehrt mag es aus einer naturalistischen Perspektive scheinen, als seien die ‚meta-physischen‘ Fäden, auf die man in der beschriebenen Weise zeigen zu können glaubt, – um die betrügerischen Weber aus Des Kaisers neue Kleider zu zitieren – aus dem „schönste[n] Zeug, was man sich denken könne“ (Andersen 2016, 173). Ein naturalistisch gestimmtes Gemüt wird sich vielleicht versucht fühlen, sich mit dem ‚unschuldigen‘ Kind neben die Szene zu stellen, um auszu-rufen „Aber die Wirklichkeit hat ja gar nichts an!“; der vollen Überzeugung, dass es all die ‚übersinnlichen‘ Qualitäten, die die Menschen in ihr sehen, gar nicht wirklich gibt .

In ontologisch-erkenntnistheoretischer Hinsicht haben diese Überlegungen je-doch „nichts an sich, was einen mathematisch-naturwissenschaftlich und exakt fühlenden Menschen zu verletzen braucht“ (Musil 1987, 688). Es scheint hierzu allerdings die Konsequenz unvermeidlich, dass das phänomenal Gegebene, sofern es über das naturalistisch verkürzte Sinnliche hinausgeht, nicht unmittelbar in der naturalistisch postulierten, wahrnehmungsunabhängigen Realität verortet werden kann. Vielmehr scheint das Gegebene auf subjektseitige dispositionale Vermögen zurückzugehen, die dessen Konstitution zugrunde liegen. Phänomenal gegebenes Wirkliches und als wahrnehmungsunabhängig stipuliertes Reales sind nicht zu identifizieren. Die bewusstseinsmäßigen Gegebenheiten, die Dinge der menschlichen Wirklichkeit, sind vielmehr – sofern ihnen Konstitutionsprozesse zugrunde liegen, die appräsentierende Leistungen der Einbildungskraft oder Phan- tasie einschließen – etwas wesentlich anderesals das, als was sie „als Form an sich betrachtet“ erscheinen mögen (ebd., 526).

Musil verdeutlicht diesen Gedanken anhand der alltäglichen Wahrnehmung von Kleidungsstücken: „[A]us dem Fluidum der Gegenwart herausgehoben und in ihrem ungeheuerlichen Dasein auf einer menschlichen Gestalt als Formen an sich betrachtet“ glichen diese „seltsame[n] Röhren und Wucherungen“, „aber wie hinreißend werden sie, wenn man sie samt den Eigenschaften sieht, die sie ihrem Besitzer leihen!“ (ebd.):

4 Konkaves, konvexes und schielendes Bewusstsein

Hatten wir es bei den bisherigen Beispielen verbaler Deixis mit dem Zeigen auf Gegebenheiten zu tun, die dem Subjekt in der perzeptive[n] Chirurgie seiner All-tagserfahrung (Richir 1994, 71) als kategorial erfassbare Gegenüber dargeboten erscheinen, so betreffen die beiden abschließenden Beispiele das Wie der Gege-benheit des Bewusstseins selbst. Zwischen diesen Beispielen besteht allerdings nicht nur ein Gegensatz bezüglich der Phänomene, auf die sie zu zeigen versu-chen, sondern auch ein Unterschied bezüglich der Wahrscheinlichkeit, dass eine entsprechende, verbale Deixis für den Einzelnen anschlussfähig und realisierbar ist. Das liegt vor allem daran, dass sich auf die Phänomene der bisherigen Bei-

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spiele noch mehr oder weniger konkret zeigen lässt: Man kann auf ein Objekt mit einer bestimmten Farbe zeigen, oder sagen „Hörst du jetzt gleich hier diesen Ton“, man kann auf Festes und Flüssiges zeigen, auf Gebrauchsgegenstände in ihrem Gebrauch, auf den Winkel zwischen Arm und Blick (obwohl es bei den beiden letzten Beispielen schon etwas diffiziler zugeht).

Demgegenüber stehen die im Folgenden angezeigten Phänomene epistemisch auf noch etwas schwächeren Beinen. Das liegt vor allem daran, dass hier Phäno-mene angezeigt werden, welche die Art und Weise der Gegebenheit von Situatio-nen im Ganzen betreffen und nicht so sehr Einzelnes, auf das sich innerhalb be-stimmter Situationen zeigen ließe. Rhetorisch sind sie daher relativ leicht beiseite zu wischen, indem man etwa auf die Frage „Ist das bei euch auch so?“ mit einem einfachen „Nein“ reagiert.

Zu entscheiden, ob es die im Folgenden verbal angezeigten Phänomene wirklich gibt, bleibt daher dem individuellen Vermögen zum Nachvollzug der angebotenen verbalen Deixis überlassen. Das Scheitern eines solchen Nachvollzugs verweist dann wahlweise auf den Umstand, dass einem adressierten Subjekt das angezeigte Phänomen nicht vertraut oder thematisch zugänglich ist, dass es ihm im eigenen Erleben nicht gegeben, es ihm gegenüber „erfahrungsmäßig blind“ („experienti-ally blind“) (Noë 2004, 4) ist, dass die verbale Anzeige für das adressierte Subjekt nicht funktioniert, sie Mängel oder zu große Unschärfen aufweist, oder auch auf den Umstand, dass das Subjekt, welches sie formuliert, sich an der entsprechen-den Stelle über das eigene Erleben täuscht (d. i. Fehlanzeigen ).23 Es handelt sich im Folgenden also um Fälle von schwacher Evidenz, was diese gleichwohl nicht als Evidenz diskreditiert.

Zum ersten Beispiel: Im Mann ohne Eigenschaften (1930) lässt Musil die Haupt-figur Ulrich auf eine Grunddifferenz aufmerksam machen, welche das Erleben der eigenen Zugewendetheit zu einer Situation (oder zum In-der-Welt-sein im Gan-zen), man könnte auch sagen: welche die Art und Weise betrifft, wie ein Subjekt das Verhältnis der eigenen Bewusstseinsstelle zu einer Situation, in der es sich befindet, erlebt. Diese beiden Weisen des Empfindens werden als zwei einander entgegensetzten Richtungen der Gewölbtheit dieser Bewusstseinstelle zur Welt beschrieben – als Differenz von ‚„Konkav-‘ und ‚Konvexempfinden‘“.24 So könne man einerseits

Man kann auch sagen: Es macht einen grundsätzlichen Unterschied im erlebten Verhältnis zu einer Situation, ob man den näheren Rand der sinnlichen Eigen-sphäre als nach innen hin das eigene Innere (von dem gefühlt etwa Blick und Stimme ausgehen) einschließend erlebt, oder ob man diesen als nach außen hin alles Äußere, selbst von diesem umfangen, umfangend empfindet. Ob man sich also eher konvex verschlossen und gegenüber in die Welt hinausstehen fühlt, oder konkav-geöffnet sich in ihr umzuschauen meint. Ob man den Eindruck hat, aus einem abgeschlossenen Innen in ein Außen hinaus zu blicken, oder umgekehrt, von innen in ein Innen hinein , sich in einem Inneren um zu blicken. Man kann Situatio-nen eher konvex von außen bei- oder ihnen konkav von innen einwohnen .

In diesem Sinne kann man etwa eine Umarmung konvex oder konkav erleben, entweder als ohne inneren Kontakt nur äußerlich daran teilnehmend, als nicht wirklich dabei oder aber als von innen dabei , in die Situation hinein gelöst. Selbiges gilt für einen Kuss, ein Gespräch, einen gesehen Film, ein Musikstück, eine Feier, eine Beerdigung, wie auch für das alltägliche In-der-Welt-sein überhaupt (welches etwa in der Depression als konvex verstellt , als keinen Durchgang auf die konkave ‚Innenseite‘ der Welt bietend, erscheinen kann).25

Wie angemerkt stehen Behauptungen wie die einer solchen Grunddifferenz zweier Arten von Erleben epistemisch auf schwachen Beinen, sofern ihre Realisie-rung ans je einzelne Subjekt überantwortet ist. Schwache Evidenzen spielen nicht auf dem Register persuasiver Überwältigung, mit ihnen kann man keinen Argu-mentationswettbewerb gewinnen; günstigenfalls aber schärfere Orientierung in der menschlichen Existenz.

Analoges gilt für das letzte Beispiel, welches noch diffiziler ist, sofern es auf eine Spaltung oder Faltung des Bewusstseins gegenüber sich selbst zu zeigen versucht. Zur Anzeige dieses Phänomens sei noch einmal eine Passage aus Musils Die Voll- endung der Liebe zitiert. Musil beschreibt hier das Paar im Hinblick auf ein Ge-spräch, welches es schon über einige Tage hinweg führt:

Die hier von Musil beschriebene, „sonderbare Weise“, in der die beiden von dem Gespräch als einem „unbewußten Vorwand“ über Tage festgehalten worden seien, „als ob es sein Gesicht verbürge und, während es von dem Buche handelte, eigent-lich anderswohin sähe“, lässt sich lesen als verbale Deixis der Form: Kennt ihr das, wenn man mit jemanden über etwas spricht, und – während man sich selbst und dem anderen über dieses etwas zu sprechen vorgibt – eigentlich etwas anderes ver- handelt?

In solchen Situationen beginnt das eigene Bewusstsein auch sich selbst gegen-über wie mit nur halb geöffnetem Auge auf das, worum es ‚ihm‘ eigentlich geht, zu schielen, während man sowohl sich als auch dem anderen gegenüber vorgibt, es gehe einem nur um das thematisch offen in den Blick Gestellte. Dieser Sachverhalt ist so eigenartig, dass er hier noch einmal explizit hervorgehoben werden soll: Das Bewusstsein scheint in der Lage, sich in Bezug auf sich selbst und seine eigenen Motive etwas vorzumachen – und es scheint dies in einer merkwürdigen Faltung sich selbst gegenüber zugleich zu wissen und nicht zu wissen. Psychoanalytisch gesprochen: Es gibt das Phänomen der Verdrängung .

Auch die Behauptung der Möglichkeit einer solchen Faltung lässt sich nur durch individuelle Realisierung dieses Phänomens am Leib eigener Erfahrung verifizie-ren. Geht man entsprechenden verbalen Anzeigen nach, kann man die Evokation einer Form der Beobachtung feststellen, die einem selbst solches Schielen des eige-nen Bewusstseins besser sichtbar macht, es einem selbst nicht mehr in gewöhn-licher Weise durchgehen lässt. Die so evozierte Form der Aufmerksamkeit lässt sich als (reflexive) Beobachtung vorerster Ordnung bezeichnen, sofern das Subjekt durch ihr Mitlaufenlassen lernt, sich selbst bei solchem Schielen zu ertappen , freundlicher: sich selbst bei solchem Schielen beizuwohnen . Sofern die Stelle, von der aus in dieser Weise geschielt wird, psychoanalytisch gesprochen vor der Ebene der Beobachtung erster Ordnung liegt, welche für gewöhnlich mit ‚Ich‘ bezeichnet wird, handelt es sich um eine Beobachtung vor-erster Ordnung. Zugleich soll das anklingende ‚vorerst‘ auch die epistemische Fragilität dieser Beobachtungweise hervorheben.

Standardbeispiel für solches Schielen ist der Beziehungskonflikt, der sich an ei-nem vordergründigen Problem entfaltet, während im Hintergrund andere Themen oder Probleme – wie über Bande – angespielt und verhandelt werden, in Bezug auf die sich die so über Bande Kommunizierenden wie stillschweigend – gegenüber sich selbst und dem jeweils Anderen – darauf geeinigt zu haben scheinen, dass sie

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im Gespräch selbst nicht direkt thematisch zur Sprache zu kommen haben.26 Es bleibt hier die Stiftung des gemeinsamen, nur implizierend hergestellten Gegen-standsbezugs gewissermaßen wechselseitig bewusst ‚in der Luft‘, als könnte man sich jeden Augenblick auf die Position zurückziehen, dass die angespielten Gegen-stände und Hintergrundsinne, die das Gegenüber da gehört haben mag, ‚gar nicht wirklich‘ gemeint waren und so gewissermaßen nur ‚in dessen Kopf‘ stattgefun-den haben mögen – man bespielt gemeinsam, in vermeintlicher Unbedarftheit, die Klaviatur der Implikaturen .27

Aber nicht nur in Bezug auf in dieser Weise anspielenden Sprachgebrauch, auch in Bezug auf sogenannte ‚unbewusste‘ und ‚verdrängte‘ Motive im Allgemeinen legt sich eine solche Explikation nahe. Ein verdrängtes, unbewusstes Motiv wäre dann eines, bei dem das Subjekt gegenüber sich selbst die Rolle des unzuverlässi-gen Anspielpartners spielt, der sich, von sich selbst auf die Anspielung angespro-chen, als unschuldig aus der Affäre stielt. Das Subjekt behandelt sich in solchen Fällen selbst wie jemanden, der gegenüber einem anderen, der ebenfalls es selbst ist, das unzuverlässige Spiel bloß luftig angespielter Motive spielt.

5 Schluss

Anerkennt man das epistemisch-ontologische Eigenrecht menschlicher Wirk-lichkeit, erweist sich deren systematische Explikation als eine Grundaufgabe der Philosophie. Die vorhergehenden Überlegungen sollten zeigen, dass eine viable Aufgabe der Philosophie darin besteht, mittels spezifisch das Subjekt adressie-render verbaler Anzeigen Erkenntniseffekte hervorzurufen, welche diesem seine Wirklichkeit in orientierender Weise erschließen. Als Ziel phänomenologischer Philosophie erwies sich somit eine deiktische Kartographie der Existenz , die in systematischer Hinsicht kategoriale Explikation wirklicher und möglicher mensch- licher Wirklichkeit ist.

Exemplarisch wurden bezüglich deren möglichen Explikationsrichtungen drei Formen verbaler Deixis unterschieden: Eine erste Form zielt auf die Evokation phänomenologischer Aufmerksamkeit für kategorial differenzierbare Phänome-ne innerhalb der Subjekten als Gegenüber begegnenden Wirklichkeit. Durch sie werden aus der Erfahrung implizit vertraute Phänomene kategorial sichtbar und thematisch zugänglich.

Die zweite Form zielt auf die Evokation poetischer Aufmerksamkeit , die entwe-der versucht, dem Subjekt in der Latenz seiner Erfahrung schlummernde Mög-lichkeiten des Anders-Sehens vor Augen zu führen, oder ihm anderweitig Mittel an die Hand gibt, seinen Kontakt mit der poesieaffinen Fluidität möglicher Wirk-lichkeit zu vertiefen.

Die dritte Form zielt auf das kategoriale Aufmerken auf Phänomene, die inner-halb der Sphäre der Gegebenheit die Stelle der Phänomenalisierung, des Bewusst-seins selbst betreffen. Die durch sie evozierte Form der Aufmerksamkeit lässt sich als reflexive (im Gegensatz zu einer objektbezogenen) Beobachtung vorerster Ord- nung bezeichnen, die dem Subjekt Subtilitäten der Selbsterfahrung thematisch zugänglich macht, die in der gewöhnlichen Registratur des Alltags häufig unthe-matisch passieren.28 Das Verhältnis dieser und möglicher weiterer Formen bedarf eingehenderer systematischer Explikation im Hinblick auf die Stellung der durch sie angezeigten Phänomene innerhalb der menschlichen Wirklichkeit, die im Vor-hergehenden nur angerissen werden konnte.

Ihnen gemeinsam ist allerdings, dass sie allesamt auf die Explikation vorgege- bener oder angelegter Gegebenheiten verweisen. Sie alle zeigen jeweils auf Phä-nomene, die in der Wirklichkeit schon da sind . Eine weiterführende Frage wäre, ob verbale Deixis evokativ auch auf solche Ideen und Phänomene zu zeigen ver-mag, die zwar nicht sind, aber noch werden können . Ob also das philosophierende Subjekt nur „ein Kind seiner Zeit sein soll oder ein Erzeuger der Zeiten“ (Musil 1981a, 1030). Oder anders: Ob die Eule der Minerva, nachdem sie ihren Flug mit der einbrechenden Dämmerung begann, sich vielleicht zumuten sollte, ihn bei an-brechendem Morgengrauen fortzusetzen, um dem Gegebenen nicht nur hinterher, sondern zumindest auch ein kleines Stück weit vorauszufliegen – als früher Vogel wider das Gewohnte.

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Methodologische Erläuterungen zu einem spekulativen Transzendentalismus

Alexander Schnell

In diesem Band soll es um den „Anspruch“ und die „Methode“ der Philosophie gehen. Ohne Zweifel ist es eine vordringliche Aufgabe der Philosophie, und zwar nicht nur – aber doch ganz besonders auch  – heute, sich diesem grundlegenden Problem zuzuwenden bzw. sich auf es zurückzubesinnen. Ob es nun aber tatsäch-lich möglich ist, dem Anspruch und der Methode „der“ Philosophie überhaupt gerecht werden zu können, das ist – angesichts der Heterogenität der philosophi-schen Ansätze  – fraglich. Sprachanalytischen, post-strukturalistischen, phäno-menologischen, transzendentalpragmatischen oder auch neo-realistischen Ansät-zen – um nur diese philosophischen Blickrichtungen zu erwähnen – allen zugleich gerecht werden zu können, das scheint in der Tat ein schwieriges, wenn nicht gar aussichtsloses Unterfangen zu sein. Ich werde daher meinen eigenen Ansatz kurz umreißen und die notwendige perspektivische Ausprägung, die darin enthalten ist, mit zwei Vorbemerkungen einleiten.

Um in das hineinführen zu können, worum es mir grundlegend geht, möchte ich zunächst auf eine Unterscheidung zurückkommen, die nicht nur für die Philoso-phie der Neuzeit – und dabei insbesondere in der Auseinandersetzung zwischen Spinoza und Descartes – eine bahnbrechende Bedeutung für die Methodenüber-legung in der Philosophie überhaupt hatte, sondern auch heute noch von Belang ist – nämlich auf die Unterscheidung zwischen Descartes’ „analytischer“ und Spi-nozas „synthetischer“ Methode. Hierfür stütze ich mich auf die brillante Lektüre G. Deleuzes im Kapitel „Spinoza contre Descartes“ aus seinem 1968 erschienen Buch Spinoza et le problème de l’expression (das 2002 ins Deutsche übersetzt wur-de).

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Descartes’ analytische Methode wird in seinen „Réponses aux secondes objec-tions“ (gegen die Meditationen über die erste Philosophie ) erläutert, die zunächst allein in der von Clerselier angefertigten französischen Übersetzung zugänglich waren und 1641–42 ausformuliert wurden. In diesem durchaus problematischen Text1 wird von Descartes zunächst klargestellt, dass die Erkenntnis allgemein auf der „klaren und deutlichen Idee“ beruht. Es stellt sich dann die Frage, ob in der Er-kenntnis die Ursache von der Wirkung oder umgekehrt die Wirkung von der Ur-sache abhängt. Descartes unzweideutige These besagt – und genau das bestimmt eben die analytische Methode –, dass die klare und deutliche Erkenntnis der Ursa-che von der klaren und deutlichen Erkenntnis der Wirkung abhängt! Zwar setzt die klare und deutliche Erkenntnis der Wirkung eine undeutliche Kenntnis der Ursache voraus, aber keinesfalls hängt sie von einer vollkommeneren Erkenntnis derselben ab. Die analytische Methode ist somit eine „Inferenz-“ oder „Implika-tionsmethode“.

Dem setzt Spinoza in seiner Frühschrift Tractatus de intellectus emendatione (1661) die synthetische Methode entgegen. Diese besteht allerdings nicht lediglich in der (freilich bis auf Aristoteles zurückgehenden) Umkehrung der analytischen Methode Descartes – wonach also die klare und deutliche Erkenntnis der Wir-kung von der klaren und deutlichen Erkenntnis der Ursache abhängt. Denn diese Auffassung der Synthese erhebt sich insofern nicht auf die Stufe der adäquaten Er-kenntnis, als sie nur so viel von der Ursache zu erkennen vermag, wie bereits in der Wirkung enthalten war. In diesem Punkt trifft sich Spinozas Kritik mit der Des-cartes’ an der synthetischen Methode Aristoteles’. In Deleuzes Ausdrücken: „Die synthetische Methode [des Aristoteles] lässt uns nichts durch sie selbst erkennen, sie ist keine Erfindungs methode; sie hat ihren Nutzen lediglich in der Darstellung der Erkenntnis, in der Darstellung dessen, was bereits ‚erfunden‘ wurde “. (Deleuze 1968, 144; Herv. A. S.)

Um nun darüber entscheiden zu können, welches tatsächlich die „erfinderischs-te“ Methode ist (und später wird deutlich werden, dass es in der Tat in heutigen Methodenüberlegungen gerade um „Erfindung“, um den Aufgang, das Aufquel-len, von Neuem, kurz: um Selbsttransparenz jeglicher Form von Kreativität gehen muss) – und das heißt im Kontext der Auseinandersetzung zwischen Spinoza und Descartes immer: welche Methode es vermag, die „wirklichen“ Ursachen ( causes réelles ) zu bestimmen  –, um also die „erfinderischste Methode“ bestimmen zu können, muss erläutert werden, worin Spinozas’ Idee der „Adäquation“ besteht. Die Antwort auf diese Frage liegt in jenem „modus“ der „perceptio“ begründet, welcher Aristoteles’ synthetische und Descartes’ analytische Methode nicht ein- zeln betrachtet (weil diese sonst unbegründet blieben), sondern zusammennimmt , um so versuchsweise eine Lösung für das Problem herbeizuführen. Dafür seien näherhin zwei Schritte notwendig. Erstens sei es jener „Parallelismus“ von anti-ker synthetischer und cartesianischer analytischer Methode, der das Denken als ein durch seine eigenen Gesetze Bestimmtes zu fassen gestatte. Und zweitens sei die korrekt verstandene synthetische Methode durch drei Grundbestimmungen gekennzeichnet: nämlich durch Reflexion, durch Konstruktion bzw. Genese und durch Deduktion. Durch die Reflexion wird die Macht des Verstehens erkannt. Durch die Genese wird die Ursache in Abhängigkeit von einer Wirkung konstruiert (Deleuze schreibt: „geschmiedet bzw. fingiert“ [1968, 145]). Und zugleich mit die-ser „Produktion“ (also mit der Genese) wird die Deduktion vollzogen. Form und Stoff des Wahren fallen dabei in der Verknüpfung der Ideen zusammen. Was aus der Idee Gottes deduziert werden kann und auch deduziert wird, ist eine Idee von wirklich Seiendem. Dadurch würden sowohl der Cartesianismus als auch die Un-zulänglichkeiten des Aristotelismus überwunden.

Die folgenden Überlegungen sollen nun in die entgegengesetzte Richtung des von Deleuze Angezeigten gehen. Ich möchte mich nämlich für eine Rehabilitie-rung der cartesianischen analytischen Methode stark machen. Anders als Deleu-ze halte ich in der Tat Descartes’ Methode für die durchaus „erfinderischste“. Und zwar deshalb, weil das, was Spinoza meint, zu Descartes hinzusetzen zu müssen (und Deleuze folgt ihm dabei), gerade nicht einleuchtend dargelegt wird – und somit Spinoza über Descartes gar nicht hinausgeht, sondern bestenfalls an sei-nen Ansatz heranreicht. In den beiden angesprochenen Schritten werden dog-matische Behauptungen aufgestellt, die durch keine einsichtige Rechtfertigung ausgewiesen werden. Dies betrifft einerseits die Behauptung des „Parallelismus“ von analytischer und (aristotelischer) synthetischer Methode: Dieser wird nur behauptet, ist aber überhaupt nicht einlösbar. Andererseits wird auch keine über-zeugende „ Deduktion des Wirklichen“ geleistet – denn man kann nicht weiter-gehen als bis zu jenem Punkt, an dem eben etwas durch Reflexion und Konstruk-

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tion erzeugt wird – was freilich die Fragilität der Realität mit sich bringt oder das, was Fichte das „Schweben“ dank der realitätserzeugenden, transzendentalen Einbildungskraft genannt hat.

Bei dieser Unterscheidung zwischen Descartes’ analytischer und Spinozas synthetischer Methode wird also deutlich, dass es um die Frage nach der Er-forschung der „Quellen“ des zu Erkennenden geht – und dabei insbesondere um die angemessene erkenntnismäßige Weise der Bestimmung derselben. Dieser Unterschied zwischen analytischer und synthetischer Methode wird dann be-kanntermaßen auch bei Kant in den Prolegomena zu einer jeden künftigen Me- taphysik (1783) wieder auftreten. Zwar sucht die synthetische Methode Kants, „die Erkenntnis aus ihren ursprünglichen Keimen zu entwickeln“ (Kant 2001, 28), was auch ein Anliegen des hier Angestrebten ist; gleichwohl ist der – phä-nomenologisch geforderte  – Ausgang von einem phänomenalen Befund und Bestand (den man auch, wie Kant, in einer bestimmten Weise als „Faktum“ bezeichnen kann) unabkömmlich, um nicht in „Mystizismus“ und „Schwärme-rei“ auszuarten. Es geht um eine genetische bzw. generative Aufklärung der Er-kenntnis- und Seinsgründe – und dafür steht ja auch die analytische Methode Kants, die ihrerseits gewissermaßen von „Fakten“2 ausgeht, um zu den „Quel-len“ aufzusteigen, „die man noch nicht kennt, und deren Entdeckung uns nicht allein das, was man wusste, erklären, sondern zugleich einen Umfang vieler Erkenntnisse, die insgesamt aus den nämlichen Quellen entspringen, darstellen wird“ (Kant 2001, 28f.). Insofern ist die Grundmethodik der generativen Phä-nomenologie vordergründig auch der analytischen Methode im Sinne Kants verpflichtet.

Die zweite Vorbemerkung betrifft die Klarstellung der philosophischen Rich-tung, für die ich mich stark mache und die im Folgenden auch näher vorgestellt werden soll. Grob gesagt, handelt es sich dabei um die „Phänomenologie der Sinn-bildung“. Dies ist der gängige Titel, der im deutschen philosophischen Sprach-raum seit B. Waldenfels und L. Tengelyi im Umlauf ist. Er ist bei mir (keinesfalls aber bei den beiden Letztgenannten) gleichbedeutend mit den Ausdrücken „ge-nerative Phänomenologie“ oder „phänomenologischer spekulativer Idealismus“ oder einfach „spekulativer Transzendentalismus“. Auf die Terminologie kommt es dabei nicht vordringlich an, ich werde diese Ausdrücke daher auch ohne nähere Spezifizierung synonym gebrauchen.

Um zu erläutern, worum es dabei geht, beginne ich mit folgendem Zitat von der Husserl-Schülerin Hedwig Conrad-Martius:

Die „Gegenstände“ der philosophischen  – näherhin hier: der phänomenologi-schen – Forschung, die „Phänomene“, sind insofern solche einer philosophischen (selbstverständlich keiner naturwissenschaftlichen) Wissenschaft, als sie eben auf ihren universalen Sinngehalt hin befragt werden. Entscheidend ist nun dabei, dass zwei Aspekte darin als zusammengehörig aufgefasst werden sollen (und darin un-terscheidet sich diese Ausarbeitung einer Phänomenologie der Sinnbildung eben von der früheren der Waldenfels-Schule): nämlich einerseits die Analyse unseres Welt- und Gegenstandsbezugs, sofern er sich in den Horizont der unhintergehbaren (wenn auch bei weitem nicht immer offen daliegenden) Korrelation von Sein und Denken einschreibt ; und andererseits das, was man die Selbstreflexion der Begriff- lichkeit, sofern diese Analysen selbstverständlich in ihrer eidetischen bzw. begriff- lichen Form ihren Ausdruck finden , bezeichnen könnte. Es soll dadurch vermieden werden,3 die Phänomenologie – im Rahmen der heutigen Debatte über Methoden-fragen – in ihrer üblichen Unterbestimmtheit zu belassen, welche sich zumeist da-rin äußert, dass ihr nicht das Potenzial zugeschrieben wird, über flache Bewusst-seinsdeskriptionen hinauszukommen.

Dabei kämen vielleicht einige definitorische Hinweise hinsichtlich des Verständ-nisses des „spekulativen Formats“ von Philosophie im Allgemeinen und/oder Phä-nomenologie im Besonderen gelegen. Als Beispiel möchte ich eine Definition von D. Henrich in seiner berühmten Studie „Grund und Gang spekulativen Denkens“ anführen, wonach eine „spekulative Denkart“ (und das gilt nun eben insbesondere auch für die generative Phänomenologie) eine „Denkweise [sei], die alle primären Verstehensweisen übergreift und verwandelt, ohne doch zu einer überweltlichen Wirklichkeit irgendeinen unmittelbaren Zugang zu haben“ (Henrich 1988, 108f.). In ihr scheint auf, was zur Disposition steht, wenn phänomenologisch von Spe-kulation in systematischer Hinsicht die Rede ist. Es soll nämlich der Auffassung entgegengewirkt werden, der archimedische Punkt der Spekulation sei ein, wie Fink schreibt, „systematische[s] Ganze[s] von Grunderkenntnissen“, dem etwas „Obskures“ anhafte (Fink 1966, 105). Genau das Gegenteil ist der Fall – unter der Voraussetzung freilich, dass man sich dafür öffnet, Phänomenologie und speku-latives Denken nicht als sich gegenseitig ausschließend zu betrachten, sondern zu erkennen, dass sie jeweils aufeinander angewiesen sind.

Die generative Phänomenologie zielt auf Sinnbildung, genauer auf die transzen-dentale Ermöglichung sowie die ontologischen Implikationen derselben ab. Ihre Grundeinsicht besteht im darzulegenden Erweis, dass sich in der Selbstreflexion auf die transzendentalen und ontologischen Dimensionen der Sinnbildung ein Urphänomen herauskristallisiert, dass die spekulative Grundlage der Phänome-nologie reflexiv, dabei aber immer auch genuin phänomenologisch einsichtig zu machen gestattet. Dieses „Urphänomen“, das methodologisch hier von zentraler Bedeutung ist, soll als „generative Matrize der Sinnbildung“ bezeichnet werden. Dieses „Urphänomen“ artikuliert drei Grundbegriffe miteinander, die vorhin in der Betrachtung der analytischen Methode Kants auch als „Fakten“ gekennzeich-net wurden und in die jetzt hineingeführt werden soll.

Die erste Aufgabe bei der konkreten Herausarbeitung dieser „generativen Ma-trize“ muss darin bestehen, die transzendental-phänomenologische Korrelation reflexiv zu erfassen. Diese wurde bereits von Fichte in der Wissenschaftslehre von 1804/II als das „Absolute“der von Kant entdeckten Transzendentalphilosophie bezeichnet, und sie ist eben auch für die Phänomenologie strukturell von ganz wesentlicher Bedeutung (Fichte 1985, 12f.). Aus ihr kommen wir gleichsam nicht heraus, nur muss sie eben methodologisch angemessen bestimmt und aufgeklärt werden.

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Was ist also die phänomenologische Korrelation von ihrem Grundansatz her? Wie ist dabei insbesondere das Wesen des Korrelationsverhältnisses beschaffen? Hieran schließt sich das zweite Themenfeld an, innerhalb dessen das Prinzip des Verständlich-Machens phänomenologischer Erkenntnis zum phänomenologischen Phänomen gemacht werden soll. Schließlich gilt es, sich Klarheit über das Wesen der phänomenologischen Reflexion zu verschaffen.

Korrelativität (Korrelation), Signifikativität (Sinn) und Reflexivität (Reflexion) – das sind also die drei Hauptbegriffe, die in ihrer Zusammengehörigkeit und in ihrem gegenseitigen Verweisen aufeinander die generative Matrize der Sinnbil-dung durchwalten. Der folgende Entwurf entwickelt sich demnach entlang des spezifischen Gehalts bzw. der genuinen Sachhaltigkeit eines Phänomenbestands, der eben die sinnhafte und reflexive Strukturiertheit der phänomenologischen Korrelativität, Signifikativität und Reflexivität umfasst und diese als ein eigenes phänomenologisches Phänomen sichtbar werden lässt.

Zunächst gilt es also, den Grundrahmen der phänomenologischen Korrelation eigens zum Thema zu machen.4 Der Name für die phänomenologische Korrelation lautet bekanntermaßen „Intentionalität“. Damit ist gemeint, dass Bewusstsein je Bewusstsein von etwas ist und umgekehrt, aber damit aufs Engste verbunden, je-des Etwas sich in einen intentionalen Bezug einschreibt. Wenn damit nun aber weder lediglich eine Verdoppelung des Gegebenen in einer Bewusstseinsmodalität noch das (im Grunde völlig kontingente) aktuelle Bewussthaben einer Gegeben-heit gemeint sein soll, sondern vielmehr verständlich gemacht werden kann, wie insbesondere die Sinnbildung und die erkenntnismäßige Konstitution möglich sind, dann muss die Grundeigenschaft dessen, wodurch jeweils der Gegenstands- bezug hergestellt wird, aufgewiesen werden. Eine solche Grundeigenschaft kann – in einer Annäherung an die Heideggersche Vertiefung des Husserlschen Inten-tionalitätsbegriffs  – das „horizonteröffnende In-den-Vorgriff-Nehmen“ genannt werden (dem beim späteren Heidegger der Begriff der Er-eignung entspricht). Die phänomenologische Korrelation bezeichnet nie eine lediglich statische oder me-chanische Bezughaftigkeit, und sie reduziert sich auch nicht auf „aktintentionale“ Bewusstseins bezüge. Sie bringt vielmehr zum Ausdruck, dass jede Gegebenheit von „Etwas“ in einen horizontmäßigen Rahmen von Verstehenshaftigkeit einge-schrieben ist. Diese ist bei weitem nicht notwendigerweise „transparent“. Sie kann unbewusst sein oder sonst irgendeine Modalität von aktueller Nichtbewussthaf-tigkeit ausmachen. Entscheidend ist lediglich, dass dem An-sich-Sein eine Pers-pektive entgegengesetzt wird, die das Sein als offen für Bewusst-Sein erweist (wo-für auch Husserls „signitive Intentionen“ stehen, auch wenn dabei der beschränkte Rahmen der „Aktintentionalität“ gemäß dem gerade Skizzierten überschritten werden muss).

Was wird nun in der Korrelation horizonteröffnend in den „Vorgriff“ genom-men? Der Vorgriff ist je ein solcher auf Sinnerscheinung und Sinnordnung . Sinn bezeichnet dabei je Sinnhaftigkeit als „Sinn von“ etwas, nämlich etwas Erschei- nendem . Das ist sozusagen die Kehrseite davon, dass das Etwas sich stets in die Korrelation einschreibt: Der Gegenstand wird nicht in seiner „Materialität“ ver-standen, sondern als Sinn , wobei der Sinn aber keine gesonderte „Schicht“ ist, die dem Ansich des Objekts gegenüberstünde, sondern eben Sinn(erscheinung) des-selben. Sinnbezüglichkeit und Erscheinungshaftigkeit verweisen je aufeinander.

Dieser gegenseitige Bezug setzt aber eine eigentümliche (Selbst-)Reflexivität voraus. Entscheidend dabei ist, und das muss ausdrücklich betont werden, diese nicht – vom Subjekt aus – als reflexiven Rückgang auf… aufzufassen. Um hier hinein gelangen zu können, muss ein methodologischer Vollzug geschehen, den ich als „transzendentale Induktion“5 bezeichnen möchte. Diese stellt im wörtli-chen Sinne die Einführung in die selbstreflexive Prozessualität der Sinnbildung dar. Sie ermöglicht es, die Schwelle der deskriptiven Verfahrensweise dahingehend zu überschreiten, dass nicht mehr der Phänomenologe die phänomenologische Analyse vollzieht, sondern die reflexive Grenzstruktur der Phänomenalität und das, was sie ermöglicht, sich gleichsam ‚selbst‘ reflektiert. Es handelt sich hierbei um eine spezifische Performanz der phänomenologisch relevanten Reflexionsform , die bereits in je eigenen Ausgestaltungen in früheren, vor-phänomenologischen Ansätzen zum Ausdruck kam (in Platons Selbstgespräch der ‚Seele‘, in Spinozas Selbst-Denken des ‚Gedankens‘, in Hegels Selbstbewegung des ‚Begriffes‘ usw.) und die in ihrer spezifischen Phänomenalisierung und ‚Phänomenalität‘ eigens zum Thema der phänomenologischen Analyse gemacht werden muss . Drei Stufen der transzendentalen Induktion sind näher zu unterscheiden. Auf der ersten Stufe wird lediglich der Übergang zur Selbstreflexivität vollzogen, sie stellt sozusagen die Eingangspforte in dieselbe dar. Auf der zweiten Stufe findet die Selbstreflexion des eingangs zugänglich Gewordenen statt. Und auf der dritten Stufe kommt es dann zur verinnerlichenden Selbstreflexion dessen, was sich auf der zweiten Stufe ergeben hat. Jeder dieser drei Stufen entspricht dabei also jeweils eine eigene Re-flexionsform.

1 Erste Stufe der transzendentalen Induktion

Die erste Grundeigenschaft der Korrelation macht also ihr horizonteröffnendes In-den-Vorgriff-Nehmen aus. Eine erste (Selbst-)Reflexion auf dieses wird dabei gemäß der vorigen Unterscheidung auf die Bewusstseinsstruktur , auf die horizont-eröffnende Vor(be)grifflichkeit, d. h. den Entwurf auf Sinn und auf den – zunächst allerdings inhaltslosen  – Begriff der Erkenntnisverständlichmachung gehen. Da dies, wie gesagt, eine erste Reflexion darstellt, gelangen wir hier zur ersten Ebe-ne der transzendentalen Verständlichmachung dessen, was Korrelation, Sinn und Reflexion und ihre gegenseitige Verflechtung möglich macht. Der Subjekt-Objekt-Korrelation liegt eine eigentümliche Struktur zugrunde; der Vorgriff auf Sinn voll-zieht sich auf der Grundlage eines Sinnentwurfs ; und die Verständlichmachung der Erkenntnis entwirft zunächst einen Begriff derselben, der dem zu suchenden Er-kenntnisprinzip selbst entgegengesetzt ist. Hierbei bricht dann eine dreifacheDu-alität auf: a.) die von Subjekt und Objekt (welche die originäre Bewusstseinsspal- tung ausmacht), b.) von entworfenem Sinn und sich gebendem Sinn (denn auf den Sinnentwurf ‚antwortet‘ je ein ‚Sich-Geben‘ von Sinn, an dem sich die ‚Richtigkeit‘ des Entwurfs progressiv und anhand unaufhörlicher ‚Korrekturen‘ verifizieren lässt) und c.) von Urbild und Abbild des Prinzips jener Verständlichmachung der Erkenntnis. Damit ist gemeint, dass das, worauf der Entwurf der Fassung des Er-

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kenntnisprinzips abzielt, dessen ‚Urbild‘ und das, worin es zuerst – in seinem blo-ßen Entwurfs charakter – gefasst wird, sein ‚Abbild‘ ist.

2 Zweite Stufe der transzendentalen Induktion

Eine zweite (Selbst-)Reflexion eröffnet sodann dementsprechend die zweite Ebene der generativen Matrize der Sinnbildung. Diese zweite (Selbst-)Reflexion nimmt sich nicht mehr all jene Implikationen des horizonteröffnenden In-den-Vorgriff-Nehmens vor, sondern reflektiert nun jeweils die drei sich darin bekundenden Dualitäten.a.) Wenn dabei zunächst der Bewusstseinsbezug selbstreflexiv betrachtet wird, d. h. wenn Bewusstsein zu Bewusstsein von Bewusstsein wird, dann ergibt sich dadurch Selbst bewusstsein. Das bedeutet nicht, dass – wie etwa bei Hegel – Selbst-bewusstsein die ‚Wahrheit‘ des Bewusstseins sei (und dieses jenes voraussetzte), sondern dass das Selbstbewusstsein sich allererst im Reflexionsprozess und in sei-ner Genese aufhellen lässt. b.) Aus der Selbstreflexion der Dualität von entworfenem und sich gebendem Sinn folgt dann, dass der Wahrheits maßstab immer weiter hinausverlagert werden muss und sich nicht endgültig anlegen lässt (dem entspricht auch Husserls späte Einsicht in der Krisis -Schrift, dass die sogenannten ‚erfüllenden Intentionen‘ kei-nen Anspruch auf Endgültigkeit haben und sich ebenfalls revidieren lassen). Mit anderen Worten, wir stoßen auf eine ‚hermeneutische Wahrheit‘, die nicht in ‚letz-ten Wahrheiten‘ mündet, sondern die Konsequenzen aus der hermeneutischen Einsicht ziehen, dass Wahrheit je nur im immer neu zu realisierenden Wahrheits- vollzug angesetzt werden kann.c.) Schließlich wird auch das Verhältnis von ‚Abbild‘ und ‚Urbild‘ des Erkennt-nisprinzips reflektiert, der zunächst entworfene leere Begriff desselben wird also mit dem zu Konstruierenden in Beziehung gesetzt. Was ergibt sich aus dieser Re-flexion? Das entworfene bloße Abbild ist nicht die Urquelle der Erkenntnisaufklä-rung selbst, sondern nur ein ihr gegenüberstehender Begriff davon. Letzterer ‚be-greift sich‘ in dieser Reflexion als ein bloßer Begriff. Um zur tiefsten Quelle selbst zu gelangen, muss daher das soeben Entworfene, lediglich Vorgestellte, sofern es eben nur ein solches abstraktes Abbild ist , gleichsam vernichtet werden. Hierdurch wird ein neues Moment ausgebildet: keine – im ersten Schritt unvermeidlich –

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projizierte bloße Erscheinung, sondern ein genetisch durch Vernichtung des zu-nächst projizierten Abbildes und Aufscheinen der urbildlichen Erkenntnisquelle selbst erzeugtes reflexives Verfahren. Worin besteht dieses Moment – wenn es kein rein formales sein soll? Eben gerade im gleichzeitigen Entwerfen und Vernichten . Dieses kann als ‚reflexive Plastizität‘ bezeichnet werden, da hiermit genau diese zweifache Bedeutung eines entwerfenden Vernichtens bzw. eines vernichtenden Entwerfens zum Ausdruck gebracht wird.

3 Dritte Stufe der transzendentalen Induktion

Die Verfahrensweise der ‚transzendentalen Induktion‘ kommt schließlich insofern in ausgezeichneter Weise in der dritten (Selbst-)Reflexion zum Tragen, als die hier sich vollziehende Selbstreflexionkeine Reflexion mehr über ein Gegebenes, son-dern verinnerlichende Selbstreflexion ist, die das letztursprüngliche Register der generativen Matrize der Sinnbildung zeitigt. a.) Die verinnerlichende Selbstreflexion des Selbstbewusstseins eröffnet eine Sphäre diesseits der Subjekt-Objekt-Spaltung wie auch diesseits des reflexiven Selbstbezugs im und durch das Selbstbewusstsein. Auf der Grundlage von Hus-serls Ansätzen etwa in seiner Phänomenologie der Zeit ließe sie sich als „präphä-nomenale“ bzw. „präimmanente“ Sphäre der phänomenologischen Konstitution bezeichnen. Auch Finks Begriff des „Vor-Seins“ liefert hierzu eine hilfreiche nähe-re Bestimmung. Es handelt sich dabei gewissermaßen um die „chôratische Sphä-re“ der transzendentalen Induktion, innerhalb welcher jenes urtranszendentale Feld der Sinnbildung zugänglich wird, das sich dann in zwei weiteren Hinsichten noch genauer ausgestaltet.b.) Es ergab sich aus der vorigen (Selbst-)Reflexion über die zweite Dualität (je-ner von entworfenem und sich gebendem Sinn), dass wir auf eine Art ‚hermeneuti-sche Wahrheit‘ stießen, die eine Absage an jegliche Form von ‚letzten Wahrheiten‘ zu implizieren schien. Dies trifft auch zu, sofern man ein vorausgesetztes Gege-benes als Maßstab der Erkenntnis ansetzt. Das Fehlen eines solchen Maßstabes heißt aber nicht, dass nicht doch ein eigener phänomenologischer Wahrheitsbegriff nutzbar gemacht werden könnte, der sowohl die Klippe des ‚naiven Realismus‘ als auch die des Relativismus zu umschiffen gestattet. Eben einen solchen eröffnet die verinnerlichende Selbstreflexion der oben skizzierten ‚hermeneutischen Wahrheit‘.

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Diese Selbstreflexion stellt nicht einen erneuten ‚Bedeutungsentwurf‘ bzw. eine erneute ‚Interpretation‘ dar, der (bzw. die) in mannigfachen weiteren Entwürfen oder Interpretationen überstiegen werden könnte, sondern sie entspricht einer phänomenologischen, genetisierenden ‚Konstruktion‘ – und eben auch der ana- lytischen Methode insbesondere im Sinne Descartes’. Es ist dies ein Konstruieren in das Offene der präphänomenalen Sphäre, das nur in der Konstruktion selbst de-ren Triftigkeit wie auch deren eigene Gesetzmäßigkeit offenbart. Diese Sphäre der phänomenologisch-genetisierenden Konstruktivität macht den ureigenen Begriff der ‚Generativität‘ bzw. ‚generativen Wahrheit‘ aus. Als Beispiele hierfür seien ge-nannt: Platons exaiphnès als Umschlagspunkt von Ruhe und Bewegtsein im Par- menides ; Fichtes Idee einer ‚genetischen Konstruktion‘ in der Wissenschaftslehre von 1804/II ; Hegels ‚absolutes Wissen‘ am Ende der Phänomenologie des Geistes ; Heideggers Analyse des Vorlaufens in die ‚Möglichkeit als die der Unmöglich-keit der Existenz überhaupt‘, die allererst jede existenzielle Möglichkeit für das menschliche Dasein eröffnet (im §53 von Sein und Zeit ); Husserls phänomeno-logische Konstruktion des ‚Urprozesses‘ der ursprünglichen phänomenologischen Zeitlichkeit in den Bernauer Manuskripten .c.) Auch der selbstreflexive Nachvollzug der Urquelle der Erkenntnisaufklärung macht schließlich diese dritte verinnerlichende Selbstreflexion notwendig. Das sich aus der bisher vollzogenen Selbstreflexion Ergebende verweist, wie gezeigt, auf eine zweifache entgegengesetzte vorsubjektive und ‚plastische‘ ‚Tätigkeit‘ eines Setzens und Vernichtens . Diese ist aber selbstverständlich keine rein mechanische ‚Tätigkeit‘, sondern lässt sich in jener verinnerlichenden Selbstreflexion erfassen. Jedes Aufheben ist ein Aufheben eines zunächst Gesetzten – und daher ein von ihm Abhängiges. Die zweite (aus)bildende Vollzugsweise hatte sich daraus erge-ben, dass das bloße Abbild sich als ein solches begriff und infolgedessen vernich-tete. Die jetzt vollzogene verinnerlichende Reflexion geht nun noch einen Schritt weiter. Sie begreift sich nicht bloß als reflektierende, sondern als das Reflektieren in seiner Reflexionsgesetzmäßigkeit erschließende . Letztere besteht im transzenden-talen Ermöglichen , d. h. in einer eigenartigen Verdoppelung, die den Begriff des Transzendentalen originär bestimmt und das Möglich-Machen reflexiv als Mög-lich-Machen des Möglich-Machens selbst durchsichtig macht – im vorliegenden Fall: die reflexive Plastizität, deren Selbstreflexion nichts Anderes als die Ermög-lichung ergibt. Diese Reflexionsgesetzlichkeit drückt zudem – zusammen mit der Verstehensermöglichung (die ich die transzendentale Reflexibilität nenne) – eine

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auf diese selbst bezogene Seins ermöglichung (die als transzendierende Reflexibili-tät bezeichnet werden soll) aus. Woher stammt diese ‚Seinsermöglichung‘? Und vor allem: Weshalb tritt diese ‚durch‘ die Verstehensermöglichung hervor? Zu ersterem ist zu sagen, dass, wenn die Verstehensermöglichung rein reflexiv wäre und auf einer rein erkenntnismäßigen Basis beruhte, ihr Ermöglichungscharak-ter abstrakt bliebe und auf eine bloße Behauptung hinausliefe. Letzteres erklärt sich dadurch, dass die Ermöglichung diesseits der Spaltung von Erkenntnistheo-rie und Ontologie angelegt ist und diese allererst ermöglicht. Die ermöglichende Verdoppelung ist somit ebenfalls eine produktiv-erzeugende Vernichtung (gleich-sam eine ‚Plastizität höherer Ordnung‘, die man als ‚reflexible Plastizität‘ auffassen kann) – eine Vernichtung jeder erfahrbaren Positivität eines Bedingenden und Er- zeugung dieses Bedingenden selbst einerseits und eines hieraus hervorgehenden ontologischen ‚Überschusses‘ andererseits, der dem hierdurch Erzeugten (nämlich der gesuchten Grundlage der Verständnisaufklärung) seine Seinsgrundlage bie-tet.6 Und genau das wurde gewissermaßen schon von Hegel aufgedeckt – und zwar im ersten Unterabschnitt des ersten Kapitels des ersten Abschnittes des ersten Buchs der Großen Logik (‚Sein‘), sofern jener im Zusammenhang mit dem Ende des Vorbegriffs des ersten Teils der Kleinen Logik (§78) betrachtet wird – nur mit dem Unterschied, dass er diese Inanspruchnahme eines ‚reinen Seins‘ durch den freien Entschluss, ‚rein denken zu wollen‘, lediglich aufstellt. Selbstverständlich wird diese faktische Aufstellung in der weiteren Folge der Logik genetisiert – aber diese Genetisierung ist eben anderer Art als in der generativen Phänomenologie, da es sich in letzterer um ein „offenes System“ (Fink) handelt, das von keiner dia-lektischen, sondern von der mehrfach charakterisierten analytischen Methode durchherrscht wird.

Die generative Matrize der Sinnbildung beschränkt sich nicht auf lediglich pos-tulierte Erkenntnisformen, wie das etwa im Kantischen Transzendentalismus der Fall ist, sondern bringt das reflexible ‚Grundprinzip‘ der Ermöglichung des Ver-stehens zum Ausdruck (transzendentale Reflexibilität); und in eins damit offen-bart sich jene Seinsgrundlage, die das Seinsfundament jeder Sinnerscheinung aus-macht (transzendierende Reflexibilität). Denn ‚sich reflektierendes Reflektieren‘ oder ‚Sich-Erfassen als Sich-Erfassen‘ heißt nicht, dass hier einfach ein wieder-holter (Reflexions-)Akt vorliegt, sondern dass im energischen (reflexiblen) Sich-Erfassen der Reflexion Sein hervorspringt. Sein ist Reflexion der Reflexion – aber nicht im Sinne einer verstandesmäßigen Rückbindung oder Zurückwendung auf Reflexion, sondern als „reflexible“ (Fichte), d. h. die Reflexionsgesetzlichkeit zum Vorschein bringende und das Sein selbst allererst herausspringen lassende Refle-xion. Dieses Sein ist ‚Grund‘ aller Realität; es ist nicht vorgängig gegeben oder vorausgesetzt, sondern genetisch konstruierter, reflexibel genetisierter ‚Träger der Realität‘.

Worin besteht also die Rehabilitierung der cartesianischen und gewissermaßen auch der kantischen analytischen Methode? Der Bezug zwischen den gelieferten methodologischen Betrachtungen der generativen Phänomenologie einerseits und Descartes’ sowie Kants Ansatz andererseits ist vielfältig. Hervorheben möchte ich dabei insbesondere den angesprochenen Gedanken einer ‚erfinderischen‘ Metho-de – genau hierin besteht ja eben die ‚Generativität‘. Die erwähnte cartesianische ‚Konstruktion der Ursache in Abhängigkeit von der Wirkung‘, die ja zudem auf der Reflexion fußt, genauso wie Kants Ausgang von etwas, das man schon kennt, hin zu den „Quellen“, „die man noch nicht kennt, und deren Entdeckung uns […] einen Umfang vieler Erkenntnisse, die insgesamt aus den nämlichen Quel-len entspringen, darstellen wird“ (Kant 2001, 28f.), ist nichts Anderes – phäno-menologisch ausgedrückt – als die Zickzackbewegung der phänomenologischen Konstruktion zwischen zu Konstruierendem (= Ursache bzw. Quelle) und dem phänomenalen Sachbestand (= Wirkung bzw. Faktum), der jene Konstruktion gerade motiviert . ‚Erfinderisch‘ ist sie aus zwei Gründen: Zum einen wird in der Konstruktion das Aufquellen oder Aufgehen des neuen Sinns vollzogen (nicht nach -, sondern mit vollzogen); zum anderen kann dieser Sinnaufgang an keiner vorausliegenden Gegenständlichkeit oder Realität angemessen werden. Die Sinn-bildung in ihrer Generativität aufzuzeigen  –  genau hierin besteht der zugleich phänomenologische und ‚spekulative‘ Gestus, der Kreativität intelligibel beizu-wohnen und diese sich selbst durchsichtig zu machen.

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Conceptual Engineering: Begriffe auf dem Prüfstand

Steffen Koch

1 Einleitung

Begriffe sind die Bausteine unserer Gedanken. Wir nutzen sie, um Ordnung in die Vielzahl der uns umgebenden Einzeldinge zu bringen, um Schlussfolgerungen zu ziehen, um Überzeugungen, Hoffnungen oder Wünsche zu formen, um uns mit-einander zu verständigen. Kurzum: Begriffe ermöglichen und strukturieren das, was wir als unseren kognitiven Umgang mit der Wirklichkeit bezeichnen könnten. Viele unserer begrifflichen Gebilde unterliegen Korrektheitsbedingungen. Über-zeugungen wie ‚der Mont Blanc ist der höchste Berg der Welt‘ können falsch sein. Selbst ganze Theorien, wie die Newtonsche Physik, können sich als falsch oder unvollständig erweisen. Doch wie sieht es mit unseren Begriffen selbst aus? Kön-nen auch diese in einem bestimmten Sinne falsch oder ungeeignet sein? Sollten wir unseren Begriffen gegenüber ebenso kritisch sein, wie wir es häufig gegenüber unseren eigenen Überzeugungen, den Behauptungen anderer oder wissenschaftli-chen Theorien sind? Sollten wir gar versuchen, unser begriffliches Repertoire aktiv umzugestalten, indem wir z. B. manche von ihnen verbessern oder austauschen, neue hinzufügen oder andere entfernen?

Diese und weitere Fragen werden in der aktuellen analytischen Philosophie unter den Stichworten ‚Conceptual Ethics‘ bzw. ‚Conceptual Engineering‘ disku-

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tiert.1 Anhänger dieser Strömung bejahen viele der soeben gestellten Fragen. Da-rüber hinaus glauben viele von ihnen, dass Philosoph:innen, dank ihrer besonde-ren Expertise im Umgang mit Begriffen und Definitionen, hierin eine besondere Rolle zukommt. Manche sehen im Conceptual Engineering sogar so etwas wie eine neue Vision dessen, was Philosophie ist bzw. sein könnte.

Der vorliegende Artikel erläutert die grundsätzliche Motivation des Concep- tual Engineering und diskutiert außerdem einige der wichtigsten Probleme und Perspektiven dieses noch äußerst jungen und aufregenden Forschungsfeldes.2Ich beginne mit der Frage, wozu Conceptual Engineering überhaupt gut ist (§2) und inwiefern es neu ist (§3). Anschließend nehme ich die beiden Konstituenten ‚Conceptual‘ und ‚Engineering‘ genauer in den Blick, indem ich erörtere, welche Arten von Repräsentationen ‚Begriffsingenieur:innen‘ verbessern bzw. ersetzen wollen (§4) und in welchem Umfang sich diese überhaupt verändern lassen (§5). Abschließend diskutiere ich, wie sich Conceptual Engineering zu einigen bereits etablierten philosophischen Methoden verhält (§6).

Eine Bemerkung vorweg: In der Literatur wird häufig zwischen einem weiten und einem engen Verständnis von Conceptual Engineering unterschieden (vgl. Sa-wyer 2020b). Dem weiten Verständnis nach beinhaltet Conceptual Engineering jede Form von Modifikation unseres begrifflichen Repertoires. Darunter fällt sowohl das Hinzufügen neuer, als auch die Beseitigung oder die Revision alter Begriffe. Dem engen Verständnis nach bezieht sich Conceptual Engineering ausschließlich auf die Revision von Begriffen. Was Revisionen im Einzelnen ausmacht, wird im Folgenden genauer diskutiert. Der Großteil der aktuellen Literatur, wie auch der vorliegende Artikel, fokussieren sich auf Conceptual Engineering im engeren Sin-ne.

2 Warum Conceptual Engineering ?

Beginnen wir gleich mit der vermutlich wichtigsten Frage: Welchen Anlass haben wir, Conceptual Engineering zu betreiben? Eine vollständige Beantwortung dieser Frage bedarf einer Klärung dessen, was Begriffe bzw. die Zielobjekte des Concep- tual Engineering sind. Wir werden uns dieser aktuell kontrovers diskutierten The-matik später im Detail widmen (§4). In diesem und dem nachfolgenden Abschnitt genügt uns hingegen ein grobes Verständnis von Begriffen als den mentalen Re-präsentationen, die unserem kognitiven Zugriff auf die Wirklichkeit zugrunde liegen und die in einem engen Verhältnis zu den Bedeutungen von Wörtern ste-hen. Warum sollten wir unsere so verstandenen Begriffe kritisch prüfen und sie gegebenenfalls ändern? Hierfür gibt es im Wesentlichen zwei (komplementäre) Argumente: Das skeptische Argument und das Fine-Tuning Argument . Beginnen wir mit dem ersten. 2.1 Der Repräsentationsskeptizismus

Das skeptische Argument nimmt seinen Ausgangspunkt bei der Beobachtung, dass viele unserer Begriffe auf problematische Weise defizitär sind, um eine all-gemeine skeptische Haltung gegenüber Begriffen zu etablieren. Es kann wie folgt zusammengefasst werden:3 Das skeptische Argument

1. Manche oder gar viele der von uns gebrauchten Begriffe sind auf eine problema-tische Weise in semantischer, epistemischer oder moralischer Hinsicht defizitär.2. Wenn wir sprechen, denken, oder Theorien über die Welt aufstellen, ist es wich-tig, sicherzustellen, dass unsere Begriffe nicht auf eine problematische Weise de-fizitär sind.

3. Deshalb sollten wir unsere Begriffe gründlich prüfen und falls notwendig aus-tauschen oder verbessern.

Dieses Argument bedarf einiger Erläuterungen. Was sind semantische, epistemi-sche oder moralische begriffliche Defekte, und inwiefern können sich diese als problematisch erweisen? Semantisch defizitäre Begriffe sind Begriffe mit fehler-haften Intensionen oder Extensionen, z. B. leere Begriffe, vage Begriffe oder in-konsistente Begriffe.4 Epistemisch defizitäre Begriffe hingegen sind ungeeignete Mittel, um unsere epistemischen Ziele zu erreichen, z. B. Begriffe, welche die tat-sächliche Struktur der Wirklichkeit gar nicht oder nur ungenau abbilden, oder die uns zu unzuverlässigen Schlussfolgerungen verleiten. Moralisch defizitäre Be-griffe wiederum sind solche, deren Verwendung für moralisch relevante Akteure insgesamt schädlich ist, weil sie z. B. dazu führen, dass Menschen von moralisch relevanten Kategorien ausgeschlossen werden, oder weil sie uns dazu bringen, mo-ralisch relevante Unterscheidungen zu übersehen. Die Unterscheidung zwischen semantischen, epistemischen und moralischen begrifflichen Defekten ist weder trennscharf noch unkontrovers, erweist sich jedoch als hilfreich, um die jeweiligen Motivationen hinter Conceptual Engineering -Projekten zu verstehen. Das sei kurz an ein paar Beispielen illustriert, deren Bandbreite zugleich die Heterogenität des Feldes aufzeigt. Semantische Defekte

Erinnern wir uns an das berühmte Lügner-Paradox: Wenn S ein Satz der Form ‚S ist falsch‘ ist, dann ist S genau dann wahr, wenn S falsch ist – eine logische Unmöglichkeit. Philosoph:innen versuchen bereits seit Jahrhunderten, dem Ur-sprung dieser und anderer Wahrheitsparadoxien auf den Grund zu gehen und sie, wenn möglich, aufzulösen. Sogenannte ‚Inkonsistenz-Theorien‘ verorten die Paradoxie im Begriff der Wahrheit selbst. Ihnen zufolge kommt die Paradoxie dadurch zustande, dass unser Wahrheitsbegriff beide Tarski-Konditionale erfüllt ( Wenn S, dann S ist wahr und Wenn S ist wahr, dann S ). Wenn das stimmt, dann ist unser Wahrheitsbegriff in folgendem Sinne inkonsistent: Er beinhaltet konsti-tutive Prinzipien, deren korrekte Anwendung in einigen Fällen zu Widersprüchen führt. Kevin Scharp (2007; 2013) schlägt daher vor, zum Ziele einer konsistenten wahrheitskonditionalen Semantik unseren Wahrheitsbegriff durch zwei alterna-tive Wahrheitsbegriffe (aufsteigende und absteigende Wahrheit) zu ersetzen. Die-se Ersetzung macht die Herleitung des Lügner-Paradox unmöglich und bewahrt uns somit vor Inkonsistenzen. Hier haben wir es also möglicherweise mit einem semantischen Defekt zu tun, welcher laut Scharp durch Conceptual Engineering behoben werden könnte.5 Epistemische Defekte

Eine ganz andere Stoßrichtung nimmt der Vorschlag von Andy Clark und David Chalmers (1998), unsere Begriffe für mentale Zustände und Prozesse über die Grenzen des Schädels hinweg zu erweitern (die ‚Extended Mind Hypothese‘). Ein Beispiel dafür sind Überzeugungen: Während die meisten wohl sagen würden, dass nur solche Informationen als tatsächliche Überzeugungen einer Person er-achtet werden können, welche irgendwie im Gehirn dieser Person verankert sind, argumentieren Clark und Chalmers dafür, dass auch extern gespeicherte, aber leicht abrufbare Informationen wie beispielsweise Einträge in Notizbüchern als Überzeugungen gewertet werden sollten – selbst dann, wenn unser aktueller Be-griff einer Überzeugung dies nicht hergibt. Ihrem Argument nach erhalten wir durch eine Erweiterung unseres Überzeugungsbegriffes auf manche ‚extern‘ ge-speicherte Informationen eine nützlichere und explanatorisch relevantere Kate-gorie (ebd., 14). Ihr Vorschlag kann daher so gedeutet werden, dass unser üblicher Begriff einer Überzeugung im Vergleich mit dem von ihnen entwickelten episte-misch defizitär ist. Moralische Defekte

Als Beispiel für moralisch defizitäre Begriffe kann eine jüngst in den Vereinig-ten Staaten, aber auch in anderen Ländern geführte öffentliche Debatte über die gleichgeschlechtliche Ehe dienen. Der Fall ist einigermaßen komplex, da sich hier juristische, historische und begriffliche Aspekte miteinander vermengen. Es ist je-doch bemerkenswert, dass sich Parteien auf beiden Seiten der Debatte explizit auf den Begriff der Ehe und darauf, wie dieser Begriff beschaffen sein sollte, berufen haben. Als Gründe wurden dafür häufig moralische bzw. ethische Überlegungen ins Feld geführt. So antwortete etwa der konservative Politiker Rick Santorum auf die Frage, warum er gegen die Einführung einer gleichgeschlechtlichen Ehe sei: „Weil es die Definition eines intrinsischen Elements der Gesellschaft auf eine Weise verändert, die die Bedeutung dieser Bindung für die Gesellschaft herab-setzt“ (Ludlow 2014, 23)6. Sicherlich geht Santorum auch davon aus, dass unser Ehebegriff tatsächlich nur auf heterosexuelle Paare anwendbar ist. Darüber hinaus scheint er aber zu glauben, dass dies auch so sein sollte. Es ist genau dieser zweite Aspekt, den der amerikanische Philosoph Mercier in diesem Kontext anzweifelt: „Selbst wenn es wahr wäre, dass sich das Wort ‚Ehe‘ in der Vergangenheit nur auf Paare von Männern und Frauen bezogen hat, würde das in keiner Weise ein […] Argument dafür liefern, dass sich das Wort ‚Ehe‘ nicht auf andere Paare als Män-ner und Frauen beziehen kann“ (ebd.). Angesichts der Tatsache, dass sich Bedeu-tungen im Laufe der Zeit ändern können, sei die wirklich wichtige Frage nicht, was die aktuelle Bedeutung von ‚Ehe‘ sei, sondern vielmehr, welche Bedeutung wir diesem Wort in Zukunft geben sollten . Da es aus Merciers Sicht starke moralische Gründe dafür gibt, gleichgeschlechtlichen Paaren den gleichen Rechtsschutz und die gleiche Anerkennung zuteilwerden zu lassen, sollten wir unseren defizitären Ehebegriff entsprechend revidieren.7

Diese Beispiele liefern nur einen kleinen Ausschnitt der immensen Vielfalt an philosophischen sowie öffentlichen Diskussionen darüber, wie wir bestimmte Be-griffe gebrauchen sollten. Die philosophischen Diskussionen über unsere Begriffe von Gender (z. B. Haslanger 2000; Jenkins 2016), von Race (z. B. Haslanger 2000), von sexueller Orientierung (Dembroff 2016), Kausalität (Woodward 2003), Por- nographie (Kania 2012), moralischer Verantwortung (Holroyd 2018), Bewusstsein (Block 1995), Misogynie (Manne 2017) und epistemischen Normen (Simion 2019) liefern weitere Beispiele. Die Begründungen für diese Vorschläge variieren im Einzelfall stark. Gemeinsam ist ihnen jedoch die Beobachtung, dass bestimmte, für unser Selbstverständnis oder das Aufstellen von erklärungsstarken Theorien relevante Begriffe auf problematische Weise defizitär sind und dass wir sie daher austauschen oder umgestalten sollten. Es ist an dieser Stelle wichtig zu betonen, dass die Stichhaltigkeit der im Einzelnen vorgebrachten Argumente für den all-gemeineren Punkt, um den es mir hier geht, kaum relevant ist. Selbst wenn bei-spielsweise Clark, Chalmers, Haslanger und Manne falsch liegen, so zeigt die obi-ge Diskussion dennoch die grundsätzliche Möglichkeit defizitärer Begriffe und ihrer negativen Auswirkungen.

Während es beim vorangegangenen Argument darum ging, problematische be-griffliche Defekte zu reparieren, geht es beim Fine-Tuning- Argument stattdessen darum, Begriffe im Hinblick auf bestimmte theoretische Ziele zu präzisieren. Rudolf Carnaps Unterscheidung zwischen wissenschaftlichen Problemen und Explikationen liefert einen guten Ausgangspunkt für diese Überlegung (Carnap 1950, 3f.). Wissenschaftliche Probleme sind laut Carnap so formuliert, dass sie durch eine Kombination aus empirischer und logischer Forschung eindeutig ge-löst werden können. Damit dies möglich ist, müssen die zur Formulierung des Problems verwendeten Begriffe exakt und der Sache dienlich sein. Wenn diese Voraussetzung nicht erfüllt ist, müssen Wissenschaftler:innen die relevanten Be-griffe zunächst ‚explizieren‘. Vor diesem Hintergrund kann das folgende Argu-ment für Conceptual Engineering formuliert werden: Das Fine-Tuning-Argument

1. Die genaue Untersuchung alltäglicher Phänomene wirft regelmäßig eine Viel-zahl von logischen, wissenschaftlichen und philosophischen Problemen auf.

2. Viele unserer Alltagsbegriffe sind jedoch nicht exakt genug, um diese Probleme auf eine präzise Weise zu formulieren und zu lösen.

3. Also müssen wir unsere Alltagsbegriffe zunächst im Lichte unserer logischen, wissenschaftlichen und philosophischen Zielsetzungen prüfen und gegebenen-falls präzisieren.

Anders als das skeptische Argument basiert das Fine-Tuning-Argument nicht auf der Beobachtung, dass unsere Alltagsbegriffe per se defizitär sind. Ganz im Gegen-teil ist das Argument vollständig kompatibel mit der Annahme, dass diese Begriffe für die alltäglichen Zwecke, denen sie meistens dienen, geradezu perfekt sind. An-lass zur Explikation gibt es lediglich dann, wenn wir unsere alltäglichen Kontexte

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zugunsten einer streng wissenschaftlichen (logischen, philosophischen) Untersu-chung überschreiten.8

Carnap nennt den in (3.) angesprochenen Prozess der Präzisierung alltäglicher Begriffe eine Explikation :

Carnap nennt insgesamt vier Kriterien für gelungene Explikationen bzw. für die durch sie zu erreichenden Explicata: Ähnlichkeit zum Explicatum , Exaktheit , Fruchtbarkeit und Einfachheit . Die Ähnlichkeit zwischen Explicandum und Ex-plicatum ist wichtig, damit der ursprüngliche Gegenstand der Untersuchung nicht verloren geht. Exaktheit ist wichtig, damit das durch das Explicatum formulierte Problem einer rigorosen wissenschaftlichen, logischen oder philosophischen Ana-lyse standhält. Unter ‚Fruchtbarkeit‘ versteht Carnap das Potential, mithilfe des Explicatums möglichst viele allgemeine empirische Gesetzmäßigkeiten oder lo-gische Theoreme formulieren zu können (ebd., 7). Einfachheit spielt laut Carnap eine nachgeordnete Rolle. Dieses Kriterium sagt lediglich, dass ein Explicatum nicht unnötig kompliziert sein sollte.

Sowohl Carnaps grundsätzliche Idee der Explikation, sowie auch die soeben ge-nannten Kriterien spielen in der gegenwärtigen Literatur immer noch eine große Rolle. In der von Carnap ausgehenden systematischen (statt exegetischen) Diskus-sion über Explikationen erfahren Ähnlichkeit und Fruchtbarkeit dabei die meiste Beachtung. Exaktheit hingegen, so eine weit verbreitete Auffassung, sollte weni-ger als ein eigenständiges Kriterium, sondern eher als ein Aspekt von Fruchtbar-keit verstanden werden (vgl. Shepherd und Justus 2015, 388). Auch scheint vieles für ein liberaleres Verständnis von Fruchtbarkeit zu sprechen, schließlich geht es nicht in allen theoretischen Untersuchungen um das Aufstellen von empirischen Gesetzmäßigkeiten oder logischen Theoremen. Einem Vorschlag von Mark Pinder (2020a) zufolge sollte Fruchtbarkeit stattdessen relativ zu den in einer Untersu-chung vorherrschenden theoretischen Zielen bemessen werden. Die von Carnap propagierte Ähnlichkeit zwischen Explicandum und Explicatum hat sich unter-dessen zu einer der meist diskutierten Problemstellungen des Conceptual Enginee- ring entwickelt, was nicht zuletzt einem sehr einflussreichen Einwand von Peter Strawson geschuldet ist (Strawson 1963). Diesem Einwand zufolge befähigen uns Explikationen nicht, wie Carnap behauptet, auf eine präzisere und fruchtbarere Weise über ein Thema zu sprechen, sondern wechseln einfach das Thema.9

Das skeptische Argument wie auch das Fine-Tuning-Argument liefern uns Gründe, unsere Begriffe kritisch zu prüfen – entweder, um gravierende begriff-liche Defekte aufzudecken, oder um sie unseren theoretischen Zielen anzupassen. Die beiden Argumente sind kompatibel. Von einer gewissen Warte aus betrachtet sind es sogar zwei Formulierungen ein und desselben Argumentes, denn natürlich kann der Defekt des einen auch als der Vorteil des anderen Begriffes beschrieben werden (und umgekehrt). Dennoch haben diese beiden Argumente de facto unter-schiedliche Zugänge zu Conceptual Engineering begründet, welche nun erst nach und nach miteinander in Verbindung gebracht werden (vgl. Dutlih Novaes 2020).

3 Ist Conceptual Engineering neu?

Wer mir bis hierher gefolgt ist, dem liegt vielleicht folgender Einwand auf den Lippen: Zugegeben, Conceptual Engineering ist sinnvoll. Aber ist es wirklich so neu? Haben Philosoph:innen nicht immer schon ein kritisches Auge auf unsere Begriffe geworfen und, wenn nötig, neue entworfen? Handelt es sich bei ‚ Concep- tual Engineering ‘ also nur um ein trendiges Label für eine schon längst akzeptierte Selbstverständlichkeit?

Zweifellos beinhaltet die Philosophiegeschichte bereits ein reichhaltiges Ange-bot an Forderungen, unsere Begriffe kritisch zu prüfen oder gar umzugestalten. Ein sehr prominentes Beispiel dafür liefert ein Aphorismus Nietzsches, welcher als ein direktes Plädoyer für den Repräsentationsskeptizismus gelesen werden kann:Auch die vergleichsweise junge analytische Philosophietradition weist derartige Hinweise auf, wie wir oben bereits am Beispiel Carnaps gesehen haben. Dennoch lässt sich mit einigem Recht behaupten, dass es niemals zuvor ein so reges Interes-se an der metaphilosophischen Theoriebildung über Conceptual Engineering ge-geben hat wie heute und dass dadurch eine vorher nie dagewesene Systematik und Tiefe in die Debatte gekommen ist. Einige der zentralen Elemente dieser Debatte werden wir noch genauer beleuchten. Wie ist dieses plötzliche Interesse an Con- ceptual Engineering zu erklären?

Ein wichtiger Faktor hierbei ist sicherlich das seit einigen Jahren zunehmend in die Kritik geratene Paradigma der Begriffsanalyse. Diesem für lange Zeit do-minanten Paradigma zufolge besteht die Aufgabe von Philosoph:innen zu einem wesentlichen Teil aus der überwiegend deskriptiven Analyse bestimmter philo-sophisch relevanter Begriffe wie Wissen , Wahrheit , Gerechtigkeit , oder Willens- freiheit . Einem weitläufigen Verständnis zufolge basieren solche Begriffsanalysen auf der Methode der Fälle – einer Methode, bei welcher die Voraussagen einer vorläufigen Begriffsanalyse in Bezug auf hypothetische Fälle mit unseren intui-

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tiven Urteilen über diese Fälle abgeglichen werden.10 Wird eine Diskrepanz zwi-schen unseren intuitiven Urteilen und den Voraussagen der Analyse beobachtet, so wird dies zum Anlass genommen, die in Frage stehende Analyse zu revidieren. Dieses in der analytischen Philosophie lange vorherrschende Paradigma ist nun zugleich aus mehreren Richtungen ins Visier scharfer Kritik geraten. Zum einen fußt die Begriffsanalyse auf einer mittlerweile überkommenen Vorstellung davon, was Begriffe sind. Abgesehen davon, dass die Erfolgsaussichten der Begriffsana-lyse davon abhängen, scheint wenig dafür zu sprechen, dass sich Begriffe sauber in jeweils notwendige und gemeinsam hinreichende Bedingungen zergliedern las-sen. Zudem basiert die Methode der Fälle auf der Voraussetzung, dass Menschen über verschiedene Zeiten, Bevölkerungsgruppen und Kontexte hinweg stabile In-tuitionen über Gedankenexperimente haben – schließlich wollen Philosoph:innen keine Analysen aufstellen, welche nur im Jahre 2021 oder nur unter weißen Män-nern über 50 Bedeutung haben. Eine Vielzahl der in den letzten zwei Jahrzehnten durchgeführten Studien scheint aber zu zeigen, dass genau dies der Fall ist. Welche Intuitionen wir über bestimmte Gedankenexperimente haben, hängt häufig von unserem soziokulturellen Hintergrund (vgl. Machery et al. 2004; Beebee und Un-dercoffer 2015, 2016; Sytsma et al. 2015), der Reihenfolge der Präsentation (vgl. Liao et al. 2012), oder vererbbaren Persönlichkeitsmerkmalen (vgl. Feltz und Co-kely 2009), kurzum: von der Sache nach vollkommen irrelevanten Faktoren ab.11Bis heute tun sich analytische Philosoph:innen schwer damit, überzeugende Ant-worten auf diese gravierenden Einwände zu formulieren (vgl. Horvath und Koch 2021).

Vor diesem Hintergrund erscheint Conceptual Engineering vielen als ein längst überfälliger Perspektivwechsel, welcher zugleich das Potential bietet, der Philo-sophie aus ihrer methodischen Krise zu verhelfen. Denn so zentral intuitive Fall-urteile für die Begriffsanalyse sind, so unbedeutend sind sie für das Conceptual Engineering . Die Korrektheitsbedingungen, welche Intuitionen im Kontext der Begriffsanalyse darstellen, werden im Kontext von Conceptual Engineering von normativen Gesichtspunkten übernommen (vgl. Nado 2019). Zugleich scheint die Idee des Conceptual Engineering der Philosophie einen wichtigen und von anderen Disziplinen einigermaßen klar abzugrenzenden Bereich zu überlassen. Dieser As-pekt unterscheidet Conceptual Engineering von manchen naturalistischen Alter-nativen zur Begriffsanalyse (vgl. z. B. Kornblith 2002, Machery 2017). So erscheint Conceptual Engineering vielen als sehr willkommene Alternative zur inzwischen fast schon tot geglaubten Begriffsanalyse.12

4 Worum geht es beim Conceptual Engineering ?

Wenden wir uns nun einigen der mehr philosophischen Fragestellungen rund um Conceptual Engineering zu. Eine erste und sehr grundlegende Frage betrifft die ‚Objekte‘ des Conceptual Engineering . Was wird beim Conceptual Engineering ‚en-gineered‘? Die Frage mag trivial erscheinen. Ist es nicht eindeutig, dass es dabei um Begriffe ( concepts ), geht? Die Terminologie sowie meine bisherige Beschreibung des Projektes scheint dies nahe zu legen. Tatsächlich ist die Frage nach den Objek-ten des Conceptual Engineering aber gar nicht so leicht zu beantworten und aktuell Gegenstand einer kontroversen Debatte. Ein Grund dafür ist sicherlich, dass der Ausdruck ‚Begriff‘ selbst notorisch vieldeutig und unpräzise ist. Unterschiedliche philosophische und kognitionswissenschaftliche Subdisziplinen verstehen unter Begriffen sehr unterschiedliche Dinge (vgl. Löhr 2020, Machery 2009). Ein zweiter Grund ist aber, dass nicht mal Einigkeit darüber herrscht, ob es beim Conceptual Engineering überhaupt um Begriffe geht.

Die laufende Debatte über dieses Thema nimmt ihren Ausgangspunkt in Her-man Cappelens Fixing Language (2018), dessen Einleitung die folgende provokan-te Bemerkung enthält: „Es ist wichtig, dass dieser Name [‚ conceptual engineering ‘] nicht als Beschreibung aufgefasst wird: Von dem Standpunkt, den ich in diesem Buch vertrete, geht es bei dem Projekt nicht um Begriffe und es wird auch nicht wirklich etwas ‚engineered‘“ (4). Cappelen zufolge wird der Ausdruck ‚Begriffe‘ auf derart unterschiedliche Weisen verwendet, dass er insgesamt mehr Verwir-rung als Klarheit stiftet. Zudem sind alle expliziten Theorien darüber, was Begriffe sind, äußerst kontrovers. Cappelen möchte zeigen, dass sowohl die Prozesse wie auch die üblichen Ziele des Conceptual Engineering vollständig ohne kontroverse Annahmen dieser Art beschrieben werden können. Doch wenn es nicht um Be-griffe geht, worum dann?

Cappelens Antwort lautet: um die Bedeutungen von Wörtern – oder genauer: um deren Intensionen und Extensionen. Dabei versteht Cappelen die Extension eines Ausdrucks als die Menge von Einzeldingen, auf die dieser Ausdruck zutrifft; die Intension ist dann eine Funktion von möglichen Welten (oder Situationen) auf Extensionen. Ein Beispiel: In der Extension von ‚Kuh‘ sind alle Kühe dieser Welt. Die Intension von ‚Kuh‘ liefert für jede mögliche Welt w alle sich in w befindlichen Kühe, also die Extension von ‚Kuh‘ relativ zu w . Conceptual Engineering kann dann als das Projekt verstanden werden, Veränderungen von Extensionen durch Ver-änderungen von Intensionen herbeizuführen.13 Darüber hinaus vertritt Cappelen eine radikale Form des semantischen Externalismus, also der Idee, dass Wortbe-deutungen nicht ausschließlich von den mentalen Zuständen von Sprecher:innen, sondern von einem komplexen Gebilde von allerhand unterschiedlichen, teilweise externen Faktoren abhängen. Aus dem semantischen Externalismus folgt, dass Wortbedeutungen über Sprecher:innen einer Sprache hinweg relativ stabil sind und außerdem, dass sich Individuen über die Bedeutungen der von ihnen ver-wendeten Wörter täuschen können. Berücksichtigt man diese zusätzlichen An-nahmen, so kann Conceptual Engineering als der Versuch verstanden werden, die stabilen und für alle verbindlichen Bedeutungen von Ausdrücken – deren Inten-sionen und Extensionen – in einer Sprache zu verändern.

So plausibel dieses Bild vielen erscheinen mag, hat es dennoch einige Schwach-stellen. Eine offensichtliche Schwachstelle ist, dass es in diesem Bild keinen Platz für nicht-versprachlichtes Denken gibt. Den Begriffsingenieur:innen geht es in der Regel nicht nur um die Bedeutung von Sprache, sondern auch um die mentalen Repräsentationen, derer wir uns in unserem Nachdenken über die Welt bedienen. Kurz gesagt: Wir sollen nicht nur besser sprechen, wir sollen vor allem auch bes-ser denken . Da Cappelen diesen wichtigen Aspekt unterschlägt, ist das von ihm skizzierte Bild allenfalls unvollständig (was natürlich nicht heißt, dass es nicht entsprechend erweitert werden könnte).

Ein weiteres Problem ist, dass Cappelens Sichtweise in vielen Fällen zu an- spruchsvolle Bedingungen an erfolgreiches Conceptual Engineering stellt. Die für alle verbindlichen Bedeutungen von Wörtern in einer Sprache zu modifizieren ist, gelinde gesagt, schwierig. Das kontrastiert mit der Beobachtung, dass viele For-men des Conceptual Engineering sehr einfach sind. Als Philosoph:innen sind wir es gewohnt, in unseren Artikeln und Büchern wichtige von uns gebrauchte Aus-drücke zu definieren – häufig auf Weisen, die zumindest leicht von den alltägli-chen Bedeutungen dieser Ausdrücke abweichen. Wir kommunizieren damit, was wir im Folgenden mit diesem Ausdruck meinen. Ein solcher Vorgang ist dann erfolgreich, wenn wir uns einigermaßen klar ausgedrückt haben, den Ausdruck im Folgenden auch tatsächlich gemäß der Definition verwenden und dabei von unseren Leser:innen verstanden werden. Natürlich führt diese Tätigkeit keines-wegs dazu, dass sich die generelle Bedeutung des von uns definierten Ausdrucks in einer für alle verbindlichen Weise verändert – aber das scheint auch gar nicht nötig zu sein.

Mark Pinder (2021) nimmt diese und ähnliche Überlegungen zum Ausgangs-punkt einer alternativen Sicht auf Conceptual Engineering , der zufolge dieses nicht auf Wortbedeutungen im engeren Sinne, sondern lediglich auf Sprecher- Bedeutungen abzielt. Im Gegensatz zu Wortbedeutungen sind Sprecher-Bedeu-tungen nicht stabil, denn ihre Träger sind nicht Wörter, sondern Sprechakte. Die Sprecher-Bedeutung eines Sprechakts ist, grob gesagt, das, was jemand mit einem Sprechakt zu kommunizieren beabsichtigt. Wortbedeutung und Spre-cher-Bedeutung gehen oft auseinander. Pinder (2021) nennt das Beispiel von Sophie, die an einem trüben und regnerischen Tag die Vorhänge öffnet und in ironischem Ton ausruft: „Wieder so ein wunderbarer Tag!“. Was Sophie meint , ist, dass das Wetter schon wieder schlecht ist; die wörtliche Bedeutung ihrer Aussage ist hingegen, dass es ein weiterer wunderbarer Tag ist. Pinder zufol-ge besteht Conceptual Engineering häufig einfach darin, festzulegen, was wir in einem bestimmten Kontext mit einem Ausdruck meinen, dafür gute Gründe zu liefern und evtl. zu propagieren, dass auch andere den Ausdruck auf diese Weise verwenden sollten.

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Ein anderes Problem mit Cappelens Sichtweise ist, dass sie häufig die falschen Bedingungen für erfolgreiches Conceptual Engineering liefert. Laut Cappelen ist Conceptual Engineering dann erfolgreich, wenn sich die Bedeutung eines Wortes innerhalb einer Sprache dem Vorschlag entsprechend verändert. Weil Cappelen zudem radikaler Externalist ist, glaubt er, dass solche Veränderungen zu einem Gutteil unabhängig von den Überzeugungen, den Intentionen und dem Wort-gebrauch einzelner und sogar großer Gruppen vonstattengehen (Cappelen 2018, 63). Doch wenn Wortbedeutungen und die Einstellungen von Menschen derart weit auseinanderklaffen, dann stellt sich die Frage, warum es beim Conceptual Engineering überhaupt (ausschließlich) um erstere und nicht vielmehr um letztere gehen sollte. Was nützt es uns, Wortbedeutungen zu verändern, wenn nicht ga-rantiert ist, dass sich dies auch im Sprech- und sonstigen Verhalten von Menschen niederschlägt? (vgl. Koch 2021c; Riggs 2019)? Eine derartige Kritik könnte als Aus-gangspunkt einer Theorie von Conceptual Engineering dienen, welcher vorranging an den psychologischen Profilen von Menschen, anstatt an Wortbedeutungen, gelegen ist. Vorschläge dieser Art stützen sich manchmal auf einen in den Kog-nitionswissenschaften geläufigen Begriff von Begriffen (vgl. Isaac 2020; Machery 2017).14

Meiner eigenen Auffassung nach krankt die aktuelle Debatte an ihrem eigenen Anspruch, eine ‚one size fits all‘ Antwort auf die Frage nach den Zielobjekten von Conceptual Engineering -Projekten ausmachen zu wollen. Denn tatsächlich un-terscheiden sich solche Projekte im Einzelnen stark voneinander. Kevin Scharps Vorschlag, unseren Wahrheitsbegriff zugunsten einer konsistenten Semantik der Wahrheitsbedingungen durch das Begriffspaar aufsteigende Wahrheit und abstei- gende Wahrheit zu ersetzen, ist ganz anderer Art, als die durch soziale Bewegun-gen gestützten Vorschläge, unsere Begriffe für soziale Gruppen und Institutionen zu revidieren. Für Kevin Scharps Zwecke ist es vollkommen ausreichend, wenn die von ihm aufgestellten Definitionen von einer verhältnismäßig kleinen Grup-pe aus Logiker:innen, Philosoph:innen und (manchen) Linguist:innen verwendet werden. Es ist unplausibel anzunehmen, dass derartigen Projekten daran gelegen ist, die allgemeine Bedeutung von Ausdrücken in unserer Sprache zu verändern. Solche Projekte sind besser durch Pinders Sprecher-Bedeutungen beschrieben. Bei Conceptual Engineering -Projekten, denen an gesellschaftlichem Wandel ge-legen ist, mag dies anders sein. Hier geht es stärker um die tieferen psycholo-gischen Profile von Menschen (unsere Begriffe im psychologischen Sinn), sowie die Konventionen und Normen, die unserer Alltagssprache unterliegen und die auf komplizierte Weise zu den Bedeutungen von Ausdrücken in dieser Sprache beitragen.15 Im Kontext solcher Projekte gewinnt auch Cappelens Ansatz an Plau-sibilität, denn schließlich sind Wortbedeutungen maßgeblich für die Wahrheits-bedingungen von Sätzen, die zu ändern manchmal ein gesamtgesellschaftliches Ziel ist.

5 Ist Conceptual Engineering praktisch umsetzbar?

Ein weiterer viel beachteter Themenkomplex betrifft die Frage, inwiefern Con- ceptual Engineering möglich bzw. praktisch durchführbar ist. Um zu verstehen, welche Überlegungen hinter dieser Frage stehen, muss zunächst eine Unterschei-dung zwischen drei Phasen des Conceptual Engineering eingeführt werden. Die erste Phase besteht aus der kritischen Evaluation von Begriffen, entweder in Bezug auf deren allgemeine Eigenschaften oder im Hinblick auf bestimmte epistemische oder moralische Ziele. In einer zweiten Phase werden dann, insofern die vorange-gangene Evaluation negativ ausgefallen ist, Modifikationen der in Frage stehenden Begriffe entwickelt. Diese beiden Phasen bedienen sich üblicher philosophischer Argumentationsmethoden evtl. erweitert durch experimentelle Studien (vgl. §6). Die dritte hingegen verlangt etwas grundsätzlich Anderes, nämlich dass das in Phase 2 erreichte Ergebnis nun auch praktisch implementiert wird. Abhängig davon, worin genau dieses Ergebnis besteht (ein neuer Begriff, eine veränderte Sprecher-Bedeutung etc.), kann sich die praktische Implementierung als äußerst schwierig erweisen  – in den Augen mancher sogar als unmöglich. Gleichzeitig aber scheint die Möglichkeit der praktischen Umsetzung von Conceptual Engi- neering -Projekten einen essentiellen Bestandteil ihres Wertes auszumachen. Was würde es beispielsweise nützen, zu wissen, welche Bedeutungen unsere Wörter idealerweise haben sollten, wenn es nicht möglich wäre, die tatsächlichen Bedeu-tungen unserer Wörter auch dahingehend zu verändern?

Tatsächlich scheinen unsere Möglichkeiten, Einfluss auf Wortbedeutungen zu nehmen, insgesamt begrenzt. Das wird insbesondere vor dem Hintergrund des se-mantischen Externalismus einsichtig, dem zufolge Wortbedeutungen das Resultat eines komplizierten Gefüges aus kausalen Geschichten (vgl. Kripke 1980), essenti-ellen Eigenschaften (Putnam 1975, Kripke 1980), sozialen Strukturen (Burge 1979) und weiterer Elemente sind. Diese Dinge scheinen zu einem Großteil außerhalb unseres direkten Zugriffs zu liegen. Gleichzeitig aber sind genau diese die Stell-schrauben, an denen Begriffsingenieur:innen zur erfolgreichen Veränderung von Wortbedeutungen drehen müssen. Das lässt ernsthaften Zweifel an der Durch-führbarkeit von Conceptual Engineering aufkommen. So schreibt etwa Cappelen, eigentlich ein Befürworter von Conceptual Engineering : „Der Prozess des Concep- tual Engineering wird von Faktoren bestimmt, die nicht in unserem Einflussbe-reich liegen: Kein Individuum und keine Gruppe von uns hat einen signifikanten Grad an Kontrolle darüber, wie Bedeutungswandel geschieht“ (Cappelen 2018, 73). Max Deutsch äußert eine ähnliche Kritik:

Grundsätzlich gibt es drei Möglichkeiten, auf das Implementierungsproblem zu antworten. Die erste besteht darin, zu argumentieren, dass die tatsächliche Imple-mentierung von Conceptual Engineering -Vorschlägen nicht essentiell für den Wert dieser Vorschläge ist. Wäre dies der Fall, dann würde aus der Beobachtung, dass wir kaum Kontrolle über die Bedeutungen unserer Wörter haben, nicht folgen, dass wir diese nicht dennoch kritisch evaluieren und gegebenenfalls bessere vor-schlagen sollten (vgl. Cappelen 2018). Diese Antwort wäre dann plausibel, wenn es sich beim Conceptual Engineering um eine rein intellektuelle Tätigkeit handelte, welcher es einzig und allein um das Ausloten begrifflicher Alternativen ginge. Dies ist jedoch klarer Weise nicht der Fall. Tatsächlich ist Conceptual Engineering ein

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Mittel zu Erreichung bestimmter, häufig praktischer Ziele, wie der Präzisierung unserer Schlussfolgerungen oder der Herstellung von sozialer Gerechtigkeit. Sol-che Ziele können durch Conceptual Engineering nur dann erreicht werden, wenn die Vorschläge der Begriffsingenieur:innen auch einen praktischen Niederschlag finden (vgl. Koch 2021a).

Eine zweite Strategie besteht darin, die Möglichkeiten der Einflussnahme auf Wortbedeutungen vor dem Hintergrund einer unabhängig plausibel gemachten Metasemantik (einer Theorie darüber, welche Faktoren Wortbedeutungen be-stimmen) neu zu evaluieren. Contra Cappelen und Deutsch bin ich der Auffas-sung, dass plausible Varianten des semantischen Externalismus Bedeutungsver-änderungen nicht nur zulassen, sondern auch praktisch implementierbar machen (Koch 2021a, 2021b). Beispiele dafür liefern die Theorien von Gareth Evans (1973) und Michael Devitt (1981), denen zufolge die Referenz eines Ausdrucks durch die dominante kausale Quelle derjenigen mentalen Zustände festgelegt wird, die uns zur Anwendung dieses Ausdruck disponieren. Da sich die Dominanzverhält-nisse solcher kausaler Quellen über die Zeit hinweg verschieben können, kann sich folglich auch die Referenz eines Ausdrucks verändern – und das sogar ohne dass irgendwer dies explizit wahrnimmt.16 Ansätze dieser Art implizieren, dass Gebrauch über Sprachgemeinschaft und Zeit hinweg bedeutungsbestimmend ist. Diesen Zusammenhang können wir uns bei der Implementierung von Conceptual Engineering -Projekten zunutze machen. Zwar besitzt laut dieser Theorie kein In-dividuum eine unmittelbare Kontrolle über Wortbedeutungen; doch wir als Kol-lektiv besitzen immerhin eine langfristige derartige Kontrolle. In dieser Hinsicht ist Conceptual Engineering vollkommen analog zu vielen anderen sozialen oder politischen Prozessen. Insofern es beim Conceptual Engineering um die Herbei-führung gesellschaftlicher Veränderungen geht (was längst nicht auf alle Concep- tual Engineering -Projekte zutrifft), sollte es zudem kaum überraschen, dass dafür ein längerfristiges gesellschaftliches Handeln erforderlich ist.17

Die dritte Strategie besteht schlussendlich darin, die Erfolgsbedingungen von Conceptual Engineering so weit herunter zu schrauben, dass diese einigermaßen leicht auch auf einer individuellen Ebene erfüllt werden können. Wir haben oben bereits Pinders diesbezüglichen Vorschlag diskutiert (vgl. Pinder 2021). Insofern es beim Conceptual Engineering einfach um die Stipulation und anschließende Verwendung von Sprecher-Bedeutungen geht, stellt sich kein Implementierungs-problem.18 Natürlich können uns Definitionsfehler unterlaufen, oder wir können gelegentlich vergessen, der von uns aufgestellten Definition auch tatsächlich zu folgen. Doch diese generelle Fehleranfälligkeit reicht kaum aus, um ein Imple-mentierungsproblem für Conceptual Engineering zu begründen. Pinders Strategie gelingt es somit, das Implementierungsproblem für lokale Varianten des Con- ceptual Engineering zu umschiffen. Zu beachten ist jedoch, dass dieses Problem zurückkehrt, sobald der lokale Anspruch in Richtung einer breiteren Öffentlich-keitswirksamkeit überschritten wird. Mag es vergleichsweise einfach sein, sich selbst und einige Leser:innen zu instruieren, einen bestimmten Ausdruck auf eine bestimmte Weise zu verwenden bzw. zu interpretieren, wird es sich als äußerst schwierig erweisen, dies für ganze Sprachgemeinschaften zu leisten. Ganz ähnlich sieht es mit den oben erwähnten psychologischen Aspekten von Conceptual Engi- neering aus: Die tief verwurzelten mentalen Profile, welche unseren Urteilen und Schlussfolgerungen unterliegen, zu verändern, mag im Einzelfall gelingen; doch dieses Ziel für eine große Mehrheit unserer Gesellschaft zu leisten ist eine Herku-lesaufgabe – wenngleich es selbstverständlich möglich ist, wie der generelle Erfolg von Bildungssystemen und Pädagogik beweist. Hier sollten die Möglichkeiten an Einflussnahme für Philosoph:innen nicht überschätzt werden.

6 Conceptual Engineering und Philosophie

Nachdem nun einige der wichtigsten Streitpunkte der Debatte um Conceptual En- gineering beleuchtet wurden, möchte ich mich abschließend der Frage zuwenden, welchen Platz Conceptual Engineering in der Philosophie zukommen sollte und wie das Verhältnis zwischen dieser und anderen philosophischen Methoden zu bewerten ist. Ich konzentriere mich dabei auf die analytische Philosophietradition.

Einige Befürworter von Conceptual Engineering sehen darin eine radikale Neu-erfindung der Philosophie selbst. Matti Eklund schreibt etwa, Philosophie solle ihrem Wesen nach als Conceptual Engineering verstanden werden – als die Suche nach den bestmöglichen Begriffen (Eklund 2015, 364). Herman Cappelen dekla-riert bereits das Ende der rein deskriptiven Philosophie, wenn er schreibt, diese müsse zugunsten von Conceptual Engineering aufgegeben werden (Cappelen 2018, 47). Was ist von solchen weitreichenden Behauptungen zu halten?

Zunächst einmal ist es in diesem Zusammenhang wichtig, das Verhältnis von Conceptual Engineering und anderen philosophischen Herangehensweisen zu klä-ren. Dabei zeigt sich schnell, dass hier oft keine eigentliche Konkurrenz herrscht. Conceptual Engineering und die Begriffsanalyse sind philosophische Methoden, die unterschiedlichen Zielen dienen. Während es bei der Begriffsanalyse um die Frage geht, wie unser Begriff von X tatsächlich beschaffen ist, geht es beim Con- ceptual Engineering darum, wie unser Begriff von X beschaffen sein sollte. Auf den ersten Blick gibt es keinerlei Grund, Fragen nach dem Ist-Zustand unserer Begriffe durch Fragen nach deren Soll-Zustand zu ersetzen. Wie unsere Begrif-fe tatsächlich beschaffen sind und wie sie in Anbetracht bestimmter moralischer, epistemischer oder semantischer Überlegungen beschaffen sein sollten, scheinen gleichermaßen wichtige Fragen zu sein, welche zudem problemlos gleichzeitig ver-folgt werden können. Schließlich fordern wir auch nicht, dass die Soziologie von der Moralphilosophie abgelöst wird.

Tatsächlich lässt sich sogar noch die stärkere These vertreten, dass Conceptual Engineering und zumindest eine gewisse Form der Begriffsanalyse auf eine un-zertrennliche Weise miteinander verschränkt sind. Sofern Conceptual Enginee- ring mit der kritischen Prüfung unserer Begriffe beginnt, scheint dieses Vorgehen auf eine gründliche Bestandsaufnahme eben dieser Begriffe angewiesen zu sein (wenngleich dies nicht zwangsläufig in Form einer Auflistung von notwendigen und hinreichenden Bedingungen geschehen muss). Das gilt sowohl in prozedu- raler wie auch in legitimatorischer Hinsicht. Zum einen wissen wir ohne eine eingehende Analyse des Begriffes von X nicht, in welcher Hinsicht X defizitär ist (skeptisches Argument) oder präzisiert werden muss ( Fine-Tuning -Argument); zum anderen kann sich aber auch die Rechtfertigung einer Intervention in unser

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begriffliches Repertoire – zumindest insofern dies mehr als nur das Individuum betrifft – nur aus einem zuvor festgestellten und glaubhaft begründeten Mangel unserer Begriffe speisen. Vor diesem Hintergrund erscheint Conceptual Engiene- ring also nicht wirklich als eine Alternative zur Begriffsanalyse, sondern vielmehr als ein zusätzlicher Schritt (vgl. Koch 2019).

Auch Befürworter der Begriffsanalyse täten gut daran, zumindest eine modera-te Form des Conceptual Engineering in ihre methodischen Baukästen aufzuneh-men (insofern sie dies nicht ohnehin schon tun). Das kann in konkreten Kontex-ten verschiedene Formen annehmen. Zum einen könnten wir in eine Situation geraten, in welcher das Analysandum selbst durch unsere deskriptive Datenla-ge – philosophische Intuitionen, experimentelle Studien, theoretische Vorannah-men – unterbestimmt ist. In solchen Fällen haben wir kaum eine andere Wahl, als auch normative Gesichtspunkte in die Analyse miteinzubeziehen. Ein klareres Verständnis dessen, um welche Gesichtspunkte es sich hier handeln könnte und wie diese gegebenenfalls gegeneinander zu gewichten sind, hilft, diesen Teil der Analyse kompetent auszuführen. Alternativ oder zusätzlich dazu kann es auch sein, dass sich andere Begriffe als der Zielbegriff einer vorangehenden Reparatur bzw. eines Fine-Tuning bedürfen, um anschließend zur Analyse des Zielbegriffes zur Verfügung zu stehen.

Beim Conceptual Engineerung geht es um die Arbeit an Begriffen (oder artver-wandten Repräsentationen). Doch nicht alle Philosoph:innen teilen die Auffas-sung, dass es der Philosophie um Begriffe geht bzw. gehen sollte. Hilary Kornblith charakterisiert die häufig als metaphilosophischer Realismus bezeichnete Gegen-position wie folgt:

Folgender Gedanke drängt sich auch: Wenn der metaphilosophische Realismus wahr ist, dann ist die Obsession mit Begriffen, welche die Begriffsanalyse und Conceptual Engineering miteinander teilen, den eigentlichen Zielen der Philoso-

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phie abträglich. Anstatt unsere Begriffe zu analysieren, sie auf mögliche Defekte hin abzuklopfen oder irgendwie zu ‚fine-tunen‘, sollten wir uns einfach auf die Objektebene begeben und Theorien über die Dinge selbst aufstellen. Die richtige Antwort auf das Scheitern der Begriffsanalyse im 20. Jahrhundert ist nicht Con- ceptual Engineering , sondern die längst überfällige Abkehr von Begriffen als den zentralen Untersuchungsgegenständen der Philosophie.

Auch wenn diese Überlegung zunächst plausibel erscheinen mag, so zeigt sich doch schnell, dass sie einer Überprüfung nicht standhält. Denn auch wenn Con- ceptual Engineering eine Form der Begriffsarbeit darstellt, so besteht ihr Wert in aller Regel in dem Beitrag, welchen sie zur Erreichung bestimmter praktischer oder theoretischer, nicht unbedingt begrifflicher Ziele leisten kann. Carnaps Me-thode der Explikation sieht beispielsweise vor, Begriffe so zu explizieren, dass sie für naturwissenschaftliche und logische Forschung nutzbar gemacht werden können. So wenig Begriffe auch das eigentliche Erkenntnisziel naturwissen-schaftlicher Forschung darstellen, so angewiesen ist sie doch auf präzise und sachdienliche Begriffe. Der Fall von Clark und Chalmers’ Argumenten für die Extended-Mind-Hypothese zeigt zudem, dass sich diese Überlegungen problem-los auf die Philosophie übertragen lassen. Ihrem Vorschlag nach sollten wir etwa unseren Begriff der Überzeugung auch auf extern abgespeicherte Informationen ausweiten – nicht deshalb, weil ein solcher Begriff per se besser wäre oder er uns die Analyse anderer Begriffe erleichtert, sondern deshalb, weil wir mit Hilfe die-ses Begriffes bessere Theorien über den menschlichen Geist und die menschli-che Kognition selbst formulieren können. Der Wert von Conceptual Engineering wird also durch die Annahme des metaphilosophischen Realismus keineswegs geschmälert.

Bleibt noch zu erörtern, wie sich Conceptual Engineering zu einer anderen noch jungen Strömung der analytischen Philosophie verhält: der experimentellen Phi-losophie. Die experimentelle Philosophie unternimmt seit ca. zwei Jahrzehnten den Versuch, philosophische Fragen auf der Grundlage psychologischer Experi-mente zu beantworten. Häufig wird die experimentelle Philosophie in ein negati-ves und ein positives Lager aufgeteilt. Anhänger des negativen Lagers nehmen sich zum Ziel, durch etwaige experimentelle Studien aufzuzeigen, dass unsere philo-sophischen Intuitionen auf eine Weise fehleranfällig bzw. instabil sind, welche den Gebrauch dieser Intuitionen grundsätzlich in Frage stellt. Anhänger des positiven

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Lagers hingegen versuchen, unsere philosophische Theoriebildung durch empiri-sche Befunde zu bereichern (vgl. Knobe und Nichols 2017).

Wir haben oben bereits erörtert, dass die vermeintliche Immunität von Concep- tual Engineering gegenüber der Kritik aus dem negativen Lager der experimen-tellen Philosophie ein wesentlicher Faktor für dessen rasanten Aufschwung dar-stellt. Das Verhältnis zwischen den beiden beschränkt sich jedoch nicht auf reine Konsistenz. Tatsächlich drängt sich der Einsatz von experimentellen Methoden zur Durchführung von Conceptual Engineering -Projekten förmlich auf. Das gilt sowohl für solche, denen es um die Diagnose und die Reparatur von begrifflichen Defekten zu tun ist, als auch um das begriffliche Fine-Tuning im Carnapschen Sin-ne.

Experimentelle Methoden können einen wichtigen Beitrag zur Diagnose von begrifflichen Defekten wie Inkonsistenzen oder (bestimmter Formen von) Vagheit leisten (vgl. Koch 2019; Machery 2017). So kann beispielsweise durch Fragebögen geklärt werden, wie viele Menschen miteinander inkonsistenten Anwendungen eines Begriffes zustimmen oder wie stark die Urteile von Menschen in Bezug auf bestimmte Grenzfälle auseinander gehen. Eine solche empirische Überprüfung ist dann besonders wichtig, wenn die Diagnose als Ausgangspunkt einer weitrei-chenden begrifflichen Reform genommen werden soll. Auch das begriffliche Fine- Tuning kann vom Einsatz experimenteller Methoden profitieren. Carnap selbst gibt an, der Explikation eines Begriffes solle die Klärung dieses Begriffes durch paradigmatische Instanzen und Nicht-Instanzen vorangehen und er moniert, dass Philosoph:innen diesem Schritt oft zu wenig Beachtung schenken (Carnap 1950/1971, 4). Die experimentelle Philosophie kann, z. B. durch Rückgriff auf Kor-pusanalyse, wertvolle Daten darüber liefern, welche Instanzen eines Begriffs die Menschen als besonders paradigmatisch ansehen (vgl. Shepherd & Justus 2015). Ein solches Verfahren könnte auch dazu beitragen, eine ausreichende Ähnlichkeit zwischen dem Explicandum und dem Explicatum sicherzustellen (vgl. Schupbach 2017), wie dies von einem der vier Carnapschen Kriterien gefordert ist.

Abschließend lässt sich also sagen, dass die Rhetorik mancher Begriffsingeni-eur:innen, der zufolge Conceptual Engineering so etwas wie ein Neuanfang der Philosophie sei, überzogen ist – zum einen deshalb, weil gewisse Formen des Con- ceptual Engineering in verschiedenen Philosophietraditionen vermutlich schon seit langem betrieben werden, zum anderen, weil die erfolgreiche Durchführung von Conceptual Engineering auf den Einsatz anderer, bereits etablierter philoso-

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phischer Methoden angewiesen ist. Zugleich hat sich gezeigt, dass selbst diejeni-gen Philosoph:innen, denen vordergründig an ganz anderen Zielsetzungen wie der Analyse von Begriffen oder dem Aufstellen objektstufiger Theorien gelegen ist, gut daran täten, Conceptual Engineering in ihren methodischen Baukasten aufzu-nehmen.

Danksagung. Für hilfreiche Kommentare zu früheren Versionen dieses Artikels danke ich Niklas Grouls, Daniel James, Guido Löhr und Laura Martena.

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Intuition als philosophische Methode? Über das Spezifikum des Geistigen

Anne Clausen

1 Einleitung

Philosophiegeschichtlich wurde dem intuitiven Vermögen oftmals eine wesent-lich tiefere und weitreichendere Bedeutung zuerkannt als dies heutzutage der Fall ist. Während Intuitionen in der analytisch geprägten Philosophie der Gegenwart vor allem dazu dienen, die Reichweite von Begriffen oder die Plausibilität ethi-scher Theorien zu prüfen (vgl. Fricker 1995, 187; Pust 2019), steht die Intuition (bzw. intellektuelle Anschauung) bei Autoren wie Descartes, Spinoza, Jacobi und Schelling für ein Erfassen des Ewigen, Unendlichen, das sich durch ein endliches Denken nicht erkennen lässt. Damit schließen diese Autoren an die ursprüng-liche Bedeutung des Begriffs (griech. ἐπιβολή, lat. intuitio, intuitius) in der grie-chischen Antike an, der zufolge die Intuition im Gegensatz zum diskursiven oder symbolischen Erkennen steht (vgl. Kobusch 1976, 524). Der Begriff der Intuition bezeichnet eine Schau, die ihren Gegenstand nicht zerlegt, sondern ihn auf einen Schlag hat (ebd.). So erfasst sie jene ganz einfache (d. h. nicht-zusammengesetzte) Wirklichkeit, die unseren komplexen Begriffen zugrunde liegt und ihnen zugleich inkommensurabel ist (vgl. Bjelke 1972, 553).

Einem solch weitreichenden Verständnis des Intuitiven und dem damit ver-bundenen philosophischen Anspruch gehe ich in diesem Text nach. Ich orientiere mich dabei an dem Denken Henri Bergsons, der die Intuition wie kein anderer Philosoph des 20. Jahrhunderts als zentrales Moment der philosophischen Me-thode thematisiert und damit zugleich sein eigenes Vorgehen reflektiert. Bergson zufolge sind das Leben und der Geist (beide Begriffe haben für ihn die gleiche

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Extension) dem rationalen, diskursiv verfassten Denken nicht zugänglich, son-dern können nur intuitiv erfasst werden. Bergsons Alleinstellungsmerkmal und das besondere Interesse seines Denkens liegt dabei darin, dass er das Geistige von seiner spezifischen Zeitlichkeit , der Dauer ( durée ), her denkt. Der Geist unterschei-det sich darin von der unbelebten Materie, dass er sich in der Zeit entwickelt und in unvorhersehbarer Weise selbst hervorbringt. Diese schöpferische Evolution ,1 die für Bergson aller Wirklichkeit zugrunde liegt, entgeht dem diskursiven Verstand und den positiven Wissenschaften. Sie ist der ausgezeichnete Gegenstand der Phi-losophie, deren besondere Erkenntnisweise – Bergson spricht von Methode  – die Intuition ist. Die Intuition bezeichnet entsprechend das Erfassen einer spezifischen Form von Gegenwart , der Gegenwart eines „Gegenstandes“ nämlich, der eine un- teilbare Bewegung und ein schöpferisches Werden ist.

Obwohl Bergson die Intuition als zentrales Moment philosophischer Erkenntnis begreift, formuliert er keine einheitliche Theorie der Intuition (vgl. Merleau-Ponty 1968, 109; Sinclair 2019, 163). In diesem Sinne lege ich in den folgenden Überle-gungen zwar Bergsons Denken zugrunde, präge ihm aber eine eigene Gestalt auf: Ich begreife die Intuition zunächst als spezifische Form des Selbstbezugs, durch die sich ein geistiges Wesen überhaupt als solches konstituiert. Vor jedem philo-sophischen Erkennen ist die Intuition so zunächst ein Einfühlen in uns selbst und eine Synthetisierung unseres zeitlich erstreckten Erlebens, durch die wir uns selbst zugleich schöpferisch hervorbringen. Diese Verfasstheit des Geistigen ist im zwei-ten Schritt auch für die philosophische Methode zentral, weil sich die Einfühlung und Synthese, die das Geistige konstituieren, auch auf Andere und Anderes aus-weiten lässt. Ähnlich, wie wir um uns selbst wissen, können wir auch eine andere Realität absolut , d. h. gleichsam von innen heraus, erfassen, anstatt sie verstandes-mäßig zu analysieren und ein bloß relatives Bild von ihr zu erhalten. So gelangen wir zu Einsichten, die uns die positiven Wissenschaften nicht zu verschaffen ver-mögen. Mit dieser Konzeption der Intuition ist ein weitreichender metaphysischer Anspruch verbunden: Die Philosophie beansprucht Einsicht in eine Wirklichkeit, die selbst geistig verfasst ist.

Um die Voraussetzungen dafür zu schaffen, diese Konzeption der Intuition ver-ständlich zu machen, stelle ich im ersten Textabschnitt dar, was ich Bergsons Kri- tik der Intelligenz nenne. Die Intelligenz – das Vermögen der logischen Kategorien und Begriffe – ist dafür geeignet, mit der unbelebten Materie umzugehen, aber ihr entgeht die Dauer , in der Leben und Geist sich entwickeln. Entsprechend verfehlt sie das Geistige und verwickelt sich in Widersprüche, wenn sie dennoch versucht, es zu erfassen. Ganz im Sinne der ersten Kantischen Kritik geht es Bergson dabei nicht darum, die Intelligenz insgesamt zu verwerfen; er begrenzt vielmehr den Bereich ihres legitimen Einsatzes (und damit zugleich den Gegenstandsbereich der positiven oder Naturwissenschaften) auf die materielle Welt. Dem Geistigen entspricht dagegen die Philosophie , deren Methode die Intuition ist.

Im Gegensatz zum diskursiven Verstand ist die Intuition ein nicht-sprachliches, vorlogisches Einfühlen  – zunächst in das eigene innere Erleben. Indem es von al-len äußeren Vorstellungen und rationalen Erklärungen absieht, sich in die eigene Dauer versetzt und der Evolution seiner sich unablässig modifizierenden Empfin-dungen, Gedanken und Ideen beiwohnt, durchlebt das menschliche Individuum nicht nur die Synthese seiner bisherigen Dauer, sondern vollzieht diese zugleich auch.

Dieses Vermögen, sich in die eigene Dauer einzufühlen, ist auch in Bezug auf die philosophische Methode bedeutsam, denn nur aus dem eigenen Dauern heraus vermag sich der Philosophierende in andere Dauern hineinzuversetzen und sie in ihrem Werden zu erfassen. Bergson beschreibt die philosophische Intuition als das spontane, unerklärliche, aber zugleich unzweifelhafte Erfassen einer lebendigen Wirklichkeit. Wie ich im dritten Abschnitt argumentiere, überfällt diese Art von Hellsichtigkeit das Individuum jedoch nicht aus dem Nichts heraus. Sie geht viel-mehr aus einer intimen Kenntnis ihres Gegenstandes hervor, ohne gleichwohl auf einzelne Beobachtungen oder Kenntnisse reduzierbar oder aus ihnen ableitbar zu sein. Wie auch in Bezug auf das eigene Selbst verweist die Intuition auf eine spezi- fisch geistige Synthese , die kein bloßes Aggregat von Fakten ist. Die weitere philo-sophische Arbeit besteht in der Artikulation des Erschauten, bei der die Intuition selbst vor allem negativ wirkt und – dem δαιμόνιον des Sokrates gleich – den Phi-losophierenden zurückhält, wenn er fehlgeht (vgl. DW, 128).

Ich denke, dass diese Konzeption der Intuition Wesentliches über das Wesen des Geistigen verrät. Dennoch beschließe ich meinen Text mit einigen kritischen Bemerkungen. Problematisch ist in meinen Augen insbesondere der Status der Intuition, d. h. die Frage, ob es um ein Hineinversetzen in eine andere Wirklichkeit geht (also eine Dualität zwischen Subjekt und Objekt bestehen bleibt) oder ob Ko-

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inzidenz behauptet wird (Subjekt und Objekt sich also in ungeschiedener Einheit befinden). Auch wenn Bergsons Darstellung bezüglich dieser Alternativen schil-lert (vgl. Clair 1996; Merleau-Ponty 1968), muss er konsequentermaßen innerhalb seines metaphysischen Aufrisses die Koinzidenz von Intuition und Wirklichkeit vertreten. Während aber eine solche Koinzidenz in Bezug auf das Selbstverhältnis eine starke Plausibilität hat, ist es in Bezug auf andere Gegenstände nicht zuletzt ethisch wesentlich, dass die Unterscheidung zwischen subjektiver Gewissheit und Realität gewahrt bleibt.

2 Bergsons Kritik der Intelligenz

Es ist ein Grundgedanke Bergsons, dass unser logisch-diskursives Denken – die Intelligenz , wie er sagt – nicht der spekulativen Erkenntnis der Wirklichkeit dient.2Die Intelligenz ist vielmehr evolutionär von den Erfordernissen des Lebens her zu verstehen. Sie zielt darauf ab, die materielle Welt zu bearbeiten und zu beherrschen (vgl. SE, 112f.). Unser Vermögen, die Regelmäßigkeiten der Materie zu erfassen und entsprechend Prozesse vorherzusehen und gemäß unserer Interessen zu ma-nipulieren, begründet unseren gattungsmäßigen Erfolg. Zugleich ist uns damit jedoch die Einsicht in das Wesen der Dinge verstellt: Wir unterliegen der Illusion, dass unsere Wissenschaften  – die nichts anderes als die systematische Verlänge-rung der Intelligenz sind – die Wirklichkeit erfassen. Dies ist aber ein Irrtum, denn der Intelligenz entgeht jener Teil der Realität, der nicht nach dem Schema der Materie verfasst ist: Dies sind für Bergson das Leben bzw. der Geist, die sich – im Gegensatz zur Materie – in der Zeit entwickeln und deshalb von ihrer spezifischen Zeitlichkeit, der Dauer ( durée ), her verstanden werden müssen. Ebenso wie die Kantische Vernunft überfliegend wird und sich in Widersprüche verwickelt, wenn sie die Kategorien und Begriffe des Verstandes auf Dinge-an-sich anwendet, er-zeugt die Intelligenz bei Bergson Probleme und Widersprüche, wenn sie versucht, das zeitlich Verfasste zu erfassen (vgl. SE, 180). Sie muss also auf den Bereich der unbelebten Materie begrenzt werden. Leben und Geist sind dagegen Gegenstand der Metaphysik , der als spezifische Erkenntnisform die Intuition korrespondiert. Bergson übernimmt damit von Kant die Einsicht, dass metaphysische Erkenntnis „nur durch Intuition und nicht durch dialektisches Denken“ (DW, 159) möglich sei. Während wir uns aber laut der Kritik der reinen Vernunft vom intuitiven Ver-stand „nicht die geringste Vorstellung seiner Möglichkeit machen können“ (B 311), kommt uns laut Bergson ein solches intuitives Vermögen zu, das er als die Fähig-keit ausdeutet, einen zeitlich erstreckten, sich entwickelnden „Gegenstand“ zu er-fassen.

Im Zentrum von Bergsons Denken steht seine Konzeption der Zeitlichkeit, die Dauer ( durée ). Im Gegensatz zum Nebeneinander der Dinge im Raum, den wir als beliebig teilbar auffassen, stellt Bergson die Dauer als ein Nacheinander ( succes- sion ) vor, das jedoch nicht als Abfolge voneinander getrennter und in sich einheit-licher Zuständen zu verstehen ist, sondern eine organische Fortbildung der Ver- gangenheit in die Zukunft bedeutet. Die deutsche Übersetzung des französischen Ausdruckes durée als ‚Dauer‘ ist also potentiell irreführend, weil es gerade nicht um das Andauern eines gleichbleibenden Zustandes, sondern um eine sich voll-ziehende Heterogenität geht. So bilden unsere Empfindungen, Vorstellungen und Ideen, die das Paradebeispiel einer Dauer darstellen, mit der wir zudem intim ver-traut sind, keine klar voneinander abgetrennten Zustände, die sich zählen lassen, sondern durchdringen einander vielmehr und bilden sich durcheinander fort. Die Dauer ist „eine Sukzession qualitativer Veränderungen, […] die miteinander ver-schmelzen, sich durchdringen, keine präzisen Umrisse besitzen, nicht die Tendenz haben, sich im Verhältnis zueinander zu exteriorisieren und mit der Zahl nicht die geringste Verwandtschaft aufweisen“ (ZF, 80). Im Gegensatz zu der numerischen Vielheit außerhalb von uns bezeichnet Bergson unser inneres Erleben deshalb als eine „Vielheit ohne Quantität“ (ebd. 109). Es ist keine Aneinanderreihung von dis-tinkten Zuständen, sondern eine kontinuierliche Evolution, aus der sich Zustände erst nachträglich herauslösen lassen.

Raum und Zeit sind damit für Bergson nicht analoge Formen der Anschau-ung, sondern sie unterscheiden sich qualitativ. Der Raum lässt sich beliebig zer-teilen und ist zeitlos gegenwärtig; die Dauer dagegen ist eine unteilbare, zeitlich erstreckte Entwicklung. Unsere Vorstellung einer homogenen Zeit erklärt sich daher, dass wir unser inneres Erleben mit den diskreten Zuständen verknüpfen, die wir außerhalb von uns in der Welt gewahren. Die Schwingungen eines Uhr-pendels, beispielsweise, erfolgen eine nach der anderen; sie sind nie gleichzeitig

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vorhanden. In der reinen Dauer bildet sich in der Durchdringung der folgenden Schwingungen durch die vergangenen eine genuine Gestalt, aber keine Quanti-tät. Sie zu zählen erfordert hingegen, ihnen eine Gleichzeitigkeit zu unterlegen, sie gleichsam nebeneinander im Raum aufzureihen. So entsteht die „Mischidee einer meßbaren Zeit, die als Homogenität Raum ist und als Nacheinander Dauer, das heißt im Grunde die widersprüchliche Idee des Nacheinanders in der Gleich-zeitigkeit“ (ebd. 200). Mit dieser Vermischung nehmen wir der Zeit jedoch ihre spezifische Zeitlichkeit und verfehlen es, das Geistige zu denken, das eben nicht nach dem Schema des Raumes, sondern genuin zeitlich verfasst ist (vgl. ebd. 90).3

Ausgehend von dieser Unterscheidung kennt Bergson zwei fundamental ver-schiedene Arten von Gegenständen: Solche, die in der Zeit sind, und solche, die selbst zeitlich verfasst sind. Diese Unterscheidung begründet seinen Dualismus von Geist und Materie. Die Materie ist nicht im eigentlichen Sinne zeitlich; sie ist in der Zeit, aber sie hat kein (oder nur ein sehr minimales) Gedächtnis.4 Das bedeutet, dass die gleichen Ursachen immer wieder zu den gleichen Wirkungen führen; alle Veränderungen sind determiniert. In Bezug auf die Materie würde es deshalb rei-chen, sämtliche Bestimmungen des gegenwärtigen Zustandes zu kennen, um den nächsten und auch alle folgenden Zustände vorherzusagen. Sie ist in diesem Sinne rein gegenwärtig, d. h. sie ist in jedem einzelnen Moment hinreichend bestimmt.5Das gleiche gilt jedoch nicht für lebendige bzw. geistige Wesen: Diese sind zeitlich verfasst, insofern sie – nicht nur in der Zeit, sondern gerade durch ihr zeitliches Andauern – werden , die Zeit also selbst im Sinne einer „Ursache“ (ebd. 136) wirkt. Anders als bei der Materie rufen deshalb bei zeitlich verfassten Wesen die gleichen Ursachen nicht immer die gleichen Wirkungen hervor; ihre Reaktionen verändern sich, weil sie neue Fähigkeiten ausbilden, Erfahrungen machen und lernen.

Diese Evolution, die für Bergson die Unbedingtheit des Geistigen ausmacht, kann die Intelligenz nicht erfassen (vgl. ebd. 190). Ihr an der Materie erprobtes Verfahren besteht darin, die betrachtete Wirklichkeit zunächst in Elemente zu zerlegen, aus denen sie im zweiten Schritt die Wirklichkeit rekonstruiert. Entspre-chend ersetzt unser Denken auch die lebendige oder geistige Entwicklung durch zwei Elemente, „ein stabiles, für jeden Einzelfall definierbares, nämlich die Form, und ein undefinierbares, immer gleiches, das die Veränderung im allgemeinen sein soll“ (SE, 368). Bergson bezeichnet dies als die kinematographische Methode des Denkens (vgl. ebd. 348). Ebenso wie beim Film die rasche Abfolge von unbe-wegten Bildern die Illusion der Bewegung erzeugt, imitieren wir die kontinuierli-che Evolution durch eine Aneinanderreihung von Zustandsbildern (vgl. ebd. 180). Das Problem ist jedoch, dass bei diesem Verfahren die Übergänge zwischen den Zuständen unverständlich werden (vgl. ebd. 354). Die Wissenschaft erfasst vom Leben gleichsam nur das Tote; das innere Werden , das eigentlich Vitale oder Geis-tige, entgeht ihr (vgl. SE, 177, 189). Dabei hilft es auch nichts, wenn wir die Inter-valle verringern und immer weitere Momentaufnahmen einfügen. Die schöpferi-sche Evolution ist eine „unteilbare Ganzheit“ (DW, 26), die sich nicht zerlegen und aus Elementen neu zusammensetzen lässt.

Nun ist es von alters her eine Tendenz des philosophischen Denkens, die unbe-wegten und ewigen Ideen für wirklicher zu halten als die veränderliche Wirklich-keit. Diese Scheu vor dem Veränderlichen deutet Bergson als Angst vor dem Nichts (vgl. SE, 369). Das Zeitliche, das in seinem Werden zugleich schon im Vergehen begriffen ist, scheint nicht stark genug zu sein, um eine befriedigende Antwort auf die metaphysische Grundfrage „Wieso gibt es etwas und nicht vielmehr nichts?“ darzustellen. Die „Philosophie der Formen oder Ideen“ sucht deshalb jenseits des Veränderlichen nach etwas, das Bestand hat und dem allgemeinen Wandel wi-dersteht (vgl. SE, 357ff.). Auch die neuzeitliche Philosophie knüpft an dieses Be-dürfnis an. Zwar treten hier Gesetze an die Stelle der antiken Gattungen , aber der fundamentale Unterschied zur Realität bleibt bestehen: „ Für die eine wie für die andere ist die Realität wie die Wahrheit in ihrer Gesamtheit in der Ewigkeit gegeben. Der einen wie der anderen widerstrebt die Idee einer Realität, die sich nach und nach erschaffen würde, das heißt im Grunde die einer absoluten Dauer.“ (ebd. 398, Herv. i. O.) Aber die Wirklichkeit ist nicht immer schon abgeschlossen, sondern ist selbst unablässig im Werden begriffen. Sie ist „ein Absolutes ohne Totalität“

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(König 1926, 216), das durch konstante Gesetze ebenso wenig erfasst wird wie durch ewige Ideen.

Im Gegensatz zur philosophischen Tradition vertritt Bergson also, dass nicht das Ewige, Unveränderliche, sondern das Werden das eigentlich Reale sei (vgl. DW, 203; SE, 341f.). Es gibt nicht Dinge, die sich verändern, sondern die Verände-rung selbst ist die Substanz (vgl. DW, 176, 169).6 Damit kehrt sich das Verhältnis zwischen Ideenhimmel und Welt vom Kopf auf die Füße: Nicht unsere physische und psychische Realität ist ein „verdorbenes Logisches“ (SE, 361), sondern die Ideen sind Abstraktionen , denen keine eigene Existenz zukommt. Als Stillstände der Entwicklung haben sie nur aus dieser heraus Verständlichkeit und Geltung. Dies betrifft gerade auch die Intelligenz selbst: Diese vermag weder ihren eigenen Ursprung zu denken noch ihr eigenes Vorgehen zu begründen. Das rationale Den-ken hat seine Bedingung in dem, was es nicht ist.

Die Philosophie muss also vor die Abstraktionen der Intelligenz zurückgehen und ihrer lebendigen Entwicklung beiwohnen. Insofern es ihre Aufgabe ist, die Wirklichkeit zu erfassen und die Möglichkeit dieser Erkenntnis zurückzufragen, gilt es gerade nicht , sich von der Zeit und Veränderung abzulösen, sondern es geht darum, sie allererst wirklich zu denken (vgl. DW, 161). Dafür darf die Philosophie sich ihre Metaphysik nicht einfach durch die Wissenschaft vorschreiben lassen (vgl. SE, 223). Sie muss vielmehr „zu der wissenschaftlichen Wahrheit eine Er-kenntnis anderer Art hinzutreten lassen, die man metaphysisch nennen könnte“ (ebd. 229). Dieses metaphysische Erkennen nennt Bergson Intuition . Die Philoso-phie beginnt damit nicht einfach dort zu phantasieren, wo das überprüfbare Wis-sen der positiven Wissenschaften endet; sie ist keine bloße Dichtung. Sie ist viel-mehr ein Rückfragen in den Grund des Lebens selbst; eine intime Kenntnis von innen, die die Evolution ihres Gegenstandes von innen her erfasst. Dies impliziert ein völlig verändertes Verhältnis zur Wirklichkeit. Während die Intelligenz da-rauf abzielt, die Materie zu beherrschen, stellt die Intuition eine Art Einfühlung in die Wirklichkeit dar, die Bergson als Sympathie bezeichnet: „Die Richtschnur der Wissenschaft ist diejenige, die Bacon aufgestellt hat: gehorchen, um zu herrschen. Weder gehorcht der Philosoph, noch herrscht er; er sucht zu sympathisieren.“ (DW, 145) Die Philosophie transzendiert damit die Logik von Unterwerfung und Beherrschung, die letztlich beide Seiten eines Machtverhältnisses unfrei macht.

3 Selbsthervorbringung

Der erste „Gegenstand“, mit dem wir in dieser Weise sympathisieren, sind wir selber. Der Begriff der Intuition bezeichnet dabei das unmittelbare – prä-reflexi-ve und vor-theoretische – Gewahrsein unseres eigenen inneren Erlebens, unserer sich fortwährend modifizierenden Empfindungen, Vorstellungen und Ideen. Die Intuition bezieht sich damit auf das uns unmittelbar Gegebene, de jure Vertrau-teste – wir sind für Bergson unsere Dauer – mit dem wir aber de facto oftmals sehr unvertraut sind.7 Denn häufig achten wir nicht auf unseren inneren Erleb-nisstrom; wir verstehen uns selbst von der Intelligenz her und objektivieren und verdinglichen uns. So reduzieren wir uns gleichsam auf das Niveau der Materie, die durch Wirkursachen determiniert ist, und sind unfrei. Auch wenn wir weiter existieren, hören wir in einem gewissen Sinne auf, ein Ich zu sein. Denn Ich-sein ist nicht einfach gegeben; es bezeichnet keinen Zustand, sondern ist eine Vollzugs-form. Es ist das Spezifikum eines geistigen Wesens, dass es sich in einem gewissen Sinne erst als das hervorbringen muss, was es schon ist. Bergson zufolge reali-sieren wir uns in unserer Geistigkeit, indem wir aus unserer Dauer heraus leben und handeln; dies entspricht zugleich seiner Konzeption der Freiheit. In dem hier zunächst betrachteten Fall, in dem sich die Intuition auf uns selbst bezieht, ist sie also nicht bloß rezeptiv , ein Anschauen und Erschauen, sondern ist dabei zugleich produktiv , ein schöpferisches Hervorbringen unserer selbst, durch das wir uns in einem emphatischen Sinne als Ich realisieren.

Anders als für die Materie ist die Zeit uns nicht äußerlich, sondern sie ist der „Stoff“ aus dem unser inneres Leben besteht (vgl. SE, 14, 274). In uns ist die Zeit wirkursächlich in dem Sinne, dass sich ein Zustand allein durch das Andauern selbst verändert (vgl. ZF, 176f.). Die „gleiche“ Empfindung ist nach einer Weile nicht mehr die gleiche – das gilt für einen Zustand wie Langeweile ebenso wie für Erfahrungen sozialer Missachtung. Paradox gesprochen verändert sich die Empfindung, weil sie andauert oder sich wiederholt: Die Langeweile geht über in Gereiztheit; die neuerliche Exklusionserfahrung bricht das Subjekt oder treibt sei-nen erbitterten Widerstand und Hass hervor. An diesen Phänomenen offenbart sich, dass das, was wir gemeinhin als unsere Gegenwart bezeichnen, tatsächlich eine Überlagerung und Synthese verschiedener, zeitlich verstreuter Erfahrungen ist, unter denen die aktuelle Wahrnehmung oftmals nur den geringsten Teil aus-macht. Die Qualität des augenblicklichen Erlebens ergibt sich aus der Durchdrin-gung des gegenwärtigen Moments mit den vorhergehenden und mit Erinnerungen an frühere Erlebnisse. Diese Erhaltung des Vergangenen – unser Gedächtnis  – und die spezifische Selektion und Synthese, die unsere Gegenwart ausmacht, ist das eigentlich Geistige .8

Wir sind uns allerdings zumeist weder der unentwegten Veränderungen, die in uns vorgehen, noch der zeitlichen Zusammenspannung, die unsere Gegenwart ist, bewusst. Stattdessen halten wir unsere psychischen Zustände für in sich homogen und deuten sie aus der gegenwärtigen Situation heraus. Es handelt sich dabei um ein Vorgehen, das uns sowohl durch die Sprache als auch durch die Anforderun-gen des Handelns und der Sozialität nahelegt wird (vgl. ZF, 117). Wir begreifen uns selbst vermittelt über äußere Ursachen und Gründe und gewahren eine Ver-änderung in unserem Erleben erst, wenn sich ein größerer Wandel vollzogen hat (vgl. SE, 12f.). Entweder finden wir für sie dann auch eine Erklärung im Außen oder sie erscheint uns als unverständlich und irrational. Warum jetzt dieser plötz-liche Ausbruch? Es war doch eigentlich alles wie immer? Dabei verkennen wir jedoch, dass sich das Erleben unter der Oberfläche schon lange verändert hatte.

So führen wir gleichsam ein Doppelleben: Bei unseren alltäglichen Vollzügen und im sozialen Kontext sind wir uns häufig nur der äußeren, symbolisch vermit-telten Schichten unseres Ichs bewusst. Die Aufgaben des Lebensvollzugs – Bergson spricht von Problemen der Personalität – stellen und lösen sich jedoch nicht auf dieser Ebene, sondern vollziehen sich im konkreten Ich der Dauer (vgl. ZF, 124). Dieses vollbringt eine Integrationsleistung, die dem diskursiven Verstand nicht zugänglich ist. Zumeist ohne es zu ahnen, werden wir von unserem tieferen Ich geleitet, das auf eine Wirklichkeit hinarbeitet, deren Bedingungen wir schaffen, ohne uns der uns leitenden Motive bewusst zu sein.9 Diese Ausrichtung des tiefe-ren Ich nennt Bergson unser Wollen im eigentlichen Sinne (vgl. ebd. 140). Das, was wir zu wollen meinen , steht im Dienste dieses eigentlichen Wollens, ist aber nur ein Teil davon und kann es auch verfehlen. Allen rationalen Begründungen zum Trotz bleibt es unverstanden, solange man nicht Rekurs auf das tiefere Ich nimmt.

Zugang zu unserem tieferen Ich gewinnen wir in der Intuition . Wir müssen uns von allen Gründen und verstandesmäßigen Kategorien lösen, um uns in uns selbst einzufühlen. Die Intuition ist keine Reflexion, sondern eine unmittelbare Gegen- wart des Geistes für sich selbst , die sich jenseits der Scheidung von Subjekt und Objekt vollzieht (vgl. Clair 1996, 216f.). In ihr wohnen wir dem Werden unserer Empfindungen, Gedanken und Ideen nicht nur bei, sondern wir vollziehen viel-mehr zugleich ihre einzigartige Synthese. Die Intuition ist damit nicht nur passiv-rezeptiv, sondern zugleich aktiv-produktives Prinzip der Wirklichkeit (vgl. Clair 1996, 218); in ihr koinzidieren Schauen und die eigentliche Hervorbringung des Ichs.10 Indem wir uns in uns in dieser Weise in uns einfühlen, realisieren wir uns als geistige Wesen in einem emphatischen Sinne. Lassen wir uns dagegen lediglich äußerlich durch rationale Erwägungen oder Gewohnheiten bestimmen und ver-leugnen unser inneres Erleben, existieren wir quasi dinghaft. Dass wir dennoch nicht aufhören, an sich ein Ich zu sein, merken wir an der Auflehnung (ZF, 151), die wir empfinden, und den existenziellen Krisen (ebd. 207, Fußnote 58), in die wir geraten. Unser Inneres bricht sich hier gleichsam negativ Bahn.

Indem Bergson der Intelligenz den Zugang zum inneren Erleben abspricht, geht es ihm nicht etwa darum, dass aus einer drittpersonalen Perspektive nicht erfasst werden könnte, was aus der erstpersonalen Perspektive zugänglich ist. Er referiert vielmehr auf eine Ebene jenseits der Reflexion, die das logisch-diskur-sive Denken immer schon verfehlt hat. Philosophisch interessant ist diese Ebene nicht nur hinsichtlich unseres Selbstverständnisses als geistige Wesen. Denn die spezifische Verfassung unserer Geistigkeit, d. h. die Weise, wie unsere Gegenwart eine Zusammenspannung zeitlicher Erstreckung ist, gewährt uns Zugang in eine Wirklichkeit, die ebenfalls ein schöpferisches Werden ist. Wir können uns in ein anderes Werden einfühlen und mit seiner Zusammenspannung koinzidieren. So ist die innere Dauer nicht nur Gegenstand der Philosophie, sondern sie ist zugleich elementarer Bestandteil ihrer Methode .

4 Intuition als philosophische Methode

Die spezifische Form der Synthesenbildung, die uns als geistige Wesen ausmacht, ist zugleich wesentlicher Bestandteil der philosophischen Methode. Unsere Intui-tion ermöglicht uns Zugang zu jenem Bereich der Wirklichkeit, der der Intelligenz durch sich selbst verstellt ist: Der schöpferischen Evolution von Leben und Geist. Das intime Bewusstsein unseres eigenen Werdens ermöglicht uns einen unmittel-baren Kontakt mit einer Wirklichkeit – der Wirklichkeit –, die in der gleichen Weise zeitlich verfasst ist, wie wir es sind (vgl. DW, 211). Allerdings müssen wir dafür unseren Denkgewohnheiten entgegenarbeiten. Anstatt die Zustände eines Prozesses und von einer Bewegung die Stillstände zu extrahieren, gilt es vielmehr, sich in das Werden hineinzuversetzen und „ein Wachstum von innen her“ (DW, 44) zu erfassen. Die Philosophie fordert damit eine Revolution des Denkens ganz anderer Art, als sie von Kant vollzogen wurde. Das Denken muss sich nicht auf sich selbst umwenden. Es muss vielmehr sein Element verlassen und vor seinen eigenen Vollzug zurückgehen, denn die Intuition bedeutet ein Sympathisieren mit einer schöpferischen Entwicklung, die sich jenseits des logisch-diskursiven Den-kens vollzieht.

Das intuitive Vermögen lässt sich am besten von dem Gegensatz her verstehen, den Bergson zwischen Intelligenz und Instinktsieht. In Bergsons Evolutions-theorie sind Instinkt und Intelligenz zwei entgegengesetzte Lösungen desselben Problems – nämlich des Problems der Koordination und Handlungsleitung eines komplexen Organismus. Dabei ist der Instinkt Kenntnis von Dingen und unbe-wusst; er ist „eher etwas Gespürtes als etwas Gedachtes “ (SE, 198). Die Intelligenz ist dagegen Kenntnis der Form und bewusst. Wie bereits ausgeführt, erlaubt die Intelligenz dem Menschen die Beherrschung der Materie, ist jedoch unfähig, das

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Lebendige und Geistige zu erfassen. Der Instinkt hat dagegen unmittelbar Zugang zum Lebendigen, den Bergson auch als Sympathie bezeichnet. Beispielhaft führt Bergson dafür das erstaunliche instinktive „Wissen“ an, das einige Wespenarten über die Verwundbarkeit ihrer Wirtstiere haben (vgl. SE, 198f.).11 So vermag etwa die Sandwespe, die ihrer Brut eine gelähmte, aber noch lebendige Raupe beigibt, als Einstichstelle genau das Nervenzentrum der Raupe zu wählen und ihr Gift so zu dosieren, dass es die Raupe nur lähmt, sie aber nicht tötet. Diese anästhesisti-sche Meisterleistung versteht Bergson als Überrest einer umfassenden Einsicht in das Leben als Ganzes. Der Instinkt aktualisiert von dieser Einsicht gleichsam nur das von der spezifischen Lebensform Benötigte (vgl. ebd. 193). Würde er den Fra-gen nachgehen, die die Intelligenz stellt, würde er ein intimes Wissen des Lebendi-gen in seiner Gesamtheit hervorbringen können (vgl. ebd. 191). Aber ihm fehlt die notwendige Distanz zu seinen Vollzügen, um seine schlafwandlerische Sicherheit in Erkenntnis zu verwandeln. Beide, Instinkt und Verstand, verfehlen so eine um-fassende Erkenntnis des Lebendigen: Der Verstand, weil er das Lebendige nicht erfasst; der Instinkt, weil ihn kein Erkenntnisstreben leitet.

Hier setzt die Intuition ein, die das – zumeist verkümmerte – Äquivalent des Instinktes im Menschen ist. Wie dieser vermag sich die Intuition in das Lebendige einzufühlen. Aufgrund der Zusammenwirkung mit der Intelligenz unterliegt sie dabei jedoch nicht den Beschränkungen des Instinktes; sie ist „der interesselose, seiner selbst bewußt gewordene Instinkt, der fähig wäre, über seinen Gegenstand zu reflektieren und ihn endlos zu erweitern“ (ebd. 204). So stellt sie eine sympa-thetische Verbindung zwischen uns und dem Rest der Lebenden her. Allerdings ist die Intuition zumeist verschüttet: Sie bildet ein „vages Nebelgewölk“ um den „hellen Kern“ der Intelligenz herum (vgl. ebd. 222). Dieser Rand der Unschärfe verweist auf die ungeschiedene Heterogenität, aus der sich die klaren und deut-lichen Ideen herausheben. In sie müssen wir zurückgehen, um das Leben und die Ideen aus ihr gleichsam neu erstehen zu lassen. So lösen sich jene Scheinprobleme auf, die wir dadurch erzeugen, dass wir die Wirklichkeit falsch zuschneiden, sie also nicht wie Platons guter Koch an ihren Gelenkstellen zerlegen.

Die Intuition stellt damit eine „Umkehrung des Geistes“ (DW, 158) ganz eigener Art dar. Das Bewusstsein partizipiert selbst am Prinzip allen Lebens, aber es sieht gleichsam nach hinten, auf das gerade Vergangene, das Sediment der sich abla-gernden Materie. Um das vitale Prinzip selbst zu erfassen, muss das Bewusstsein deshalb den Blick wenden. Das stellt eine „schmerzvolle Anstrengung“ (SE, 270) dar, denn es bedeutet, der natürlichen Tendenz des Bewusstseins, das auf Hand-lung und Materie eingerichtet ist, entgegenzuarbeiten. Während die Intelligenz den betrachteten Gegenstand zerlegt, ihn auf bekannte Elemente zurückzuführen sucht und die Sache „als Funktion von dem, was nicht sie selbst ist“ (DW, 183) ausdrückt, ist die Intuition ein einfacher, unteilbarer Akt, der nicht unter Begriffe subsumiert, sondern sich der Sache anschmiegt und diese in ihrer Einzigartigkeit erfasst. Sie ist eine „ Sympathie , durch die man sich in das Innere eines Gegenstan-des versetzt, um mit dem, was er Einzigartiges und infolgedessen Unaussprech-liches an sich hat, zu koinzidieren“ (DW, 183).

In eben dieser – in gewisser Weise unnatürlichen  – Bewegung besteht die Rol-le der Philosophie (vgl. SE, 43). Im Gegensatz zur Wissenschaft, die Fakten und Daten akkumuliert und immer komplexere Zusammenhänge erfasst, ist die phi-losophische Intuition wesenhaft einfach und erfolgt spontan (vgl. DW, 126). Das bedeutet nicht, dass sie sich aus dem Nichts heraus, ohne weitere Beschäftigung mit ihrem Gegenstand, einstellt. Im Gegenteil: Ihr gehen intensive Beobachtungen und Studien voraus; bevor man mit einer Sache sympathisieren kann, muss man „durch eine lange Vertrautheit mit ihren oberflächlichen Bekundungen ihr Ver-trauen [gewinnen]“ (DW, 225). Aber die Intuition ist nicht einfach das Aggregat oder die Summe dieser vielen einzelnen Erkenntnisse (vgl. ebd.). Sie ist vielmehr das plötzliche Erfassen ihres Zusammenhanges, in dem sich das Innere der be-trachteten Wirklichkeit offenbart.

Die Intuition ist damit ein Phänomen, das das Geistige in einer besonderen Weise charakterisiert. Der Geist vermag durch eine Mannigfaltigkeit von Phä-nomenen hindurch deren einfache, innere Einheit zu erfassen. Dieser Übergang ist nicht ableitbar, lässt sich auch nicht erzwingen, und stellt doch nachträglich, wenn er eingetreten ist, eine Art Notwendigkeit dar. Ähnlich wie bei der Selbst-hervorbringung des Ichs besteht das Geistige in einer Synthese, die nicht durch die Fakten determiniert ist, sondern eine spezifische Selektion und Konstellation beinhaltet. Wird sie vollzogen, ist es als ob sich der Nebel lichtet und hell und klar jener innere Zusammenhang zutage tritt, der all diesen Einzelphänomenen zu-

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grunde liegt. Diese Luzidität erfolgt auf einen Schlag; sie ist weder vorhersehbar, noch kann man sie erklären. Stellt sie sich jedoch ein, verschwinden Probleme, die vorher unlösbar schienen. Eine neue Idee ist entstanden. Eine solche Idee mag einen Sachverhalt in einem gänzlich neuen Licht erscheinen lassen und andere Facetten daran hervortreten lassen. Sie mag auch neue Fragen und Probleme auf-werfen. Auf jeden Fall erschließt sie die Wirklichkeit auf eine neue und unvorher-sehbare Weise.

Auch wenn Bergson selbst die Intuition oft als Methode der Philosophie be-zeichnet, muss man sie vielmehr als ein wesentliches Moment der philosophischen Arbeit verstehen (vgl. Sinclair 2019, 162). Denn der Philosophierende kann die Anstrengung der Intuition nicht dauerhaft aufrechterhalten. Um ihrer ganz hab-haft zu werden und sie anderen vermitteln zu können, muss die flüchtig berührte Wirklichkeit artikuliert werden (vgl. DW, 46, 58). Der Philosophie kommt damit die paradoxe Aufgabe zu, das Nicht-Diskursive zu versprachlichen; „[it] has […] the peculiar task of making silence speak“ (Sinclair 2019, 164). Dabei bringt das verstandesmäßige Denken die Intuition notwendig zum Verschwinden und ten-diert dazu, sich zu verselbstständigen. Um nicht dogmatisch zu werden, muss der Denkende deshalb wieder zur Intuition zurückkehren und das Artikulierte an der Intuition messen. Die Intuition fungiert gleichsam als Leitplanke; wie Sokrates’ δαιμόνιον schreibt sie nichts Bestimmtes vor, sondern tritt da mahnend und be-grenzend auf, wo die Artikulation von der richtigen Bahn abkommt.12 Die phi-losophische Arbeit besteht so in einem Hin-und-her-Gehen zwischen Intuition und Artikulation, das man als dialektisch bezeichnen könnte, wenn sich nicht die Intuition gerade jeder Dialektik entzöge. Dieser Prozess ist niemals abgeschlossen, weil die Intuition nie in ihrer Artikulation aufgeht (Albert 2015, 87; Clair 1996, 205). Diese Inkommensurabilität ist der Motor jedes philosophischen Denkens und Schreibens.

Ein solches Verständnis der philosophischen Arbeit hat Implikationen für die Betrachtung philosophischer Werke. Bergson zufolge geht jedes philosophische Denken, das Bestand hat, von einer einzigen Intuition aus (vgl. SE, 270). Diese Grundintuition, die das Wertvollste in jedem System ausmacht (vgl. ebd. 272), ist ungeschichtlich oder übergeschichtlich. Auch wenn sich das Denken in den be-stimmten Begriffen der Zeit ausdrückt und sich an ihren Problemen abarbeitet, ist die ihm zugrunde liegende Intuition nicht aus den historischen Einflüssen abzu-leiten; sie ist vielmehr eine eigene Schöpfung. Bergson geht so weit, zu behaupten, dass der betreffende Philosoph, hätte er auch in einer ganz anderen Zeit und unter anderen Bedingungen gelebt, die gleiche Intuition zum Ausdruck gebracht hät-te.13 Auch diese Grundintuition hat in erster Linie ausschließende Kraft (vgl. DW, 128f.). Das Denken hebt damit an, dass der Philosophierende sich genötigt fühlt, die anerkannten Vorstellungen und Ideen über eine Sache zu verwerfen (vgl. ebd. 129). Alles, was er je schreibt, ist der – unabschließbare – Versuch, der zugrunde-liegenden Intuition Ausdruck zu verleihen.

Auch die Rezeption eines Textes oder Œuvres ist in diesem Sinne ein Akt der Einfühlung und der schöpferischen Hervorbringung. Man tritt an eine solche Lektüre mit gewissen Vorkenntnissen heran, muss aber starre Vorannahmen einklammern, um offen zu sein für das Neue, das sich hier offenbart. Man stellt Hypothesen auf und ist aufmerksam auf Spannungen oder Widersprüche, die sich ergeben und die einen eventuell dazu nötigen, seine Vermutungen wieder zu revi-dieren. So fühlt man sich immer weiter in das ein, worum es in einem Werk geht, was es inspiriert. Ein Denken zu verstehen, heißt letztlich nicht, spitzfindige Deu-tungen zur Geltung zu bringen; es heißt vielmehr, durch den textuellen Ausdruck hindurch die Intuition, die dieses Schreiben beseelt, in ihrer Einfachheit zu er-fassen (vgl. DW, 127). Sieht man sie ein, erschließt sich das ganze System; vollzieht man die Synthese nicht, bleibt der Zusammenhang der einzelnen Stücke dagegen unverständlich (vgl. SE, 239f.). Es ist mithin auch möglich, ein Denken besser zu verstehen als der Autor selbst, der noch damit gerungen hat, seine Intuition ans Licht zu bringen.

Die Betonung der Irreduzibilität und schöpferischen Kraft der Intuition führt Bergson weder in eine Resignation darüber, dass die intuitiven Einsichten letzt-lich unaussprechlich bleiben, noch in einen Geniekult, in dem Einzelne ihre in-kommensurablen Meinungen vertreten. Im Gegenteil: Im Ausgang von der Intui-tion soll eine besondere Zusammenarbeit möglich sein, die der Philosophie einen Fortschritt beschert, der demjenigen der positiven Wissenschaften vergleichbar ist (vgl. Deleuze 2007, 24). Bergson imaginiert die Philosophie als kollektives Projekt, zu dem Einzelne ihren Teil beitragen und so an einer immer vollständigeren Ein-sicht in die Wirklichkeit mitarbeiten können. Insofern sich dem Denkenden in der Intuition ein Stück der Wirklichkeit enthüllt und die Wirklichkeit eine Einheit bildet, gewährleistet der Ausgang von Intuitionen die Übereinstimmung zwischen dem Denken verschiedener Philosophierender (vgl. SE, 272). Während also jede Philosophie, die ihren Ausgang von Begriffen nimmt, notwendig eine andere Phi-losophie auf den Plan ruft, die das Gegenteil behauptet, ermöglicht der Ausgang von der Intuition, das Hervorgehen der gegensätzlichen Positionen selbst zu be-obachten und diese entsprechend zu versöhnen (vgl. DW, 199).

5 Schlussbemerkung

Die Idee der Intuition hat eine bleibende Virulenz. Das logisch-diskursive Denken ist nicht sui-suffizient, sondern bleibt angewiesen auf ein intuitives Vermögen, das es weder selbst hervorbringen, noch in sich begreifen kann.14 Gerade die zeitliche Ausdeutung der Intuition als spezifische Syntheseleistung, die das Geistige cha-rakterisiert, scheint mir plausibel und fruchtbar zu sein. Bergsons eigene philo-sophische Intuition, die Dauer, nimmt damit gegenüber anderen philosophischen Intuitionen eine Sonderstellung ein, weil sie das intuitive Vermögen überhaupt begründet; sie ist gleichsam die Intuition der Intuition.15 Allerdings ist seine Kon-zeption zugleich mit schwerwiegenden Problemen befrachtet. Dies betrifft den Status der Intuition und die mit diesem Status einhergehende Metaphysik . Berg-sons Ausführungen schillern bezüglich der Frage, ob der Philosoph sich in seinen Gegenstand hineinversetzt  – also eine Dualität zwischen Subjekt und Objekt be-stehen bleibt – oder ob er in ihm aufgeht  – Subjekt und Objekt sich also in einer ungeschiedenen Einheit befinden (vgl. Clair 1996, 208, 217; Merleau-Ponty 1968, 109). Im Rahmen seiner starken Lebensmetaphysik müsste Bergson für letzteres, für Koinzidenz, optieren. Wir würden also der Natur nicht nur eine unserem Er-kenntnisvermögen angemessene Zweckmäßigkeit unterlegen, wie Kant dies an-nimmt (vgl. KU, B 333–336), sondern die Wirklichkeit aus sich selbst heraus er-fassen. Ein solches unmittelbares Gewahrsein hat jedoch lediglich in Bezug auf das Selbstverhältnis Plausibilität. In Bezug auf andere Gegenstände ist sie dagegen problematisch (vgl. König 1926, 283).

Wenn wir in der Intuition die Wirklichkeit an sich selbst erfassen, dann ist sie über jeden Zweifel erhaben. Irrtum kann dann überhaupt nur noch durch die Ar-beit der Intelligenz entstehen. Auch wenn es Bergson mit Sicherheit nicht darum geht, rationales Denken durch den Orakelspruch dunkler Gefühle zu ersetzen, ist unter dieser Annahme nicht klar, wie eine gleichberechtigte Zusammenarbeit zwi-schen intuitivem Erfassen und Rationalität aussehen könnte. Die Intuition hätte ja immer den Vorrang. Es ist aber fraglich, ob unser inneres Erleben uns immer so gut leitet, wie Bergson dies meint. Auch wenn wir zugestehen, dass das Geistige in besonderer Weise durch das Vermögen der Selektion und Synthetisierung charak-terisiert ist, sollten wir deshalb nicht meinen, dass die geistige Synthese die Sache unmittelbar aus sich selbst heraus erfasst und somit infallibel ist. Eine solche An-nahme würde uns in vielen Fällen schlichtweg dazu führen, unsere Vorurteile zu verabsolutieren. Auch ein unmittelbares Erfassen eines Anderen, das vielleicht sogar beansprucht, ihn besser zu verstehen, als er sich selbst versteht, ist suspekt.

Die Intuition muss also als spezifisch geistiges Vermögen gewürdigt werden, aber sie darf nicht verabsolutiert werden. Sie vollbringt eine Synthese, durch die wir Zusammenhänge erahnen können, die dem Verstandesdenken nicht zugänglich sind. Sie kann mithin das rationale Denken anleiten, aber sie ist nicht unfehlbar. Intelligenz und Intuition müssen sich also gegenseitig kontrollieren, dergestalt, dass einerseits die Intuition ihr kritisches Potential gegenüber einem allzu beharrenden, konservativen Denken geltend macht, andererseits aber auch die Intelligenz die Intuition prüft. Die bleibende Schwierigkeit liegt darin, dass es in manchen Fällen keine letzte Bewahrheitung gibt. Dies scheint mir eine Schwie-rigkeit zu sein, die wir letztlich in Kauf nehmen müssen. Dabei zeichnet sich das von Bergson beschriebene Verfahren durch eine größtmögliche epistemische Tugendhaftigkeit aus. Der Philosophierende klammert seine Vorannahmen und Vorurteile ein und nähert sich seinem Gegenstand unverstellt durch Begriffe und Kategorien. So zwängt der Forschende die Realität nicht in sein Denkgerüst, son-dern bildet ihr sein Denken an und ist offen für Neuerungen und Revisionen. Das Kunststück besteht darin, die Überzeugung aufzubringen, die es braucht, um eine neue Idee zu verfolgen, und sich gleichzeitig für Einwände und auch die Wider-legung dieser Idee offenzuhalten.

Eminent bedeutsam scheint mir der Bezug zwischen der Geistigkeit des Ichs und der Philosophie zu sein. Es ist kein Zufall, dass die Intuition zentrales Mo-ment sowohl der Selbsthervorbringung als auch der philosophischen Methode ist. Die Philosophie ist eine Ausweitung dessen, was uns als geistige Wesen ausmacht; sie ist eine gesteigerte Form der Selbsthervorbringung und Schöpfung. Anders als bei der Einfühlung in sich selbst verbindet sich die Einfühlung in Bezug auf an-dere Gegenstände mit einer Bewegung aus uns selbst heraus, mit Transzendenz (vgl. Merleau-Ponty 1926, 113). Die Philosophie impliziert damit eine Überschrei-tung der Bezogenheit auf das eigene Leben. Sie weckt die Empfänglichkeit für die schöpferische Kraft des Lebendigen und erlaubt dadurch zugleich ein intensivier-tes Erleben der eigenen Lebendigkeit. Wenn unsere Menschlichkeit in unserem Fixiertsein auf unsere endlichen Bedarfe besteht, dann ermöglicht die Philosophie eine Ausweitung unserer Geistigkeit, durch die wir diese Menschlichkeit über-schreiten.16

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Theorien, Graphen, Strukturen. Anspruch und Methode der Philosophie im Zeitalter der Transdisziplinarität

Fausto Fraisopi

1 Einladung zur Reise (Invitation au voyage)

Die Tatsache, dass die Philosophie immer fähig sein wird, ihre Totengräber zu überleben, wie viele schon richtig bemerkt haben (vgl. Putnam 1990, 18–21), soll und darf nicht bedeuten, dass sie sich darauf beschränken kann, nur dank ihrer bloßen institutionellen Legitimierung zu überleben. Denn wie das Leben besitzt auch das Überleben seine vielfältigen Charakteristika, und eines dieser Merkma-le ist eben das Leben von der Hand in den Mund. Für die Philosophie bedeutet das: Ohne ferne Horizonte anzuschauen oder ohne jene Idee einer Ersten Wissen-schaft, die ihre Geburt und ihre Entwicklung im Laufe der Jahrhunderte bestimmt hat, erneuern zu wollen, müsste sie sich aufs bloße Überleben beschränken. Dass die Philosophie sich in der Gegenwart auf den Horizont einer immer vielfältige-ren und komplexeren Welt auszurichten hat – eine Komplexität, welche sich in Wissensformen widerspiegelt, die sich einer festen Morphologie entziehen – kann allerdings nicht bedeuten, die alte Idee einer Metaphysik (falls sie je einen wohl-bestimmten und eindeutigen Entwurf gehabt hat) wieder wachzurufen. Es kann

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nun nicht mehr darum gehen, die Form einer „Ersten Philosophie“ – wie sie uns zum Beispiel vom Deutschen Idealismus bzw. von der Phänomenologie hinterlas-sen wurde – zu wiederholen.

Der Größe und des Adels solcher Entwürfe einer ersten, primitiven Wissen-schaft zum Trotz  – die vielleicht auch miteinander konvergieren oder sich als komplementär erweisen mögen –, kann eine passive Wiederholung oder lokale Aktualisierung solcher Entwürfe nicht den radikalen Änderungen bzw. Katastro-phen auf angemessene Weise Rechnung tragen, welche sich in der Zwischenzeit im Horizont des Wissens und der Welt ereignet haben.

Eine solche passive Wiederholung bzw. lokale Aktualisierung sollte uns vom Stand-punkt unserer pädagogischen Tätigkeit vielmehr als gefährlich und irreführend er-scheinen. Denn wir sind gefordert, Generationen von jungen Frauen und Männern das Philosophieren zu lehren, die frontal und gewaltig eine massive, radikale Ände-rung des Denkens erlitten haben, eine Änderung, die mit dem sogenannten Digital Divide begann und deren Wirkungen wir noch nicht vollständig bemessen können. Solche Menschen haben oft kaum eine Idee davon, wie das Wissen und die Welt in der Zeit der Formulierung solcher Entwürfe gestaltet gewesen sein mögen, und sie haben oft keine Mittel bzw. kein Werkzeug und keine Zeit – verwirrt, wie sie im Dschungel der ECTS-Punkte und der Monetarisierung ihrer Bildung sind –, eine solche spekula-tive Höhe wiederzugewinnen. Noch schlimmer: Wir müssen im Alltag unserer Lehre gestehen, dass keine wissenschaftliche Kompetenz vermittelt wurde und vermittelt wird, um die Bedeutung solcher Entwürfe, ihre Schönheit und ihre begriffliche Stren-ge zu erfassen. Solche Entwürfe reden für viele Studierende ganz einfach aus einer ver-schwundenen Welt, sie sind Entwürfe für eine schon entfernte Vergangenheit .

Doch wäre es auch nicht strategisch geboten, uns am Altar für eine der schlecht gestalteten Versionen des akademischen Pragmatismus zu opfern, die sich – mehr oder weniger ausdrücklich – auf die Quine’sche, von Dewey inspirierte Überzeu-gung gründet, dass es keinen Raum mehr für eine Erste Philosophie gäbe bzw. dass wir den Traum von einer Ersten Philosophie aufgeben sollten (Quine 1999, 431). Diese Überzeugung speist sich aus der Tatsache, dass – auf eine extrem nai-ve Art und Weise – die perfekte Synonymie zwischen prôte épistème (bzw. prôte philosophia ) und Metaphysik als solche für selbstevident genommen und nie echt

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(historisch sowie systematisch) in Frage gestellt wird.1 Wenn wir uns die Mühe machten, eine solche vorausgesetzte Synonymie zu befragen, könnten wir uns auch der Tatsache bewusst werden, dass eine solche pragmatistische Behauptung nicht anders als aus der Arbeit einer (obwohl sicherlich nicht metaphysischen) Form erster Philosophie kommen und nur in einer solchen Arbeit ihre Bedeutung finden kann. Es wäre im Gegenteil Zeit, uns der Tatsache bewusst zu werden, dass alte Lösungen für ganz neue Probleme, die vorher undenkbar waren, bestenfalls narzisstische Zufluchtsstätten und im schlimmsten Falle bloße Illusionen sind. Betrachten wir die Sache also näher.

Seit den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts hat sich unser Blick auf die Natur und auf jeden Aspekt der Welt radikal geändert. Ein solcher Wechsel, zu dem wir gezwungen wurden – induziert durch die Evidenz einer Mannigfaltig-keit wissenschaftlicher Ergebnisse, egal ob positiver oder negativer: das Drei-Körper-Problem Poincarés, die Unschärferelation Heisenbergs oder die Unvoll-ständigkeitssätze Gödels –, beschleunigt sich noch seit den fünfziger Jahren. Die Systemtheorie entsteht, die dissipativen Strukturen werden entdeckt, die fraktale Geometrie und ihre Anwendung auf die Morphogenese (u. a.) systematisch er-forscht, Verzweigungen auf jeder Ebene von Naturprozessen gefunden. Das alles hat uns die Welt als eine komplexe gezeigt, für die und in der die Ordnung nicht mehr das allerhöchste Bestimmungsprinzip oder die paradigmatische Regel einer Mathesis universalis , sondern, und zwar sowohl vom genetischen als auch vom strukturellen Standpunkt, nur ein relativer und relativierter Aspekt ist und sein kann.

Eine solche Explosion der Komplexität spiegelt sich im Leben des Wissens selbst wider. Dies tut es innerhalb seines immer offeneren Horizonts, worin Wissensfor-men und Wissenspraktiken exponentiell und nach einer rhizomatischen Dyna-mik proliferieren (was schon für sich jeder Idee einer Architektonik widerspricht), sich hybridisieren, sich durch interaktive Simulationsmodelle und ihre transdiszi-plinäre Übertragung exzessiv erweitern.

Das alles bewirkt nicht nur eine bloß quantitative Erweiterung des Wissens-horizontes, sondern verwandelt diesen, in einem qualitativen Sprung, in ein Mul- tiversum , dessen Verständnis sich uns und auch den obsoleten philosophischen Modellen zu entziehen scheint. Heutzutage zeigt sich die Welt, die wir aufzufassen und zu begreifen versuchen ‒ der Dynamik eines solchen Wissenshorizonts ge-schuldet, der sich in ein Multiversum verwandelt –, als ein riesiges und verwir-rendes Kaleidoskop. Wir leben in einem kaleidoskopischen Multiversum  – und da wir uns dessen endlich bewusst geworden sind, bestimmt und bestärkt dies unse-re Verwirrung sowie unseren Sinnverlust umso mehr. Aus eben jenem Grunde scheint eine Philosophie, die sich noch als Sinngebung darstellt, anachronistisch.

Es ist dies der Armutszustand, in dem die neuen Generationen leben, d. h. sich in einem kosmischen Kaleidoskop zu befinden, ohne dessen Dimensionalität artikulieren zu können. Es ist dies auch der Zustand, in dem die jungen Philo-sophie-Studierenden sich befinden, die nicht wissen können, wie einer solchen Komplexität Gestalt zu geben ist, weil sie sich doch nicht in die alten Muster des philosophischen Wissens zurückübersetzen lässt. Die Verwirrung einer solchen Komplexität, die sie innerhalb der Lebenswelt erfahren und die sich im Wissen selbst widerspiegelt, findet keinen angemessenen Weg, um ausgedrückt zu wer-den, und wirkt in einem unbewussten bzw. proto-bewussten Zustand.

Es ist genau an diesem point of no return , dass der erste Anspruch der Philo-sophie als einer grundlegenden intellektuellen Arbeit auftaucht, eine Arbeit, die einen solchen un- oder proto-bewussten Zustand auf die Ebene des Bewusstseins bringt:

Eine solche programmatische Aufgabe ist unserer Meinung nach nicht einfach nur dringend, sondern auch eine der anspruchsvollsten, die eine philosophische Theorie bzw. eine theoretische Philosophie heute auf sich nehmen kann. In einem

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Zustand radikaler Veränderung der Struktur unserer Wissensformen, die sich mit einer solch radikalen Weltveränderung koppelt, macht sich die Obsoleszenz der neuzeitlichen, klassisch gewordenen Form der Praxis und der Lehre der Philo-sophie bemerkbar. Es geht im Folgenden darum, eine neue Erkundung oder eine neue Art deuteros plous zu starten. Eine solche zweite Navigation – von derjenigen Art, die zu Beginn der Neuzeit auf der Titelseite des Novum Organum Francis Ba-cons dargestellt wurde – sollte zuerst ihren Raum eröffnen. Sie kann einen solchen Raum einfach durch so etwas wie eine spekulative Induktion öffnen, d. h. durch einen Akt der Imagination, der weniger schon erfahrene Gegenstandsformen, sondern eine neue Form der Schau, eine neue Form der Theôria betrifft, eine Theô- ria , die sich auf die Strukturen des Wissens selbst anwendet (welches seinerseits die Steigerung an Komplexität der phänomenalen Welt widerspiegelt). Es geht um einen radikalen Akt der Imagination, der uns eine neue Schau eröffnen könnte, eine triftigere Schau des Realen unseres Wissens; es geht um eine imaginäre Reise, die charakteristisch für alle Formen radikaler Wissenschaftlichkeit ist.

Eine ähnliche Einladung zur Reise hat schon Descartes ausgesprochen, wenn es im unveröffentlichten Traktat Le Monde darum geht, verkleidet in der Form eines Märchens, einer imaginären Welt, im Gegenteil die neue Welt – welche die neu-geborene Wissenschaft exakt beschrieb – zu präsentieren, um die alte Welt (welche für wirklich gehalten worden war, während sie in Wirklichkeit doch nur als eine imaginäre betrachtet werden konnte) durch die neue zu ersetzen.

Der Raum, welcher sich uns durch diesen Imaginationsakt eröffnet, ist der Hori-zont des Wissens selbst, der theoretischen Strukturen jeder Art als solcher. Wir müssen jedoch zuerst den falschen Glauben hinter uns lassen, wonach theoreti-sche Strukturen für homogene, regelmäßige, kompakte Gegenstände, Bausteine ( building blocks ) einer stabilen und teleologisch zu vervollständigenden Architek-tur des menschlichen Wissens gehalten werden. Was uns die Wissenschaftstheorie (vgl. Cartwright 1999; Dupré 1983; Galison-Stump 1996) bzw. die Wissenschafts-geschichte (vgl. Renn 2020, 33, 300–353) in den letzten fünfzig Jahren gelehrt haben, ist, dass die theoretischen Strukturen etwas Modulares, Evolutives und anscheinend auch etwas relativ Zerstückeltes ( scattered ) sind, welche über eine besondere geodätische Topologie verfügen. Wie aber können wir solchen Entitä-ten, die sich unserer sedimentierten Auffassung des Gegenstandes entziehen, eine Gestalt geben? Ist es nicht ein Widerspruch, eben jene als Gegenstand zu theore-tisieren, wenn sie die Quelle jedes Theoretisierens und fast jeder Vergegenständ-lichung sind?

2 Logica imaginationis: theoretische Strukturen als Graphen und die Konstitution einer metatheoretischen Dimension

Die Theorie, das theôrein , ist hier gefordert, durch den paradoxen Weg jenes Palin-droms, das schon das Projekt der Husserl’schen Mathesis universalis bestimmte, d. h. die Theorie der Formen der Theorie (Hua XVIII, §§68–70). Aufgrund der Tatsache, dass es uns im Rahmen dieses Beitrags unmöglich ist, ein solches spe-kulatives Palindrom in all seiner Tiefe zu erforschen, gehen wir lieber durch In-duktion vor, durch die Arbeit über eine Anschauung und die darauf angewandte (eidetische) imaginative Logik der Variationen.

Aus unserer Stellung heraus, als Individuen, die mit dem Wissen „zu tun ha-ben“, die sich über den Boden, im von der Theôria eröffneten Horizont verorten, haben wir, durch Habitualisierung gewisser Praxisformen, einen direkten, unmit-telbaren Zugang zu dem Theorie-Sein oder zu dem Teil-einer-Theorie-Sein von Etwas. Wir haben nicht bloß mit Büchern, Aufsätzen, Veranstaltungen zu tun. Jenseits des Diaphragmas von materiellen Trägern wissen wir, dass es sich um die Theorie x oder y, unabhängig von Identifikationstauschungen (in der Form „dies ist (die theoretische Komponente) x, nicht y“), handelt. Ist jedoch einmal das Diaphragma, welches das Muster der Dinglichkeit zwischen uns und die Sache hineinmischt, durch die Analyse struktureller innerer Verhältnisse neutralisiert

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(in den Hintergrund gestellt)3, verliert die Anschauung der Sache an Gestalt und behält nur den einfachen, unbestimmten Hinweis auf eine Mannigfaltigkeit zer-stückelter Elemente zurück.

Das ist der Fall, weil die Gegenstandsanschauung, die ich „Anschauung des MT Gegenstands“4 nenne – welche eine rein kontextuelle, aber doch unmittel-bare Auffassung eines Etwas „an sich“, unabhängig von unseren individuellen Existenzen, von Etwas als einer „theoretischen Formung“ ist –, letztlich einen zu-sätzlichen Schritt erfordert, um als Element einer metatheoretischen Mathesis ver-standen zu werden.

Eine solche Anschauung erfordert einen radikalen Akt der Imagination, sodass ihre Auffassung mit gutem Grunde in eine bestimmte Form des Wissens tritt, in die Form einer nicht-metaphysischen Mathesis , welche per se keine unbefragte on-tologische Verpflichtung annimmt. Statt einer ontologischen Verpflichtung sollen wir, imaginativ, eine erste Form der Vergegenständlichung vollziehen. Sie bedarf näher besehen einer logica imaginationis , einer Logik der Imagination, einer kom-binatorischen Operation, die auf die Variationen angewandt ist, um eben nicht die Leibniz’sche Mathesis universalis , sondern eine neue Mathesis zu erreichen, die sich im Horizont der Theorien verortet und über die singuläre Konkretion einer Theorie hinausgeht.

Was ermöglicht der Vollzug der logica imaginationis  – die Anwendung der Ima-gination auf eine Logik der Variationen –, das nicht vorausgebildet war? Genauer gesagt: Was ermöglicht ein solcher Übergang im Vergleich zu jener Mangelform der Metatheorie, welche die Metaphysik immer gewesen ist? Was hebt dieser an der schlichten anschaulichen Auffassung hervor? Ein solcher Übergang verleiht dem Quid der Anschauung eine Art Stabilität, d. h. Sichtbarkeit, welches für sich von keiner architektonisch-normativen Form bestimmt werden kann. War nicht eine solche Form schon in die Anschauung des MT Gegenstands eingeschrie-ben? Nein, wenigstens nicht vom Standpunkt der Möglichkeit der klaren und mit-telbaren Auffassung einer strukturellen Morphologie, d. h. vom Standpunkt der Möglichkeit, auf eine variable Form hinweisen zu können und aufgrund dieses Hinweises weitere Variationen zu leisten.

Von der logica imaginationis hängt bei der Suche nach einer metatheoretischen Mathesis eben die Möglichkeit ab, eine Grammatik der metatheoretischen (d. h. transdisziplinären) Erfahrung zu gewinnen. Eine solche Grammatik öffnet ihrer-seits die Möglichkeit, unsere Wissenserfahrung jenseits der historischen Schwelle der Metaphysik rein deskriptiv zu beschreiben. Doch wie kann sich das Denken sichtbar machen für etwas, was es für sich nicht ist, obwohl es doch unmittelbar als ein „An sich“ aufgefasst ist? Wie ist es möglich, die Kristallisierung einer Wis-sensform visuell zu denken, wenn nicht aufgrund einer radikalen Imaginations-leistung und der Variation ihres Ergebnisses? Nehmen wir also das Quid einer an-schaulichen Auffassung innerhalb des metatheoretischen Horizonts oder einfach in einem epistemischen Kontext als solchem an.

Imaginieren wir dann die Möglichkeit, die Termini dieser theoretischen Struk-tur zu isolieren, jene Termini, die für sich unabhängig von einer einzelnen Axi-omatik bestehen (können). Solche Termini lassen sich eo ipso  – aufgrund ihrer lokalen (kontextuellen) Abhängigkeit – mit anderen Termini in Verbindung brin-gen. Imaginieren wir schließlich die Möglichkeit, solche Termini in einer visuel-len Gestalt zu verbinden. Die Konstruktion solcher Relationen, worin die Termini einfache Knoten bilden, ergibt einen Graphen (welcher die deskriptive und nicht normative Form einer nicht notwendig regelmäßigen Struktur repräsentiert). Was ist ein Graph?

Ein Graph ist innerhalb der Graphentheorie als eine abstrakte Struktur zu be-schreiben, die Gegenstände als Knoten (bzw. Ecken) in Verbindung zu anderen Gegenständen durch Typen von Verbindungen (bzw. Kanten oder Bögen) bringt. Ein solcher Gegenstand (bzw. eine solche Modellierung) wird auch in der Topo-logie benutzt, in der die Struktur des Graphen topologisch behandelt bzw. syste-matisiert wird. Ein solcher Durchbruch hat seit Jahrzehnten die Revolution der Netzwerkforschung inspiriert und geführt.

Heute ist die Netzwerkforschung eine verbreitete Disziplin, die unsere Weltauf-fassung, insbesondere der komplexen Systeme, revolutioniert hat (Barabasi 2011). Sie hat auch unsere Auffassungsweise der Entwicklung des Wissens revolutioniert und methodologisch vertieft. In dieser Perspektive, die man als „externalist ap-

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proach to science“ (Kuhn 1969) definieren könnte, werden Forschungs- und Wis-senschaftsansätze sowohl vom synchronen als auch vom diachronen Standpunkt als Netzwerk gedacht, dargestellt und modelliert. Dies schließt jedoch nicht aus – im Gegenteil haben schon mehrere wissenschaftstheoretische strukturalistische Ansätze dazu beigetragen –, dass nicht nur Forschungsnetzwerke, sondern auch und vor allem Theorien – im Sinne eines „internalist approach“ – als Netzwerke modelliert werden können.5 Und eine solche Modellierung hat heute, nach vielen Jahren Forschung und mathematischer Arbeit, eine feste Kategorisierung gefun-den (vgl. Barabasi 2016; Latora et. al. 2017). Es kommt darauf an, nicht nur For-schungsnetzwerke, sondern die Theorien selbst als Netzwerke, d. h. im Bild eines hyperkomplexen Graphen zu denken und zu verstehen.

Imaginieren wir also, dass ein solches ‚Bild‘, ein solches topologisches Modell – anhand unserer schlichten Auffassung neu konstituiert – exakt die Struktur eines solchen theoretischen Komplexes, seine Gestalt in einem Moment tx seiner gene-rativen Dynamik, fixieren könnte. Dieses ‚Bild‘ ist das Eidos dieser Theorie-Form, in einem gewissen Moment seiner anschaulichen Auffassung, und ist durch die topologische Modellierung als Graph erfahrbar. Dieses ‚Bild‘, Modell oder Eidos , welches die generative Dynamik einer solchen theoretischen Kristallisierung einer Theorie-Form ergibt, präsentiert diese aber eben nur in einer Phase ihrer Genese (einer sowohl evolutiven als auch eventuell involutiven Genese). Das schließt nicht aus, sondern impliziert vielmehr, dass man eine vorherige wie auch eine nachfol-gende Phase als diskretes Moment denken kann.6 Ein solches Moment, eine solche Fixierung, als zu exakt derselben Dynamik gehörend, würde eine andere Gestal-tung des Graphen ergeben. Die Bilderreihe eines solchen Graphen ist dasjenige, was wir den Logos des MT Gegenstands, d. h. die Menge seiner strukturellen Mo-difikationen nennen, von der jedes einzelne Element jederzeit wieder topologisch in einem Eidos modelliert werden kann. In diesem Zusammenhang ist das Eidos , dem MT Gegenstand zugeschrieben, kein unbewegliches Wesen. Es ist die struk-turelle Fixierung einer genetischen Phase, welche, um synoptisch gedacht werden zu können, noch eines weiteren Schrittes imaginativer Variationen bedarf. Um also eine echte Gestalt verleihen zu können, imaginieren wir, welche Variationen zwischen zwei Eidê desselben Gegenstands entstehen können.

Imaginieren wir weiterhin also, dass in einem Moment tn ein Knoten mit einem anderen strukturellen Knoten verbunden sei und dass es keine weitere Verbindung gebe. Und imaginieren wir außerdem, dass die proliferative Di-mension dieser Wissensform sich so verhält, als ob am Zeitpunkt tn+1 dieselbe in struktureller Verbindung mit anderen Termini aufträte, die vorab nicht zur Gegenstandsstruktur gehörten. Durch eine solche Dynamik der Verbindung und Vernetzung werden solche Termini dann ihrerseits Knoten. Der Gegen-stand erweitert sich.

Wir können auch einen umgekehrten Prozess imaginieren , da die Gegenstands-erweiterung (einer Theorie-Form) kaum normativ, kaum ihrem Wesen einge-schrieben ist. Nichts schließt jenseits metaphysischer Annahmen aus, dass eine Wissensform sich erschöpft. Wir können imaginieren , dass ein solcher Erweite-rungs-Prozess in jedem Moment mehrere Knoten zugleich betrifft (aufgrund der intersubjektiven Mehrdimensionalität der wissenschaftlichen Forschung), genau-so wie wir den umgekehrten Prozess imaginieren können.

Imaginieren wir jetzt des Weiteren, dass es nicht die Knoten, sondern die Ver-bindungen seien, die ein Inkrement erleben. Können wir noch von einem um-gekehrten Prozess für die Wege reden, während die Knoten dieselben bleiben? Im ersten Fall können wir von einer strukturellen Faserung, im anderen von einer strukturellen Ent-Faserung des Gegenstandes, dann der Theorie bzw. des Theo-rien-Komplexes reden.

Man imaginiere die Möglichkeit, dass dasjenige, was ein Knoten war – aufgrund derselben wissenschaftlichen proliferativen Tätigkeit  –, sich danach seinerseits als eine Knoten-Wege-Struktur zeige; wobei einige dieser Knoten jetzt nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb des imaginären Perimeters der Struktur sol-che Wege entstehen lassen. Der Anfangsknoten, als atomares Element des MT Gegenstandes, ist seinerseits als ein MT Gegenstand (ein Sub-Graph) Teil eines größeren Gegenstandes geworden. Wir können eine solche Dynamik „Clusterisie-rung“ oder „Granularisierung“ nennen. Wir können aber auch den umgekehrten Prozess imaginieren , d. h. denjenigen, wodurch ein Sub-Graph von Knoten, auf-grund eines Vereinfachungsprozesses einer solchen Wissensform, z. B. der Ein-

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führung eines Gesetzes (beispielsweise der Maxwell-Gleichungen), sich durch das Auftauchen neuer struktureller Wege in einen einzelnen Knoten verwandle statt mehrerer unverbundener. In diesem Fall könnte man von einer „Ent-clusterisie-rung“ bzw. „Ent-granularisierung“ des MT Gegenstandes reden.

Wir imaginieren folglich, dass ein MT Gegenstand als solcher, einheitlich aufge-fasst, sich mit einem anderen durch die Stiftung neuer äußerer Wege vernetze. Und wir imaginieren sodann, dass das, was als zwei verschiedene MT Gegenstände ge-dacht war, eine strukturelle, umfassendere7 Einheit werde, welche ihrerseits andere Erweiterungs- bzw. Faserungs-Phänomene entstehen lassen wird. Wir würden ein solches Phänomen Aggregation von MT Gegenständen nennen. Wir können auch das umgekehrte Phänomen imaginieren , d. h., dass sich ein Makro-Gegenstand in zwei bzw. in mehrere getrennte MT Gegenstände teilt. Wir würden ein solches Phänomen Fragmentierung eines bzw. mehrerer MT Gegenstände nennen.

Wenn wir imaginativ und durch die auf die topologische Struktur angewandte Variation die allererste mögliche Form theoretischer Generativität erreichen, kön-nen wir die Dynamik denken, durch welche sich die Genese einer Wissensform aus einer anderen oder die Verschmelzung zweier Gegenstände begreifen lässt. Sodann lässt sich auch imaginieren , dass das Wissen – jede Form der Kristallisie-rung der Theôria – sich innerhalb seines Horizonts verorte und in seiner eigenen Dynamik mit anderen Gegenständen derselben Art interagiere. Man kann eine ganze Menge Proliferationen von MT Gegenständen imaginieren (und folglich beschreiben), die aus anderen entstehen, die sich mit anderen verschmelzen, kreu-zen, die sich nach Makro-Komplexen – nach verschiedenen Verbindungs-Modi, mit ihren typischen Morphologien – ordnen.

Es eröffnet sich uns ein neuer Raum, ein Horizont, der jener der Theôria selbst ist, worin das reine Denken sich Mittel und Möglichkeiten – durch Imagination und Variation – gegeben hat, um Gegenständlichkeiten, Relationen, Ereignisse, Prozesse aufzufassen, die lokal und nie global derselben Modellierungs-Grammatik folgen und letztlich die Dynamik von Wissens- bzw. Theorien-Formen zu beschreiben er-lauben. Wir haben es mit einer Welt, mit einem Horizont von Gegenständlichkeiten, Relationen, Wirkungen, Entwicklungen zu tun, der sich erst in einem imaginären Raum darbietet, dem Horizont der metatheoretischen Mathesis . Jedoch ist solch ein Raum kaum jener eines freien Phantasierens, worin die Variation als ganz willkür-lich gedacht werden kann. Die Modellierung dient daher als Grammatik, als nor-mative Bedingung nicht des MT Gegenstandes an sich, sondern der Ab-Bildung (und auch der Modell-Konzeption) seiner anschaulichen Auffassung. Eine solche metatheoretische Mathesis lässt sich einem strengen deskriptiven Ansatz zuordnen, d. h. stellt sich erkenntnistheoretisch als eine Interaktion zwischen anschaulicher Auffassung, Erkundung der Wissensformungen und deren Modellierungen heraus, welche heute, wie schon erwähnt, eine wohlbestimmte mathematische Form (die Topologie der Graphen) verliehen bekommen hat. Es ist eine solche Mathematik, die es uns ermöglicht, eine „imaginäre“ in eine „reelle“ Grammatik zu verwandeln, in dem Sinne, dass sich eine solche Modellierung heutzutage ihrerseits an einer vi-suellen und taktilen Schnittstelle implementieren lässt, um einen solchen Horizont leibhaftig zu erfahren und die Strukturen in ihren Entwicklungen zu erkunden.

Wir imaginieren schließlich also nicht nur, solche Gegenstände zu denken, sondern (durch eine auf einem taktilen Bildschirm implementierte Schnittstelle)8solche Gegenstände – die bis vor nicht allzu langer Zeit nur Gespenster, Schatten-bilder waren – berühren zu können. Zwischen der Imagination und einer solchen (quasi-leibhaftigen) Erfahrungsform befindet sich die Aufgabe einer metatheore-tischen Mathesis und ihrer Erfüllung.

3 Thesen zur metatheoretischen Mathesis

1. Jede Dynamik des Wissens (und insbesondere jeder Erkenntnisakt) entwickelt sich anhand des Hinweises eines erkennenden Subjekts in einer spezifischen Form hybrider Selbstbeziehung (verstanden als theoretische Einstellung) auf eidetische Strukturen.

2. Das theoretische Subjekt fasst die Struktur, auf die es sich bezieht, als ein Etwas, als eine Gegenständlichkeit unter anderen Auffassungsgegenständlichkeiten der-selben Art auf.

3. Solche Gegenständlichkeiten als eidetische Netzwerke sind theoretisch-eideti-sche Strukturen, die zu derselben Region von Gegenständlichkeiten (regionaler Ontologie) gehören.

4. Die Öffnung des Feldes solcher Gegenständlichkeiten ist als metatheoretischer Horizont zu denken, d. h. als Horizont, in dem sie allein aufgefasst werden kön-nen.

4.1 Der metatheoretische Horizont ist eine rein kontextuelle thematische Öff-nung, die von der Erfahrungshabitualität des theoretisch eingestellten Sub-jekts – d. h. von seiner theoretischen Habitualität und von seiner kognitiven Befähigung ( cognitive skills ) abhängt.

4.2 Eine solche Öffnung ist nicht völlig unstrukturiert, weil die Sedimen-tierung der theoretischen Erfahrung bzw. des mit solchen Gegenständlich-keiten Zu-Tun-Habens ein Orientierungssystem, vor allem aber ein System schlichter Auffassungen von Quid -Formen, die sich innerhalb dieses Hori-zonts darbieten, vorzeichnet.

4.3 Der metatheoretische Horizont hat wie jeder Horizont eine Topologie und gleich jedem Erfahrungsboden eine Geodäsie.

4.4 Aus diesem Grund ist die Struktur des metatheoretischen Horizontes als System von vorgezeichneten Potentialitäten weder ein geschlossener Raum noch der Ort einer übergeordneten (metaphysischen) Normativität.

4.5 Innerhalb des metatheoretischen Horizontes können bloß lokale Abhän-gigkeitskomplexe von Gegenständlichkeiten festgestellt werden. Es ist unmög-lich, eine Form als Architektonik des Wissens zu finden bzw. herzustellen.

5. Was sich innerhalb des metatheoretischen Horizontes originär darbietet, ist als MT Gegenstand definiert.

5.1 Der metatheoretische MT Gegenstand ist das Quid einer unmittelbaren Auffassung bzw. eines originären Sich-Zeigens bzw. Sich-Darbietens im Sinne von:a) „Das ist (die Theorie) x oder y“b) „Das ist (der theoretische Komplex) m oder n.“

5.2 Die unmittelbare Auffassung vom MT Gegenstand ist eine anschauliche Auffassung, welche als Anschauung des MT Gegenstands benannt werden darf.9

5.3 Der Gegenstand wird anschaulich – unabhängig von Identifizierungsfeh-lern (die zum doxischen Moment gehören) oder Erkennungsfehlern und jeg-lichem anderen Charakter signitiver Notation – als ein von jeder Schöpfungs- bzw. Konstruktionsfähigkeit einzelner erkennender Subjekte unabhängiges „An sich“10 aufgefasst.

5.4 Die Anschauung des MT Gegenstands ist aber gestaltlos, sie hat weder eine Gestalt noch ein optisches Schema, in welchem man die strukturellen Momente des MT Gegenstandes fokussieren könnte.

5.5 Um der informell-gestaltischen Auffassung einen sichtbaren Gehalt zu ge-ben, soll die metatheoretische Mathesis eine Modellierung entwickeln.

5.6 Eine solche Modellierung soll die Generativität eines solchen metatheore-tischen MT Gegenstands als Form einer Theorie, aber zugleich seine Struktur (seine morphologische Struktur) darstellen.

6. Die Modellierung des MT Gegenstands besteht darin, denselben als einen evo-lutiven (dynamischen) Graphen zu denken.

6.1 Der Graph ist hier als topologisch-modulare Darstellung zu verstehen, die von Knoten und Beziehungen (Wegen) zwischen diesen gebildet ist.

6.2 Wenn man den MT Gegenstand als etwas Evolutives betrachtet und die besondere Gestaltung eines Graphen als Modellierung, so ermöglicht das die Fixierung der Struktur dieses Gegenstandes in einer bestimmten Phase seiner Entwicklung.

6.3 Wir nennen eine solche Korrespondenz Eidos des MT Gegenstands.

6.4 Wir nennen die Menge oder einen Teil der evolutiven Momente eines Gra-phen, d. h. das Ganze oder eine Phase seiner Entwicklung, Logos des MT Gegenstands.

7. Durch imaginative Variationen über die elementare Struktur eines Graphen-Ei-dos kann man die allerersten Formen einer strukturellen (phylogenetischen) Än-derung des MT Gegenstands innerhalb seines Logos denken.

8. Wenn man irgendeinen Graphen, als Eidos eines MT Gegenstands verstanden, betrachtet, lässt sich durch methodische Variation denken,

8.1 dass für jeden Knoten neue Beziehungen zu anderen Termini oder zu an-deren MT Gegenständen entstehen können, die nicht dem ursprünglichen Gegenstand angehören, sodass von einer Erweiterung bzw. einem quantitati-ven Inkrement des Gegenstands selbst die Rede sein kann;

8.2 dass sich die Beziehungen zwischen Knoten – vorausgesetzt, dass die Struk-tur eines Eidos gegeben ist – quantitativ erweitern, sodass von einer strukturel-len Faserung des Gegenstands die Rede sein kann;

8.3 dass sich ein Knoten, gemäß eines gewissen Eidos , zerteilt und spezifiziert und zu einem Unter-Graphen wird, der die ihm zuvor inhärierenden Bezie-hungen zu anderen Knoten zerteilt und also eine strukturelle Umgestaltung mit sich bringt. In diesem Fall kann man von einer „Clusterisierung“ des Ge-genstands reden;

8.4 dass MT Gegenstände einen Aggregationsprozess entwickeln;

8.5 dass es zu einem jeden dieser Prozesse und solcher, die durch die Taxo-nomie der strukturellen Gestaltungen des Eidos erhalten werden, ebenso ein korrespondierendes Gegenstück, also den umgekehrten Prozess gibt.

9. Wenn die imaginative Variation in Bezug auf die Verbindung von ursprünglich zweierlei Gegenständen zu einer Variation der Verbindung mehrerer Gegenstände erweitert wird, lässt sich die Idee einer metatheoretischen, vollständig modellier-baren Dimension erreichen. Eine solche Dimension enthält ihre eigene Dynamik und zeigt sich als Dimension des Wissens in Raum und Zeit ausgebreitet.

9.1 Vom Standpunkt der genetischen Auffassung lässt sich ein MT Gegen-stand in einer gewissen Phase seiner Entwicklung als isoliert und fixiert den-ken; insofern ist auch die Möglichkeit seiner Tangenz-Verhältnisse bzw. seine Interaktion mit anderen Gegenständen zu erkunden und zu beschreiben.

9.2 Man kann das Eidos einer Wissensform in ihrem aktuellen Zustand auf-fassen, ihre Struktur erkunden usw.

9.3 Man kann die Auffassung des aktuellen Eidos heuristisch als Leitfaden be-nutzen, um andere Modifikationen und andere mögliche Verhältnisse (mit-samt ihrer entsprechenden Modifikationen) eines Gegenstands oder eines Komplexes von Gegenständen zu imaginieren und zu antizipieren. Die Klä-rung solcher Modifikationen kann nun ihrerseits als Leitfaden für neue theo-retisch-epistemische Ansätze dienen.11

(a) Eine solche Grammatik der metatheoretischen Schau entpuppt sich als durchaus wichtig – sowohl aus rein deskriptiver, als auch aus heuris-tischer Perspektive – wenn es, wie in transdisziplinären Forschungen beispielsweise, um erweiterte metatheoretische Komplexe geht.

(b) Die Grammatik der metatheoretischen Modellierung und die Mat- hesis, die sie ermöglicht und begründet, ist die einzige nicht-aleatori-sche Methode für die Praxis in transdisziplinären Kontexten.

10. Die Definition der metatheoretischen Mathesis enthält fünf Hauptaufgaben: 10.1 Die imaginative Variation zu ihrer maximalen Definition zu bringen, um eine umfangreiche Typik von Morphologien ermitteln zu können.12

10.2 Die Entwicklung einer ausführlichen Taxonomie vom Standpunkt der Modellierung aus inkludiert:

(a) Eine Taxonomie der Knoten (d. h. der Termini, die als selbststän-dige Elemente eines MT Gegenstands auftreten können).

(b) Eine Taxonomie der zwischen den Knoten bestehenden oder im Laufe des Prozesses der Faserung oder der Clusterisierung entstehen-den Beziehungen.

(c) Eine Taxonomie der Morphologien der metatheoretischen Gegenstände.

(d) Eine Taxonomie der Transformationen der metatheoretischen Gegenstände.

(e) Eine Taxonomie der Beziehungen der Transformationen meta-theoretischer Gegenstände.

10.3 Die Umformulierung und Klärung der allerersten (aus der einfachen imaginativen Variation über die Graph-Struktur entstandenen) Modellierung durch exakte topologische Sprache – die Aufgabe also, die metatheoretische Grammatik umzuformulieren und in die Sprache des graph modeling zu über-setzen.

10.4 Die Formulierung und Formalisierung einer Bildungsmethode auf Basis der metatheoretischen Mathesis , die transdisziplinäre Forschungssituationen einschließen könnte.

10.5 Die pädagogische Verwendung der metatheoretischen Mathesis im Rah-men der Erklärung von Wissensprozessen.

4 Der spekulative Gehalt einer metatheoretischen Mathesis

Die Idee einer metatheoretischen Mathesis ist der erste Schritt, den das reine Den-ken in die Richtung einer Wissensperspektive außerhalb der Metaphysik macht. Denn nach der metaphysisch-architektonischen Grundauffassung könnte das Wissen kaum seinen echten Gehalt und seine echte und charakteristische Form außerhalb einer metaphysischen Letztbegründung haben, um sich als épistème darzustellen. Dank dieses ersten Schrittes befreit sich das Denken vom Joch der Metaphysik, das ihm den Weg der Erkundung der Wissensformen versperrte; Wissensformen, die niemals wirklich – außerhalb eines solchen Vorurteils – eine bezähmbare Dynamik gehabt haben.

Heute, in einem Zeitalter, in dem das Wissen durch Erweiterungen, massive Zerfaserungen und eine Menge anderer metatheoretischer Phänomene gleichsam wuchert, erscheint die Hoffnung, seine Dynamik als „normierte“ bzw. „normativ kontrollierbare“ zu denken, unsinnig (bzw. nur eine nostalgische metaphysische Erzählung zu sein). Durch ihre offene Konzeption der Morphologie und der Dy-namik ihrer Gegenstände fasst die metatheoretische Mathesis die reale generative Natur des Wissens auf und gibt sich Mittel an die Hand, um eine solche Generati-vität durch die Modellierung aufzufassen.

Lassen wir dann unser Denken probeweiseaus aus dieser alten Welt (der Meta-physik) heraustreten, um in eine andere, ganz neue einzutreten; eine Welt, die im imaginären Raum (der metatheoretischen Mathesis ) geboren wird. Es geht um

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eine Schau, die das Wissen als solches, in seiner Erkundung kennzeichnet. Dort, wo die konservative Doxa , die sich als Endoxon zu schützen versucht, nur einen Haufen undifferenzierter Einheiten oder einfach eine leere Spekulation sieht, er-kennt die Schau des Wissens die Gegenwart und die Zukunft.

Man imaginiere sich dann, dass wir im Besitz aller Aspekte der dynamischen Morphologie der MT Gegenstände seien, und dass durch die Graph-Modellie-rung eine solche Dynamik in eine graphische Schnittstelle übersetzbar wäre. Eine solche könnte zweifach gebaut werden:

1) So, dass sich auf eine dynamische Art und Weise jeder Moment des Logos eines MT Gegenstandes, ein Knoten oder irgendwelche anderen Elemente, digital auf-fassen und vergrößern sowie verkleinern ließen.

2) So, dass eine solche Schnittstelle mit Datenbanken durch ein System (informa-tischer) Ontologien verbunden wäre, die anlässlich jeder taktilen Auffassung eines Elements Zugang zu jeder Art von Inhalt gäben.

Durch eine solche neuartige habitualisierte Schau würden wir es uns ermöglichen, die Dimension des Wissens in einer besonderen Phase seiner Entwicklung zu öff-nen und uns gegenüberzustellen, und wir würden ebenfalls die Möglichkeit eines explorativen Zugriffs auf eine solche Dimension erlangen. Durch die Auffassung eines Gegenstands in einem gewissen Moment seines Logos , eines Knotens bzw. eines Clusters (eines Komplexes von MT Gegenständen), könnte man diesen in einer Art synästhetischer Erfahrung erkunden, man könnte Blickwinkel wechseln oder durch eine einfache Geste textuelle Dokumente, Inhalte, Protokolle, Dia-gramme jeder Art vor Augen haben, alles, was auf diesen Gegenstand im Fokus unserer Erkundung bezogen ist.

Aber es ist zu spekulativ, zu abstrakt! …  sauve qui peut! Rette sich, wer kann! So hört man schon einen vom Feinde erkauften Verräter ausrufen, der diesen Auf-satz dafür ausschreit, dass hier von Metatheorie, Mathesis , neuer Schau über das Wissen die Rede ist. Denn die hiesig genannten Begriffe der „Schau“ ebenso wie die der „Metatheorie“, der „ Mathesis “, und auch des „spekulativen Denkens“ sind solche, vor denen nicht wenige wie vor einem Pestkranken davonlaufen.

„Zu spekulativ!“ ist de facto der Einwand gegenüber dem einen Denken, das sich mit dem Horizont des Wissens (jenseits passiv angenommener Kategorien) beschäftigt, sich in diesem befindet oder sich befinden könnte. Doch die anschei-nend exzessive Abstraktion einer solchen metatheoretischen Mathesis stellt ein-fach das Niveau an Abstraktion und die Höhe der Herausforderung dar, welche von der Sache selbst, von der Komplexität der Probleme intrinsisch bestimmt und gefordert wird. Das Spekulativ, welches Hand in Hand mit der anscheinend abs-trakten Natur eines solchen Entwurfes geht, ist einerseits aus der Verbindung des Problems und der Faktualität eines Zustandes und andererseits den begrifflichen Strukturen – die es uns erlauben, einen solchen problematischen Komplex zu be-greifen und zuerst zu erkennen – entstanden. Die Dynamik des Wissens lässt sich innerhalb einer Perspektive erklären (wenn auch nicht ableiten) und beschreiben (wenn auch nicht normieren), worin dasjenige, was wir schauen, keine Reihen von Büchern, keine Gebäude einer Hochschule sind, sondern die notwendigen Verbin-dungen einer heterogenen Mannigfaltigkeit mitsamt einer invarianten (modell-theoretischen) Struktur. Eine solche strukturelle Invarianz steht nicht hinter dem Faktischen, sondern zwischen uns, unserer Theôria , und dem Faktischen selbst, insofern nur ein solcher struktureller Invarianz-Träger den Zugang zu der Sache und ihren Variationen ermöglicht.

Das Metatheoretische wirkt schon in unserer Öffnung zum Wissen und be-stimmt die Auffassungen, die begrifflichen Kinästhesien, in den (auch nur) de-skriptiven Akten jeder theoretischen Einstellung. Dort, wo man sich über eine Verbindung zwischen einem theoretischen Element x und einem anderem äußert, unabhängig davon, in welchem disziplinären Kontext man sich befindet, wirkt schon implizit das Metatheoretische. Die metatheoretische Mathesis bringt eine solche stillschweigende, nicht explizierte Grammatik, die jede Kritik einer sol-chen „Spekulation“ schon notwendigerweise benutzt, um das „Was“ und „Wie“ ihrer Leistung zu behaupten, auf die Ebene des begrifflichen Bewusstseins. Ist erst einmal ein solcher geschlossener Raum – worin die Metaphysik behauptete, das Wissen normieren zu können, aber worin sie letztlich nur seine Schatten auf-fasste – verlassen, öffnet sich das Wissen dem reinen Denken so, wie es ist, als Horizont einer Schau und nicht mehr als Korpus, Gebäude oder architektonische Konstruktion.

Eine solche Öffnung lässt uns die echte Wortbedeutung einer en-kuklios-paideia neu entdecken (Fraisopi 2016a, 122), welche immer und ständig verborgen bleibt, wenn man das Metatheoretische als einen getrennten, un-situierten Fixpunkt be-trachtet, was im Gegenteil das Wesen der metatheoretischen Schau verbirgt und

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verfälscht. In diesem Zusammenhang kann sich eine solche Verfälschung der metatheoretischen Schau nur mit der Verfälschung des Spekulativen als view from nowhere verbinden, d. h. die historische und theoretische Verarmung des Speku-lativen nur in der Form des ‚ de specula prospicere ‘. Eine solche Form des Speku-lativen, die von ihrer notwendigen, komplementären Form – der des ‚ per specu- lum videre ‘ – getrennt wird, lässt sich nur als Verlust der Komplexität jedes echten Theôrein verstehen. Jenseits der krypto-theologischen Dichotomien, die durch Augustinus in das philosophische Denken eingeführt wurden, kann das Speku-lativ nur situiert und mit einer Stellungnahme verbunden sein, hin zu einer Stel-lung, welche die wesentliche Mit-Zugehörigkeit zwischen thematischer Öffnung und reflexiver Selbst-Beziehung jeder Erfahrung und jedes begrifflichen Vollzuges zeigt (ebd., 115). Weit entfernt davon, durch diese Situativität geschwächt zu wer-den, fasst sich das reine Denken somit spiegelbildlich auf, als von einem Horizont theoretischer Form(ung)en umgeben, der erkundet und beschrieben werden soll. Nur von einem solchen Zustand kann ausgegangen werden, um es diesem Den-ken, aufgrund des historischen Gedächtnisses, welches es in sich trägt, möglich zu machen, sich in einer neuen Forschung und in einer neuartigen Arbeit anzu-erkennen.

Das Bewusstwerden einer solchen spekulativen Natur wird es ihm ersparen, in die leeren Diskussionen der heutigen sterilen Debatten der Metaphilosophie zu fallen. Solche Debatten, die eine Art sterile Publizistik verursacht haben, zeigen bloß die Armut eines Denkens, das nicht mehr den Mut hat, einen Schritt weiter-zugehen, oder sich erneut seiner wesentlich spekulativen Aufgabe zu stellen. Das ‚Spekulativ‘ – vor allem wenn es in dieser verstümmelten Bedeutung verstanden wird – ist kaum eine Garantie des Edlen, bedeutet kaum per se die Würde des Denkens. Es stellt uns zuerst die elementare, verwirrende Offenheit des Denkens in Bezug auf das Wirkliche dar. Es ist die Form seines intimen Lebens, welches letztendlich spekulativ ist.

Der spekulative Gehalt der metatheoretischen Mathesis tut nichts anderes als eine solche Öffnung in Beziehung auf den Horizont des Wissens selbst wieder zu aktivieren und die Arbeit des Denkens nach der neuen Form einer Faktualität umzugestalten. Eine solche Arbeit besteht darin, das Unbewusste der Komplexität des Wissens auf die Ebene der begrifflich-strukturellen Verständlichkeit zu erhe-ben. Nur in diesem Sinn kann man verstehen, dass die außergewöhnliche Aufgabe eines solchen Denkens in der Privation besteht, in der Stêresis , in der Unmöglich-keit, es sich als „armchair philosophy“ bequem zu machen und keinen neuen Kon-takt mit dem Wissen und seinen geodäsisch-rhizomatischen Prozessen zu finden. Die Bestimmung dieses Denkens, und vielleicht seine Nèmesis , ist es, zu erkunden, und immer wieder neue Werkzeuge zur Erkundung zu schöpfen.

Weit entfernt davon, ungefährlich zu sein, ist eine solche Erkundung vielmehr das Gefährlichste, da sie auf ihrem Weg neuen Aporien und neuen, scheinbar un-auflösbaren Schwierigkeiten begegnen wird. Eine solche Schwierigkeit besteht darin, dass der Begriff „Gegenstand“ und die dazugehörigen, auf ihn bezogenen formal-ontologischen Prädikate, die dieser notwendigerweise benutzt, nicht im-stande ist bzw. sind, den Gehalt einer im Voraus gewählten Form von Wissen-schaftlichkeit zu zeigen, wie die Mathesis des objectum purum et simplex des Des-cartes es doch zu können glaubte. Im entdeckten Horizont der Theorien, in dem eine radikale metatheoretische Relativität wirkt, ist es nicht mehr möglich, eine Form absoluter Apodiktizität zu wählen, sei es auch die der topologischen Mo-dellierung.

Die Mathesis des objectum purum et simplex im cartesischen Sinne der klas-sischen Metaphysik war (wie vielleicht auch noch die Hegel’sche Dialektik) über einen unberechtigten metonymischen Gestus begründet, der darin bestand, eine logische bzw. mathematische Struktur als Muster, als Modell der Wissen-schaftlichkeit (und konsequenterweise als ontologisches Kriterium des darin sich spiegelnden Wirklichen) zu wählen. Die metatheoretische Mathesis scheint nun eine muster-lose geworden zu sein, schlichtweg deswegen, weil sie keinen proto-typischen Gegenstand wählen kann, der zugleich als universell gedacht werden könnte. Ist die metatheoretische Mathesis wirklich eine gegenstandslose Mathe-sis? Ist das nicht eine contradictio in adjecto ? Sollte man nicht einfach gestehen, dass der metatheoretische Typus der Mathesis eine Mathesis ist, deren Gegenstand noch teils unbestimmt, aber sicherlich kaum als universal anzusetzen ist? Worin liegt eine solche Unbestimmtheit genau? Sie ist jedenfalls nicht der topologischen Struktur ihrer Modellierung zuzuschreiben, die in sich apodiktisch fest ist, noch den Gegebenheitsformen, denen eine ebensolche Modellierung überhaupt erst Gestalt und Sichtbarkeit gibt! Wo sollte man dann aber eine solche Unbestimmt-heit suchen? Nun, eben in der radikalen Neuigkeit einer solchen Perspektive, d. h. in der Idee des Modells bzw. der Modellierung selbst, die in die philosophische Praxis eingeführt werden.

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Die Idee eines Graphen – und die daraus entstehende Modellierung – ist je-doch kaum vor jeder metaphysischen Aporie geschützt: Sie selbst scheint noch der Möglichkeit einer irreführenden Substantialisierung ausgesetzt zu sein, sowohl hinsichtlich der Wissensformen, die sie modelliert (im Stil: „das Wissen hat diese Form!“), als auch mit Blick auf die Welt, die sich in den Kristallisierungen eines so modellierten Wissens widerspiegelt.13 Doch das Modell und die Idee einer phi-losophisch-wissenschaftstheoretischen Modellierung schließen eine solche Mög-lichkeit aus, da es unzulässig ist, die ontologische Substantialität eines im-Modell-vorgestellten-Etwas zu behaupten. Würde denn eine metatheoretische Mathesis unsicher und unbestimmt bleiben, wenn ihre Modellierung, ihre Schau von jeder ontologischen Substantialität getrennt bliebe?

Eine solche Trennung wäre doch nicht zu fürchten, sondern als wissenschaftli-ches, nicht-metaphysisches Inkrement zu begrüßen. Warum sollte ein philosophi-sches Denken keine Modellierungen leisten? Eine solche Trennung wäre nur vom Standpunkt eines Denkens für einen Mangel zu halten, das nicht die Idee einer letztendlichen (d. h. fundamentalontologischen) Auffassung von Etwas in Frage stellt, noch in Frage zu stellen vermag, und in Gemeinschaft mit seinen metaphy-sischen Gespenstern bzw. Nostalgien leben will.

Es gibt hier keine letztendliche Substantialität des Wissens noch des Wirkli-chen, das sich in diesem Wissen widerspiegelt, sondern nur eine umfangreichere spekulative Bewegung, die das Wissen dazu bringt, sich von jedem metaphysi-schen Diskurs zu befreien. Liegt in dieser Bewegung – welcher das reine Denken in seiner ersten Erfahrung des metatheoretischen Horizontes einfach folgen kann, welche aber der systematische Entwurf einer Mathesis notwendigerweise in Frage stellen soll (Fraisopi 20162) – begründet, dass man der Ungewissheit der metatheo-retischen Mathesis in Beziehung auf ihren Gegenstand nach-forschen soll? Kann das philosophische Denken die Methode der Modellierung implementieren? Wie verhält sich eine solche Implementierung zu der Idee einer Letztbegründung? Was sind solche Gegenstände – innerhalb ihrer eigenen Mathesis verstanden? Sind sie nicht ein Hybrid zwischen einer partikularen Form des Wissens und einer Onto-logie, die sich nicht mehr als metaphysische Letztbegründung darstellen kann, ohne zugleich vollständig ihre konstitutive Relativität zu akzeptieren? Sind sie nicht die bedeutenden Konkretionen jener besonderen Dialektik, welche das Wis-sen innerhalb der Immanenzebene seiner rhizomatischen Prozesse projiziert und damit die Idee einer Ontologie als Fundamentalwissenschaft erschöpft? Einer sol-chen Hybridisierung folgend, welche ihrerseits der notwendigen Hybridisierung der Schau selbst im metatheoretischen Horizont entspricht, gewinnt die Mathesis einen entscheidenden Hinweis auf die Methode der Wissenschaftlichkeit, die sie annehmen könnte, und erfährt damit einen radikalen Perspektivenwechsel.

Ein solcher Sprung nach vorn, ins Unbekannte, der die Aufgabe einer Neuge-staltung des Entwurfs einer protê episteme eröffnet, eröffnet zugleich auch das Denken hin zu seiner Gegenwart, der Gegenwart der transdisziplinären Praxis des Wissens.

5 Von der metatheoretischen Mathesis zur Transdisziplinarität

Weit entfernt davon, von der Wirklichkeit entfremdet zu sein, verwurzelt sich eine solche metatheoretische Mathesis unmittelbar in unserer Gegenwart, insofern sie uns eben ermöglicht, die Transdisziplinarität in einer weder zu engen noch trivial pragmatischen ( bottom-up ) Art und Weise zu verstehen.

Schon 2007 verband Jürgen Mittelstrass (der sich nicht zufällig mit der Mathesis universalis intensiv beschäftigt hatte, vgl. Mittelstrass 1979) die Transdisziplinari-tät mit der Komplexität der Wissensprobleme einerseits und der neuen Form einer „Unübersichtlichkeit der Wissenschaftlichen Dinge“ andererseits ( Mittelstrass 2007, 2ff.). Diese letztere, wesentliche Verbindung zwischen Komplexität und Transdisziplinarität wird deutlich von Roger Waldeck in seinem Vorwort zu Methods and Interdisciplinarity betont:

Diese Verbindung ruft m. a. W. den Zustand einer stetig wachsenden Mannig-faltigkeit von Wissensformen auf, die sich nicht in der begrenzten Idee eines phi-losophischen Systems einschließen lassen, einem System, als dessen Hüterin die Philosophie oder besser die Metaphysik zu verstehen wäre. Sie konnte zweifellos in anderen Epochen den Schein erwecken, eine solche verwirrende Komplexität der Welt – durch eine architektonische Kontrolle über das Wissen selbst, worin eine solche Komplexität sich konstitutiv widerspiegelte – normieren zu können. Heut-zutage ist ein solcher Traum aber abgeräumt.

Gegenüber einem solchen Zustand, der schlichtweg den Sinnverlust der Phi-losophie bestimmt – ein Sinnverlust, der seinerseits nichts anderes widerspiegelt bzw. sublimiert als die Verwirrung und den Sinnverlust des Individuums gegen-über einem Wirklichen, dessen Komplexität es nicht beherrscht und begreift –, hat das reine Denken mehrere Optionen bzw. verschiedene gangbare Aus-Wege vor sich (es sei dahingestellt, ob diese sich Philosophie nennen wollten oder nicht).

Die erste Option ist diejenige eines wohltemperierten Ansatzes zur Komplexität einerseits und zur Dynamik des Wissens andererseits. Es geht um eine Stellung/Stimmung, die sowohl in eine heitere und unproblematische Akzeptanz („Warum nicht?“) als auch in eine psychologische Ausgrenzung dekliniert werden könnte. Im ersten Fall werden wir einfach eine Philosophie erfahren, welche die Komplexi-tät bloß nennt oder welche das Adjektiv „komplex“ neben Substantiven hier und dort einfügt, um als ‚up to date‘ zu erscheinen, ohne weitere (und fundamenta-lere) Fragen stellen zu wollen, welche in ‚transdisziplinären Projekten‘ beschei-den arbeitet, ohne dadurch schon zu wissen noch wissen zu wollen, wo sie sich genau befindet oder was sie eigentlich tut. Es ist das Bild einer von der Philoso-phie herumtappend behandelten Transdisziplinarität. Im zweiten Fall werden wir eine Philosophie erfahren, die auf der Suche nach einem Ursprünglich(er)en ist. Wir werden in diesem Fall die volle Farbpalette solcher Ursprünglichkeitsfor-men zur Verfügung haben, als Palette des Renouveaus der Metaphysik: analyti-sche bzw. phänomenologische Metaphysik, Individuen-letztbegründete-Theorien, Mögliche- Welten-Theorien, neuere Formen transzendentaler Egologie oder alle Formen der Suche nach dem Ursprünglich(er)en, die einen heute wohlbekannten Heidegger’schen Gestus imitieren oder weiterverfolgen: das Andere, der Leib ( la chair ), der ursprüngliche Chiasmus, das Archi-x oder Archi-y, die Ur-Welt usw. Ex falso quodlibet .

Eine zweite Option wäre, einen solchen problematischen Komplex in zwei ver-schiedenen Richtungen radikal in Frage zu stellen. Die erste Richtung der Frage-stellung zielt auf die Möglichkeit – aufgrund und anhand eines solchen doppel-ten Phänomens der Verwirrung, Verwirrung des Individuums gegenüber einer komplexen Welt und des Denkens gegenüber der Unübersichtlichkeit wissen-schaftlicher Dinge – die wesentliche und entscheidende Verbindung zwischen dem Existentialen und dem Epistemischen wieder für das Denken zu stiften. Es geht um eine basale Verbindung, welche eine Philosophie als existentialer Trost bzw. als Phänomen à la mode fast nicht mehr auffassen kann und welche eine akademisch-technisierte Philosophie hasst bzw. (aus verschiedenen Gründen) fürchtet, erneut zu beleben. Es geht einfach darum, sich zu fragen, ob und in-wiefern es möglich sei, dass ein Denken die existentiale Dimension des Lebens und die epistemische Dimension des Wissens wieder verweben könnte. Nur aufgrund einer solcher Rekonstitution bzw. eines neuen Webens – die/das, wie wir bald sehen werden, ihre/seine eigene wesentliche pädagogische Rolle spielt – kann das Denken die doppelte Verbindung der Philosophie mit der Komplexität der phänomenalen Welt und der Transdisziplinarität in Frage stellen. Welcher ist der Raum, der Horizont, worin das „Trans-“ bzw. das „Inter-“ zwischen Diszi-plinen sich entwickelt, sich denken und begreifen lässt? Durch welche Bewegung (wir möchten sie „spekulative Bewegung“ nennen) können wir den Übergang von einer Disziplin zu einer anderen und, konsequenterweise, die Stiftung eines inter-disziplinären Komplexes denken und begreifen? Ist es möglich, die neuen Generationen an eine solche Vision/Konzeption des Wissens und der Phäno-menalität heranzuführen und in dieser auszubilden? Von der Antwort auf diese Fragen hängen ab: das Wesen der Philosophie, der Vernunft selbst und ihre Bil-dungsfunktion in der Gesellschaft. Man könnte hier in diesem Zusammenhang fast die rhetorischen (und zugleich auch tragischen) Fragen stellen, die der in-szenierte Parmenides Platons an den jungen Sokrates stellt: „Wie willst du es

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nun mit der Philosophie halten? Wohin willst du dich wenden, wenn diese Be-denken keine Aufklärung finden?“ ( Parm ., 135 c)

Die metatheoretische Mathesis besteht nicht anders als im Entwurf einer Ge-samtansicht, dieser Transdisziplinarität eine visuell-logische Grammatik zu ver-leihen und, anhand ihrer Grundthesen bzw. Leitideen, eine modellierende Me-thode für zukünftige strengere Forschungen über transdisziplinäre Ansätze zu profilieren. Statt einer herumtappenden philosophischen Praxis der Transdiszi-plinarität, worin die Philosophie sich bescheiden verortet (wo ihr ihre Rolle ge-wissermaßen passiv zukommt) und, in der Mehrheit der Fälle, rhapsodisch sich vorzugehen anschickt und dabei als überflüssige Beilage zum Hauptgericht er-scheinen mag, wäre der Anspruch der Philosophie jener, sich wieder als (nicht hypostatisch-metaphysische) prôte épisteme zu entdecken und den Horizont der Wissenspraxis zu eröffnen und zu erkunden.

Nur in einer solchen Perspektive kann das Denken die Frage nach dem Gegen-stand der Transdisziplinarität (als Ansatz dieses oder eines anderen Aggregates von Disziplinen) stellen. Denn wenn ein metatheoretischer Komplex mehrere Dis-ziplinen zusammenbringt, und jede ihrerseits eine Ontologie mit sich trägt, so sollten wir auch anfangen, die ontologischen Komplexe solcher transdisziplinären Aggregate – unabhängig von der Idee einer fixen, basalen Ontologie als Begrün-dungsschlüssel des Wissens über das Sein des Gegenstands – zu modellieren.

Nur durch diesen Weg, den einer metaontologischen Mathesis , welche aus der metatheoretischen entsteht, wird sich uns eine phänomenal vielfältige Wirklich-keit darbieten, eine komplexe, emergente Wirklichkeit, von der wir fähig sein wer-den, ihre komplexe Konsistenz nicht metaphysisch zu denken. Und nur in einer solchen Perspektive werden wir den Gehalt unserer Erkenntnis in der Komplexität der phänomenalen Welt wieder gestalten können, eine Art vielfältiger Topologie der (aus der kontextuell entstehenden Wissenspraxis) Evidenz gestaltend, ohne ständig zur Idee einer Letztbegründung zurückzukehren.

Die Öffnung solcher Forschungsfelder – und anderer Mathesis -formen, die eine solche Aufgabe methodisch zergliedern (meta-egologische, meta-ontologische und meta-metaphysische Mathesis )15 – zeigt im Endeffekt, dass der Anspruch der Philosophie sich nicht geändert hat, sondern dass er sich in einer neuen (sich-mit-der-Sache-bildenden) Methode radikalerer Fragestellung erneuert. Eine solche wurde vielleicht zu früh und zu rasch als eine Art Befreiung von einer zu schwieri-gen und biographisch zu gefährlichen Aufgabe beseitigt. Doch gilt:

Es ist der Anspruch der Eröffnung neuer Horizonte, in denen das Individuum handeln und sich durch seine Wissenstätigkeit ins Wirkliche widerspiegeln kann, der uns endlich einen neuen gemeinsamen Entwurf der Paideia verstehen lässt. In diesem Sinn zeigt sich die prôte épistème (abseits und jenseits der Metaphysik) als zétoumène épistème , gesuchte und suchende Wissenschaft, an der Grenze des Sichtbaren, des Einfach-da.

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II. Die Methode(n) der Philosophie als philosophisches Problem

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Diaphantos. Dialog zur Methode der Philosophie

Thomas Arnold

Es war einmal vor einiger Zeit, und diese Zeit ist schon lange, lange her, etwa letzten Freitag, als zwei alte Freunde ihre Wege kreuzten, nämlich Diaphantos der Mathematiker und der Philosoph Amerius. Da sie sich länger nicht gesehen hat-ten und auf Austausch bedacht waren, suchten sie nach einem Ort zum Sprechen. Und weil es ungewöhnlich heiß war für die Jahreszeit, ließen sie sich schließlich im Schatten einer nahen Platane nieder. Nicht weit entfernt wurden Rinder durch eine Furt getrieben, ein Hund lag in der Sonne, eine lange, schöne Leine neben sich und das Mobilfunknetz war auch nicht schlecht. Und so begannen sie, unter-malt vom Zirpen der Grillen und dem dumpfen Brüllen der Ochsen, folgendes Gespräch.1

Diaphantos: Na, was treibst Du?

Amerius: Ich wurde eingeladen, einen Beitrag zu einem Band über Philosophie und ihre Methode zu schreiben. Daran denke ich herum, darüber denke ich nach.

Diaphantos: Ah so? Und, was ist denn eure Methode?

Amerius: Wen meinst Du denn genau?

Diaphantos: Nun ja, obwohl interessante neue Ergebnisse interessante neue Me-thoden erfordern, habt ihr doch als gesamte Disziplin sicherlich irgendwelche gängigen Methoden, nehme ich an. Da nimmst Du Dir eine raus und schreibst was darüber.

Amerius: Ich bin mir gar nicht so sicher: weder darüber, ob „wir“ eine gesam-te, einheitliche Disziplin bilden, noch ob „wir“ gängige Methoden haben. Oder überhaupt Methoden im selben Sinn wie andere Fächer.

Diaphantos: Wieso solltet ihr keine Disziplin darstellen? Ihr seid doch eine Einzel-wissenschaft neben anderen, organisiert in Fakultäten, Instituten, mit Journals, Tagungen etc. Das reicht doch dafür, eine Disziplin zu sein, oder nicht?

Amerius: Schon, aber dieser Betrieb könnte doch genauso gut eine Verfallsform von Philosophie sein, also irgendwie auch nicht Philosophie. Vielleicht sollte Philosophie gar keine Disziplin in diesem Sinne sein. Ein Freund von mir hat zum Beispiel neulich eine elende Diskussion über Standardmethoden geführt, wobei die Frage war, wer denn mit welchem Recht für alle anderen irgendwelche Standards festzulegen hat. Die – in meinen Augen völlig berechtigte – Frage blieb unbeantwortet.

Diaphantos: Aber ohne Standardmethoden geht es ja nicht weiter, irgendjemand muss eben erst mal ein paar Pflöcke einhauen, damit man dann ordentliche Wissenschaft betreiben kann, um voranzukommen – auch, wenn es erst danach brillant wird.

Amerius: Sagt wer? Und was meinst Du mit „ordentlich“? Sowas wie „normal“?

Diaphantos: Auf keinen Fall meine ich das! Ich verabscheue das Wort „normal“, weil es oft als Machtinstrument benutzt wird, um sicherzustellen, dass der geis-tige Horizont des Nachbarn nicht größer ist oder wird als der eigene.

Amerius: Das kommt mir bekannt vor. Ich dachte dabei auch eher an „Normal-wissenschaft“ im Sinne von Kuhn.

Diaphantos: Da weiß ich nun wieder nicht genau, wovon Du sprichst. Mit „ordent-lich“ meinte ich jedenfalls so etwas wie „sachgemäß“ und „gemäß dem besten Wissen und Gewissen“. Erst auf solche ordentliche Wissenschaft kann dann außerordentliche Wissenschaft folgen.

Amerius: Aber wer entscheidet denn nun, wer die Pflöcke einhauen darf?

Diaphantos: Gute Frage. Es gilt jedenfalls nicht unbedingt, dass, was als Standard zu gelten hat, sich einfach daran zeigt, dass diejenigen, die sich daran halten, Stellen bekommen und veröffentlicht werden. So meritokratisch geht es leider nicht zu.

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Amerius: Sehe ich auch so. Das wäre letztlich naiver Darwinismus. Publikations-organe lassen sich kapern oder haben zumindest eigene Kriterien, die nicht aus dem Nichts kommen. Auch hier gibt es Entscheidungen, was als gute oder richtige Philosophie zählt – und muss es geben. Aber Journals sind potentiell genauso politisch wie der Rest des Betriebs. Die Frage, wer wie mit wie guten Gründen entscheidet, was als Philosophie zählt, ist mit Verweis auf Journal-Pu-blikationen also nur verschoben.

Diaphantos: Aber habt ihr denn überhaupt gemeinsame Standards?

Amerius: Gegenfrage: Wer ist denn jetzt genau diese Gruppe, die Du mit „ihr“ bezeichnest?

Diaphantos: Ihr Philosophen eben.

Amerius: Aber es ist ja gar nicht a priori klar, wer da dazugehört bzw. wer ent-scheidet, wer warum dazugehört! Und wie gesagt, der Betrieb bemüht sich zwar um Ein- und Ausgrenzung, aber das könnte ja ein rein politisches, dogmatisches Geschäft sein, völlig losgelöst von den Sachen selbst. Andererseits ist „der Be-trieb“ natürlich auch niemand, den wir fragen können, sondern eine Art „man“. „Man“ publiziert papers. „Man“ schreibt Anträge. „Man“ bewertet Anträge – nach Standards, die „man“ halt irgendwie kennt, ohne sie recht begründen zu können; was „man“ natürlich wiederum auch irgendwie problematisch finden kann. Naja. Man ist niemand. Daher frage ich jetzt einfach Dich: Wen rechnest Du denn zu den Philosophinnen und Philosophen?

Diaphantos: Ins Blaue hinein gesprochen würde ich sagen, alle betreiben Philo-sophie, die sich mit philosophischen Themen beschäftigen, wie sie in der Logik, der Ethik oder der Metaphysik behandelt werden. Wie in Mathe. Wer sich zum Beispiel mit Lie Algebren beschäftigt, macht offenbar Mathe.

Amerius: Sehen wir einmal davon ab, dass völlig kontextabhängig ist, was Aus-drücke wie „Logik“, „Ethik“ und „Metaphysik“ bedeuten; wusstest Du, dass der Ausdruck „Lie Algebra“ 1934 von Herrmann Weyl geprägt wurde, nachdem Sophus Lie solche Algebren zur Untersuchung von stetigen Transformations-gruppen entwickelt hatte?

Diaphantos: Ja, wieso?

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Amerius: Warte. Wenn wir uns mit Geschichte, Entdeckung und Benennung einer Sache auseinandersetzen, dann beschäftigen wir uns mit der Sache, oder?

Diaphantos: Irgendwie schon.

Amerius: Habe ich dann Mathe gemacht, als ich Dir gerade mein historisches Wi-kipedia-Halbwissen über Lie Algebren vorgetragen habe?

Diaphantos: Nein, natürlich nicht. Ich meinte, wer sich mit mathematischen The-men mathematisch auseinandersetzt, also mit den mathematischen Eigenschaf-ten mathematischer Objekte, macht Mathe.

Amerius: Also, wer Mathe macht, macht Mathe? Übrigens, was Du „meintest“, kann ich ja nicht wissen. Ich kann nur hören, was Du tatsächlich sagst. Alles andere wäre Unterstellung.

Diaphantos: Aber Du willst mir hier ja nicht verbieten, mich zu korrigieren oder zu präzisieren, was ich sagen will.

Amerius: Nein, natürlich nicht. Das habe ich auch gar nicht gesagt. Aber das „ich meinte eigentlich“ wird oft benutzt, um Kritik an dem auszuweichen, was man tatsächlich geäußert hat, nachdem man festgestellt hat, dass es vielleicht doch nicht so schlau oder standfest war, wie man gedacht hat.

Diaphantos: Sozusagen, um die Statuen des Daidalos doch noch nachträglich dingfest zu machen?

Amerius: Man liest Platon?

Diaphantos: Jaja, ich kenne meine Pappenheimer nämlich auch.

Amerius: Und Deinen Schiller offenbar ebenso.

Diaphantos: Weiter!

Amerius: Die Frage, was es bedeutet, Mathematik zu betreiben (oder Wissenschaft überhaupt), würde ich übrigens als philosophische Frage einordnen.

Diaphantos: Weil Wissenschaftstheorie bzw. Mathematikphilosophie eben Teil-disziplinen der Philosophie sind!

Amerius: Nein, sondern weil das Nachdenken über die eigene Tätigkeit zu einem Typ des Fragens und Denkens gehört, die ich für genuin philosophisch halte.

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Diaphantos: Aber sind nicht Begriffe wie „Wissenschaft“ oder „Erkenntnis“ ein-fach typische Themen für Philosophie?

Amerius: Ob jetzt die Begriffe Themen sind oder die Phänomene oder beides, darüber lässt sich trefflich streiten; zu denken, manche Themen seien „einfach typisch“, vergisst so oder so, dass jedes Thema thematisiert wird. Wenn es also wirklich typische Themen für Philosophie geben sollte, dann muss das die Folge einer typischen Thematisierung sein.

Diaphantos: Du sagst also, es gibt keine eindeutige Gruppenzuordnung „Philo-sophIn“, keine eindeutigen Methoden und keine typischen Themen? Ihr – wer auch immer ihr dann seid – betreibt wohl einfach wirklich keine Wissenschaft.

Amerius: Aber wieso? Welchen Wissenschaftsbegriff setzt Du denn hier schon wieder voraus?

Diaphantos: Der Begriff beschreibt die Aktivität einer Gruppe von Menschen, die mit klaren methodologischen Grundsätzen Wissen über wohldefinierte Themen schafft.

Amerius: Ich könnte fragen: „Warum? Wer legt das fest?“, bin aber geneigt, Dir erst einmal zuzustimmen bzw. Deine Definition anzunehmen; zumindest teil-weise, denn klare Grundsätze und Themen finden wir ja nur in der schon er-wähnten Normalwissenschaft, also, wenn es sozusagen läuft. Im Augenblick der revolutionären Entdeckung – die Dich ja auch besonders interessiert – sieht das ganz anders aus. Nur noch eine kleine Frage zu Deinen Kriterien: Wann sind Regeln klar?

Diaphantos: Wenn man sie einfach versteht und niemand sie in Frage stellt. So, wie wir uns in der Mathematik mehr oder weniger auf ZFC als Grundlage ge-einigt haben und gerade Kategorientheorie ausbauen; wobei ehrlich gesagt der ganze Grundlagenkram für die meisten Mathematiker im Alltag keine Rolle spielt. Du weißt ja auch, dass Kategorientheorie liebevoll als „abstract nonsense“ bezeichnet wird.

Amerius: Ich entsinne mich. Diese Haltung gegenüber Grundlegendem kenne ich – horribile dictu – aus der Philosophie auch; dort scheint mir die Einstellung gegenüber bestimmten grundlegenden logisch-metaphysischen Fragen aber sel-ten besonders liebevoll zu sein. Grundlagenfragen, über die wir hier plaudern, werden da eher als störend empfunden, weil es dann eben nicht, wie Du oben

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gesagt hast, einfach weitergeht. Und während das Weitermachen in den Wissen-schaften vielleicht wichtig ist, scheint mir diese Betriebsamkeit für die Philoso-phie nicht recht angemessen. Aber jetzt sind wir wieder bei der Frage, was denn als Philosophie zählt; und warum.

Diaphantos: Schauen wir doch einfach mal, was es so an Angeboten gibt. Platon hat da doch sicherlich etwas Schlaues zu gesagt, oder? Und den magst Du. Philo-sophen müssen für Platon Ideen erkennen, genau wie Mathematiker, das weiß ich! Außerdem kam niemand in die Akademie, der keine Geometrie konnte.

Amerius: Ja und nein.

Diaphantos: *seufzt*

Amerius: Die Geschichte mit der Inschrift ist vermutlich inkorrekt. Aber tatsäch-lich wurden in der Akademie auch mathematische Probleme behandelt und Geometrie ist bekanntermaßen Teil des Lehrplans im Staat . Und im Menon wird mathematische Erkenntnis als Beispiel für echte Erkenntnis überhaupt ge-nommen, zu der natürlich auch philosophische gehört. Aber gerade im Staat wird dann doch ein deutlicher Unterschied zwischen Mathe und Philo eingezo-gen, den ich wichtig finde.

Diaphantos: Aber das mit den Ideen stimmt, oder?

Amerius: Sowohl Mathe als auch Philosophie beschäftigen sich mit unsichtbaren Strukturen, die in gewissem Sinne unzeitlich sind, ja. Aber die Art und Weise der Beschäftigung ist sehr anders. Platon beschreibt Mathematikerinnen und Mathematiker eigentlich wie Du: Sie beschäftigen sich mit mathematischen Ge-genständen, indem sie bestimmte Voraussetzungen machen, also zum Beispiel bestimmte Ausdrücke und Zeichen generell einfach benutzen, um zu zeichnen, zu rechnen oder zu beweisen. Indem sie das tun, denken sie auch nicht darüber nach, was eigentlich ihre Objekte sind oder wie genau sie sie erkennen. Sie ma-chen eben nicht lange rum.

Diaphantos: Das klingt jetzt aber doch eher abwertend, als wären wir total stumpf-sinnig. Das Gegenteil ist der Fall – ein wichtiger Bestandteil mathematischer Forschung ist die rigorose und eindeutige Definition mathematischer Objekte.

Amerius: Das bezweifelt Platon an der Stelle auch gar nicht. Vielleicht sollten wir noch einen Unterschied einziehen zwischen mathematischen Voraussetzungen

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einerseits und erkenntnistheoretischen und ontologischen (und eventuell sozia-len, neuronalen, ökonomischen …) Voraussetzungen andererseits. Platon sagt damit ja nicht, dass Mathematikerinnen und Mathematiker nicht rigoros de-finieren, sondern dass sie, indem sie – dieses „indem“ ist wichtig – sich auf die Mathematik konzentrieren, nicht zugleich philosophisch reflektieren.

Diaphantos: Was sie davor oder danach aber durchaus tun können.

Amerius: Durchaus. Platons Theaitetos demonstriert ja genau diese Möglichkeit. Zurück zum Problem: Einerseits erhält man nur mathematische Erkenntnisse, wenn man eben Mathematik betreibt, andererseits weist Platon darauf hin, dass diese Erkenntnisse, wenn sie völlig unreflektiert erreicht werden, vielleicht doch noch nicht der Weisheit letzter Schluss sind.

Diaphantos: Aber ist das nicht äußerst arrogant? Wer legt denn fest, wann eine Erkenntnis eine echte ist? Ich lasse mir doch nicht von einem toten Philosophen erzählen, wann meine Mathematik stimmt oder Wert hat!

Amerius: Das wäre auch etwas viel verlangt. Und leider gibt es genug Kollegin-nen und Kollegen von mir, die genau auf diese Weise agieren: Sie denken sich eine Lehre aus oder beziehen sich autoritativ auf irgendwelche ausgedachten „üblichen Sprechweisen“ oder „Intuitionen“, von denen aus sie dann großzü-gig entscheiden, wer richtig und wer falsch liegt. Platon dagegen lässt Sokra-tes vor allem auf einen Unterschied hinweisen, dessen Pole er mit Ausdrücken markiert, die wir als „Technik“ und „Wissenschaft“ wiedergeben können, und der darin besteht, dass es möglich ist, Regeln zu folgen und zu korrekten, hilf-reichen, nützlichen etc. Ergebnissen zu kommen, ohne je darüber nachgedacht zu haben, wie man die Regeln selbst rechtfertigen könnte oder was für Sachen man da eigentlich thematisiert. Das wäre bloße Technik; die sehr kunstvoll oder elaboriert sein kann, versteh’ mich nicht falsch.

Diaphantos: Das ist wirklich ein Unterschied, den ich aus der Mathematik selbst auch kenne. Es gibt durchaus Leute, die einfach vor sich hinrechnen, sich aber nie Gedanken darüber machen, warum oder mit was für Sachen sie sich da ge-rade beschäftigen.

Amerius: Den Unterschied gibt es, denke ich, in jeder Disziplin; im Grunde so-gar bei jeder Tätigkeit überhaupt, denn ich kann ja fast alles gedankenlos, also mechanisch – ohne das Wie zu bedenken – machen. Das Gegenteil davon wäre

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dann echte Wissenschaft oder Erkenntnis, die über ihre eigenen Voraussetzun-gen mit-informiert und entsprechend mit-informiert ist. Ich würde diesen As-pekt vielleicht einfach „Nachdenken“ oder „Nachdenklichkeit“ nennen.

Diaphantos: Aha! Und das ist dann Philosophie?

Amerius: Im Grunde, ja. Platon lässt Sokrates beschreiben, dass Philosophie da-rin besteht, sich zu den Anfängen, also den Prinzipien, Voraussetzungen zu-zuwenden und bis zum Unbedingten vorzustoßen, zu dem, was keine weiteren Voraussetzungen hat. Ob das zu extrem ist oder besser, wie genau dieses Ab-solute aussieht, darüber kann man natürlich streiten, aber die Bestimmung der Philosophie als Reflexion, als Blickwendung zurück, als Nach-Denken gefällt mir. Und scheint mir auch historisch fast alles abzudecken bzw. zu beschreiben, was in der Geschichte der Philosophie als Philosophie zählt.

Diaphantos: Aber warte, Reflexion ist doch einfach eine Art persönliches In-sich-Hineinhorchen, das bringt epistemisch relativ wenig und hat doch auch mit Ideen oder dem Absoluten nichts zu tun.

Amerius: Sagt wer?

Diaphantos: Der alltägliche Sprachgebrauch? Reflexion ist im Grunde doch nur Selbstbeobachtung oder Introspektion.

Amerius: Aber ich habe doch, bevor ich den Ausdruck benutzt habe, erläutert, was ich so benenne, oder?

Diaphantos: Ja, schon.

Amerius: Und das hatte mit Selbstbeobachtung gar nichts zu tun, oder?

Diaphantos: Naja, doch, irgendwie schon, weil man den Blick auf sich selbst wen-det.

Amerius: Es ging darum, eigene Voraussetzungen zu thematisieren, nicht um Introspektion. Selbstbeobachtung also nicht im Sinne eines Protokolls dessen, was mir durchs Gemüt geht. Um zu sehen, welche Voraussetzungen ich mache, muss ich nicht schauen, wie es gerade in meinem Gemüt aussieht, sondern ich muss das, was ich (tatsächlich) tue und sage und denke, daraufhin untersuchen, welche Bedingungen etc. darin sichtbar werden. Das ist kein kognitivistischer oder naturalistischer Reflexionsbegriff, sondern ein philosophischer. Selbst die Phänomenologie, in der es ja viel um Bewusstsein und Selbstbewusstsein geht,

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ist keine introspektive Erlebnispoesie, sondern der Versuch, die wesentlichen Bedingungen und Strukturen von Erscheinung zu untersuchen, also auch Refle-xion im weiteren Platonischen Sinn.

Diaphantos: Sind diese Bedingungen dann aber nicht doch typische philosophi-sche Themen?

Amerius: In dem Sinne vielleicht, dass sie in der Reflexion eben immer wieder thematisiert werden. Übrigens gibt es natürlich auch viele Bedingungen der Möglichkeit von allem Möglichen, die der Reflexion gar nicht zugänglich sind, sondern die dann konkret empirisch untersucht werden müssen; Nachdenken selbst hat ja zum Beispiel auch ökonomische, soziologische, psychologische, bio-logische etc. Bedingungen der Möglichkeit. Ich will gar nicht damit anfangen, diese hier jetzt zu differenzieren. Sagen wir einfach, die Philosophie bedenkt bestimmte strukturelle Bedingungen der Möglichkeit. Insofern jedenfalls das Nachdenken zum Beispiel immer wieder auch seine eigenen strukturellen Be-dingungen oder auch einfach Strukturen bedenkt, kommt die Philosophie im-mer wieder bei ähnlichen Themen an. Es gibt also eine philosophia perennis nur in dem Sinn, dass wir entweder immer wieder über ähnliche Dinge nach-denken – zum Beispiel Sprache und Sprechen, Denken und Bewusstsein – oder sogar über das Nachdenken selbst, das seine Strukturen ja nicht ändert. Die Themen sind meines Erachtens ein Effekt der Bewegung der reflexiven Themati-sierung, also des Nachdenkens.

Diaphantos: Das letzte bitte noch einmal langsam.

Amerius: Dass Philosophinnen und Philosophen im Verlauf der Geschichte im-mer wieder bei ähnlichen Themen ankommen, liegt daran, dass wir immer wie-der ähnliche Denkbewegungen vollziehen. Und ich denke, diese Bewegungen des Zurückkommens sind primär typisch.

Diaphantos: Mögen also die Themen nur sekundär typisch sein, aber gibt es für dieses Nachdenken nicht wenigstens klare Methoden? Wenn Du schon von „Wegen“ sprichst?

Amerius: Jetzt wird es wohl Zeit, mal zu überlegen, was eine Methode ist.

Diaphantos: Schauen wir doch einfach kurz bei Wikipedia: „Methode (Erkennt-nistheorie), ein systematisches Verfahren zur Gewinnung von Erkenntnissen“ – das klingt doch gut. Und ja, ich bin mir klar darüber, dass man von hier aus

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direkt nachfragen kann, was Systematizität bedingt. Aber bleiben wir mal beim „Verfahren“. Wie verfahrt ihr? Oder, weil wir ja gebildet sind, welchen „Weg“ verfolgt ihr?

Amerius: „Ihr“ bezeichnet jetzt alle, die Philosophie im Sinne von Reflexion be-greifen?

Diaphantos: Ja, ja! Nur nicht nochmal eine Bestimmung der Philosophie, bitte!

Amerius: Du meinst Vorgehen im Sinne endlicher Schritte, die zu einem Ziel füh-ren, ein Rezept?

Diaphantos: Meinetwegen. Ich erwarte keinen Algorithmus, aber eine Beschrei-bung Deines Verfahrens.

Amerius: Die sollst Du haben, denn die Forderung ist nur recht und billig – außer-dem soll ich mich ja gerade mit diesem Thema für meinen Beitrag auseinander-setzen. Unter der Voraussetzung, dass wir Philosophieren als eine bestimmte Art des Nachdenkens verstehen, ist wohl die erste Station auf dem Weg eine Art Blickwechsel. Man muss zunächst lernen, auf so etwas wie Voraussetzun-gen – oder wie man das dann genau nennen will – zu schauen, etwas auf seine Bedingungen und Strukturen hin durchsichtig, durchscheinend zu machen. Da finden sozusagen Verschiebungen statt: Vom Gegenstand zur Gegenständ-lichkeit, von der Setzung zur Voraussetzung, vom Seienden zum Sein, vom Er-scheinenden zum Erscheinen, vom Thema zur Thematisierung, vom Bedingten zur Bedingung. Oder man macht es mit dem „als“, also man spricht über den Gegenstand als Gegenstand, von der Setzung als Setzung usw.

Diaphantos: Erkenntnis als Erkenntnis, Wissenschaft, insofern sie Wissenschaft ist? So in die Richtung?

Amerius: Genau! Ich bin mir dabei nicht ganz sicher, ob die Verschiebungen, das etwas-als-etwas und das etwas-insofern-etwas etc. alle dasselbe sind, aber die Art der Bewegung scheint mir ähnlich. Statt einfach nur etwas anzuschau-en, schaut man an, wie das etwas strukturiert ist, wie etwas geschieht – und zugleich, wie man anschaut. Die Verschiebung vom Was zum Wie, das wäre vielleicht auch eine treffende Formulierung. Oder von der gesehenen Sache zur gesehenen Sache als solcher, also auch zur Perspektive, zur Perspektivität über-haupt. Um solche Schritte oder Verschiebungen zu gehen, muss man jedenfalls erstmal die Möglichkeit dazu sehen.

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Diaphantos: Die ist doch aber immer da, man muss sich bloß einfach entscheiden, sie wahrzunehmen.

Amerius: Irgendwie schon, deshalb spreche ich ja von „sehen“, nicht von „erfin-den“. Obwohl Einbildungskraft natürlich auch eine Rolle dabei spielt; mit De-leuze könnte man diesen kreativen Aspekt von Philosophie geradezu als Be-griffs-Design beschreiben. Ein guter Freund von mir hat zum Verhältnis von Design und Philosophie gearbeitet: Da gibt es interessante Zusammenhänge. Die „gerade“ Sicht ist jedenfalls ziemlich prävalent.

Diaphantos: Welche „gerade“ Sicht?

Amerius: Die Sicht auf das Was und von uns weg. Wir bekommen nicht beige-bracht, andere Blickmöglichkeiten zu sehen; unser Blick ist nicht wendig. Unser Sinn für Reflexionsmöglichkeiten ist ziemlich verkümmert. Ich finde, am Um-gang mit Problemen kann man das ganz gut sehen. Meinem Eindruck nach – mehr ist es nicht – werden wir auf lösungsorientiertes Denken getrimmt. Wir erlernen Kompetenzen, Probleme zu lösen, und sehen solches Lösen auch als wertvoll und produktiv an.

Diaphantos: Aber das ist es ja auch. Wenn ich ein Problem habe, dann will ich es eben lösen oder will, dass es gelöst wird; daher bekommt Anerkennung, wer das schafft.

Amerius: Einerseits. Andererseits könnte man ja auch darüber nachdenken, ob es gut ist, das Problem zu lösen. Oder unter welchen Umständen das Problem überhaupt eines ist, also das Problem mal als Problem, in seiner Problematizität beleuchten. Wenn ich mich einfach an die Lösung mache, habe ich schon ziem-lich viel akzeptiert, vor allem die Problemstellung. Die könnte ja selbst unbe-gründet oder nicht sinnvoll sein.

Diaphantos: Stimmt schon, viel wissenschaftlicher Fortschritt hängt damit zu-sammen, dass man Probleme zunächst verworfen und sich um das Lösen ande-rer Probleme bemüht hat.

Amerius: Man kann Probleme eben auch auflösen, statt zu sie zu lösen. Um das zu tun, müssen wir aber ihre Voraussetzungen prüfen.

Diaphantos: Grothendieck hat das langsame Auflösen mathematischer Problemen durch Prüfung der Voraussetzungen und Abstraktion einmal mit einer harten

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Nuss verglichen, die man, anstatt Gewalt anzuwenden, so lange in Wasser badet, bis sie sich letztlich durch ganz leichten Druck öffnet. Also lösen und auflösen: zweierlei; das habe ich verstanden. Jetzt aber weiter. Also dieser Blickwechsel oder wie man das nennen will, das ist der erste Schritt.

Amerius: Naja, kommt drauf an; mit Husserl gesprochen steht davor noch die epochê , die Einklammerung …

Diaphantos: Die Details klammern wir hier jetzt bitte auch flugs ein. Oder aus. Die Blickwendung, die Du beschrieben hast, ist jedenfalls einer der ersten Schritte. Besser?

Amerius: Ja.

Diaphantos: Dann was?

Amerius: Dann wird zugehört, hingeschaut, gefragt, gelesen und beschrieben, würde ich sagen.

Diaphantos: Das klingt jetzt wiederum nicht besonders spezifisch. Und sind das mehrere Schritte oder im Grunde nur einer?

Amerius: Was heißt denn hier „spezifisch“? Nein, ein Scherz, das will ich gar nicht klären. Die Aufzählung nennt auch nichts besonders Spezifisches, wenn man die Blickwendung wieder ausblendet. Wenn man die mitdenkt, dann ergibt sich daraus, denke ich, schon ein Bild, in dem wir typisches oder sogar kanonisches Philosophieren sehen können. So wie vorhin, als Du gefragt hast, was denn un-sere Standardmethoden seien. Darin liegt die Voraussetzung, dass es eine klar umrissene Gruppe von Philosophinnen und Philosophen gibt, die auch noch nach Standardmethoden verfährt. Diese Voraussetzung habe ich sichtbar ge-macht und problematisiert.

Diaphantos: Ähnlich, als wir über meinen Wissenschaftsbegriff nachgedacht ha-ben!

Ameris: Richtig. Außerdem sind richtig Zuhören oder Lesen gar nicht so einfach.

Jedenfalls können beides die meisten Menschen meiner Erfahrung nach nicht.Diaphantos: Nicht zu viel des Kulturpessimismus, wenn ich bitten darf.

Amerius: Wie gesagt, nur meine Erfahrung, keine These über Kulturverfall. Ich weiß auch gar nicht, ob das je anders war. Ich habe keine Meinung dazu und

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wüsste auf die Schnelle auch nicht, wie man sowas prüfen könnte. Gibt es sowas wie historische Psychologie? Oder geht man da in die Literaturwissenschaft? Zuhören und lesen scheinen jedenfalls deshalb schwierig zu sein, weil wir, mit Levinas gesprochen, immer schon zu viel verstehen oder begreifen wollen.

Diaphantos: Aber was soll man dabei auch sonst machen?

Amerius: Zuhören. Levinas versteht Verstehen als den Versuch, Anderes irgend-wie in unsere Schubladen zu packen, also als eine Art der Vereinnahmung. Stattdessen könnten wir aber auch versuchen, unsere Schubladen, wenn wir sie denn brauchen, anzupassen – wozu wir aber erst einmal herausfinden müssten, wie genau unsere Schubladen aussehen.

Diaphantos: Aber wir können doch nicht jedes Mal unser System umwerfen, wenn uns was Neues begegnet, das sich vielleicht bereits in dem uns bekannten System erklären lässt.

Amerius: Naja. Doch? Aber es geht mir gar nicht um „jedes Mal“, sondern darum, dass, wenn wir über etwas nachdenken, wir auch tatsächlich über das nachden-ken, worüber wir nachdenken wollen, nämlich das Gegebene.

Diaphantos: Aber machen wir das nicht sowieso?

Amerius: Durchaus nicht. Wir hören doch zum Beispiel oft, was wir hören wol-len – oder noch öfter das, was wir gerade nicht hören wollen, was aber auch nicht gesagt wurde. Jedenfalls verpassen wir nicht selten das Gegebene und haben stattdessen nur mit unseren eigenen Unterstellungen zu tun. Und wenn das pas-siert, hilft leider auch der größte Scharfsinn nicht. Ich kann lange herumreflek-tieren und -argumentieren; solange ich nicht bei der Sache, sondern nur meinen eigenen Annahmen bin, betreibe ich ein Glasperlenspiel.

Diaphantos: Zugegeben, Steppenwolf. Zu reflexiver Blickwendung tritt also Sach-lichkeit.

Amerius: Ja, aber natürlich nicht nacheinander. Das sind keine zwei Schritte, son-dern zwei Aspekte desselben Vorgehens. „Sachlichkeit“ ist übrigens ein gutes Stichwort, denn insofern sie immer wieder auf die Sachen selbst zurückgeht, ist die Phänomenologie zum Beispiel immer maximal realistisch bzw. jede gute Philosophie immer auch minimal phänomenologisch, weil sie eben Rücksicht

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darauf nimmt, wie sich die Sachen von sich her zeigen. Was auch immer die Sache selbst dann auch sei.

Diaphantos: Das heißt, Argumente spielen bei dieser ganzen Sachlichkeit gar kei-ne so große Rolle?

Amerius: Doch, klar, einerseits als Analyseobjekte, also als Sache selbst, denn man kann ja auch schauen, welche Voraussetzungen oder Strukturen ein gegebenes Argument hat, welche Perspektive oder Ideologie darin zum Ausdruck kommt etc. Andererseits auch als Begründung, wenn ich doch mal eine These aufstelle. Ein Argument soll ja, wenn wir mal ganz etymologisch sprechen, eine Erhellung darstellen, nämlich eine sachliche Behauptung so erhellen, dass sie glaubhaft ist. Und dazu muss sie nun einmal begründet sein, wofür wir wiederum – unter anderem – Argumente brauchen. Aber das Argumentieren selbst scheint mir kein besonderes Merkmal der Philosophie zu sein, denn Sophisten argumentie-ren zum Beispiel auch. Oder aktueller: Verschwörungstheoretiker bringen auch Argumente vor.

Diaphantos: Die sind nur meistens schlecht.

Amerius: Sehe ich auch so. Hier mal eine Vermutung: Querdenker sind selten Nachdenker. Und natürlich auch Querdenkerinnen, die sollen hier nicht ver-gessen werden. Jedenfalls wird da ganz viel infrage gestellt – nur die eigenen Voraussetzungen nicht.

Diaphantos: Genug von denen, wir waren bei der philosophischen Methode, nicht bei den Pseudoskeptikern, denen mir die echte Methode gerade abzugehen scheint. Was ist denn nun aber eigentlich das Ende einer philosophischen Un-tersuchung? Wenn ich recht verstehe, dann nimmt man so eine Verschiebung vor, schaut dann genau hin, fragt nach – und dann?

Amerius: Zwischendrin sollte man vielleicht zusehen, wer sich sonst noch zu dem Thema geäußert hat, um das Rad nicht neu zu erfinden. Überhaupt scheint mir Philosophie in dem skizzierten Sinn eine ziemlich kooperative Angelegenheit zu sein. Man diskutiert seinen Kram mit anderen, meinetwegen auch auf Konfe-renzen. Wenn es gut läuft, steht man sozusagen gemeinsam vor einem Problem und spielt sich die Bälle zu, ermöglicht sich gegenseitig immer noch mehr Ein-blick.

Diaphantos: Das klingt arg harmonisch.

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Amerius: Das ist es nun zum Glück auch wieder nicht. Man streitet sich ja schon um Auslegungen oder verlangt Begründungen oder will wenigstens mehr zu einem Punkt hören. Aber wir sind weder einsame Propheten, die sich ihre ein-zig wahre Lehre zuschreien, noch Analyse-Mönche oder Deskriptions-Nonnen. Noch sind wir professionelle Athleten, die nur Punkte machen wollen. Sollten wir zumindest nicht sein.

Diaphantos: Das klingt auch erstens unproduktiv und zweitens extrem langweilig, trotz – vielleicht auch wegen – aller Sportmetaphorik.

Amerius: Schon. Und noch etwas: Das Gespräch – auch schriftlich geführt – ist unter anderem deshalb wichtig, weil Philosophie auch responisv ist.

Diaphantos: Wie meinst Du das?

Amerius: Wir laufen in den wenigsten Fällen herum und analysieren willkürlich drauflos, das ist ein übles Klischee. Meistens reagieren wir auf eine These oder eine schon bestehende Auslegung eines Phänomens, sei es durch die Kollegin-nen und Kollegen oder alltägliche Stellungnahmen. Es erscheint mir übrigens manchmal unglaublich, wie viel manche Menschen den ganzen Tag über apo-diktisch behaupten, wenn man sie lässt.

Diaphantos: War das nicht auch gerade eine allgemeine Behauptung?

Amerius: Schon, aber keine apodiktische. Soll ich sie Dir begründen?

Diaphantos: Nicht nötig.

Amerius: Ich sage es anders; oder besser etwas leicht anderes: Mir scheint, viele Menschen behaupten sehr viele Dinge mit sehr viel Überzeugung, aber sehr, sehr schlechten Gründen und gar keinem Bewusstsein ihrer logischen An-sprüchlichkeit oder Übergriffigkeit. Besser?

Diaphantos: Viel. Auch wahrer. Mach weiter.

Amerius: Gutes Stichwort, wie machen wir nun weiter beim Philosophieren? Wir haben den Blick gelenkt, schauen genau hin und unterhalten uns bzw. lesen. Viel von dem, was dabei passiert, beschreibt auch Platon schon: wir machen Annah-men und ziehen Konsequenzen daraus, schauen wie weit wir damit kommen, ob wir mit anderen Annahmen in Schwierigkeiten kommen, ob wir adäquat erfas-sen, was wir erfassen wollen. Wenn wir dann sozusagen in die andere Richtung schauen, erkennen wir, welche Voraussetzungen bestimmte Annahmen haben;

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wir probieren eine Beschreibung von diesen Verhältnissen aus, entwickeln viel-leicht einen neuen Begriff oder ein Schema und schauen, was uns das bringt, also sehen lässt.

Diaphantos: Aber wie genau geschieht diese Entwicklung? Wenn ich Dich richtig verstanden habe, dann definiert und beweist ihr ja nicht einfach frei Hand, wie wir Mathematiker, oder sammelt Daten, wie andere Wissenschaftler.

Amerius: Wir sitzen im Lehnstuhl, meinst Du?

Diaphantos: Beziehungsweise unter der Platane. Aber wie geht ihr dann vor?

Amerius: Wie gehen wir zwei denn gerade vor?

Diaphantos: Nachdenklich?

Amerius: In der Tat. Etwas konkreter betreiben wir zum Beispiel, was Husserl „Va-riation“ nennt und was er auch bei Platon findet. Wir nehmen einen Begriff und schauen, was darunterfällt und dazugehört, indem wir zum Beispiel ein paar Test-Fälle bilden, Grenzfälle suchen und zusehen, was man an Merkmalen weg-lassen kann. Oder man nimmt ein Phänomen und variiert mögliche Beschrei-bungen. Solche Variationen sind natürlich nicht alles, was wir machen, aber sie tauchen doch recht häufig auf. Und irgendwann schreibt man was.

Diaphantos: Aber was genau ist das Ergebnis des ganzen Karnevals? Eine Methode soll ja eine Erkenntnis bringen. Wir Mathematiker leiten etwa ab und wissen dann eben, dass man das ableiten kann, dass eine Aussage ein Theorem ist. Und mit dem kann man dann vielleicht wieder etwas anderes beweisen. Aber was kommt bei eurem Nachdenken raus?

Amerius: Ich habe ja nur gesagt, dass es ein Verfahren oder ein Vorgehen gibt, nicht, dass das eine Methode im engeren Sinne konstituiert. Manchmal kommt beim Nachdenken auch nichts raus. Aber gut, was springt im Erfolgsfall raus oder was bringt das Ganze? Ganz grob gesprochen, ein Angebot, zu sehen; We-sentliches oder Strukturelles, wenn es sehr gut läuft. Ich denke über etwas nach, beschreibe irgendeinen Aspekt daran, der bisher quasi im Rücken der Betrach-tung lag oder dessen Beschreibung jedenfalls erfordert hat, die Sache anders zu sehen. Wenn ich meine Sache richtig gemacht habe, dann ist der Blick – oder die Analyse oder die Beschreibung oder was auch immer – konsistent, adäquat und plausibel und andere können dadurch auch auf diese Weise sehen. Damit liegt

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dann ein gut begründetes Angebot auf dem Tisch, etwas so oder so zu sehen oder nicht zu sehen – und darauf können Andere dann aufbauen.

Diaphantos: Das klingt, ehrlich gesagt, noch nicht sonderlich großartig. Wobei. Einerseits. Andererseits kommt es wohl darauf an, welche Kriterien ich für Großartigkeit anlege. Und dann darauf, welche Sache sich auf welche Weise wie neu zeigt …

Amerius: Würde ich auch sagen. Kant zum Beispiel nimmt immerhin für sich in Anspruch, sogar eine kopernikanische Wende zu vollziehen. Da geht es um Le-ben und Tod, obwohl es unter Erkenntnistheorie verbucht wird. Du hast – wie ich genau weiß – die drei Kritiken im Regal stehen; Du könntest sie endlich lesen, um zu prüfen, ob er Recht hat!

Diaphantos: Kein Kommentar.

Amerius: Wenn man es etwas weniger bombastisch will, nimmt man Husserls Formulierung, dass damit das Selbstverständliche ins Verständliche überführt wird, dass also das, was immer irgendwie akzeptiert, gesetzt und vorausgesetzt wurde, thematisiert und durchdacht wird. Blumenberg weist im Übrigen ir-gendwo darauf hin, dass der Effekt dieser Überführung auch darin besteht, dass die Laien sich denken, dass sie da auch beinahe selbst darauf hätten kommen können.

Diaphantos: Wie bei moderner Kunst. Undank ist jedenfalls der Welten Lohn!

Amerius: Undank, Spott, manchmal auch Wut. Sokrates, der das edle, aber faule Pferd Athen wach und damit nachdenklich halten wollte, hat ja entsprechend bezahlt.

Diaphantos: Schierlingsbecher müssen aber derzeit wohl eher nicht so viele von euch trinken.

Amerius: Stimmt. Umso schlimmer für uns! Man muss ja nicht immer gleich die Welt aus den Angeln heben oder eine Revolution vorbereiten; aber Teile dessen, was heute als Philosophie gehandelt wird, sind entweder so seicht oder so tech-nisch-trocken, dass sich wirklich niemand mehr dafür interessiert, geschweige denn dadurch erschüttert oder bedroht fühlt. Und manches davon ist auch so schlecht – weil dogmatisch –, dass sich zurecht niemand mehr darum kümmert. Da ist einem selbst der Schierling zu schade. Der – irrigerweise so genannte –

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Nachwuchs – denn wir sind spätestens mit der Promotion ausgewachsene Wis-senschaftlerinnen und Wissenschaftler – zieht sich außerdem durch das ewige Antrag-Schreiben, das Geschickte-Debatten-Beiträge-Gestalten und die akade-mische Selbstverwaltung schon selbst die Seele aus dem Leib.

Diaphantos: Na, dann ändert das doch!

Amerius: Das betrifft jetzt die Methode der Philosophie im weiteren Sinn: Wie geht man vor, damit Philosophie einen wieder angeht? Also, sowohl die Agenten wie die Rezipienten. Das betrifft natürlich Inhalte wie Disseminationsformen. Und irgendwie auch die institutionelle Situation. Und die Bildungspolitik. Und überhaupt.

Diaphantos: Ein weites Feld?

Amerius: Du sagst es, Vater Briest. Aber mal sehen, vielleicht tut sich da bald was. Ich sage nur „Public Philosophy“ …

Diaphantos: Ich habe jetzt jedenfalls eine bessere Vorstellung von dem, was ihr so treibt. Ihr Platoniker, meine ich. Hast Du denn eine Ahnung, was Du als Beitrag zu dem Band einreichst?

Amerius: Eine grobe Vorstellung, ja.

Diaphantos: Hervorragend. Dann bin ich jetzt dran. Wir haben ja vorhin schon über Lie-Algebren gesprochen. Kennst du eigentlich rein-inseparable Körper-erweiterungen?

Amerius: Wie könnte ich, mein Sokrates!

Diaphantos: Also kennst Du das?

Amerius: Rate mal.

Diaphantos: Nun gut, ich erkläre es Dir …

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(Da sich im Text keine genauen Zitate finden, sind hier philosophische Werke ge-nannt, auf die mehr oder weniger direkt angespielt wird.)

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Methodischer Anarchismus. Nichtkonforme Philosophie als epoché des Glaubens

Pirmin Stekeler-Weithofer

1 Der Anfang in Verwirrung

Ich beginne mit Robert Musils poly-thematischem Großessay Der Mann ohne Eigenschaften, in demGeneral Stumm von Bordwehr (Musil 1975, Bd. 3, 89f., vgl. auch 712) sagt: „ein Genie […] muß seine Sache gewissermaßen […] verkehrt an-fangen“; das Genie sei wie Einstein oder Freud ein „ universaler Spezialist“ (Bd. 3, 100), der „dort, wo viele vergeblich eine Lösung suchen, diese findet, indem er etwas tut, worauf keiner vor ihm verfallen ist“ (wie Musil sein alter ego , den ma-thematischen Logiker Ulrich in Bd. 3, 95 definieren lässt); „aus einem Philosophen geht aber ein Nachbeter oder ein Gegenphilosoph hervor“ (Bd. 3, 83).

Musils Kritik an ‚den Philosophen‘ ist niederschmetternd. Sie betet aber selbst ein übliches Vorurteil nur nach. Denn gute Philosophie tut in der einen oder an-deren Weise gerade das, was bei Musil das Genie tut. Schlechte Philosophie besteht entweder in bloßer Reproduktion lateinischer Rhetorik oder Predigt, die im Stil französischer Schulphilosophie Proselyten macht, oder lebt in der Illusion, durch Nachahmung mathematischer Exaktheit in theoretischen Sprachkonstruktionen ein genaues Denken zu fördern. Eben das propagiert auch Musil sozusagen als Anhänger Bertrand Russells, ohne zu merken, dass gerade dieses Vorgehen ein Systembilden ist, das zu Gegensystemen oder einem Weiterbasteln führt.

Hegel kritisiert diesen Pythagoräismus (übrigens an mehreren Stellen) als „Kindheit des Philosophierens“. (Stekeler 2020, 1076) Schon Heraklit, Sokra-tes und Platon kennen die Gefahr, dass schematisches Schließen in sophistische Rhetorik kippt, da es ‚wörtlich‘ nur für ideale relationale Strukturen gilt, die als mathematische Modelle jede Bewegung und zeitlichen Prozesse ausschließen, wie nach meiner Lektüre schon Parmenides und Zenon von Elea wissen. Wenn also die Bedingungen der projektiven Anwendung der Schlussformen nicht streng ge-nug dialektisch geprüft werden, können sie auf die gleichen Weisen in die Irre führen wie eine Metapher oder Analogie. Negative und positive Dialektik sind daher nach Platon und Hegel als freie Kritik und Sinnrekonstruktion notwendi-ge Ergänzungen der Schematisierungstechniken der Sprache. Nur sie führen zu einem guten Verstehen von Sprechhandlungen und einem intelligenten Lesen von Texten. Dialektik ist anarchisch insofern, als sie sich keiner schematischen Regel, insbesondere keinem Prinzip des bloß formalsyntaktischen Schließens einfach unterordnen lässt, zum Leidwesen aller Theoriebastler und Pädagogen fixer Ver-fahren.

Die Met-hode guter Philosophie besteht darin, im unübersichtlichen Gelände des Wissens und der personenbildenden Institutionen einen neuen Weg ( hodos ) zu bahnen, mit ( meta ) dem wir von innen her das Gelände erschließen. Alterna-tiv dazu können wir sprachlich neue Aussichtsplattformen errichten, von denen her wir wie von höherer Warte aus, in diesem Sinn ‚spekulativ‘, ein Gelände grob überblicken können. Damit tun wir jeweils etwas Anderes als diejenigen, welche entweder nur den schon gebahnten Wegen oder Methoden folgen oder bloß die schon errichteten Übersichten gebrauchen.

Das An-archische der Methode autonomer Reflexion auf spekulativer, d. h. höchst allgemeiner Ebene der Rede über ideale Formen stellt also einen üblichen Anfang oder ein Prinzip ( arché ) infrage und klammert bloß angelernte Überzeugungen ein. Es wird dabei sozusagen die Epoche des Meinens über ein Sachgebiet in eine epoché des Glaubens verwandelt. Die eingeklammerte Zeit (Epoche) der doxa , des Ondit oder des Geredes des Man wird in einer Einklammerung ( epoché ) üblicher Vorurteile aufgehoben. Erst diese Aufhebung ist philosophia im Sinne autonomen Wissens. Sie ist gerade auch die anarchische, weil nicht schematisierbare, Methode philosophischer Phänomenologie nach Edmund Husserl und phänomenologischer

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Hermeneutik nach Martin Heidegger. Sie stellt sich schon in Hegels Meisterwerk, der Phänomenologie des Geistes , als eine Verbindung von Fokussierung und abs-traktiver Herstellung einer Distanz heraus, die es als Leser auf angemessene Weise zu erkennen und nachzuvollziehen gilt. Hegels ‚Vollbringung‘ des Skeptizismus als dessen radikale Aufhebung besteht am Ende sogar darin, die skeptische epoché der Einklammerung allgemeinen Wissens, also der Suspension aller theoria bzw. philosophia , in die Einsicht zu verwandeln, dass Wissen ( epistémé ) eine Instituti- on enzyklopädischer Lehre ( mathésis ) ist. Deren Sätze sind nicht als dogmatische Behauptungen wirklich ewiger Wahrheiten zu lesen, sondern als kanonisch in und für eine Epoche, also für eine eingeklammerte Zeit und einen begrenzten Be-reich des guten Gebrauchs in Geltung gesetzte differentiell bedingte Inferenzregeln zu Gattungen und Arten. Sie artikulieren also Formen des generischen Default-Schließens. Diese fungieren als relativ apriorische Voraussetzungen für das Ver-stehen der Inhalte bzw. Geltungsbedingungen derjenigen empirischen Urteile, in denen die betreffenden Begriffe in relevanter Weise explizit oder implizit vorkom-men. Zu denken ist z. B. an das ‚begriffliche Vorkommen‘ nicht bloß von Fett, son-dern sozusagen auch von Kühen in der (Kuh-)Milch. In der empirischen und damit a fortiori perspektivischen, subjektrelativen und damit ‚endlichen‘ Aussage „es ist Milch im Kühlschrank“ wird das normalerweise vorausgesetzt. Es wäre daher so-phistische Irreführung, auch in Fällen, in denen im Kühlschrank nur Muttermilch oder Sojamilch oder vergorene Milch zu finden ist, die Aussage für wahr zu erklä-ren. Hegel erkennt daher schon, dass nicht eine transzendente Wahrheit, sondern die Unüberschaubarkeit der begrifflichen Default-Inferenzen dafür sorgt, dass alle endlichen, also empirischen, Aussagen mit ihrer Bezugnahme auf eine subjektive Betrachter-Perspektive der Form nach fallibel sind. Nach seiner Analyse wusste das schon der ‚pyrrhonische‘ Skeptiker Sextus Empiricus. Die neuere Skepsis (nach Descartes und Hume) zweifelt entweder nur (und zwar mit Recht, aber rein dogma-tisch) an transzendenten Geltungsansprüchen narrativer Mythen über Engel und Götter bzw. an einer Hinterwelt an sich im Sinne Kants, oder in verwirrter Weise an einem robusten Wissen über reale Dinge der Außenwelt, im falschen Glauben, es gäbe eine unmittelbare Wahrheit göttlichen Wissens über die Wahrnehmungs-gegenstände, das Anschauen und das Denken selbst.

Die epochale Begrenzung des Begrifflichen macht es nötig, erstens auf die Ver-änderungen der Beziehung von Ausdruck und Begriff bzw. von äußerer Sprache und inhaltlichem Denken zu achten, zweitens auf die diachrone Entwicklung

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des begrifflichen Kanons differentiell bedingter Normalfallinferenzen. Drittens ist eben dieses Zeitliche oder Regionale explizit zu machen, um so die Zeit oder Epoche besonders im Blick auf ein theoretisch und damit begrifflich verfasstes Wissensgebiet (sagen wir: die Chemie um 1800) oder eine institutionelle Formidee (wie die Republik Roms oder auch nur die französischen Revolution) in Gedanken zu fassen.

Dabei steht der Titel philosophia von Heraklit und Platon bis zu Newton und Leibniz zunächst über dem Gesamt theoretischer Wissenschaft. Diese ist ihrem Wesen nach Kanonisierung von begrifflichen Default-Schlussregeln mit definito-risch umrissenen Bedingungen. Sie ist institutionelle Arbeit am Begriff, neben der impliziten Arbeit ‚des Begriffs‘ am Begriff im gemeinsamen Gebrauch von Spra-che. Erst in der langsamen Ausgliederung der Sachwissenschaften wird Philoso-phie wieder zur proté bzw. prima philosophia , also zur Erbin der methodischen Kerndisziplinen der dialektiké techné Platons und der Metaphysik des Aristoteles. Die Logik der Sprache oder des Begriffs und die Logik der Rede oder Idee erweitert sich dabei zu einem reflektierten Wissen des Wissens, der noésis noéseós , und zu einem Wissen über die Grundformen aller instituierten Praxisformen, des Ethos der Person.

Diese Neukonstitution von Philosophie führt nach Descartes auf allerlei Um- und Abwege, nämlich in die naturalisierenden Theorien des Erkennens bei Hobbes, Locke, Hume und sogar noch bei Kant. Hegels Neuansatz einer Artiku-lation der Kreise der philosophisch reflektierten Wissenschaften wird dabei bis heute irrtümlich als sein und nicht als unser enzyklopädisches System der Wissen-schaften der Natur und des Geistes verstanden. Dabei wäre seine Logik als kom-mentierende Explikation der schematischen Formen des Rechnens in der Mathe-matik und des begrifflichen Schließens in weltbezogener Sprache zu begreifen.

Gute Philosophie im modernen Sinn ist freilich immer nichtkonform. Das ist so, weil es ihr um eine Rahmenverschiebung dessen geht, was als selbstverständlich geglaubt wird. Dazu bedarf es zwar der Kenntnis des tradierten Kanons dessen, was als Allgemeinwissen gilt, auch der üblichen Geschichten über Vergangenheit und Gegenwart oder Moderne, ferner der Beherrschung von Methoden des Nach-denkens. Es kann jedoch kein einfach lernbares Schema des Vorgehens im Philo-sophieren oder einer „Forschung“ der Philosophie geben.

Philosophen sind daher sozusagen Querulanten und Anarchisten, die von der Gesellschaft bezahlt und in der Akademie geduldet werden. Gute Beispiele im

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20. Jahrhunderts sind dafür Martin Heidegger, Michel Foucault, Paul Feyerabend oder Richard Rorty, aber auch L. E. J. Brouwer, Ludwig Wittgenstein oder Paul Lorenzen in der Philosophie der Mathematik. Die Empirie- und Theoriedebatte in den 70er Jahren, die nach den ‚wissenschaftlichen Methoden‘ und ‚Erklärungen‘ in Kopie eines eingebildeten Vorgehens der Natur- und Technikwissenschaften für die Sozial- und Literaturwissenschaften gefahndet hatte, gibt bis heute eher irre-führende Orientierungen, zumal im Bereich der Psychologie. Keine Statistik kann die freie Debatte um gute Formbestimmungen oder Setzungen von probabilisti-schen Erwartungswerten ersetzen. Lesen und Schreiben auf höchstem Niveau sind ohnehin plurale Techniken. Man muss zwischen den Zeilen lesen und wegen der Notwendigkeit, durch sprachliche Verdichtung einen haltbaren Sinn nicht durch zu viele Worte zu zerstören, auch zwischen die Zeilen reden und schreiben kön-nen. Mein Thema hätte daher auch lauten können: „Framebreaking. Die Rolle der Philosophie bei der Auslotung der Grenzen überkommener Selbstverständlich-keiten.“ Ich werde das an einigen Beispielen zu illustrieren versuchen.

2 Schematischer Konformismus und Intuitionismus

Das Problem des Verstandes als Vermögen des Regelfolgens oder der Reproduk-tion angelernten Wissens ist gemäß der Analyse Hegels dasselbe wie das jedes In-tuitionismus und jedes common sense oder jeder ordinary language philosophy . Es ist das Problem des internalisierten Konformismus.

Eine ‚narrative‘ Darstellung des Denkens großer Philosophen wie Platon und Aristoteles, Descartes oder Kant, die Hegel durch das schöne Adjektiv „erzähl-weise“ charakterisiert, findet sich in Will Durants The Story of Philosophy . Diese sozusagen singende, d. h. heroisierende, Nacherzählung wird in Bertrand Rus-sells A History of Western Philosophy im Grunde nur ironisch gebrochen. Mangels Sprachkenntnissen wird in beiden Büchern außerdem sogar die französisch- und deutschsprachige Philosophie wie schon die griechische nur vom Hörensagen her und aus zweiter Hand berichtet – so dass man z. B. überall dort, wo „Kant“ steht, wohl „Berkeley“ lesen muss, und, wo „Hegel“ steht, besser „McTaggart“ liest. Nicht viel besser steht es mit der Fortsetzung in John Passmores A Hundred Years of Philosophy und Recent Philosophers , deren Helden fast ausschließlich auf Eng-lisch schreiben und dabei in der Nachfolge Humes den monothematischen Essay , also sozusagen die Fortentwicklung des Abiturientenaufsatzes, bevorzugen. Das reicht mit knapper Not zur Kritik an einer dogmatischen christlichen Metaphysik. Insgesamt ist das Englische durch die Metaphysik des empiristischen Behavioris-mus, Materialismus, Naturalismus und anti-holistischen Individualismus schon fast allzu stark verformt, als dass es als weiterführende philosophische Reflexions-sprache wirklich taugen könnte.

Man kann zwar alles Denken in alle Sprachen übersetzen, zumal man Lehn-wörter einführen kann. Sprachen sind ergänzbar und Gedanken sind Invarian-ten mehr oder weniger äquivalenter Übersetzungen. Allerdings haben Sprachen wie das Latein oder die slawischen Sprachen gar keine definiten Artikel. Im Englischen bevorzugt man (allzu sehr) die aktive Form vor der passiven und verbale Ausdrucksformen narrativer Aussagen. Man tendiert dazu, den Ar-tikel „ the “ als Markierung vermeintlicher Kennzeichnungen angeblich schon existenter oder auch fälschlicherweise hypostasierter Entitäten zu lesen. Die griechischen Artikel „ ho, he “ und „ to “ oder die deutschen „ der “, „ die “, „ das “ wie in „das Sein“, „das Nichts“, „das Ich“ oder „das Man“ werden dagegen in entsprechenden Kontexten (freilich auch hier nur von entsprechend gebildeten Personen) unmittelbar als Abstraktoren verstanden. Mit ihrer Hilfe kann man semantische Reflexionsgegenstände beliebig schaffen. Dabei sind keineswegs alle Übersetzungen ohne weitere Erläuterungen angemessen zu verstehen. So-gar das entwickelte Deutsch greift in philosophischen Reflexionen zur Disam-biguierung häufig auch auf ‚Fremdwörter‘ oder ‚Lehnübersetzungen‘ aus dem Griechischen, manchmal auch dem Lateinischen, Französischen oder Engli-schen zurück, so dass wir Philosophie wie vergleichende Sprachwissenschaft nur betreiben können, indem wir, wie Hegel, sozusagen alle uns zugänglichen Sprachen mit in den Blick nehmen. Seit dem Niedergang multilingualer Bil-dung des Bürgertums des 19. und 20. Jahrhunderts ist daher das Denken selbst gefährdet. Die neue lingua franca kann nicht anders als die alte im Grunde nur Verkehrssprache sein, wie das Pidgin-Latein z. B. für den mediterranen See-handel. Wo Wissenschaft bloß (mathematisierte) Technik ist, mag das reichen, aber auch nur dort. So nützlich daher der Erwerb mehrerer Sprachen ist, so schädlich ist, andererseits, die Unterschätzung entwickelter Muttersprachen in der Ausbildung und für das autonome Denken – was übrigens gerade auch die Geschichte Galileis zeigt.

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Russell versucht sich immerhin an der Aufgabe, je eine kurze Skizze der relevan-ten Kerngedanken der Autoren zu geben, um diese in größere Kommentare ein-zubetten. Allerdings verwehrt ihm seine überhebliche Ironie, zwischen Gedanken und Einkleidung zu unterscheiden, so dass es aus der Sicht seines empiristischen Skeptizismus gar keine philosophische Wahrheit gibt, gerade so wie für sein frü-hes literarisches Nachbild, Musils Ulrich.

Musil wehrt allerdings mit vollem Recht jedes erbauliche Gerede über große Themen wie die „Seele“ von Menschen und Nationen ab. Er ridikülisiert besonders Walter Rathenau unter dem Namen „Paul Arnheim“ und Franz Werfel unter dem Namen „Feuermaul“. Sein Vorschlag eines „Committees für genaues Denken und Seele“ und die Rede von einem „Hauptausschuss für die Seligkeit“ sind offenbar verrückt. Bertrand Russell reagiert in ähnlicher Weise auf Will Durants Buch-projekt über den Sinn des Lebens bzw. die Großen Fragen der Zeit. Durant hatte alle möglichen very important persons wie Churchill oder Einstein, den amerika-nischen Präsidenten Hoover oder den tschechischen Tomas Massaryk gefragt, wie ihrer Meinung nach eine wissenschaftliche und philosophische Suche nach Wahr-heit die (von mir so genannte) große Depression der Moderne überwinden und die Wunden der Zeit heilen könne. In einer ultrakurzen Antwort schreibt Russell am 20. Juni 1931: „Dear Mr Durant, I am sorry to say that at the moment I am so busy as to be convinced that life has no meaning whatever, and that being so, I do not see how to answer your questions intelligently. I do not see that we can judge what could be the result of the discovery of truth, since none has hitherto been discovered.“ (Russell 1975, 445)

Dass keine Wahrheit bisher entdeckt worden sei, passt zwar dazu, dass jeder Wissensanspruch fallibel ist. Schon Descartes bedient diesen Truismus  – und unterläuft ihn zugleich. Das Ondit passt aber keineswegs zu unserer Praxis der im Normalfall völlig robusten Unterscheidung zwischen einem bloßen Glauben und einem Wissen, samt den Normen dafür, wann man sagen darf oder sollte „ich glaube, dass p“ und wann man sagen muss oder müsste „ich weiß, dass p“ oder „p ist wahr“ oder einfach „├ p.“, wobei der Frege’sche Behauptungsstrich und/oder der übliche Satzschlusspunkt als schriftliche Notation einer entsprechenden Into-nation zu lesen sind.

Allerdings gibt es naheliegende Irrtümer im Selbstdenken und in Äußerungen in der ersten Person Singular oder auch Plural, wenn wir gemeinsam etwas sagen, etwa in der Kirche rezitieren oder auf der Straße skandieren. Denn alle erstper-sonalen Expressionen sind zunächst bloß erst Versicherungen. Sie verlangen da-her sowohl von den Sprechern als auch den Hörern und den über sie urteilenden dritten Personen eine möglichst akkurate Überprüfung erstens der unterstellten Bestimmung und zweitens der behaupteten Erfüllung der Geltungsbedingungen. Es ist also noch gar nichts gesagt, wenn Kant uns auffordert, selbst zu denken. Das tun wir ohnehin immer, so schlecht und recht, wie wir es eben tun. Das sapere aude , der Mut, sich ‚seines eigenen Verstandes zu bedienen‘, meint daher etwas ganz anderes, nämlich den Mut, sich vom bloßen Verstand als Befolgung von Kon-ventionen, kanonischen Normen und Regeln dort, wo es nottut, gerade zu befrei- en , und mit freier Urteilskraft und Vernunft die üblichen Erfüllungsbedingungen und Intuitionen als Befriedigungsgefühle zu hinterfragen.

Im Blick auf die Geschichten über Entwicklungen in der Geschichte von Natur und Geist, Welt und Wissen bedarf es entsprechend häufig und unter mannigfa-chen Gesichtspunkten einer Destruktion bloßer Überlieferung und einer Rekons- truktion ihres guten Sinns, kurz: einer Dekonstruktion von Inhalten in Abwehr von einem bloß erst ungediegenen, sozusagen jugendlichen Lesen mit dem Zeige-finger. Dazu gehört die Einsicht, dass die philologische Pflege der überlieferten Texte bloß erst der Anfang ihres Verstehens ist, zumal es die Gefahr gibt, dass sich Schriftgelehrte als Verteidiger eines schematischen Prinzips sola scriptura mit allzu wörtlichen Lesarten zufriedengeben. Auch sonst operieren Anfänger gern mit catchphrases und registrated trademarks . Hier bedarf es der schon erwähnten epoché der doxa samt einer Fokussierung auf Inhalte, wie sie gerade im Falle von figurativer Rede (von der Metapher und Metonymie bis zur Analogie und Ironie) gegen jedes schematische Schließen zu setzen ist.

So wenig man aus dem Satz „Richard ist ein Löwe“ schließen darf oder sollte, dass er die Kinder seiner neuen Frau umbringt, so wenig dürfen theologische Sätze etwa über die Dreifaltigkeit als der Dreiheit des Geistes oder reflexionslogische über die Negation der Negation ‚wörtlich‘ missverstanden werden. Im ersten Fall geht es darum, dass alles begriffliche Verstehen auf einer generischen Tradition beruht, aber je konkret anzuwenden ist. Dabei ist gute Urteilskraft teils zu üben, teils eine Art Widerfahrnis des vom Geist inspirierten Genies. Im Fall der Gleich-heit eines Gegenstandes gibt es immer sinn- und perspektivenverschiedene Zu-gänge zum Selben, also einen Verzicht auf mögliche Unterscheidungen. Wir sagen daher ‚dialektisch‘, dass 3/4 und 6/8 als die gleiche rationale Zahl identisch sind  – zumal es eine vom Fokus wegführende Rede wäre, immer davon zu reden, dass

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die Ausdrücke den gleichen Gegenstand benennen oder repräsentieren, als gäbe es diesen ohne die Negation der Negation, die Nichtunterscheidung verschiede-ner Repräsentanten. Analoges gilt für Freges Satz „der Begriff ‚Pferd‘ ist kein Be-griff“. Der Ausdruck „der Begriff ‚Pferd‘“ steht für einen Reflexionsgegenstand. Es wird bestenfalls lokal, im konkreten Kontext, eine Begriffs-Gleichheit als definiert unterstellt. Für die offene Satzform „x ist ein Pferd“ gilt nicht einmal das. Sie steht nicht für einen Begriff, sondern drückt eine mögliche Prädikation aus.

Gerade im Blick auf die Geschichte der Wissenschaften und Philosophie be-darf es ebenfalls einer Art der anarchischen Revolution, die sich wenigstens par-tiell gegen Standardnarrative etwa zum Gegensatz von Antike (auch Mittelalter) und Moderne (auch Neuzeit) oder über die Reformation und Gegenreformation, Aufklärung und Gegenaufklärung, Klassik und Romantik etc. richtet. Dabei wird man sich von Aufklärungs-, Wissensentwicklungs- und ‚Revolutionstheorien‘ wie denen Hans Blumenbergs, Thomas Kuhns oder Ernst Tugendhats (etwa auch im Blick auf Freud, Planck oder Einstein, nicht nur Ptolemaios, Kopernikus und Ga-lilei) durchaus partiell distanzieren müssen. Dasselbe gilt etwa auch für W. V. O. Quines Schwanken zwischen einem Logischen Empirismus und Logischen Szien-tismus – sozusagen zwischen Hume und Locke – oder den axiomatisch-deduk-tiven Pragmatismus Karl Poppers, dessen Buch Die offene Gesellschaft und ihre Feinde in vielerlei Hinsicht ein konformistischer Lobgesang auf einen naiven me-thodischen Individualismus britischer Provenienz ist.

3 Sokratische Dialektik

Eine Neudeutung der Agenda des Sokrates und ihrer Darstellung bei Platon – ge-gen Poppers Mystifizierung seines vermeinten Zaubers – könnte zeigen, wie nötig eine Distanzierung von üblichen Narrationen ist. Zugleich ist ein allgemeiner lo-gisch-methodischer Sachverhalt zu beachten. Was wir als eine historische Wirk-lichkeit ansehen, ist im Allgemeinen immer rekonstruierte und als wahr oder sehr wahrscheinlich (im Sinn von verisimilis und nicht im Sinn von probabilis ) bewertete Möglichkeit. Das ist insbesondere dort so, wo Handlungsintentionen eine Rolle spielen und wir Einzelpersonen oder Personen-Gruppen bzw. Mengen von Personen irgendwelche Absichten zuschreiben, aber auch dort, wo wir Din-gen, Sachen und Prozessen kausale Ursachen, Wirkungen oder dispositionelle und damit inferentiell dichte Eigenschaften zusprechen. Derartige Wahrheiten sind nämlich alle schon partiell generisch. Sie sind damit längst keine reinen Konsta-tierungen mehr im Sinn der höchst idealistischen und damit völlig kontrafakti-schen Begriffe der Tatsachen, Sachverhalte, Sachlagen, Sätze und Satzinhalte wie in Wittgensteins Tractatus .

Die Gefahr eines abbild- oder korrespondenztheoretischen Wahrheits- und Wissensbegriffs besteht darin, die Grundtatsache der in allen Aussagen begriff-lich präsupponierten generischen ‚Wahrheiten‘ einerseits, der immer enthaltenen figurativen Verdichtungen andererseits zu übersehen oder in ihrer Bedeutsamkeit zu unterschätzen. Zwar gibt es relativ robuste Kontraste zwischen mehr oder we-niger unmittelbar kontrollierbaren Konstatierungen und Prognosen, dann auch zwischen einem kanonisierungswürdigen Allgemeinwissen und einem bloßen Glauben oder Meinen bzw. zwischen dem, was wir als Wirklichkeit anerkennen (sollten), und dem, was wir noch als bloße Möglichkeit markieren und behandeln (sollten). Aber es bedarf dazu immer auch einer vernünftigen, urteilskräftigen, Deutung dieser Kontrastierungen.

Es gibt z. B. viele Vorurteile über Platon und seinen Lehrer Sokrates, wie etwa die, sie hätten Wissen als wahre Meinung mit irgendeiner (statt: einer zureichen-den) Rechtfertigung definiert oder für Platons vermeintliche Dichterschelte und die ihm zugeschriebene Lehre oder These, dass in einem guten Staat Philosophen Könige sein sollen. Wenn man nicht bloß lokal und selektiv liest, ist aber klar, dass Platon als Aufgabe der Dichter die Tradition und sogar Erfindung von My- then ansieht und diese Aufgabe als solche anerkennt . Er wehrt sich nur gegen den Aberglauben , ein solcher Mythos oder Roman könne unmittelbar, also korrespon-denztheoretisch, wahr sein. Die Dichter ‚lügen‘ nicht etwa deswegen, weil sie den Menschen über nicht existente Götter und Helden etwas vormachen, auch nicht deswegen, weil sie Metonymien, Metaphern, die Form der Ironie oder Parabel ge-brauchen, sondern weil sie notwendigerweise den wahren Inhalt ihrer erfundenen Geschichten aus den Händen geben. Es gehört sogar zu ihrer Kunst, dass sie diesen Inhalt nicht selbst kommentieren. Er muss sich dem Publikum von selbst zeigen .

Die Dichter und das Volk arbeiten am Begriff. Sie erfinden und kanonisieren gemeinsam eingängige, d. h. leicht lernbare, und im Allgemeinen orientierungs- oder im Prinzip richtungsrichtige Schemata des (kriteriengestützten) gemeinsa-men Unterscheidens, Nennens und formalen, also nur erst verbalen Schließens. Damit entwickeln sie Sprache im Sinne eines lernbaren Systems verbal artikulier-

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ten, empraktisch gemeinsamen bzw. kanonisch kodifizierten Allgemeinwissens. Wissenschaft beginnt dann mit der philosophischen Reflexion als Explikation und zugehöriger Kritik des so bloß erst implizit sich entwickelnden Volkswissens. Denn sie ist arbeitsteilig instituierte und kontrollierte Arbeit am Begriff. Damit setzt die Wissenschaft die Arbeit des Mythos fort, die Philosophie aber die Arbeit reflektierter Kritik der Anwendung der erarbeiteten und in der Schule vom Volk erlernten Schemata. Philosophie wird so zum Wissen des Wissens, nämlich als Wissen über den Begriff, also über das Prekäre oder Dialektische des begrifflichen Kanons unseres Normalfallwissens.

Es ist also Aufgabe der Philosophie als wissenschaftliches, d. h. im Idealfall ge-meinsames und institutionell verfasstes, ‚akademisches‘ Wissen über Inhalte, den guten Orientierungssinn und damit die inferentielle Wahrheit von Mythen, konst-ruierten Romanen, einer rekonstruierten Geschichte oder kanonisierten Enzyklo-pädie dialogisch-dialektisch zu kritisieren und im Blick auf eine gute Anwendung weiter zu entwickeln. Die gesamte und manchmal geradezu mühsame Übung der Dialektik Platons ist entsprechend als Vergegenwärtigung und Prüfung üblicher Normalfallschlüsse oder Schluss-Schemata zu verstehen. Das geschieht in Kennt-nis der Form mathematischen Wissens und einer Kritik an einem ungediegenen Umgang mit ihm, aber auch an allen anderen figurativen und mythischen Rede-formen. Aber bis heute ist das Ideale mathematischer Modelle noch nicht genü-gend begriffen; schon gar nicht, dass sie als bloße relationale Systeme Prozesse und Bewegungen nur analogisch darstellen können. Denn alle Mathematik ist not-wendigerweise zeitallgemein verfasst und darf nichts Zeitliches, Empirisches, ent-halten, weder in der Form der Benennung von Zeit‚punkten‘ noch über Variablen für solche temporalen ‚Punkte‘.

Zugleich erkennt und diskutiert Platon die Signifikanz, also die Wichtigkeit und Bedeutung nicht voll schematisierter und in diesem Sinn ‚nichtwörtlicher‘ Rede-formen – besonders in den Themenbereichen einer Reflexionslogik auf Begriffe, Formen oder Strukturen (also Ideen, eidé ), dann auch in den Gebieten der Psycho-logie und des Staates, der Ethik und Moral. Hier wird bis heute unterschätzt, dass die Bücher der Politeia klarerweise eine analogische Analyse der Verfassung der Person sein wollen, also der Wechselbeziehungen aller Personen im gesellschaftli-chen Kontext. Es entsteht so Platons Traktat über die Grundformen der Seele oder Person im Zusammenhang mit den Grundformen der Gesellschaft. Platons Ent-wurf einer Politologie als Lehre über den Staat findet sich nicht in der Politeia , son-dern in den Gesetzen ( Nomoi ). Der Titel ‚Politeia‘ wäre daher nicht als ‚republic‘ oder ‚Staat‘, sondern als ‚constitution‘ oder ‚Verfassung‘ zu übersetzen. Es geht um die Verfassung der Person, die auch als ‚Psyche‘, ‚Seele‘ oder ‚Geist‘ angesprochen wird, so wie wir im Fall der Gesellschaft von ihrem ‚Geist‘ oder auch dem ihrer Gesetze sprechen. Platon fordert also keineswegs, dass akademische Philosoph:in-nen im heutigen Sinn zu Führern des Staates werden sollen, sondern dass das Lei-tungspersonal sachlich im Blick auf Institutionen und Denkformen ausgebildet werden soll, und zwar im Rahmen einer gemeinsam und öffentlich kontrollierten Wissenschaft mit Politik, Recht, Ethik, Strategie in Heerführung, Psychologie und vielleicht dann auch Ökonomie als Sachdisziplinen.

Schon im Dialog Lysis wird z. B. klar, dass Platon immer wieder auf die Not-wendigkeit personaler Kompetenz verweist. Platon macht im ersten Teil des Di-alogs humorvoll deutlich, dass Eltern und Kinder ganz offenbar die Reichweite der freien Selbstbestimmung oder Autonomie der Person vernünftigerweise von ihrem Ausbildungstand abhängen lassen. Daher hat z. B. der junge Lysis aus bes-ter Familie dem Diener (‚Sklaven‘) zu gehorchen, der ihn erzieht – und kann ihm keine Befehle geben. Er darf auch nicht seinen eigenen Wünschen beliebig folgen. Im Übrigen ist Platon generell der Meinung, dass Leitungshierarchien in Staat und Gesellschaft nach Kompetenz verfasst sein sollten. Dass Platon angeblich eine eli-täre Herrschaft von Philosoph:innen oder Akademiker:innen errichten wollte, ist daher keine charitable (schon Heinrich Heine benutzt dieses Wort, das ein Lücke füllt) und damit nicht weiter ernst zu nehmende Lesart.

Dialektisch, ambivalent und daher schwer zu verstehen aber ist das Verhältnis zwischen der Idee personaler Autonomie und Kompetenz auf der einen Seite, der Idee des allgemein Richtigen und Anerkannten auf der anderen durchaus. Denn es besteht die offenbare Gefahr, dass jeder Nichtkonformismus in Selbstgerechtigkeit kippt. Das Gute des ethischen Selbstdenkens kann sich in das Böse moralischen Terrors verwandeln. Das geschieht, wo der Rahmen des gemeinsamen Ethos, also von Hegels Sittlichkeit, zugunsten einer falsch verstandenen Autonomie am Ende missachtet oder gar verachtet wird. Man denke dabei durchaus an den Tugend-terror Robespierres oder den Privatkrieg der ‚Roten Armee Fraktion‘, aber auch an Kants subjektivistisch verfasste Formel des Kategorischen Imperativs. Das, was ich kohärent wollen kann, dass es allgemeines Gesetz werde, ist mir noch lange nicht als Maxime meines Handelns erlaubt. Es kann ja real instituierten Gesetzen oder auch nur dem faktischen Wollen der anderen widersprechen.

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Was wir wollen, ist eine schwierige Frage. Es gibt kein Wir, das nicht durch Re-präsentanten vertreten wird, die beanspruchen, für uns „Wir“ sagen zu dürfen.

Gerade hier beginnt auch das Anarchische und Nichtkonforme in den Denk-provokationen des Heraklit und Sokrates. Und es ergibt sich der von Platon in der Politeia analysierte enge Zusammenhang zwischen Ethik, Wissen, Politik samt der Dialektik von Institution und Person.

Die Lehre und das Leben des Sokrates richtet sich ganz offenbar gegen eine bloß konventionelle Arete , eine süßlich-rhetorische Tugend, gegen Orakel, gegen Volks-gerichtshöfe und gegen eine unqualifizierte Vollversammlungsdemokratie. Sokra-tes steht ein für ein autonomes personales Gewissen und zugleich für die Einsicht in die Grenzen des Wissens. Er fordert die Anerkennung von Zufall und Kontingenz gegen jede Unterstellungshermeneutik und Verschwörungstheorie. Und er tritt ein für die bis heute in ihrer Bedeutung kaum voll verstandene Immunität des Lei-tungspersonals gegen persönliche Strafverfolgungen während der Amtszeit – um z. B. Fälle wie die des Alkibiades zu vermeiden, der ja mitten aus dem Feldzug gegen Syrakus aufgrund wahrscheinlich falscher Anschuldigungen die Leitung abgeben und zu Athens Feinden, also zunächst nach Sparta, später ins persische Kleinasien fliehen musste. Freilich kann man die Verbannung von Politikern aus der Stadt als Methode ansehen, den Streit der Parteien für eine Zeit lang zu beruhigen – indem manche Parteien durch den Ostrakismos für bis zu 10 Jahre ausgeschaltet werden. Auch wenn einige früher zurückgeholt wurden, birgt dieses Verfahren die große Gefahr in sich, dass die Verbannten mit politischen Gegnern der Stadt kooperieren. Dasselbe gilt für die Dauerverdächtigung, dass die politischen Führer nur an ihrem eigenen Wohl interessiert seien. Das Problem besteht bis heute.

In Platons Überlegung zur berühmten homo-mensura -Formel des Protagoras, nach welcher der Mensch das Maß aller Dinge ist, geht es dann auch nicht etwa da-rum, ein höheres, göttliches, Maß des Wahren und Guten einzufordern, sondern darum, die Mehrdeutigkeit der ‚These‘ zu erarbeiten. Denn der einzelne Mensch in seinem lokalen und dabei je nur gegenwärtigen Meinen ist keineswegs Maß des allgemein Wahren, Guten und Schönen – und der Verzicht auf diese Wertungen ist erst recht nicht klug und weise. Auch hier zeigt sich der naheliegende Irrtum üblicher Meinungen über die Sophisten oder über Platon und seine Nachfolger. Sokrates erklärt zwar formal ähnlich wie der Sophist Gorgias, er wisse, dass er nicht weiß. Es ist aber entscheidend zu wissen, dass dieses berühmte Orakel meh-rere Lesarten hat.

1. Der ironischen oder Russell’schen Lesart zufolge meint Sokrates zu wissen, dass er wenigstens das eine einigermaßen weiß, nämlich dass er nichts wirk- lich weiß – womit er noch nicht einmal sagen würde, dass er mit Sicherheit gar nichts weiß.

2. Der absoluten Lesart zufolge sagt Sokrates etwas Ähnliches wie Heraklit, dem zufolge kein Mensch etwas mit absoluter Gewissheit weiß, sondern nur ein Gott. Alle menschlichen Wissensansprüche sind fallibel. Wir können uns immer täu-schen. Nur Gott hat Wissen. Nur Gott kennt die Wahrheit. Ja, Gott ist sogar da-durch definiert, dass er die Wahrheit kennt. In diesem Sinn ‚ist‘ Gott die idealper-fekte Wahrheit. Eben das ‚weiß‘ Sokrates – mit Heraklit.

3. Nach einer ‚ dialektischen ‘, und d. h. selbstreflexiven und die Perspektive der Äu-ßerung berücksichtigenden Lesart erklärt Sokrates mit dem Satz „ich weiß, dass ich nicht weiß“ zumindest unter anderem, dass der Ausdruck „ich weiß, dass p“ nicht schon erlaubt, auf ein Wissen (von mir als Sprecher oder eines anderen Spre-chers) zu schließen . Denn es kann sein, dass der Satz (von mir oder dem Sprecher) mit gutem Grund und im Kontrast zu „ich weiß nicht, dass p“ oder „ich glaube (nur), dass p“ geäußert wurde. Aber aus der berechtigten Versicherung, dass p (oder auch von „p ist wahr“ oder „ich weiß, dass p“) ‚folgt‘ nicht die Wahrheit, dass p. Denn letzteres anzuerkennen bedeutet, dass man vom Sprecher abstrahieren darf – was einen Perspektivenwechsel der Bewertung des Gesagten vom Sprecher weg zu jedem anderen Sprecher voraussetzt oder jedenfalls zu einer zweiten und dritten Person, welche den Inhalt der Deklaration als wahr bewertet. Aus der be-rechtigten Expression von „ich weiß, dass ich nicht weiß“ durch Sokrates folgt also nicht, dass ich oder du oder er schließen könnte, dass Sokrates etwas wüsste, nämlich dass p, wobei p irgendwie als inhaltsgleich aufzufassen ist mit „ich weiß nicht“, also: „es ist nicht der Fall, dass das, was ich sage oder als wahr versichere, schon ein Fall von Wissen ist.“

4. Aber es gibt noch eine weitere Lesart. Nach dieser würde Sokrates sagen, dass er weiß, dass nicht er als bloß individuelles Subjekt es ist, der etwas weiß – sondern, dass alles Wissen (potentiell) unser Wissen ist und dass die logische Form von „ich weiß, dass p“, grob wiedergegeben, die folgende ist: „ ich sage, dass man weiß, dass p“. Über die Richtigkeit oder Wahrheit von „man weiß, dass p“ kann aber nicht ich

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allein befinden, so wenig wie über die Geltung oder auch nur Anerkennungswür-digkeit eines möglichen Gesetzes.

Das Beispiel zeigt, dass weder eine archaisierend-historistische noch eine kontext-freie und schematische Lektüre ausreichen. Weder hilft die freie Erfindung von hy-pothetischen Kontexten noch eine allzu unmittelbar auf heutige Debatten bezoge-ne Leseweise. Das gilt insbesondere auch deswegen, weil die Sprachformen der Zeit, ihre Begrenzungen und metaphorischen, paradigmatisch-metonymischen oder parabelförmigen und gnomischen Darstellungsformen in jeder Übersetzung und Interpretation (qua Kommentar der Übersetzung) unbedingt zu beachten sind.

Die Tendenz der Unterschätzung der Weisheit früherer Epochen und der Über-schätzung der eigenen Intuition resultiert natürlich aus dem zunächst bloß erst oberflächlichen Verstehen dessen, was man schematisch gelernt hat. In genau die-sem Sinn ist das Können und Wissen von Kindern und Jugendlichen noch unge-diegen, unentwickelt.

4 Die Rolle des Gewissens in einer republikanischen Verfassung der Person

Sokrates war weit mehr als ein sophistischer Querulant und anarchischer Quäl-geist Athens, der den Leuten durch merkwürdige Fragen nach definitorischen Kommentaren ihres Tuns beizubringen versuchte, dass sie nicht wissen, was sie tun. Den Höhepunkt dieses Erziehungsprogramms sehen manche (sogar noch Friedell, darin Nietzsche folgend) in dem von ihm selbst provozierten Todesurteil, durch das er die Inkompetenz der Stadt zeigen wolle. Platon arbeitet dagegen in den Dialogen heraus, dass der zentrale Punkt des Sokrates durchaus nicht von dieser fast frivolen Form ist:

1. Ein Ausgangspunkt ist die Einsicht, dass ein gutes Leben in einer städtischen Gesellschaft wesentlich auf einer Arbeits- und Güterteilung und einer Entwick-lung von ausdifferenzierten Spezialkompetenzen beruht.

2. Eine gute Gesellschaftsordnung verlangt daher, dass ausdifferenzierte Kompe-tenzen zum Zuge kommen können.

3. Es ergibt sich sofort ein Widerspruch zwischen einem konventionellen Kon-sens bzw. den Mehrheitsvoten in einer Demokratie und einer ‚republikanischen‘ Machtteilung.

4. Es bedarf also einer Balance zwischen einem internalisierten Gewissen der Leis-tungsträger, dem Vertrauen der durch ihren Rat oder ihre Entscheidung Betroffe-nen, und einer Kontrolle , die einem immer möglichen Machtmissbrauch wehrt.

5. Die Kontrolle kann zu weit gehen. So war es z. B. absurd, die Kapitäne zum Tode zu verurteilen, die nach der Schlacht bei den Arginusen wegen des Unwetters und zum Schutz der Mannschaften nicht ausgefahren waren, die Gefallenen zu bergen. Sokrates gehörte zur kleinen Minderheit, welche gegen deren Verurteilung stimm-te. Auch der Umgang mit Miltiades, seinem Sohn, mit Aristides, Themistokles oder Alkibiades war weder fair noch für die Stadt nützlich. Platon kennt sicher auch schon den Fall des Thebaners Epaminondas – und dass es unsinnig war, ihn dafür anzuklagen, dass er den Oberbefehl nicht fristgerecht abgab.

6. In den Nomoi , seinem Buch über einen republikanischen Rechtsstaat, in dem Sokrates bemerkenswerterweise nicht mehr auftritt, plädiert Platon für eine ge-mischte Verfassung, ähnlich wie sie sich in Rom real entwickeln wird. Er sieht z. B. eine allgemeine Wahl des Leitungspersonals nach einer Vorauswahl der Kan-didaten vor und diverse Gremien des Verfassungsschutzes und der Exekutive des Rechts.

7. Zufallswahlen, Vollversammlungsentscheide und Demagogen führen dagegen zu einer erratischen Politik und verhindern jede längerfristige gesellschaftliche Entwicklung, gefährden insbesondere den inneren und äußeren Frieden.

8. Sokrates und mit ihm Platon haben damit wohl als Erste explizit gemacht, dass die beiden Interessen, das formelle an einer Mitbestimmung im Entscheiden und das materiale an einer guten Entscheidung im Blick auf unsere sachlichen Interes-sen, keineswegs immer zusammenfallen. Es kann immer auch sein, dass einzelne Leute aufgrund ihres Wissens besser urteilen als die Menge. Die in einem ‚lin-ken‘ Populismus so gern angerufenen ‚Volksmassen‘ tendieren ja notorisch dazu, zu vergessen, dass sie es sind, nicht (nur) ihre politischen Repräsentanten, welche

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gerade auch für desaströse Kriege votieren, wie die Athener für das sizilianische Abenteuer oder die Franzosen und Deutschen für den 1870er und 1914er Krieg. Kant hat keineswegs recht, dass Demokratien oder Republiken schon aufgrund ihrer Verfassung friedfertiger seien als Monarchien.

9. Wer aber ist das „Man“, „Uns“, „Wir“ oder das „Volk“? Es gibt immer viele und dabei häufig nur selbsternannte Fürsprecher des Volkes. Es ist praktisch sogar jede meiner Aussagen, in welchen ich die Wörter „wir“ oder „uns“ gebrauche, expressi-ver Appell, dem Inhalt meiner Aussagen beizutreten.

10. Wir sind der Souverän, der Staat. Die Frage ist, in welchem Modus das so ist. Wir sind nämlich das Staatsvolk nicht in erster Linie in der Form der Setzung von Regeln und Gesetzen für das personale und bürgerliche gute Han-deln und Verhalten von Citoyen und Bourgeois, von Staatsbürgern und Gesell-schaftsmitgliedern, sondern, wie auch Hegel hervorheben wird, in der Form ihrer Anerkennung .

11. Diese Anerkennung repräsentativer Strukturen , konkretisiert in den legalen Gesetzen und Erlassen, macht das Republikanische jeder modernen, als solcher immer schon staatsgeleiteten, Gesellschaft aus. Wann immer von einer staat-lichen Verfassung oder rechtsförmigen Konstitution von Legalität die Rede ist, geht es um diese Strukturen als Grundformen politischen und ‚gesetzlichen‘ Handelns.

12. Alle Verfassung, politeia , sogar die der Person, ihres Gewissens und damit ih-rer Seele, betrifft in diesem Sinn, wie schon Platon sieht, die res publica , die öffent-liche gemeinsame politische Sache, den Staat im Sinne Hegels, der nicht identisch ist mit seiner Regierung. Die Mitbestimmung macht das Demokratische aus. Sie ist als solche immer nur Teilmoment des Republikanischen.

13. In heutiger Zeit wird das Republikanische und damit die Verfassung des Staa-tes selbst gerade durch eine zu einfache Auffassung von Demokratie gefährdet. Die Überschätzung der Möglichkeiten konsensueller Autonomie und Mitbestim- mung stellt die Stabilität der repräsentativen Verfassung des Staates und damit auch die Anerkennung von gesetzten Normen und einer diese Normen durch-setzenden Rechtsprechung infrage – und führt im schlimmsten Fall zur Tyrannis einer populistischen Diktatur, wobei es egal ist, ob diese als ‚links‘ oder ‚rechts‘ apostrophiert wird.

14. Trotz aller Zweifel an der politischen Neutralität unserer Rechtsprechung ist daher ein bloß intuitives Gerechtigkeitsgefühl häufig kein guter Ratgeber. Es gibt kein natürliches Recht. Schon die Grundprinzipien der Legalität und damit des gesamten staatlich verantworteten Gerichtswesens, nämlich nulla poena sine lege und ultra posse nemo obligatur , sind historische Errungenschaften, für deren kul-turelle Durchsetzung Sokrates bewusst in den Tod geht. Beide Prinzipien, dass es keine Strafe ohne klar bestimmte Strafandrohung geben darf, so lese ich das erste leicht gegen den Wortlaut, und dass man nur verpflichtet ist, etwas zu tun oder zu lassen, was man tun oder lassen kann, betreffen den Perspektivenwechsel von der Beschreibung der ggf. auch zufälligen Folgen einer Handlung oder eines ggf. vermeidbaren Verhaltens post hoc zur Absicht oder zum Vorsatz praeter hoc , wie sie sich in der Tat äußern. Es geht um die Abwehr von konsequentialistischen Be-strafungen von Personen.

15. Sanktionsdrohungen können natürlich nur auf den Willen wirken. Daher ist jede Strafe als reine Abschreckung für andere ‚barbarisch‘, also nicht bloß gefühls-förmig oder ‚moralisch‘ ungerecht, sondern sozusagen systemwidrig. Dasselbe gilt für das falsche Prinzip, es sei besser, dass ein Einzelner zu Unrecht verurteilt werde, als dass ein ganzes Volk Schaden leide. Schon Sokrates setzt dem das bisher kaum begriffene, weil scheinbar unerhörte Prinzip entgegen, es sei für eine volle Person besser zu erdulden, ungerecht beurteilt und behandelt zu werden, als ein Unrecht irgendeiner Art zu tun.

16. Sokrates unterwirft sich nur formell der Verfassung und Gerichtsbarkeit seiner Vaterstadt Athen. Inhaltlich hält er schon das Verfahren des Urteilens in geheimer Abstimmung über den Vortrag der Ankläger ohne Verteidigung und der Straf-zumessung nach Befragung des Verurteilten über die Höhe des von ihm selbst vorgeschlagenen Strafmaßes mit Recht für völlig antiquiert, inkohärent, eben sys-temwidrig. Denn ein Zufallsurteil dieser Art prüft nicht die Absichtlichkeit der Tat, wie Sokrates in Platons Apologie glasklar macht: Wenn er unwissentlich etwas falsch gemacht habe, müsse er belehrt, nicht bestraft werden.

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5 Umdeutung eines religiös tradierten Ethos

Dass die Bedeutung des Sokrates weit über die Auseinandersetzung mit herr-schenden politischen Meinungen im Athen seiner Zeit hinausreicht, drückt üb-rigens schon Erasmus von Rotterdam in seiner Formel vom Heiligen Sokrates, Sanctus Socrates , aus: Sie identifiziert den Kampf des Sokrates um eine neue Sicht auf die Person und ihr Gewissen, das daimonion , und dann auch seinen Tod par-tiell mit der Lehre und dem Tod des Jesus von Nazareth. Es geht dabei um das, was Kant mehr schlecht als recht als das Recht und die Pflicht der Person analysiert, auf die eigene Vernunft zu hören.

Wir sehen jetzt auch: Die Gnomen des Heraklit und viele Merksätze des (pla-tonischen) Sokrates sind Überschriften und, wie die Kernformel der Mesoteslehre „nichts allzusehr“, lakonische ‚Thesen‘, Titelsätze, Aphorismen, die durch einen kommentierenden Text erläutert werden müssen. Wittgensteins Tractatus erhebt diese Form zum Prinzip. Es ist nicht trivial, die Verwandtschaft mit so genannten Stoßgebeten zu sehen. – Das gilt schon für das ‚Gebet des Herrn‘, das Jesus mit den Worten lehrt: „So sollt ihr beten!“ und für die Metapher am Anfang: „Vater unser, der du bist im Himmel“. Denn der Himmel (chinesisch Tien ) steht fast welt-weit mythisch und metaphorisch (also allegorisch) für die ideal guten Formen der gemeinsamen geistigen Kultur – der Väter. Das Paternoster wird so zu einer Art Gewissenserforschung. Prüfthemen sind die Anerkennung der Normen des Guten und Wahren als heilig: Nicht der Name „Gott“, sondern die geistigen Inhalte, die man in den Ideenhimmel setzt, sollen als heilig gelten. Das Reich Gottes ist dieses Reich des Geistes, der institutionellen Ordnung der Gemeinden freier Personen. Die Erlösung von den Sünden besteht darin, dass sie als bloß rituelle gar nicht als Verfehlungen zählen. Über echte Verfehlungen anderer Personen sollten wir nach Möglichkeit großzügig hinwegsehen, nicht aber über unsere eigenen.

Nicht nur in diesen Sachen wendet sich Jesus gegen eine rein philologische und rein nationale Theologie und Religion. Er erkennt über Sokrates hinaus offenbar, dass in der Wiedergewinnung des Urvertrauens von Kindern die Erlösung von seelischen Krankheiten liegen kann und dass geistige Manien oder Depressionen darin begründet sein können, dass die Leute sich sozusagen an einem falschen Skript bei der Führung ihres eigenen personalen Lebens orientieren. Man denke an falsche Erwartungen an ein gutes Leben oder auch nur an ein zelotisches Stre-ben nach (nationaler) Revolution (wie wohl im Fall des enttäuschten ‚Verräters‘ Judas Iskarioth). Das Problem einer am Leben verzweifelnden Anklage Gottes, der Welt, des Zufalls und der Menschen ist schon Thema des Buches Hiob. Paulus und Augustinus sind sozusagen gediegene Denker, welche anders als die unmittelba-ren Schüler oder Jünger bzw. Apostel als ausgesandte Mitprediger diese Einsichten aufgreifen und weiterentwickeln.

Wie wenig einfach es freilich ist, hier Sinn von Unsinn, tiefe Wahrheit von oberflächlichem Aberglauben zu unterscheiden, zeigt die Geschichte der christ-lichen Mystik, von Meister Eckhart über Heinrich Seuse und Johannes Tauler bis zu Angelus Silesius, Jakob Böhme und Franz von Baader, samt der schwierigen Abgrenzung wirklicher oder vermeintlicher Ketzer. Denn was z.  B. Friedell in seiner höchst belesenen Kulturgeschichte Griechenlands als abschreckenden Irr-tum schildert, könnte gerade die wahre Lehre sein: „Die paradoxe Spielart einer christlichen Sophistik“ schreibt er, „verkörpern am Ausgang des Mittelalters die ‚Brüder vom freien Geiste‘: sie lehrten unter anderm, sittlich sei, was die Brüder und Schwestern sittlich nennen, der „Geist“ kenne keine Regel, also auch keine Sünde und das freie menschliche Ich sei der wahre Christus“ (Friedell 1981, 268). Es ist nämlich durchaus unklar, ob die Mitglieder dieser radikalen, die Freiheit des göttlichen Gewissens als Wurzel des Christentums im 13. und 14. Jahrhundert auslotenden Sekte, die natürlich von allen Etablierten massiv verfolgt wurde, ihre Frömmigkeit bloß erheuchelt hatten, wie man es bis heute (auch im Internet) dar-stellt. Die Ankläger der Inquisition (sogar noch die Führer der Hussiten) mochten sich offenbar nicht damit abfinden, dass weder die formale Sexualmoral noch an-dere bloß äußerliche Riten und Sitten, nicht einmal das Recht auf Eigentum, als gottgegeben bzw. wesentlich anerkannt wurden. Einer absoluten Libertinage muss damit keineswegs das Wort geredet sein, so dass man Friedells Übernahme der Polemik der kirchlichen Verfolger dieser ‚Pantheisten‘ zumindest infrage stellen kann.

6 Die Erfindung der Metaphysik im Augenblick ihres Sturzes

Aber auch die üblichen Berichte über die Metaphysik der Neuzeit sind hochgradig problematisch, wenn man den Kontext genauer betrachtet und die Hauptstränge des Denkens auch gegen das Ondit üblicherweise erlernter und gelehrter Philo-

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sophiegeschichte rekonstruiert. Natürlich sind dabei wahrscheinliche Möglich-keiten der leitenden bzw. wesentlichen Denkmotive zu erarbeiten und von Neben-strängen zu unterscheiden.

So klammert z. B. Descartes jede rein wörtliche Missdeutung der Physik in Ga-lileis Bild von einem Buch der Natur in mathematischen Lettern ein, aber auch den Roman von einem Schöpfergott etwa in Auswalzung entsprechender Meta-phern aus Platons Timaios . Dabei wäre zu den Denkprovokationen des Descartes, Spinoza oder Leibniz im Detail noch viel zu sagen. Hier sei nur noch auf Bernard Williams’ Unterscheidung in seinem letzten Buch Truth und Truthfulness (2002) hingewiesen zwischen einer sincerity als bloß erst redlichen, ehrlichen subjektiven Gesinnung (und Gesinnungsethik) und der accuracy als Selbstkontrolle des Ge-wissens. Letztere ist ernsthafte Bemühung um Teilnahme an einem vollen, im-mer schon in sich reflektierten und allgemeinen Wissen. Gewissen qua Gewissen-haftigkeit, nicht Gewissheit, und Bewusstsein (Christian Wolff) sind dabei zwei Übersetzungen zweier Momente der con-scientia , wobei die Vorsilben „con“ und „ge“ auf das Gemeinsame verweisen, was zur Folge hat, dass es kein rein privates Gewissen und kein rein subjektives Bewusstsein gibt. Denken ist daher eine Art leises Selbstgespräch mit bewusst öffentlichem Inhalt, gerade auch bei Descartes (vgl. dazu Hennig 2006).

Auch in der Mathematik überschreitet Descartes einen scheinbar festen Rah-men der Tradition. Hier geht es um die Überwindung der kategorisch-kategoria-len Unterscheidung zwischen Längen, Flächen und reinen Proportionen, wie sie für die algebraische Streckenrechnung im reellzahligen Größenkörper ( real field ) nötig wird. Die Multiplikation wird dabei nicht bloß als schnelle Addition gelesen und auch nicht bloß als Übergang von Längen zu Flächen. Vielmehr werden auf der Basis einer impliziten Unterstellung einer (je fixen aber variabel gestaltbaren) Einheitslänge e auch Längen als Werte der Multiplikation (bzw. dann auch der Division) von Strecken deutbar – nämlich über die Konstruktion flächengleicher Rechtecke mit einer Seite der Länge e.

Der subjektive Idealismus, wie er von Descartes über Malebranche und Berke-ley, partiell auch Leibniz, bis zu Kant und Fichte führt, ist dann nicht etwa ein-fach oder nur als metaphysische Weltanschauung zu deuten, die sich der empiris-tisch-materialistischen Metaphysik der Kognition mit ihren angeblich kausalen Erklärungen des Erkennens von der Seite bei Hobbes, Locke und durchaus auch noch Hume entgegenstellt. Vielmehr beginnt sie mit der Einsicht, dass alle kau-sale Erklärung eines Geschehens durch mathematikförmige Gesetze eine von uns verfasste transzendentale Form hat. Es bedarf daher statt einer empirisch berich-tenden oder kausal erklärenden Geschichte einer reflexionslogischen Konstitu- tionsanalyse der allgemein als bekannt unterstellten Formen nicht bloß des per-zeptuellen Wahrnehmens und des konstatierenden Aussagens, sondern besonders auch des kausalen Erklärens.

Ein freies, aber sich an einem gemeinsamen Kanon des Richtigen und Wahren orientierendes Sprechhandeln und Handeln ist dabei immer schon präsupponiert und kann nicht als kausal erklärbares Widerfahrnis oder Naturgeschehen verstan-den werden. Dabei entgeht dem, der nur (empirische) Berichte und (szientifische) Erklärungen kennt oder anerkennt, die besondere phänomenologisch-herme-neutische Sprechform transzendentaler Reflexion mit ihren appellativen Erinne-rungen an allbekannte Vollzugsformen, ihren reflektierenden Formbenennungen und ihren Kommentierungen. Das macht die Hauptschwierigkeit der Lektüre von Kants Analyse des Wahrheits- und Wissensbegriffs, von Hegels Phänomenologie des Geistes und einer Wissenschaft der Logik der realen Weltbezugnahmen (statt einer bloß erst reinen Logik mathematischer Idealformen und Ideen) und dann auch von Heideggers Existentialanalyse aus.

7 Großprobleme der Philosophie und Erneuerung sinnkritischen Denkens

In der Gegenwart verweigern sich die als akademische Lehren etablierten Diszipli-nen Logik, Philosophie und Theologie ganz offenbar weitgehend der Einsicht, dass ihre Reflexionen auf holistische Ganzheiten mit einiger Notwendigkeit sprachlich von metonymischen Parabeln und figurativen Bildern mit je nur metaphorischem Sinn Gebrauch machen und als freie Kommentare zu den gegebenen Formen und zur gemeinsamen Formung unseres personalen Lebens mit allen anderen Perso-nen zu begreifen sind. Es kann daher noch nicht einmal eine Liste von angeblich tiefen und nie lösbaren Problemen der Philosophie geben, wie sie Bertrand Rus-sell in seinem ‚shilling shocker‘ The Problems of Philosophy präsentiert und die Ludwig Wittgenstein dadurch aufheben will, dass er ihre Ursache in einer nicht angemessen begriffenen Logik der Sprachformen verortet. Alle Philosophie soll bloß Sprachkritik sein, was auch schon G. C. Lichtenberg, Max Stirner, Friedrich

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Nietzsche oder Fritz Mauthner sagten. Damit gelangen wir scheinbar an das Ende der Philosophie.

Es gibt ganz verschiedene Ausarbeitungen dieser Ansicht, von Rudolf Carnap bis Wolfgang Stegmüller oder Paul Lorenzen. Aber auch Paul Feyerabend oder Richard Rorty reihen sich hier ein, nicht anders als Jacques Derrida oder Michel Foucault. John Dewey und Hilary Putnam plädieren zwar unter Titeln wie „Rene-wing Philosophy“ für eine ‚pragmatische‘ Erneuerung der Philosophie – aber ohne dass ganz klar wäre, ob man damit über die negative Kritik an allen ‚großen Pro-blemen‘ der Philosophie hinauskommt. Zu diesen zählen zunächst der Glaube an Gott, an die Freiheit von Wille, Gewissen und Handlung, und an die Unsterblich-keit der Seele oder Person. Es kommt dann noch die Frage nach dem Woher und Wohin der Welt hinzu, vielleicht auch das Rätsel der Entstehung des Bewusstseins wie bei David Chalmers und die Frage Wozu, also auch nach dem Sinn bzw. der Bedeutung von allem, wie bei Thomas Nagel oder Robert Spaemann und seinen Schülern.

Aber nicht allein ein sprachlich naiver Glaube an eine transzendente Metaphy-sik ist Ursache der philosophischen Probleme, sondern die Form des Wissens und die institutionell durch allgemeine Kanonisierung von Wissen geformten seman-tischen, d. h. differentiell bedingten und inferentiell dichten Voraussetzungen des Sprachverstehens.

So sind z. B. trotz der Arbeiten des späteren Wittgenstein partiell im Nachgang zu L. E. J. Brouwers Kritik an Georg Cantors Naiver Mengenlehre noch nicht ein-mal die Grundlagen formaler Logik allgemein begriffen. Dabei geht es zunächst um die Konstitution eines maximal konsistenten Variablenbereichs für alle mög- lichen reinen Mengen und damit alle relationalen mathematischen Strukturen  – gemäß der schon von Anselm von Canterbury für die Definition des Göttlichen gebrauchten Formel „quo maius cogitari non potest“, die hier äquivalent wird zu David Hilberts Vollständigkeitsaxiom aus seinen großartigen Grundlagen der Geo- metrie (1899): Eine Potenzmenge ist ja in weiter Armbewegung als Menge aller möglichen Teilmengen bestimmt. Gottlob Freges prädikativer Mengenbegriff ist zwar scheinbar präziser, für die Bedürfnisse der Mathematik (nämlich die reel-le Analysis) aber viel zu schwach. Implizit setzt er sogar in zirkulärer Weise den abstrakt-idealen Bereich aller cantorschen Mengen schon für seine Aussonde-rungsversuche der reinen natürlichen Zahlen und für die ganz formale Logik vo-raus. – Während dann z. B. Paul Lorenzen – ein zeitweiliger Schüler Bertrand Russells – durchaus darin recht hat, dass man sich mit einer rein axiomatisch-de-duktiven ‚Grundlegung‘ der Mengenlehre, Logik und Mathematik (wie bei Rudolf Carnap und besonders Alfred Tarski) nicht zufriedengeben kann, was u. a. auch Kurt Gödel so sieht, sind seine ‚konstruktivistischen‘ Vorschläge einer revisionis-tischen Umgehung der ‚spekulativen Vagheiten‘ in Cantors Mengendefinition am Ende so wenig allgemein zu befolgen wie Michael Dummetts Fortsetzung von An-sätzen Freges und des Intuitionismus. Das aber kann hier nur gesagt, nicht im Detail (wie in Stekeler 2008) begründet werden.

Entsprechend oberflächlich ist auch das übliche Verständnis der Gründe für Einsteins Revision des traditionellen ‚euklidischen‘ Modells der ‚Raumpunkte‘ und des ‚Zeitstrahls‘ ab dem Jahre 1905 in einem Modell, das näher an die rea-len Zeitmessungsdaten und Raumausmessungen angepasst ist. Denn Einstein er-kennt die Besonderheiten der konkreten Maßbestimmungen für Zeitdauern und Längen. Es passen, grob gesagt, die ‚lokalen‘ Zeiten elektrodynamischer Taktgeber nicht einfach zu den ‚globalen‘ Zeiten der Bewegungen der Planeten und Sonnen, zumal es, wie schon Hegel weiß, kein Inertialsystem in der realen Welt oder phy-sikalischen ‚Natur‘ gibt. Eben daher bedarf es einer neuen Kanonisierung der Be-griffe einer translokalen Gleichzeitigkeit. Die längst selbst schon idealmathema-tisch formulierte Zeitdilatation und Längenkontraktion relativ schnell zueinander bewegter Uhren bzw. Stäbe ist daher weder Ergebnis unmittelbarer Empirie noch Folge bloßer Konvention (der Einsteinsynchronisation als Definition einer Gleich-zeitigkeit in einem Gedankenexperiment), sondern basale, materialbegriffliche, Grundtatsache aller realen Zeit- und Längenvergleiche. Sie ist als solche anzu-erkennen ( pace der Arbeiten Peters Janichs und des früheren Paul Lorenzen). Die physikalische Raumzeit besteht aus den relativ zueinander bewegten Körpern und allen anderen ‚in ihr‘ stattfindenden physikalischen Prozessen – wie z. B. die der inneren Elektrodynamik bewegter Körper.

Entsprechend ist auch Heisenbergs Unschärferelation als Teil einer systema-tischen Befreiung von der naiven Vorstellung lokaler Kräfte als Impulse reiner Punktkörper zu verstehen: Es gibt keine Möglichkeit, die relative Raumstelle zu einem ‚Zeitpunkt‘ und die lokale Beschleunigung ‚genau‘ zu bestimmen. Masse wird nicht nur durch Bewegung zu Energie. Materie und Bewegungen verschmie- ren sozusagen lokal. Probabilistische Modelle für das ‚Vorkommen‘ von ‚Teilchen‘ modellieren eben diesen Fakt, dass es substantielle Teilchen jetzt explizit nur noch in einem analogischen Sinn gibt. Das passt dann ebenfalls zur alten Dualität der

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Auffassung von Licht einerseits als Welle, andererseits als Emission von Teilchen. Daher steht auch die kanonische Festsetzung der Lichtgeschwindigkeit als Maxi-malgeschwindigkeit der Bewegung eines substantiellen Teilchens nicht eigentlich in einem Widerspruch zu den Phänomenen des berühmten Doppelspaltexperi-ments, auch wenn es dort ‚scheinbar‘ schnellere ‚Wirkungen‘ eines lokalen Ge-schehens an anderen Orten gibt.

Alle physikalischen Gesetze sind, wie die Beispiele zeigen, gerade über ihre quan-titativen Fassungen in von uns ideal konstruierten mathematischen Modellen si-tuiert. Wie alle Analogien sind sie auf der Basis allgemeiner Erfahrung, konkreter Urteilskraft, einer Beachtung von Relevanz- und Messmargen und der Grenzen der Modelle auf die realen Verhältnisse der empirisch erfahrbaren Welt zu proji-zieren.

Es gilt aber noch weit allgemeiner, dass alles verbale Wissen derartige Schema-tisierungen im Rücken hat, gerade auch die übliche Ideen- und Geistesgeschichte . Problematische Metaphysik entsteht immer aus ‚wörtlichen‘ Verständnissen der unaufhebbaren Metaphorik in unseren sprachlichen Verdichtungen. Das gilt für ‚theologisch‘ artikulierte ‚religiöse‘ Reflexionen auf die allgemeine condition hu- maine und die ganze Welt nicht anders als für das zu Weltbildern überhöhte Wis-sen der Naturwissenschaften. Daher ist es, wie gezeigt, Aufgabe philosophischen Nachdenken, kanonisch gelehrtes Wissen kritisch zu kommentieren, also den blo- ßen Verstand schematischen Regelfolgens und wörtlicher Verständnisse durch die freie Vernunft dialektischer Kritik und die Beachtung der bloß bedingten Wahrheit und damit der Grenzen der Richtigkeit in allem gelernten ‚Wissen‘ in neuer Refle-xion auf die immer bloß kanonisch gesetzten ‚Anfänge‘ oder ‚Prinzipien‘ wieder zu verflüssigen. Diese An-archie richtet sich nicht gegen das Sachwissen der Wis-senschaften, soweit es inhaltlich angemessen gebraucht wird, etwa in Technik oder Politik, weit eher gegen bloß erst philologische Schriftgelehrte und dann auch pub-likumswirksame Schriftsteller wie hier z. B. Musil, Durant, Friedell oder Popper.

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Nachdenken über Möglichkeiten und Grenzen der Methodisierung philosophischer Forschung

Tatjana Schönwälder-Kuntze

1 Einführung

Das Nachdenken über die richtige Methode scheint so alt zu sein wie die philo-sophische Forschung selbst, die bis heute für ihre akademischen Vertreter ein höchst umstrittenes Feld ist. Warum? Weil es sachlich betrachtet für die Ergeb-nisse nicht unerheblich ist, auf welche Weise sie gewonnen wurden, ist doch der Forschungsweg selbst unter Umständen gegenstandskonstitutiv. Allein in der abendländischen Philosophie sind seit den Aristotelischen Methodenüberlegun-gen immer wieder Einlassungen zur Methode publiziert worden, die mitunter den Status von Hauptwerken erlangt haben. Man denke beispielhaft an Spinozas Ethik more geometrico , Descartes’ Discours de la méthode , Kants Kritik der reinen Vernunft, die er einen ‚Methodentraktat‘ nennt, Fichtes Wissenschaftslehre nova methodo , Mills Utilitarianism, Arendts Vita activa, Sartres Quéstion de Méthode , Adornos Negative Dialektik oder Foucaults L’Archéologie du Savoir , um nur einige zu nennen. Aber nicht nur im Anschluss an Aristoteles scheint es Klärungsbedarf für das richtige Denken gegeben zu haben, sondern auch schon davor: Wer woll-te bezweifeln, dass Sokrates’ Fragen auf der Agora methodischer Natur gewesen wären, und mithin Platons Dialoge insgesamt? An beidem wird dabei deutlich, dass Methoden nicht nur das Denken an sich selbst in seinem Bezug zur Welt,

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sondern wenigstens zwei Personen betreffen (können), die miteinander im Ge-spräch sind.1

So haben philosophische Methoden auch eine intersubjektive, szenische Seite. Warum? Weil es nicht nur um eine Selbstorientierung geht, sondern auch um die Orientierung anderer, die auf den rechten Denk-Weg gebracht werden sollen – wenigstens formal, wenn schon nicht inhaltlich. Das bedeutet immer auch, sich selbst und den oder die andere/n – und das scheint mir ein wesentlich sokratischer Aspekt zu sein – in die Reflexion zu zwingen, d. h. dahin zu bringen, über die eigene Denkweise und/oder die zuweilen nur scheinbar sicher gewussten Inhalte bzw. Prämissen nachzudenken. Dem entspricht das Kantische Ansinnen, wenn er von ‚Aufklärung‘ spricht – im Gegensatz zu Mendelsohn etwa, für den ‚aufklären‘ meint, die Bestimmung des Menschen als Menschen und als (guten) Bürger fest-zustellen, um ihn zu letzterem zu machen (Mendelsohn, 1784/1996, 3–8). So ge-sehen geht es der Philosophie wesentlich immer auch um Form-, Haltungs- oder instrumentelle Wie-Fragen und weniger um konkrete Inhalte oder semantisch-ontologisch-essentielle Was-ist-Fragen.2 Das ist nicht zuletzt deshalb relevant, weil Wissen eine zunehmend geringere Halbwertszeit aufweist. Darüber hinaus liegt ein weiterer Zweck philosophischer Methoden darin, mögliche Konsequenzen des (scheinbaren oder vorläufigen) Wissens auszuweisen oder auch die Bedingungen offen zu legen, die es möglich gemacht haben bzw. machen.

Das Thema der folgenden Überlegungen sind die Grenzen philosophischer Me-thoden – die Grenzen ihrer Begründung ebenso wie ihres erkennenden Potentials. Nach einer kurzen Hinführung zur Bedeutung der Bezeichnung ‚philosophische Methode‘, geht es zunächst um die Möglichkeit und Grenze ihrer Selbstbegrün-dung – die sich funktional durch und in den ‚Primat des Praktischen‘ verschieben lässt. Mit Bezug auf das Potential werden im Anschluss drei unterschiedliche Ana-lyserichtungen skizziert, die nicht gegeneinander ausgespielt werden sollen, son-dern komplementär nebeneinander bestehen können sollten: retrospektive Aufklä-rung, prospektive Prognostik und transperspektive Offenheit gegenüber Neuem, die mit dem Un-Möglichen rechnet – wobei die prinzipielle Offenheit neuen und anderen Denkens ihre Grenze ebenfalls im ‚Primat des Praktischen‘ finden muss.

2 Was sind ‚Philosophische Methoden‘ und was sollen sie leisten?

Polysemisch,   …: Was also verbirgt sich hinter der Bezeichnung ‚philosophische Methode‘? Etymologisch bedeutet ‚Methode‘ einen Nach-Gang oder -Weg (μέτα ~ nach; ὁδός ~ Weg), der mit dem Prädikat verbunden wird, das der ‚Liebe zur Weis-heit‘ (φιλíα ~ Freundschaft; σοφία ~ Weisheit) entlehnt ist. Es handelt sich folg-lich um einen Weg zu einer Art Wissen, das Weisheit verspricht. Und es handelt sich um einen Weg, der bzw. dem nach gegangen werden kann: Er ist also erneut denkend beschreitbar.3 Der Bezeichnung ‚philosophische Methode‘ kann dabei ein polysemischer Charakter zugeschrieben werden, weil sie mehrere unterscheidbare Bedeutungen aufweist. Wir haben es meines Erachtens mit wenigstens drei zu tun: Zunächst kann Methode verstanden werden als erkennende Denkweise oder -tätig-keit i. w. S., die auf einen materiellen oder intelligiblen Gegenstand bezogen ist. Das wäre die epistemologische Dimension. Zweitens kann Methode als intersubjektive Praxis begriffen werden, die etwas mit einer lehrend / lernenden Praxis zu tun hat, also im weitesten Sinne mit Didaktik oder Pädagogik. Als solche kann man sie als Ethos bzw. Haltung oder Umgangsweise anderen und anderem gegenüber auffas-sen. Die dritte Auffassung schreibt philosophischen Methoden eine wissenschafts- oder metatheoretische Bedeutung zu, weil sie reflexiv Aussagen darüber machen, wie philosophisch geforscht wird und was das möglicherweise für den Gegenstand bedeutet, der beforscht und zuweilen dadurch auch erst konstituiert wird.4 Im letz-ten Fall geht es also um unterschiedliche Wissenschaftspraktiken – Wissen schaf-fende Praktiken –, um ‚doing theory‘, manchmal gefolgt von Überlegungen, die auch in Anlehnung an Austin dem ‚doing things‘ gewidmet sind.

  ohne trennscharfe Differenzen   …: Keine der drei Bedeutungen schließt die ande-ren zwei vollkommen aus, sodass nur eine Geltung beanspruchen dürfte. Die un-terscheidende Abgrenzung bleibt folglich unscharf und muss es auch bleiben. Sie stehen aber auch nicht einfach ergänzend neben einander, weil sich die drei Felder, auf die sie sich beziehen, teilweise überlappen. Vielmehr handelt es sich um unter-schiedliche Aspekte der Wissensgenerierung. So hat z. B. die Art und Weise, wie Andere oder anderes wahrgenommen werden, unmittelbar etwas mit der Haltung zu tun, die man ihnen gegenüber einnimmt. Das gilt für Begegnungen jeglicher Art – sei es eine mit anderen Personen, Lebewesen oder auch Dingen oder Tex-ten. Auch bilden erkenntnistheoretische und die dritte, wissenschaftstheoretische Auffassung eine konsistente Einheit – oder sollten es jedenfalls, insofern die letzte die erste, erkenntnistheoretische, nicht nur reflektiert, sondern iteriert. Das gilt vor allem für die Wahl der zugrundeliegenden Prämissen. Eine Theorie etwa, die erkenntnistheoretisch mit Kant davon ausgeht, dass unsere Beobachtungsweise konstitutiv ist für die Gegenstände der Wahrnehmung, wird entsprechend auf der wissenschaftstheoretischen Ebene die Auffassung vertreten, dass Wissenschaf-ten ihre Gegenstände konstituieren durch die Art und Weise, wie sie beobachten. Trotz unterschiedlicher Anwendungsfelder gibt es folglich Übereinstimmungen bzw. sollte es sie aus Kohärenzgründen und zum Zwecke der Konsistenz geben.

  und selbstreferentiell: Insofern philosophische Methoden selbst ‚Gegenstände‘ sind, die konstruiert werden und beobachtbar sind, haben wir es zudem mit re-flexiven und rekursiven ‚Schleifen‘ zu tun. Das betrifft sowohl den Wahrheitsan-spruch der durch sie hervorgebrachten Erkenntnisse als auch die Angemessenheit ihrer selbst. Philosophische Theorie- bzw. Theoretisierungsbegründung ist his-torisch in dreifacher Form aufgetaucht: mit Verweis auf die Transzendenz , d. h. die Theorie wird begründet mit ihrer göttlichen Herkunft; mit Verweis auf die Empirie , d. h. sie durch v. a. Hinweise auf die Übereinstimmung ihrer Aussagen mit (scheinbar) natürlichen Vorkommnissen zu begründen; oder aber reflexiv mit Hinweis auf sich selbst, wie etwa die transzendentale Theoriebegründung in, von und im Anschluss an Kants kritische/r Philosophie.5 Auch wenn Kant am Ende der ersten Kritik davon spricht, dass der „kritische Weg … allein noch offen“ (Kant KrV A856/B 884) gewesen sei, so findet sich doch kein Hinweis darauf, dass das kritisch-transzendentale Fragen nach den Möglichkeitsbedingungen der Erkennt-nis – wie auch nach denjenigen eines friedlichen Zusammenlebens – historisch so, in dieser Weise auftauchen musste.6 Eine solche Notwendigkeit versuchen dann, nach der ‚Säkularisierung‘ und Internalisierung transzendenter Theoriebegrün-dung in die Vernunft, philosophische Systemdenker wie Hegel und Luhmann. Beide antworten auf die Frage nach der Selbstvergewisserung, auch der methodi- schen, mit Theorien, die sich systematisch, aber auch historisch selbst grundlegen, ihr eigenes Auftauchen also zu begründen vermögen.7 Durch den Nachweis, dass ihre umfassende Theoretisierung die Theorien selbst inhaltlich wie methodisch ermöglicht und historisch erklären kann, immunisieren sich solche ‚Super-Theo-rien‘8 gegen den Vorwurf der Beliebigkeit, aber auch gegen den des Selbstwider-spruchs. Denn mit Derrida gefragt: „[i]n welchem Namen, im Namen welcher anderen ‚Wahrheit‘ würde man sie  … diskreditieren“ (Derrida 1990/2001, 211) oder eines Widerspruchs bezichtigen können? Auf der anderen Seite beruhen die-se scheinbar umfassenden Theorieentwürfe auf Konstitutions- oder Rekonstruk-tionsinstrumentarien – die Dialektik oder die System/Umwelt-Differenz –, deren Notwendigkeit selbst nur reflexiv ausweisbar ist.

Folgerung: vollständige Beliebigkeit   …? Bedeutet diese Art moderner theoretischer wie methodologischer Selbstvergewisserung, dass die Philosophie zwar kein ziel-loses und auch kein ungeregeltes, aber dennoch in ihren Grundlagen ein bloßes Herumtappen, ein anything goes , wenngleich ein reflexives, selbstreferentielles, sich selbst bestätigendes (geworden) ist? Eine, die kunstvoll sich selbst neu erfin-dend immer wieder neue Wege einschlägt und dabei immer wieder behauptet, nun endlich den richtigen, einzig wahren Weg gefunden zu haben, der sodann zum Nachgang angepriesen wird? So pauschal ließe sich das nur mit einem ‚Ja und Nein‘ beantworten, weil es verschiedene Perspektiven in Bezug auf die reflexive Selbstvergewisserung, die Zuwendung zur eigenen forschenden wie darstellenden Praxis gibt, die im Anschluss an Hegel immer auch mit der sozio-kulturell-histo-rischen Selbstverortung der Denker*In verbunden wird.9 Philosophischen Metho-den haftet folglich etwas Ungewisses an, weil sie es nicht vermögen, sich selbst als einzig richtigen Weg zur Wahrheit bzw. Wahrheitsgewinnung auszeichnen zu können. Deshalb scheitern Methoden, die ihre Praxis in einem absoluten Sinne als wahrer als andere auszeichnen wollen, immer an ihren Legitimierungsgren-zen, oder sie müssen auf ein absolutes Gegebensein rekurrieren – das sich frei-lich dem Vorwurf des nur Gesetzten nicht entziehen kann, womit das Problem lediglich iteriert wird. Zudem – das verbirgt sich wohl u. a. hinter dem Vorwurf einer kybernetischen Sozialtechnologie10 – erscheinen solche Theorien manchem als gegenwartsopportunistisch, weil sie ja sich selbst und ihren methodischen Zu-gang nicht nur als das ausgeben, was gegenwärtig am angemessensten erscheint, sondern weil sie, frei nach Hegel, die Gegenwart deshalb ‚auf die richtige Weise zu denken vermögen‘, weil sie eben an der Zeit waren, gleichsam dem eigenen Selbst-verständnis nach genau so denkbar werden mussten.

  oder funktionale Begründung? Was bleibt aber, wenn der eigene Geltungsan-spruch nicht in einem absoluten Sinne einholbar ist? Zunächst bleibt als Mini-malforderung die von Kant immer wieder eingeforderte Widerspruchsfreiheit. Entsprechend sollten philosophische Methoden einerseits konsistent sein, ande-rerseits ihre Resultate als ihren Gegenständen adäquate Beschreibungen auswei-sen können. Schließlich kann auch nach dem Zweck philosophischen Nachden-kens schlechthin gefragt werden, mit dem sich die Methode ebenfalls kompatibel erweisen sollte. Dann ließe sich die Geltung des Erkenntnisgewinns jenseits der selbstreferentiellen und widerspruchsfreien Bestätigung auch funktional begrün-den.11 Das bedeutet seit der sogenannten Neuzeit, dass die wissensgenerierenden Methoden nicht als Selbstzweck begriffen werden, sondern letztlich dem Zweck der Praktischen Philosophie schlechthin untergeordnet werden, die ihrerseits als Magd eines gesellschaftlichen Miteinanders im Dienste aller aufgefasst wird.12Neuzeitliche Philosophie richtet den Weg zur Weisheit funktional auf die Frage aus, wie, in letzter Konsequenz, das (menschliche) Miteinander so organisiert wer-den kann, dass alle in ihrer Verschiedenheit gleichermaßen an ihm teilhaben und teilnehmen können.13 Diese Fragestellung, also inwiefern die Philosophie auch methodisch einen Beitrag zum praktischen Zweck leisten kann und worin ggf. die Grenzen bestehen, trägt die folgende Analyse der unterschiedlichen Blickrichtun-gen ‚philosophischer Forschung‘.

3 Blickrichtungen ‚philosophischer Forschung‘?

Zunächst: Was heißt Forschung? Wenn die Frage lautet, wie geforscht wird, sollte zunächst geklärt werden, was gemeinhin und im engeren Sinne unter ‚Forschung‘ verstanden werden kann. Einem gängigen online-Lexikon zufolge versteht man unter „Forschung   […], im Gegensatz zum zufälligen Entdecken, die systemati-sche Suche nach neuen Erkenntnissen.“14 Und systematisch heißt eben: nicht arbi-trär und willkürlich, sondern mit Methode. ‚Neue Erkenntnisse‘ kann allerdings zweierlei bedeuten: Zum einen kann es um die Auf- bzw. Entdeckung von etwas gehen, das schon irgendwie da, aber eben noch nicht sichtbar war. In diesem Sinne ist die Suche aufklärend und bezieht sich ex post auf etwas Gegebenes, Geworde-nes, Vorhandenes, Ontologisches. In diesem Sinne fliegt für Hegel die Eule der Minerva in der Dämmerung und deshalb kommt die Philosophie für Hegel immer zu spät.15 Dennoch schafft die retrospektive Aufklärung auch Neues: Sie ordnet neu, zieht andere Schlüsse, stellt neue Synthesen her, hebt anderes auf neue Weise hervor, stellt andere Fragen – mit Foucault gesprochen „problematisiert“ (Foucault 1984/1989, 19) sie anders. Kant nennt beispielsweise seine neue Weise zu proble-matisieren, tranzendental . Warum war sie neu? Weil nicht mehr nach zureichen-den Gründen gefragt wird, sondern nach den Möglichkeits bedingungen für das Erkennen selbst, für das, was und wie es gedacht wird. Damit versucht Kant u. a. zu erklären, warum ein und dieselbe Vernunft so unterschiedliche, einander wi-dersprechende Auffassungen – methodisch wie auch im Resultat –, wie den Empi-rismus (Hume) und den dogmatischen Rationalismus (Wolf) hervorgebracht hat. Diese kantische Frage haltung ist deshalb neu, weil sie sich die Ebene wechselnd nicht mehr einer der beiden herrschenden Denkausrichtungen zugehörig fühlt, um noch bessere Argumente zur ihrer Bestätigung zu finden.16 Stattdessen tritt Kant explizit an, um jene sie ermöglichende Denkvoraussetzungen und -muster offen zu legen.

Retrospektive: Seit der anschließenden Historisierung des je aktuell richtigen Denkens und seiner Inhalte spätestens durch Hegel rücken neben den je histo-risch synchronen Unterschieden auch die asynchronen Veränderungen des Den-kens und des Gedachten in den Blick. Hegel rekonstruiert auch letztere dialektisch bezogen auf ihre Aufhebung im Absoluten; Nietzsche wird die Frage nach der Möglichkeit bestimmten Denkens, seiner Inhalte und Veränderungen vor allem um den Bezug zum Machtlegitimierungspotential ergänzen – das nennt er Genea- logie . Diesem ‚Historismus‘ wie auch dem Schleiermachers und Diltheys trotzend versucht Husserl noch einmal im Denken selbst ahistorische Logoi festzumachen, die den Phänomenen ihre Gegebenheitsformen verleihen. Dem tritt Foucault ent-gegen, indem er der transzendentalen Fragehaltung und der Genealogie die Di-mension der Archäologie hinzufügt. Als „der Versuch, eine ganz andere Geschich-te zu schreiben“ (Foucault 1979/1981, 197), die anders fragt als philosophische Ideengeschichte, weil sie beispielsweise nicht nach Bedeutungen, sondern nach ‚Problematisierungen‘ und nach den Möglichkeitsbedingungen fragt, die Wissen allererst zu anerkanntem Wissen machen.17

In diesem Sinne vertreten einige der philosophischen Methoden, die sich seit und nach Kant der Selbst-Aufklärung des Gewordenen verschrieben haben, den Anspruch, aufzuklären über die Muster unseres Denken, Forschens, Wollens, ebenso wie die unseres Handelns und Miteinanders, ohne sie deshalb zugleich für unveränderbar zu halten – aber auch ohne sie deshalb für intendierte , sprich gewollte Effekte zu halten. Wiederum mit Foucault, der hier exemplarisch für den Anspruch einer retrospektiven Aufklärung steht:

Diejenigen Methoden, die retrospektiv das Gewordene (Wissen) und dessen Wer-den analysieren, lassen sich unter ‚reflexive Aufklärung‘ zusammenfassen  – ob archäologisch, analytisch, genealogisch, hermeneutisch, materialistisch, phäno-menologisch etc. Aufklärung macht hier sichtbar, wie sich das Denken und folg-lich seine Gegenstände und ihr Zusammenhang formiert (hat). Die methodisch fundierten Re konstruktionen können dabei mit Hegel in einer einzigen, ewigen, ‚absoluten‘ Form erfolgen; oder vom denkenden, intentionalen Subjekt ausgehen, oder von Machtkonstellationen, die sich kontingenter Ereignisse ‚bedienen‘; oder von den ökonomischen Praxen, oder, oder, oder; wobei diese ‚oder‘ nicht aus-schließend zu verstehen sind. In jedem Fall haben sie Vorhandenes, schon Reali-siertes zum Analysegegenstand – sei es, um die Gegenwart als vernünftig gewor-dene auszuweisen, sei es, um aus dem Erkannten die Zukunft zu prognostizieren, sei es, um dieser Hybris und diesem Mythos etwas entgegenzusetzen – und da-her kritische Aufklärung zu betreiben.18 Aber wozu? Weil es um ein ‚Besser‘, oder wenigstens bescheidener um ein ‚ Nicht so‘ geht, um eine andere Praxis , also mit Kant, um den ‚Primat des Praktischen‘. Oder, wie es Foucault in Was ist Kritik? formuliert: Es gehe u. a. darum, „ nicht so, nicht dermaßen regiert zu werden “ (Fou-cault 1978/1992, 52) . 19 Die retrospektive Aufklärung der Ordnungsstrukturen und Zusammenhänge zwischen philosophisch-methodischer Wissen(sherstellung), gesellschaftlicher Ordnung und gelebter Praxis dient aus dieser Perspektive einer besseren, einer verbesserten Zukunft – nicht mehr und nicht weniger. Dieser letzte Zweck beruht negativ formuliert auf dem „Bedürfnis, Leiden beredt werden zu lassen, […] [das] Bedingung aller Wahrheit [ist].“ (Adorno 1966, 29). Dass das – vom je aktuellen Standpunkt aus betrachtet – mögliche bessere Leben der Zweck des Philosophierens ist, ist freilich ein Topos, der die Philosophie seit der Antike begleitet, wenn auch nicht immer mit Blick auf die Gemeinschaft – er bringt uns zur zweiten, auf die Zukunft ausgerichteten Blickrichtung, die pro- bzw. transper-spektivisch genannt werden kann.

Pro- bzw. Transperspektive: Neben dem Sichtbarmachen der begrenzenden Ratio-nalitätstypen, Praxen, Selbstvergewisserungen, Legitimationen etc., geht es beim Aufklären immer auch darum, deren scheinbare Grenzen ggf. zu überschreiten . Aufklärende Analysen geben sich nicht immer damit zufrieden, einfach nur auf-zuklären. Vielmehr geht es seit Sokrates ja immer auch darum, Fehler oder Proble-matiken im Denken aufzudecken. Und das, um sie dadurch vielleicht zukünftig zu vermeiden; es nicht mehr so, sondern anders zu machen; die als schlecht entlarv-ten Denk-Muster etc. durch Offenlegung so zu verschieben, dass sie ihre Wirk-samkeit einbüßen. Insofern ist die Aufklärung nicht nur retrospektiv kritisch , weil sie erstens Fehler im Denken aufdeckt und weil sie zweitens unterscheidet, also Grenzen setzt, sondern auch, weil sie vorhandene Praxen, Denkmuster und -rah-men sichtbar macht, indem sie sie drittens überschreitet. ‚Kritik‘ bezeichnet also spätestens seit Kant eine philosophische Praxis oder Methode, die nicht nur be-grenzt und falsche Überzeugungen zu entlarven trachtet, deren Ursprung sie bes-tenfalls auch noch erklären kann, sondern die eben auch eine Überschreitung der vermeintlich gegebenen Denk-Notwendigkeiten vollzieht, und damit deren Limi-tierung und Arbitrarität deutlich macht. Und zwar allein schon, indem sie schein- bar Unumstößliches befragt bzw. indem sie dessen Werden und Grenzen sichtbar macht. Damit dringt sie immer in bislang unbekannte Gewässer vor – wie sich bereits bei Kant zeigen lässt.20

‚Notwendige‘ Offenheit: Denn die Grenzüberschreitungen implizieren auch ein Öffnen für zukünftige Rationalitätstypen, Selbstvergewisserungen, Legitima-tionen und Praxen, die mit Sicherheit zum Teil noch unbekannt und daher nicht antizipierbar, nicht berechenbar, nicht prognostizierbar sind. Und zwar gilt dies in wenigstens zweierlei Hinsichten: Weder lässt sich mit Hume gesprochen immer aus dem, was gewesen ist, auf das schließen, was sein wird; noch kann mit Kant aus dem, was noch nicht ist, darauf geschlossen werden, dass es nie sein wird.21 Weder das aktuell Seiende noch das aktuelle Denken bestimmen daher die Zu-kunft positiv oder negativ vollständig – das mögen manche erschreckend und an-dere beruhigend finden. In jedem Fall finden wir bei Kant auch schon die Idee der Überschreitung, der Grenzüberschreitung, die ins Offene bzw. Unbekannte führt. Im Zusammenhang mit dem Gebot, keine Verfassung als endgültig annehmen zu dürfen , schreibt er:

Zweite Bedeutung von ‚neu‘: Damit sind wir bei einer zweiten Bedeutung von ‚neu‘. Denn ‚neue Erkenntnisse‘ soll auch wirklich ‚Neues‘ bezeichnen, d. h. Forschung soll auch wirklich ‚Neues‘ erzeugen – das könnte freilich auch eine neue, bislang unbekannte und noch nie angewandte Methode sein.22 Die eine Frage ist, ob die Suche nach diesem Wissen im gleichen Sinne methodisch genannt werden kann, da ja das, was gefunden werden soll, eigentlich noch nicht da ist, der Weg nicht nur sein Ziel nicht kennt, sondern auch nicht sich selbst. Er muss sich gleichsam selbst erst (er)finden. Die andere Frage ist: Was heißt ‚wirklich neu‘? Vermutlich kann damit nicht gemeint sein, dass etwas in jeder Hinsicht neu oder anders ist – das wäre absurd. Vielmehr sind damit andere Arten und Weisen zu denken gemeint, oder auch Ereignisse, die sich nicht angekündigt haben und zu denen es auch kei-ne berechnenden Vorhersagen gab. So bedeutet ‚neu‘ vor allem: nicht antizipierbar. Auch für diesen Gedanken hat die Philosophie relativ bescheidene Namen gefun-den – wenngleich das für die folgenden Beispiele nicht bedeutet, dass sie immer exakt die gleiche Bedeutung ausdrückten: Kant spricht zum einen von ‚prakti-scher Freiheit‘, die im Feld des Sozialen die theoretische Spekulation ersetzt. Zum anderen gibt es bei Kant auch die Rede von der ‚He-Autonomie‘, die eine zweck-freie Freiheit meint, die also noch nicht einmal unmittelbar der Organisation des sozialen Miteinanders zu dienen habe, obgleich sie auch neue Ordnungen erfinden kann;23 Butler spricht von ‚Kritik‘ (u. a. Butler 2009/2011) oder Derrida von ‚De-konstruktion‘ – jedenfalls einer Facette der Dekonstruktion. Letztere macht sen-sibel für das „nicht negative UnmöglicheD

“ (Derrida 2002, 89), das ‚EreignisD

‘, die ‚ErfindungD

‘, die ‚GabeD

‘und lässt mit dem nicht Berechenbaren rechnen.24 Diese philosophische, wenn man so will, Transperspektive hat etwas mit den Bedingun-gen zu tun, unter denen das gänzlich Neue möglich geworden sein wird, aber auch damit, dass sich in dieser Hinsicht nicht mehr ohne Weiteres von Theoretisierung oder gar Methodisierung im herkömmlichen Sinne sprechen lässt.

Zusammenhang der Perspektiven: Retro-, Pro- und Transperspektive hängen selbstverständlich zusammen, hängt doch das, was da kommen wird, auch von dem ab, was gewesen und geworden ist. Dennoch handelt es sich nicht immer oder gar selten um ein Determinationsverhältnis im strengen Sinne25 – weil eben weder aus ‚das war immer schon so‘ noch aus ‚das war noch nie so‘ folgt ‚das muss so sein: für alle Zeit, gestern, heute und in Zukunft‘. Jedenfalls dann nicht, wenn es sich um sozio-kulturell-historische Entwicklungen handelt, zu denen auch technische, künstlerische und weitere Innovationen zählen. Es hängt m. E. von der Grundüberzeugung der Betrachter ab, wie viel Veränderung und damit Un-sicherheit sie denkend zulassen wollen oder auch können. Je nachdem ergeben sich zwei verschiedene Ansprüche an die retrospektive Aufklärung des Gewordenen, die unmittelbar mit dem Kommenden zu tun haben – auch in der Philosophie: Klärt sie auf, um bestimmen zu können, was zukünftig wie geschehen wird oder zu geschehen hat, und um zu berechnen, was dabei wahrscheinlich herauskommen wird? Oder klärt sie auf, um zu zeigen, dass das, was geworden ist, keinen not-wendigen Werdensregeln unterliegt, weil ‚alles im Fluss‘ und folglich veränderbar ist, und daher auch nicht determinierend in das Zukünftige extrapoliert werden kann? Oder beides? Welcher Zweck hier zugrunde gelegt wird oder überhaupt als einholbar erscheint, hat dabei unmittelbare Auswirkungen auf den Status der Re-sultate wie auch auf das Erwartbare und den Platz, der ggf. dem nicht antizipierbar Neuem eingeräumt wird.

Differenz der Perspektiven: Der Unterschied zwischen retrospektiver, i. w. S. das Ontologische aufklärender und transperspektiv erfindender Forschung ist kei-nesfalls unerheblich. Er bezieht sich auf wenigstens zwei Aspekte: Erstens auf die Suchmethode und zweitens in erkenntnistheoretischer Hinsicht auf den Geltungs- anspruch des Gefundenen. Der Unterschied wird eingeebnet, wenn wir davon ausgehen, dass die Einsichten in die Werdensmuster des Gewordenen einfach prognostisch in die Zukunft übertragen werden könnten. Aber auch dann, wenn wir die vorhandenen Denkmuster und Methoden als unausweichlich und unver-änderbar ausgeben und glauben, mit ihnen tatsächlich Neues denk-, aber auch sichtbar zu machen. Es stellt sich nämlich die Frage, ob es für das zukünftig Neue eine Methode im herkömmlichen Sinne geben kann, sprich, ob überhaupt syste-matische Heuristiken dafür formulierbar sind. Hegel, Sartre, Derrida, Foucault oder Butler beantworten diese Frage in Bezug auf die Praxis und das zukünftig Neue , nach Kant, mit einem klaren Nein.

In Bezug auf die gewonnenen Erkenntnisse sei noch hinzugefügt, dass es gilt, noch einmal zu unterscheiden zwischen dem, was in überlieferte Paradigmen passt, und dem, was neu gefunden worden ist. Je nach eingenommener Perspektive ändert sich hier die Art und Weise, in der das Gefundene den Wahrheitsanspruch erfül-len kann. Für den rückwärtsgewandten Blick, der jede Hypothesenbildung beglei-tet, muss es, mit Kant gesprochen, ‚einen Gegenstand in der Anschauung geben‘ – sei dieser materieller oder intelligibler Art.26 Für das vollkommen Neue hingegen wird es höchstens retrospektiv eine Art performativer Selbstbestätigung gegeben haben, da das, was es forschend erst zu erfinden galt, noch nicht da gewesen ist. Wenn es aber tatsächlich neu ist, gibt es noch keine adäquaten Maßstäbe, um über es zu urteilen.27 Denn der einzige Maßstab, der gleichsam mit dem Neuen mitge-boren wird, ist es selbst – das ist eine der Gewissheiten, die das Problembewusst-sein der Systemdenker nach Kant erfüllt hat. Wahrheit oder Geltung kann dann dort, wo es noch nicht einmal eine ‚empirische Anschauung‘ gibt, nur selbstrefe-rentiell durch die Adäquatheit von Denkinhalt und Werdensprozess, dem auch Methoden unterliegen, errungen werden. Sie besteht darin, dass sich das, was in-haltlich gedacht wird, zugleich prozessual realisiert, sich als möglich geworden zeigt, oder sich eben performativ selbst bestätigt haben wird.28 In Bezug auf das, was überhaupt noch nicht ge- oder erfunden ist, kann es freilich noch nicht einmal eine adäquate Selbstbestätigung oder einen Maßstab geben – denn all das ‚gibt‘ es erst dann, wenn eine Erfindung ‚passiert‘ ist, stattgefunden hat.29

Während Kant also fordert, dass das (reflexive) Denken (und Handeln) dabei im Mindesten keine Selbstwidersprüche erzeugen darf, und beispielsweise Hegel und Butler ihm lediglich ein bestimmtes Nicht-so-wie-bisher zusprechen würden, weshalb letztere lieber von Verschiebung spricht, würde Derrida wohl mit Kant darauf verweisen, dass das Neue in jedem Fall unbedingt sein wird. Derrida spe-zifiziert noch, dass es auch nicht berechenbar und in diesem Sinne unmöglich, nicht antizipierbar, nicht vorhersehbar ist und sein kann – sonst wäre es nicht neu. Methodisch bedeutet das, dass es keine philosophische Methode für Erfindungen geben kann, weil das Neue per definitionem jenseits des bislang Gekannten (und Gewordenen) auftauchen wird und sich daher nicht aus ihm positiv ableiten lassen kann. Aber man kann über dessen Möglichkeitsbedingungen nachdenken – Be-dingungen, die es nicht hervorbringen, die es aber nicht verhindern. In Bezug auf praktische, empirische, also nicht theoretische Ereignisse bedeutet das auch, über Bedingungen nachdenken zu lernen, die eventuell manches sich gerade nicht er-eignen lassen können.

4 Folgerungen für Mitteilungspraxen und Erwartungen an philosophisches Denken

Kontextbezogenheit: Es zeigt sich, dass die Frage nach der richtigen philosophi-schen Methode also nur kontextuell mit Referenz auf den Forschungsgegenstand und das -ziel beantwortet werden kann: Geht es um das, was bereits ‚der Fall‘ ist, oder geht es um das, was da, stets unbekannter Weise , kommen könnte und kommen wird?30 So betrachtet könnte man fatalistischer Weise folgende Auffas-sung vertreten: Dann verzichten wir doch einfach auf philosophische Forschung, die nach tatsächlich Neuem sucht, ergeben uns dem Schicksal und beobachten das Werden – so jedenfalls ließe sich Hegels Antwort deuten, wenn er konsta-tiert, dass die Philosophie immer zu spät kommt, weil sie nur das auf den Begriff zu bringen vermag, das bereits geworden ist; oder wenn er für das, was kommt, nur eine Prognose zulässt: dass das Morgen in einem negativen, bestimmenden Bezug zum Heute anders sein wird. In gleicher Weise fatal scheint aber auch die komplementäre Auffassung, dass die Zukunft aus der Vergangenheit berechenbar bzw. ableitbar ist und sein muss, und dass die Philosophie dafür Methoden bereit zu stellen hat. Die Frage lautet erneut: Gibt es eine Alternative, sodass weder auf das Rechnen mit Neuem verzichtet werden muss, noch dem Glauben nachgehan-gen wird, es intendiert, mit bekannten Mitteln herstellen zu können? Können wir das Ereignis des Neuen mit einer philosophischen Methode einholen? Mit einer einzigen Methode, die nicht nur retrospektiv über das sozio-kulturell-historisch Gewordene aufklärt, sondern wenigstens auch beschreibt, auf welche Weise ganz anderes denkbar wird? Zum Beispiel wie sich – auch mit Kant – die Vernunft neu formieren könnte?

Folgerungen für Mitteilungspraxen   …: Wenn das skizzierte Problem in Bezug auf die Methodik philosophischer Forschung zutrifft, aber dennoch daran festgehal-ten werden soll, ein überschreitendes, öffnendes Tun mitteilbar zu machen, muss sich eventuell zweierlei ändern: die Praxis der Mitteilung und die Erwartung an das Zukünftige , das als nicht absehbar erkannt wird. Wenn es um die Praxen der Mitteilung geht, wird niemand leugnen, dass es selbstverständlich Kontexte gibt, in denen es darauf ankommt, anderen Fakten oder Kompetenzen mitzutei-len. Aber gerade wenn es um philosophische Methoden geht, auch dann, wenn sie retrospektiv ausgerichtet sind, hat die Mitteilbarkeit Grenzen. Zwar ist es möglich zu sagen, dass man sich beispielsweise wie Kant nicht in eine festgelegte binäre Entscheidung zwingen lässt, sondern stattdessen einen anderen, neuen, dritten Weg suchen soll, der zu Erkenntnissen führt. Aber wie dieser neue Weg dann ausgesehen haben wird, dass es der transzendental-kritische geworden ist, das lässt sich weder antizipierend beschreiben, noch mitteilen und folglich auch nicht ex ante evozieren. Es kann also höchstens eine formale Aufforderung zur Offenheit mitgeteilt werden – nicht aber das Wie des Findungsprozesses selbst, da er eben genauso wenig wie das Neue selbst antizipierbar ist. Das gleiche gilt aber auch für die Mustererkennung, die neue Synthesen ermöglicht, oder ande-

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re kreative Prozesse: Weder der Weg zum, noch der Moment des Findens, mit Descartes die ‚Evidenz‘ oder allgemein das Heureka-Erlebnis, lassen sich vor-wegnehmen – weshalb Heidegger oder Derrida von einem ‚Sprung‘ sprechen. Hier geht es um eine Grenze der methodischen Deskription und folglich der Mitteilbarkeit.

  und Zukunftserwartungen: Folglich scheinen beide Perspektiven ihre eigene Strategie zu fordern: Für die retrospektive Aufklärung im weitesten Sinne liegen zahlreiche, unterschiedliche, wie etwa die oben genannten Methoden, vor. Für die Transperspektive macht Derrida – nach Kant31 – einen Vorschlag, der sich als Er-öffnen eines Ermöglichungsraumes beschreiben lässt. Wohl gemerkt, geht es dabei nicht um die aufklärende, erweiterte transzendentale Frage nach den Bedingun-gen der Möglichkeit des bereits Gewordenen. Vielmehr geht es um die Frage, wie wo welche Begrenzungen (des Denkens) durch deren Überschreitung sichtbar und zugleich dekonstruktiv entgrenzt werden können, um Neues, Unerwartetes und Unerwartbares möglich werden zu lassen. Eine Praxis, um in dieser Hinsicht Ef-fekte zu erzeugen, ist mit Sicherheit das Gespräch mit anderen, sodass es hier um noch sehr viel mehr geht als um die bloße methodologische Selbstvergewisserung oder -legitimierung der Philosophie und ihrer Praxen. Es lässt sich sogar der Ver-dacht äußern, dass tatsächliche Überschreitungen, die Neues ermöglichen, auf Andere, d. h. auf das Gespräch angewiesen sind, weil das eigene Denken üblicher-, weil bequemerweise in den eingeübten Mustern verläuft. So betrachtet stellen sich nicht mehr nur Fragen wie: Wie kann man Andere an Denk-Praxen partizipieren lassen? Oder: Wie lässt sich so eine Überschreitung, ein solcher Prozess, eine sol-che Praxis mitteilen? Vielmehr muss die Philosophie sich fragen, was da passiert im überschreitenden Dia- oder Polylog, und unter welchen Bedingungen er statt-finden kann.

So lassen sich trotz aller Unbedingtheit im Sinne von Unbestimmtheit des Zu-künftigen vielleicht dennoch Voraussetzungen identifizieren, die das Unvorher-sehbare ermöglichen – nicht in einem präfigurierenden, transzendentalen Sinne, sondern im Sinne eines Erwartungsraumes; vielleicht ähnlich, wenn auch nicht gleich der Platonischen ‚ chora ‘32. Das Gespräch mit den anderen und von den an-deren her, das gegenseitige respektvolle Zuhören sowie das gemeinsame Aufklä-ren dessen, was wie geworden ist, aber auch eventuell das Zulassen assoziativer Ideen, die in den Zwischenräumen dessen entstehen, was bereits formuliert ist, das aber (fast) unendlich viele weitere nicht widersprüchliche Verstehensweisen hervorrufen, so, wie es sich etwa in der psychoanalytischen Praxis ereignet, all das könnte den Raum bereiten, Bedingungen dafür anzugeben, wie das Erscheinen, Auftauchen, Ereignen des ‚Neuen‘ wenigstens nicht verhindert wird. Die Grenze der retro- und prospektiv-antizipierenden philosophischen Methodisierung wäre folglich zugleich der Ausgangspunkt für ein transperspektivisch begründetes Öff-nen neuer (Denk-)Räume. Man könnte das eine Protomethodik nennen – warum nicht?

Im Unterschied zur Psychoanalyse als therapeutische Methode ginge es freilich im Forschungs- und Lehrkontext nicht darum, neue Interpretationen der je eige-nen Erfahrungen möglich zu machen, sondern darum, etwa neue, aber dennoch konsistente Interpretationen, Lesarten, Verständnisse beispielsweise von Texten bzw. Auffassungen zu generieren und zuzulassen. Das würde bedeuten, sich nicht auf bereits ausgetretenen Pfaden bewegen zu müssen. Beide Strategien, die retro-spektiv kritische Aufklärung und die transperspektive Öffnung für Neues unter Berücksichtigung des genuin praktischen Zwecks, scheinen mir gleichermaßen notwendig – keine allein möglich. Dadurch, dass das respektvolle, verstehende und offene Gespräch mit anderen – mit prinzipiell jedem anderen – vorausgesetzt wird, ist auch der Offenheit für Neues eine Grenze inhärent, die nicht alles Den-ken gleichermaßen willkommen heißen wird. Geht es doch immer noch um den Primat des Praktischen, das als Korrektiv dienen muss. Mit Derrida, der auf das Vernünftige reflektiert, wäre

Ich will mit einer reflexiven Anmerkung Derridas schließen, die hier – zum Bei- spiel  – auf einen in einem literarischen Text ermöglichten, offenen Raum reflek-tiert, in dem Anderes, Neues, über das Gegebene Hinausgehendes denkbar ge-worden ist:

Es könnte sich auch um ein über die gegebene Methodik oder Situation hinaus-gehendes, ohne Widerspruch denkbar Werdendes handeln.

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„ein gewisser polemischer Faden“  – Überlegungen zum Verhältnis von Philosophie und Polemik als Beitrag zur Methodendiskussion

Jürg Berthold

Dem Bündel von Fragen, die sich im Zusammenhang mit der Thematik dieses Bandes stellen, werde ich mich im Folgenden von einer vielleicht überraschenden Seite her nähern. Der Vorschlag, über das Verhältnis von Philosophie und Polemik nachzudenken, soll indirekt zu Antworten auf Fragen führen, die das Selbstver-ständnis der Philosophie und damit im Kern die Frage nach den Methoden des Philosophierens betreffen. Der von der Philosophie erzeugte Schein trügt: Sie ist, entgegen ihrem Selbstverständnis, durch und durch polemisch – so zumindest die Grundüberzeugung der folgenden Überlegungen. Dass die Dissense rund um die Methoden des Philosophierens in der Folge anders beurteilt werden müssen, ist eine direkte Folge dieses Vorgehens à la bande.

Drei Dinge sind aus meiner Sicht offensichtlich, wenn man über das Verhältnis von Philosophie und Polemik nachzudenken beginnt. Erstens wird Polemik seit der Antike aus der Philosophie ausgeschieden, und zwar seit Platons Auseinandersetzung mit den Sophisten und Aristoteles’ Zuweisung des Philosophischen in den Bereich der apophantischen Rede. Polemik wird als ein Phänomen der Rhetorik betrachtet, das der Philosophie fremd ist. Es gehört zum tradierten Selbstbild der Philosophie, ihren Diskurs von Elementen des Polemischen möglichst freihalten zu wollen. Das reine Streben nach Wahrheit, das Bemühen um Klarheit und Präzision, die entschie-dene Trennung von Genese und Geltung von Wahrheitsansprüchen, der ‚zwanglose Zwang des besseren Arguments‘, das Ernstnehmen des Anderen, das hermeneutische Prinzip des principle of charity etc., dies alles sind Titel, unter denen man diese offen-sichtliche Seite der Beziehung der Philosophie zur Polemik thematisieren kann und die ihr hehres Anliegen zum Ausdruck bringen. – Wo Polemik auch in der Philo-sophie erscheint, ist es zweitens für die Anliegen der Philosophie unergiebig, die-se Aspekte als solche ernst zu nehmen. Sie sind als Ausdruck von im weitesten Sinne psychologischen Mechanismen aufzufassen und zu übergehen. Polemik kann faktisch durchaus vorkommen und die ruhige Gelassenheit der Philoso-phie, konkret: der Philosoph:innen, stören. Aber kommt es zu einem polemischen Ton, so scheint es, als müsse man diesen als defizienten, das Selbstverständnis der Philosophie verratenden Modus des Redens deuten. Der Philosoph, der die Contenance verliert, ist ein Fall für die Psychologin, die nach Gründen für den Verlust der Kontrolle suchen mag. Mit einem gewissen Recht lassen sich deshalb Wendungen anführen wie: ‚Man kann das emotionsloser sagen …‘, ‚Lässt man die Polemik weg, so bleibt als Argument …‘ etc. Man pflegt in solchen Situationen von der polemischen Rhetorik höflich und selbstbeherrscht abzusehen, vorausgesetzt, man ist gewillt, ein Argument überhaupt noch zu diskutieren. – Die Geschichte der Philosophie ist drittens voll von Auseinandersetzungen, Debatten, Kontrover-sen, Streitsituationen, wobei oft schon die entsprechende Bezeichnung selbst vom Standpunkt abhängt. Sie ist – entgegen ihrem Selbstverständnis – eine Geschichte der Uneinigkeiten. Dabei ist auch die Sicht auf diese (zumindest für mich) immer wieder erstaunliche Eigenart der Philosophie selbst Gegenstand von Kontrover-sen. Dass es bei Auseinandersetzungen, auch philosophischen, zu Wortwechseln

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kommen kann, die im umgangssprachlichen Sinne polemisch zu nennen sind, ist weder erstaunlich noch weiter interessant. Hinter dem Ich der Philosophie steht das ich der Philosophin, des Philosophen, auch, wo dies verschleiert werden soll. Polemischen Ausfälligkeiten aber auf dem Hintergrund des unter (1) erwähnten Selbstverständnisses lediglich als Folge der unter (2) angesprochenen psycholo-gischen Mechanismen zu deuten, scheint mir zu kurz gegriffen. Sowohl dass es Auseinandersetzungen in Hülle und Fülle gibt, als auch dass die Beschreibung dieses Phänomens kontrovers ist, scheint mir berechtigter Anlass für eine vertiefte Reflexion zu sein.

Angesichts dieser Ausgangslage ist es für mich plausibel, polemische Texte nicht psychologistisch anzuschauen, sondern sie mit der Vermutung zu lesen, dass sich in ihnen etwas Anderes zeigt – eben jene unter (3) genannte „Eigenart“. Eine sol-che „symptomale Lektüre“ (Louis Althusser) liest eine Kontroverse (in der es zu polemischen Tönen kommt) darauf hin, welche grundsätzlichen Differenzen sich in ihr zeigen. „Streit der Fakultäten“ (Immanuel Kant), „burdens of reason“ (John Rawls), „aporetisches Cluster“ (Nicolas Rescher), „différend“ (Jean-François Lyo-tard) sind (Buch-)Titel, in denen sich ganz unterschiedliche Ansätze verdichten: Sie alle erheben den Anspruch, auf ihre Weise das Grundsätzliche jeder Ausein-andersetzung zu benennen – mit weitreichenden Konsequenzen für jede weitere Diskussion, auch der Methodenfrage.3

Analysiert man offen polemische Texte,4 wird deutlich, dass hinter dem Psy-chologischen eine andere Dimension des Polemischen aufscheint, und zwar immer dort, wo die Frage der Schulbildung in den Blick kommt. Bei Friedrich Schlegel etwa geht es um die Abgrenzung von den Kantianern, bei Schopenhauer und Marx um den Kampf gegen die Dominanz des Hegelianismus, bei Adorno unter dem Titel „Jargon“ um eine Analyse der Heidegger’schen Wirkungsmacht. Schulen zeichnen sich dadurch aus, dass die Rahmungen und damit die unthe-matisierten Voraussetzungen des Philosophierens expliziter – wenn auch unre-flektierter – sind als üblicherweise. Ich werde zu zeigen versuchen, dass Polemik dann entsteht, wenn (1) ein Philosophieren im Rahmen solcher nicht-hinterfrag-baren Voraussetzungen so unfruchtbar wie unmöglich erscheint und wenn (2) die Artikulation dieser Situation außerhalb dieser Voraussetzungen gleicherma-ßen unmöglich ist. Polemik kann dann als eine Form der Rebellion gegen unge-teilte und unteilbare Voraussetzungen verstanden werden, die als Einschnürung empfunden werden. Sie können auf eine solche Art und Weise (institutionell oder zeitgeistbedingt) dominant sein, dass selbst noch die Artikulation dieser Ein-schnürung – vermeintlich oder tatsächlich – nur im Rahmen dieser Vorausset-zungen geschehen kann.5 Jetzt erhellt sich auch eine Nuance im vorangestellten Goethe-Zitat, wo von Uneinigkeiten mit den „Vorstellungs arten seiner Vor- und Mitwelt“ die Rede ist: Es sind nicht einzelne Vorstellungen, gegen die sich der polemische Ton erhebt, sondern Weisen, die Dinge zu sehen. Der Gegner wird bestenfalls bereit sein, den ersten Aspekt zuzugeben. Gegen den zweiten wird er sich in aller Regel verwahren und dabei die Wirkung dieser Rahmungen in Ge-stalt institutionalisierter Hintergrundüberzeugungen und disziplinärer Matrices unterschätzen.

Ich werde nun in vier Schritten vorgehen, und zwar indem ich erstens, von Kurt Flaschs „Kampfplatz“-Vorstellung ausgehend, mein eigenes Interesse an polemi-schen Situationen mit Kants Rede vom „Kampfplatz endloser Streitigkeiten“ prä-zisiere. In einem zweiten Schritt möchte ich meine Sicht auf den Zusammenhang von Behauptung, Selbstbehauptung und Polemik entwickeln. Danach werde ich in einem dritten Schritt die Polemik gegen Hegel und den Hegelianismus in Arthur Schopenhauers Text „Über die Universitäts-Philosophie“ untersuchen und zeigen, dass die polemische Rhetorik eine Tiefendimension besitzt, die sich auch an der Oberfläche ausmachen lässt. In einem vierten und letzten Schritt sollen drei me-thodische Strategien angedeutet werden, wie in der sich abzeichnenden Situation verfahren werden kann.

1

„Kampfplätze der Philosophie“ lautet der Titel eines Buches von Kurt Flasch (2008), das „Kontroversen von Augustin bis Voltaire“ darstellt, wie es im Untertitel heißt. Darin geht es zunächst um die Feststellung von faktischer Meinungs- und Metho-denvielfalt und um das Nachzeichnen einzelner Debatten. Was die Struktur sol-cher Kontroversen bestimmen könnte, kommt allerdings nur im Nachwort und nur kurz zur Sprache: „Kampfplätze der Philosophie sind textbegründete Kon-stellationen […]. Dem Historiker des Denkens ersetzen Textkomplexe die frühere Konzentration auf ‚Probleme‘ oder ‚Gestalten‘. Sie zeigen philosophisches Denken in variablen Netzwerken. Sie holen die erhabenen Aufstiege zum Grund aller Dinge herunter auf den geschichtlichen Boden, in eine konkrete, in eine örtlich und zeit-lich begrenzte Konstellation .“ (Flasch 2008, 352–353, Herv. J. B.)

Diese Ausführungen sollen zunächst um zwei Momente ergänzt werden: Ein Kampfplatz ist erstens nicht als ein leerer Raum zu verstehen; er ist nicht eine Art Manege, in die man sich für eine Auseinandersetzung begibt. Die Vorstel-lung kommt im Ansatz auch bei Flasch zum Ausdruck, wenn er einleitend meint: „Viele Menschen, darunter auch Philosophen, stellen sich Philosophie als ruhige Weisheit oberhalb aller Parteiungen vor. Die Philosophie, meinen sie, das seien die großen, gleichbleibenden Themen […]. Philosophie als Polemik – das klingt garstig, kommt aber der geschichtlichen Realität näher als die Erwartung har-monisierenden Tiefsinns. Denn wer philosophiert, ist meist unzufrieden mit den Welterklärungen, die er vorfindet. “ (ebd., 7, Herv. J. B.)

Bei Flasch gewinnt man zweitens den Eindruck, als könne man eine Kontroverse von außen darstellen. Zum Teil mag das mit dem großen zeitlichen Abstand zu den dargestellten Kontroversen zu tun haben. Andererseits legt schon die astrono-mische Metapher des Ausdrucks ‚Konstellation‘ eine Außensicht nahe. Hier soll demgegenüber die Auffassung stark gemacht werden, dass man immer schon Teil von Auseinandersetzungen ist, weil auch die Darstellung aus einer bestimmten Position erfolgt. Man ist, strenggenommen, nie nur Zuschauer, sondern immer schon involviert, auch wenn man nicht beteiligt ist.

Kants Wendung „Kampfplatz endloser Streitigkeiten“ vom Anfang der „Kritik der reinen Vernunft“6 schlägt eine radikal nicht-reduktionistische Deutung der Situation vor, verharmlost sie also nicht durch die Zurückführung auf externe Ursachen. Die Situation hat ihren Grund in der Struktur der menschlichen Ver-nunft selbst. So gesehen, wären explizit und offen polemische Texte nicht zwin-gend in einem gewissermaßen defizienten Modus verfasst. Dieser Aspekt wird noch deutlicher, wenn man die Schlusspassagen unter dem Titel ‚Die Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung ihres polemischen Gebrauchs‘ auf eine Reflexion des Kampfplatzes bezieht: „Unter dem polemischen Gebrauch der Vernunft verstehe ich nun die Verteidigung ihrer Sätze gegen die dogmatische Verneinung dersel-ben.“7 In dieser Situation wird der „Kritiker“ zum „Gegner“: „Für den Gegner (der hier nicht bloß als Kritiker betrachtet werden muss) haben wir unser non licet in Bereitschaft.“ (ebd., A742 / B770)

Obwohl Kant meint, den Streit im Innern der Vernunft unter dem Titel ‚Anti-nomien der reinen Vernunft‘ unter Kontrolle zu haben, fügt er an: „Es ist etwas Be-kümmerndes und Niederschlagendes, dass es überhaupt eine Antithetik der reinen Vernunft geben, und diese, die doch den obersten Gerichtshof über alle Streitig-keiten vorstellt, mit sich selbst in Streit geraten soll.“ (ebd., A740 / B768)Unmissver-ständlich wird klargestellt, was auf dem Spiel steht: „Worauf“, fragt er, „wollte sie sich sonst verlassen, wenn sie, die allein alle Irrungen abzutun berufen ist, in sich selbst zerrüttet wäre, ohne Frieden und ruhigen Besitz hoffen zu können?“ (ebd., A743 / B771) Oder: „Ohne dieselbe [ohne die Grundsätze der reinen Vernunft] ist die Vernunft gleichsam im Stand der Natur, und kann ihre Behauptungen und An-sprüche nicht anders geltend machen, oder sichern, als durch Krieg .“8 In einem sol-chen Zustand gäbe es zwar Siege, aber es wäre jeweils ein „Sieg, dessen sich beide Teile rühmen“, und insofern wäre es ein „unsicherer Friede“. Demgegenüber kann ein „ewiger Friede“ nur durch eine „Sentenz“ (im Sinne eines Richtspruches) er-reicht werden, also in der „Ruhe eines gesetzlichen Zustandes, in welchem wir unsere Streitigkeit nicht anders führen sollen, als durch Process .“9 Der Friede muss also, so kann man den Gedankengang zuspitzen, schon da sein, damit er auf Dauer gestellt werden kann. Der „Naturzustand“ als Kriegszustand eines Kampfplatzes wird bei Kant nur als Fluchtpunkt einer Schreckensutopie gedacht, aber keinesfalls als real weiter bestehende Möglichkeit angenommen.

Dieser Einblick sollte deutlich gemacht haben, was es heißen könnte, dass Kants Projekt einer dauerhaften Befriedung scheiterte. Polemische Situationen sind, so verstanden, nicht als Ausnahmesituationen zu lesen. Sie geben vielmehr Einblick in etwas Grundsätzliches, und dieses hat, wie gezeigt werden soll, mit dem Be-haupten selbst zu tun. Dieser Dynamik vermag die Philosophie – zumindest so-lange sie sich vom Behaupten her versteht – nicht zu entkommen, sie kann sich nur anders zu ihm zu verhalten lernen.

2

Es gehört zum Sprachspiel des Behauptens, dass wir uns auf Verpflichtungen ein-lassen, die diesem Sprachspiel inhärent sind.10 Wer etwas behauptet, von dem wird erwartet, dass er dies auf aufrichtige Weise tut, dass er also selbst glaubt, was er sagt. Weiter wird impliziert, dass man im Falle eines Widerspruchs bereit ist, sei-ne Behauptung ernsthaft zu verteidigen, resp. schon von sich aus Begründungen zur Rechtfertigung anführt. Gleichzeitig erwarten wir, dass Behauptungen, die aus einer Behauptung logisch folgen, als Teil der Behauptung akzeptiert werden ( reductio ad absurdum ). Eine Behauptung ist also ein nicht leichthin geäußerter Aussagesatz mit einem Wahrheitsanspruch, für den man einsteht, weil man ihn aufrichtig gemeint hat.

Im Hinblick auf die Thematik der philosophischen Polemik geht es vor allem um die erste Bedingung. Zum einen sind die anderen beiden von ihr abgelei-tet: In dem Maß, wie wir aufrichtig meinen, was wir sagen, sind wir bereit, Be-gründungen zu liefern, um unseren Punkt zu verteidigen, und wir akzeptieren es auch, wenn wir auf Widersprüche oder sonst etwas, das unannehmbar ist, das aber logisch aus unserer Behauptung folgt, hingewiesen werden oder selbst darauf aufmerksam werden. Selbstverständlich ist das alles faktisch oft gerade nicht der Fall: Dass es mit der impliziten Aufrichtigkeit nicht immer weit her ist, machen nicht nur explizite Fälle des Lügens klar. Gerade auch alle Spielarten von intellektueller Unredlichkeit zeigen die Überforderung, die mit diesen dem Behaupten immanenten Verpflichtungen einhergehen kann.11 Einzusehen, dass einen ein besseres Argument dazu verpflichtet, das Gegenteil von dem einge-stehen zu müssen, was man gesagt hat, läuft nicht so reibungslos ab, wie es die Rede vom „zwanglosen Zwang“ suggeriert. Polemik kann in diesen Situationen als Reaktion auf eine solche Überforderung verstanden werden. Im Folgenden möchte ich die Aufrichtigkeitsbedingung aber frei von solchen psychologischen Assoziationen verstehen, ohne die faktische Bedeutung jener Dimension ver-harmlosen zu wollen. Ich möchte nun zu zeigen versuchen, dass die Polemik in ihrer Tiefendimension letztlich der Struktur des Behauptens entspringt und dass eine Explikation des Begriffs des Behauptens den Kern polemischer Situa-tionen freilegt.

John Austin streift die Eigenschaft, um die es bei der Aufrichtigkeitsbedingung geht, auf seinem Weg zur Sprechakttheorie in How to Do Things with Words und erläutert sie am Satz „The cat is on the mat“ (Austin 1962, 94–108). Das Äußern des Satzes transportiert dessen Wahrheitsbehauptung mit („implies“, wie Austin sagt). Es ist nicht möglich, den Satz zu äußern und gleichzeitig zu implizieren: ‚Das stimmt aber nicht. Ich glaube es nicht.‘ Die Äußerung des Aussagesatzes „The cat is on the mat“ besagt nicht nur, dass etwas der Fall ist, sondern auch, dass es als wahr behauptet wird, dass es der Fall ist. Es kann zwar sein, dass sich im Laufe von Nachforschungen die Behauptung als falsch erweist, die Katze also etwa nicht auf der Matte, sondern im Körbchen liegt. Das ändert aber nichts am Umstand, dass mit dem Äußern des Satzes ein Wahrheits anspruch formuliert wird. Das ist auch im nur scheinbar anders gelagerten Fall der Lüge so: Denn nur weil mit dem Äu-ßern des Satzes die Wahrheits behauptung einhergeht, funktioniert sie. Die Lüge zehrt geradezu vom Wahrheitsanspruch, der durch die bloße Struktur der Satz-Äußerung gegeben ist.

Jacques Derrida hat m. E. mit Recht darauf insistiert, dass diese Sichtweise in Probleme führt, sobald man die Kontextbedingungen eines solchen Satzes mo-difiziert, wenn man ihn also etwa auf der Theaterbühne, in einem Roman oder einem Gedicht, in einem Fremdsprachenlehrmittel oder eben wie hier und jetzt als Beispiel situiert.12 Nicht in allen Fällen impliziert nämlich die bloße Äußerung des Satzes die Behauptung, dass etwas tatsächlich der Fall ist. Deshalb ist der Zusam-menhang zwischen Wahrheitsgehalt und Aussagestruktur zu präzisieren: Nicht alle Sätze mit der Struktur x ist p implizieren einen Wahrheitsanspruch, nicht alle sind Behauptungen oder nur Behauptung. Aber immer, wenn ein Satz einen Wahrheitsanspruch formuliert, also eine Behauptung darstellt, so ergibt sich die-ser Anspruch allein schon aus dessen Struktur. Das ist bedeutsam, weil wir nicht umhinkönnen, in Aussagesätzen zu reden und uns auf die Welt und auf einander zu beziehen.

Die Frage ist, wie der Wahrheitsanspruch zustande kommt und wie dieser mit anderen so konfligiert, dass eine grundsätzlich polematische Redesituation ent-steht. Den Ausdruck ‚polematisch‘ verwende ich dabei in Abgrenzung zu ‚pole-misch‘, um deutlich zu machen, dass nicht das an der Rhetorik orientierte Ober-flächenphänomen eines polemischen Diskurses gemeint ist, sondern eine die Philosophie bestimmende Grundstruktur im Blick sein soll. Das heißt aufgrund des bisher Gesagten: Alle polemischen Situationen in der Philosophie sind poten- tiell polematisch, aber nicht jede polematische Struktur muss sich zwingend in polemischer Rhetorik artikulieren.

Die pragmatische Pointe von Austins Sprechakttheorie ist bekanntlich der Hin-weis auf den performativen Charakter zunächst bestimmter, dann aller sprachli-cher Äußerungen. Austins Konzentration auf bestimmte Fälle hat m. E. den Blick auf den performativen Charakter der konstativen Äußerungen, also der Behaup-tungen, verstellt: Indem ich eine Behauptung äußere, tue ich auch etwas, und zwar formuliere ich allein durch die Struktur des Aussagesatzes einen Wahrheitsan-spruch und dieser Akt des Behauptens stellt gleichzeitig einen Akt der Selbstbe-hauptung von mir als redendem Subjekt dar. Ich behaupte, indem ich eine Äuße-rung äußere, etwas Wahres zu sagen, und behaupte mich – resp. versuche mich zu behaupten – gegen andere mögliche oder tatsächliche Behauptungen. Dieser implizierte Wahrheitsanspruch wird auch nicht dadurch abgeschwächt, dass ich meine eigene Position selbst relativiere, denn ich kann zwar meinen Bezug zum Wahrheitsanspruch, aber nicht den Wahrheitsanspruch selbst relativieren. Die Behauptung „Konstanz liegt am Bodensee“ impliziert (gemäß der Aufrichtig-keitsbedingung und unter der in der Diskussion von Derridas Einwand gemach-ten Einschränkung), dass ich das auch glaube. Auch wenn ich den Satz relativiere, indem ich sage: „Konstanz liegt, so glaube ich zumindest, am Bodensee.“, bleibt der Wahrheitsanspruch davon unberührt. Es ist der Akt der Selbstbehauptung, der weniger stark ist.

Dieser Anspruch und der damit verbundene Akt der Selbstbehauptung sind auf andere bezogen, analog zu bekannten Sprechhandlungen wie etwa dem Versprechen oder dem Wetten, bei denen dieser Bezug offensichtlich ist. Mein Wahrheitsanspruch ergeht an jemanden. Der Andere kann seiner Autonomie zwar nicht beraubt werden, diesen Anspruch zurückzuweisen oder zu igno-rieren. Das heißt aber nicht, dass der Anspruch nicht immer schon im Reden erfolgen und als Akt der Selbstbehauptung wahrgenommen würde. Dieses Er- gehen-an des Anspruchs ist für mich der Ausgangspunkt, um verständlich zu machen, dass und wie die unterschiedlichen Wahrheitsansprüche aufeinander bezogen sind. Es ist der Kern dessen, was den „Kampfplatz endloser Streitig-keiten“ konstituiert und mit der Pluralität der Wahrheitsansprüche zu polemati-schen Situationen und unter bestimmten Umständen auch zu polemischen Tex-ten führt. Dass diese Pluralität der Wahrheitsansprüche, die wir gegenseitig an

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uns richten, die an uns ergehen, die zurückzuweisen wir in jedem Moment aber frei sind, auf die Wahrheit bezogen bleibt, liegt im performativen Zug des Be-hauptens selbst begründet. Polemik und Philosophie stehen damit also nicht nur in einem äußerlichen, sondern auch in einem auf der Struktur des Behauptens basierenden immanenten Zusammenhang: Jedes Behaupten ist implizit oder ex-plizit ein Behaupten-gegen-andere-Behauptungen und damit ein Sich-selber-be-haupten-gegen.

In der Regel ist diese Struktur unproblematisch und führt zu einem Austausch von Argumenten, zur Behebung von Dissens – vielleicht auch zu einem Konsens über den Dissens. Michael Hampe unterscheidet drei Fälle von solchen Klärungs-versuchen. Diese Unterscheidung ist hilfreich, den Ort zu benennen, an dem aus der Struktur der Behauptung Polemik entstehen kann: „Erstens kann ein Mensch etwas behaupten, was von der in derselben Begrifflichkeit formulierten Behaup-tung der anderen abweicht. A behauptet, dass die Rehe auf der linken Seite der Lichtung seien, und B sagt, sie stünden rechts.“13 Auf dieser Ebene kann es zwar heftige Diskussionen geben, allenfalls auch mit polemischen Tönen, aber nur aus Gründen, die ich oben als Fall für die Psychologie genannt habe. Es kann auf die-ser ersten Ebene keine polematische Situation vorliegen. Viel bedeutsamer sind die beiden anderen Fälle. „Der zweite und viel wichtigere Fall ist jedoch, dass A eine neue Unterscheidung einführen will, etwa zwischen Rot- und Damwild, die bisher nicht gemacht worden ist. Er tut dies, weil er diese Unterscheidung als wich-tig für die Jagd erachtet.“ (ebd., 152) In diesem zweiten Fall lässt sich der Streit nicht innerhalb der gleichen Begrifflichkeit austragen und allenfalls beilegen, ist es doch gerade die Begrifflichkeit selbst, die zur Debatte steht. Diese Situation ist jetzt grundsätzlich polematisch und kann polemische Rhetorik begünstigen. Polemik, so war die Vermutung, wird begünstigt, wenn eine „Partei“ in einer mächtigeren Situation der Macht ist und dies ausnützt. Der polemische Ton kann verstanden werden als Ausdruck einer Ohnmacht angesichts einer Asymmetrie: Wegen des Ungleichgewichts kann das, was gesagt werden soll, nicht in den Begriffen, die zur Debatte stehen, und innerhalb der dominierenden Rahmungen ausgedrückt werden.

Im dritten Fall, den Hampe anführt – es ist der eigentliche Einsatz seines Pro-jekts –, geht es um die Dominanz des Sprachspiel des Behauptens im Unterschied zu ganz anderen Sprachspielen, etwa jenem des Erzählens oder, wie im folgenden Zitat, des Preisens: „Drittens könnte ein Mitglied der Gruppe vorschlagen, dass man die Behauptungen darüber, wo welches Wild zu finden ist, nicht ins Zen-trum seiner Bemühungen stellen und statt dessen den Totemtieren mehr Opfer bringen sollte. Dieser Vorschlag zielt darauf ab, vom Behaupten als der wichtigsten sprachlichen Tätigkeit auf das Preisen umzustellen.“ (ebd., 153) Auch auf dieser Ebene kann es zur Polemik kommen, aber nur insofern sich die Stellungnahme für diese Abkehr vom Behaupten selbst noch als Behauptung artikulieren muss. Hampe versucht dieses Problem durch eine Unterscheidung zwischen starken und schwachen Behauptungen zu lösen: „In einem Gedankengang, der den Sinn phi-losophischer Doktrinen in Frage stellt, kann es nicht um Originalität im Sinne einer neuen Doktrin, um die Entdeckung neuer Behauptungen gehen. Eine Kritik der Relevanz der Doktrinen muss naturgemäß anstreben, selbst ‚behauptungs-schwach‘ zu bleiben […].“ (ebd., 101) Dass Hampe – wenn auch „behauptungs-schwach“ – gegen eine Dominanz des Behauptens akademischen Philosophierens argumentieren muss, ist m. E. eine Quelle für den bisweilen polemischen Ton sei-nes Buches, das sich insgesamt gegen die doktrinäre Tendenz in der etablierten (akademischen) philosophischen Kultur richtet. Wenn es heißt, dass sich in dieser Kultur Gruppen als „Anhänger einer Theorie“ versammeln „wie um ein Lagerfeu-er“ (ebd., 84–85), dann ist es wiederum die Situation einer Gruppenbildung, die zu einem polemischen Ton führt.

Es dürfte nun klar geworden sein, wie Polemiken, die sich oberflächlich in der Rhetorik zeigen und psychologisch interessant sind, letztlich in den Strukturen des Behauptens selbst begründet sein können und damit auf eine polematische Grundsituation verweisen. Oben habe ich die Vermutung geäußert, dass Polemik mit starken Rahmungen im Zusammenhang mit Schulbildungen zu tun hat. Im nächsten Schritt soll das an Arthur Schopenhauers Text Über die Universitäts- Philosophie (1851)exemplarisch untersucht werden.

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Der Vorteil, die Zusammenhänge an diesem Text aufzuzeigen, ist dreifacher Art: Dass dieser Text einen hochpolemischen Ton anschlägt, ist nicht zu überhören. Dann ist die Dominanz der Hegelschen Philosophie, gegen die er sich richtet, philosophiehistorisch unbestritten.14 Und er ist nicht nur ein Beispiel für einen polemischen Text, der durch eine polematische Grundsituation entsteht, sondern er thematisiert auch gleichzeitig diese Entstehung und analysiert die Rezeptions-muster der Verkennung, die dazu führten.

Der ganze Text arbeitet entlang einer im ersten Abschnitt postulierten Diffe-renz, nämlich zwischen einer Philosophie als „freie[r] Wahrheitsforschung“ und einer „Philosophie als Profession“. Während erstere „im Auftrag der Natur und der Menschheit“ steht, ist letztere „im Auftrag der Regierung“. (Schopenhauer 1980, 173) Wo Schopenhauer selbst steht, macht er unmissverständlich klar: „Ich habe die Wahrheit gesucht und nicht eine Professur: hierauf beruht im letzten Grunde der Unterschied zwischen mir und der sogenannten nachkantischen Phi-losophen.“15 Dass der Grund für die Polemik gegen die (nachkantischen) Univer-sitätsphilosophie die Herrschaft der Hegelschen „Afterweisheit“ ist, auch daran lässt er keinen Zweifel, wobei es nicht nur die Adepten sind, gegen die sich sein Hohn richtet.16 In Hegels „philosophischer Hanswurstiade“ selbst ist schon alles vorhanden, was er verachtungswürdig findet und mit spöttischen Worten über-zieht, wobei er explizit auch auf die Schulbildung eingeht.

Trotz der Tatsache, dass Hegels Philosophie nicht nur hohl und sinnentleerter „Wortkram“ ist, der einen „abstrusen“ Grundgedanken fortspinnt, sondern „an die Deliramente der Tollhäusler“ erinnert, fanden sich „Strohköpfe“ zu ihrer Bewunde-rung und wurde sie während 20 Jahren „als die glänzendste Kathederphilosophie“ gefeiert. Die Philosophie „jenes abgeschmackten Philosophasters“ floss in die Cur-ricula ein, war Prüfungsstoff und Grundlage für Habilitationen und Anstellungen. Selbst jene, „welche eine schwache Opposition gegen diesen Unfug wagten“, kamen nicht umhin, sich in ihrer Widerrede anerkennend über Geist und Genie Hegels äußern zu müssen oder haben wenigstens gemeint, es tun zu müssen.

Selbstverständlich bleibt eine solche Herrschaft im Reich der Kathederphiloso-phie nicht ohne Folgen für jene, denen es „um die Wahrheit“ geht, jene einsamen

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Rufer in der Wüste, die Schopenhauer mit Johannes vergleicht: „O, wie wird es dir da ergehen, mein armer Johannes aus der Wüste, wenn, wie zu erwarten steht, was Du bringst, nicht der stillschweigenden Konvention der Herren von der lukrativen Philosophie gemäß abgefasst ist! Sie werden dich ansehen als Einen, der den Geist des Spiels nicht gefasst hat und dadurch es ihnen Allen zu verderben droht; mit-hin als ihren gemeinsamen Feind und Widersacher. Wäre was du bringst, nun auch das größte Meisterstück des menschlichen Geistes; vor ihren Augen könnte es doch nimmermehr Gnade finden. Denn es wäre ja nicht ad normam conven- tionis [nach der geltenden Schablone] abgefaßt, folglich nicht der Art, daß sie es zum Gegenstand ihres Kathedervortrags machen könnten, um nun auch davon zu leben.“ (ebd., 184)

Die Figur des Johannes – und alle, wofür sie steht – wird also in den Augen der herrschenden „lukrativen Philosophie“ zu jemandem, der „nicht der stillschwei-genden Konvention“ entspricht und der „den Geist des Spiels“ nicht verstanden hat. Er hat sich nicht „nach der geltenden Schablone“ verhalten, sein Werk ist nicht „ad normam conventionis“ geraten. Wie das Werk eigentlich ist, spielt dabei über-haupt keine Rolle – und wäre es „das größte Meisterstück des menschlichen Geis-tes“. Den massiven Widerstand gegen dieses erklärt Schopenhauer aus der Tatsa-che, dass es die Konvention nicht nur sprengt, sondern diese in ihrer Legitimität ganz grundsätzlich in Frage stellt.

Als effektivste Strategie, wie die Universitätsphilosophie nun mit unliebsamen Werken umgeht, nennt Schopenhauer sarkastisch das Schweigen: „Das, wovon keiner weiß, ist kaum vorhanden.“ (ebd., 185) Eine Auseinandersetzung mit dem Ziel der Widerlegung würde nur dazu führen, „dass die Neugierigen hinzulaufen würden“ und „alsdann höchst unangenehme Vergleichungen angestellt werden könnten“, deren Ausgang für die Universitätsphilosophie misslich sein könnte. Deshalb meint er später: „Spricht ein Mann wie ich, so stellen sie sich, als hörten sie nichts.“ (ebd., 221) Dass eine große persönliche Betroffenheit und Kränkung über die Missachtung seiner eigenen Philosophie letztlich die Quelle seiner In-vektiven ist, soll auch folgende Stelle abschließend deutlich machen. „So findet man ihre alte Politik, mir überall mit passivem Widerstand zu begegnen, gemäß, diese Schrift weder in ihren Büchern noch in ihren gelehrten Journalen und Lite-raturzeitungen irgend erwähnt; sie ist aufs strengste sekretiert und wird comme non avenue angesehen wie alles, was nicht in ihren erbärmlichen Kram passt, wie meine ‚Ethik‘ überhaupt, ja alle meine Werke. Meine Philosophie interessiert eben die Herren nicht: das kommt daher, dass die Ergründung der Wahrheit sie nicht interessiert.“ (ebd., 226)

An solchen Stellen sieht man vielleicht am deutlichsten, dass es sich auch um einen psychologischen Fall handelt, dessen Ton sich zum Beispiel auch mit Nietz-sches Begriff des Ressentiments analysieren lässt. Diesen Blick auf die Polemik halte ich, wie eingangs ausgeführt, philosophisch aber für wenig ergiebig. Die Strategie, etwas als ‚ comme non avenue ‘ zu behandeln, also so, als existierte es gar nicht, ist, wie ich hoffe, deutlich gemacht zu haben, weit mehr und kann auf dem Hintergrund meiner Überlegungen als Ausdruck einer Verkennung gelesen werden, die über persönliche Missachtung hinausgeht. Sie verweist auf den blin-den Fleck und die Schattenseiten jener Herrschaft, die sich aus der Schulbildung ergibt – und damit auf Herrschaft und Monopol selbst. Der polemische Ton, so die These, erscheint in dieser Situation als einzige Reaktionsmöglichkeit: Er ist als die schrille und doch verstummte Antwort auf dieses Beschweigen und als verzwei-felter Versuch zu sehen, „den Dachs aus seinem Loch herauszuzerren.“ (ebd, 221)

Gerade angesichts dieser unüberhörbaren Polemik ist es wenig einleuchtend, sie als der Philosophie völlig fremd anzusehen oder sie bloß in psychologischen oder soziologischen Kategorien zu thematisieren. Wo wie im Fall Schopenhauers eine in-stitutionelle Übermacht die legitimen Formen der Artikulationsmöglichkeiten ein-schränkt, kann es aufschlussreich sein, in der Polemik die Obertöne einer Ohnmacht zu hören, die sich angesichts unvereinbarer Rahmungen auf diese Weise artikuliert.

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Die folgenden Überlegungen sollen schlaglichtartig auf unterschiedliche „Metho-den“ verweisen, die aus den skizzierten Einsichten folgen könnten und die man – je nach Lage der Dinge – parallel und gleichzeitig verfolgen kann. Sie schlagen Formen des Intervenierens in konkrete Situationen vor, je ausgehend von einem Zitat.

„Weltbild“ oder „Mythologie“ nennt Ludwig Wittgenstein in diesen Passagen aus Über Gewissheit ein Hintergrundwissen, von dessen Richtigkeit ich mich nicht überzeugt habe, das vielmehr der Hintergrund ist, vor dem ich überhaupt Behaup-tungen äußere und Behauptungen als wahr oder falsch beurteile. Das Bild trans-formiert er dann in ein anderes Bild, in das Bild von Fluss und Flussbett: Gewisse Sätze des Weltbildes könnte man sich erstarrt vorstellen; sie bilden das Flussbett. Sie funktionieren als „Leitung für die nicht erstarrten, flüssigen“ Sätze. Das heißt nun aber auch, in der Logik dieses Bildes: „Das Ufer jenes Flusses besteht zum Teil aus hartem Gestein, das keiner oder einer unmerkbaren Änderung unterliegt, und teils aus Sand, der bald hier bald dort weg- und angeschwemmt wird.“ Und es heißt: „Die Mythologie kann wieder in Fluss geraten, das Flussbett der Gedanken sich verschieben […].“

Aus der Einsicht in den skizzierten Zusammenhang zwischen „behaupten“ und „sich behaupten“ könnte in diesem Sinne folgen, dass man die Bedingungen des Behaupten-Könnens der eigenen Wahrheitsansprüche reflektiert. Nicht zwin-gend ist die eigene Selbstbehauptung an eine konkrete Behauptung geknüpft: Man kann sich unter Umständen auch anderes und auf andere Weise behauptend behaupten. Das kann gemäß diesem Bild so geschehen, dass die „Mythologien“ immer wieder in Fluss gebracht resp. als weniger starr betrachtet werden als sie scheinen mögen. Die Einsicht in die oben dargelegten Zusammenhänge legt uns mit Wittgenstein nahe, uns methodisch nicht nur auf das Behaupten selbst zu konzentrieren, sondern auch die Hintergrundüberzeugungen, die dieses erst er-möglichen, das ‚Flussbett der Gedanken‘, nicht nur im Auge, sondern im Fluss zu behalten. – –

Dieses Zitat von Michel Foucault steht für eine ganz andere Strategie, die das Mo-tiv des Kämpfens ernst, ja, wörtlich nimmt. Texte, Begriffe, Unterscheidungen, Argumente, Zitate erscheinen in dieser pragmatischen Sicht als Werkzeuge, als Waffen im weitesten Sinne. „Je suis un marchand d’instrument“ verweist die Pole-mik auf ihren beschränkten Platz. Sie ist nur eine Art, aus der Ohnmacht der po-lematischen Situation heraus zu reagieren – meist nicht die beste. Wenn es so ist, dass die zweite und dritte der oben mit Hampe angeführten Formen von Differenz auf einen möglicherweise unauflöslichen Knoten verweisen, und wenn dieser – zusammen mit realen oder imaginären Machtverhältnissen und institutionellen Zementierungen – zum Gefühl von Einschnürung und Ohnmacht führen, dann ist Polemik nur deren resignativer Ausdruck. Foucaults Handreichung zeigt ihn als jemanden, der über ein Arsenal an Möglichkeiten verfügt, die – weit davon ent-fernt, die Selbstgefälligkeit desjenigen aufzuweisen, den er „écrivain“ nennt – von der letztlichen Freiheit des Denkens zeugen. – –

Dieses Zitat aus Joseph Vogls Über das Zaudern spricht von „einer Zone der Un-bestimmtheit zwischen Ja und Nein“. Damit steht es für ein Innehalten ein, das wie eine Suspension zu sein scheint, die für einen Moment die Kontingenz des Geschehens artikuliert. Auf diese Weise werden „Handlungsketten“ unterbro-chen und Zäsuren auf Zeit gesetzt. Die Tugend des Zauderns – eine Verwandte der epoche sowohl in ihrer antiken skeptizistischen Form als auch in ihrer phä-nomenologischen Tradition – droht in einem Umfeld, das sich über Publikations-listen, Zitationsindices, klare Profilierungen durch Positionsbezüge innerhalb von Forschungsschwerpunkten definiert, nur als Schwäche gesehen zu werden. Dabei bezeugt das Zaudern – auf paradoxe Art – die Lebendigkeit des Philosophierens. Wo sich Selbstbehauptung auch als Unterbrechung und Aufschub zu artikulieren getraut, eröffnet sie neue Anschlussmöglichkeiten – sowohl im Denken als auch im Handeln. – –

Die drei Strategien sind Strategien der Verflüssigung, der Überlistung und der Unterbrechung. Man muss nicht p behaupten; man kann sich auch mit q behaup-ten. Man muss nicht p im Blick haben, wenn man p behauptet; man kann sich auch mit dem Effekt von p behaupten. Man muss (noch) nicht p behaupten; man kann sich auch im Aufschieben von p selbst behaupten. Und trotzdem muss, wer A sagt, auch B sagen, wenn B aus A logisch folgt. Und trotzdem soll man sich kein X für ein U vormachen lassen.

***

Es ist wenig plausibel, die Polemik als der Philosophie völlig fremd anzusehen oder sie, wo sie explizit auftritt, bloß in psychologischen oder soziologischen Ka-tegorien zu thematisieren. Dafür spricht schon der Umstand, dass zur Ikonogra-phie der Göttin Athene auch Schwert und Schild gehören. Die Art und Weise, wie Kurt Flasch die Vorstellung von Kontroversen konzeptualisiert, geht zwar in die richtige Richtung, greift aber zu kurz. Wer Behauptungen, philosophische und andere, äußert, muss für den damit verbundenen Wahrheitsanspruch einstehen, ihn verteidigen. Die Geschichte der Philosophie zeigt, dass der Gegner aber nicht nur die Unwahrheit ist, sondern auch die andere Wahrheit, die Wahrheit des An-deren. Diese bezieht sich unter Umständen auf die gleichen Prinzipien, Methoden, Legitimationsformen und bedroht die Einheit der Vernunft selbst – oft mehr als deren offene Verkennung. Die Analyse der Struktur des Behauptens hat zur Ein-sicht geführt, dass es die jeder Behauptung innewohnende Aufrichtigkeitsbedin-gung und das Gerichtet-sein-an ist, von dem ein Anspruch ausgeht, der immer schon besteht, aber auch immer schon bestritten werden kann. Es sind dieser An-spruch und dieses Bestritten-werden-können, die die Kehrseite der Selbstbehaup-tung darstellen, die mit dem Behaupten einhergeht. Wo behauptende Selbstbe-hauptungen sich in Begrifflichkeiten artikulieren müssen, die von einer wie auch immer gearteten, meist aber institutionell gestützten und geschützten Übermacht als legitime Formen der Artikulation in Frage gestellt werden, kann es zu einer besonders gearteten Form von Polemik kommen, die auch als Reflexion ihres eige-nen polemischen Charakters gelesen werden kann. Eine Methodendiskussion, die diese grundlegenden Zusammenhänge verkennt, läuft Gefahr, die Rahmungsbe-dingungen, denen sie sich verdankt, unbewusst zu reproduzieren. Die Thematisie-rung à la bande sollte dies deutlich machen.

Die drei abschließenden Zitate sollten den Blick weiten, und zwar auf drei par-allel zu verfolgende Strategien im Umgang mit der polematischen Grundstruktur. Insgesamt stellen diese Möglichkeiten dar, in Anerkennung sowohl der Struktur unserer Behauptungen als Selbstbehauptungen als auch der polematischen Situ-ation zu einer redlichen Form des Denkens und zu dem zu finden, was Stanley Cavell die eigene Stimme nannte (Cavell 1994). Nur diese ist der Anmaßung und Arroganz entgegenzusetzen, die der Philosophie immer schon innewohnt – gera-de auch dann, wenn sie methodisch reflektiert vorgeht.18

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Vom Verschwinden der Philosophie

Falk Bornmüller

In welchem Sinn ließe sich über ein Verschwinden der Philosophie sprechen, ohne schon gleich zu Beginn dem möglichen Vorwurf ausgesetzt zu sein, hier etwas gänzlich Unangemessenes behaupten zu wollen? Vielleicht auf diese Wei-se: Im Zuge des sogenannten Bologna-Prozesses ist seit Ende der 1990er-Jahre eine umfassende transnationale Hochschulreform durchgeführt worden. Es ist bekanntlich das erklärte Ziel dieser Reform, das europäische Hochschulsystem in seinen institutionellen Strukturen zu vereinheitlichen und über die Einfüh-rung eines Leistungspunktesystems quantitativ vergleichbar sowie durch ver-bindliche Akkreditierungen zur Qualitätssicherung evaluierbar zu machen. In der Regel betrifft das alle an Universitäten und Hochschulen vertretenen Fächer bzw. Fachbereiche und unterzieht diese einem homogenen Verfahren der Be-wertung und Beurteilung. Auch die Philosophie findet sich dementsprechend als eine der Disziplinen wieder, die in Form akademisch-organisationaler Komposi-ta egalisiert und als Einzelwissenschaften an weitgehend einheitlichen Maßstä-ben von Wissenschaftlichkeit ausgerichtet sind. Die philosophische Lehre und Forschung gewinnt an Universitäten und Hochschulen damit in Gestalt einer konkurrenzfähigen, weil mit anderen um die Wette laufenden wissenschaftli-chen Disziplin zwar ein bestimmtes genus proximum . Doch es ist fraglich gewor-den, welche differentia specifica sie überhaupt noch auszeichnet. Denn ob und inwiefern Philosophie als Wissenschaft verstanden werden kann, ist keineswegs selbstverständlich, zumal das Selbstverständnis der Philosophie inzwischen un-gewiss geworden ist. Im Folgenden soll deshalb mit einem pointierten Blick auf die Entwicklung und die Bestimmung des Verhältnisses von Philosophie und Wissenschaft gezeigt werden, auf welchen Stand sich die Philosophie durch eine nivellierende Subsumtion im Kanon der akademischen Fächer bringt – und da-mit letztlich verschwindet.

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1 Kommen und Gehen

Worin macht sich ein derartiges Verschwinden bemerkbar? Akut zeigt es sich offenbar in einer latent fortschreitenden Adaption an die normierenden Stan-dards einer mit empirisch-sozialwissenschaftlichen Methoden operierenden Eva-luationslogik in Bezug auf Qualität und Quantität wissenschaftlichen Arbeitens. Dem Verschwinden ging jedoch ein Erscheinen voraus, das in der ereignisreichen Geschichte der neueren Philosophie nachzuvollziehen ist: In Europa setzte etwa mit Beginn des 17. Jahrhunderts eine Entwicklung ein, in deren Verlauf sich nach und nach die modernen Wissenschaftsdisziplinen herausbildeten und bis in die Gegenwart immer weiter ausdifferenziert haben. Damit geriet eine institutionelle und über Jahrhunderte hinweg tradierte Ordnung der Universitäten in Bewegung, die wesentlich durch eine hierarchische Aufteilung in Fakultäten geprägt war. In dieser Struktur wurden die septem artes liberales (Grammatik, Rhetorik, Dialek-tik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie) der Philosophie zugerechnet, deren Studium an der sogenannten Artisten- und später Philosophischen Fakultät eine notwendige propädeutische Voraussetzung für fortzusetzende Studien an der Juristischen, Medizinischen oder Theologischen Fakultät bildete, wobei der Theo-logie bzw. der theologischen Vernunft das uneingeschränkte Primat zukam.

Die Philosophie emanzipierte sich von dieser Rolle als ‚Magd der Theologie‘ ( philosophia ancilla theologiae ) bis zum Ende des 18. Jahrhunderts vor allem im Zuge der intellektuellen Leistungen des Rationalismus und der Philosophie der Aufklärung sowie des Deutschen Idealismus. Sie vollzog damit eine Art ‚Selbst-findungsprozess‘, der jedoch nicht eindimensional verlief, sondern zwei zentrale Momente zur Geltung brachte: Angesichts der zunehmenden Etablierung eines rationalistisch-wissenschaftlichen Paradigmas und der Profilierung einzelner Wissenschaften war die Philosophie in Berufung auf eine allgemeinverbindliche Rationalität zum einen bestrebt, sich auch selbst die systematische Form einer Wissenschaft zu geben.1 Darüber hinaus war besonders den Protagonisten des Deutschen Idealismus daran gelegen, die Philosophie nicht nur anhand der Kri-terien eines seit der Renaissance weiterentwickelten Verständnisses von Wissen-schaftlichkeit neu auszurichten und methodisch zu ‚disziplinieren‘, sondern dem philosophischen Denken zudem die Aufgabe zu übertragen, gewissermaßen als ‚Sachwalter‘ und methodologisches Regulativ jenes neuzeitliche Paradigma der Wissenschaftlichkeit zu bewahren und normativ verbindlich einzufordern. Als Wissenschaft der Wissenschaft wurde eine solche Metaphysik der Wissenschaft maßgeblich im Rahmen der sogenannten Systemphilosophien begründet.2

Diese prägende Stellung im systematisierten Verhältnis zu den sich stets weiter etablierenden Einzelwissenschaften bildete den vorläufigen Höhepunkt im szien-tifischen (Selbst-)Verständnis der Philosophie, die im Verlauf der Entwicklung von diesem universalistischen Anspruch bloß noch die kritisch-reflektierende Funk-tion einer Wissenschaftsphilosophie beibehalten hat.3 In dieser Funktion steht sie allerdings in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis, das sich an Edmund Husserls Bemerkungen zur Krisis der europäischen Wissenschaften aufzeigen und über die Debatten zu divergierenden wissenschaftstheoretischen Konzeptionen und Schulen in den 1960er- und 1970er-Jahren sowie darüber hinaus bis in die Gegenwart nachverfolgen lässt. Husserl diagnostizierte zu Beginn des 20. Jahr-hunderts eine Krise der Wissenschaften und der Philosophie deshalb so überzeu-gend, weil er in einem genealogischen Rückblick die gesamte neuzeitliche Ent-wicklung und Entfaltung der Wissenschaften ausgehend von einem bestimmten Verständnis und Anspruch derselben in enger Verbindung mit der Philosophie beschreiben konnte. Für Husserl „bedeutet die Krisis der Philosophie die Krisis aller neuzeitlichen Wissenschaften als Glieder der philosophischen Universalität, eine zunächst latente, dann aber immer mehr zutage tretende Krisis des europäi-schen Menschentums selbst, in der gesamten Sinnhaftigkeit seines kulturellen Le-bens, in seiner gesamten ‚Existenz‘.“ (Krisis, 13)

Die Krise, verstanden als die Fraglichkeit bzw. das In-Frage-Stellen von bisher Gültigem, wird vor diesem Hintergrund einer wechselseitigen Bezogenheit von Philosophie und Wissenschaft nicht als ein bloß zufälliges Moment wissenschaft-lichen Scheiterns, sondern als notwendig komplementärer Ausdruck einer Sinn-krise erfasst.4 Denn die Wissenschaften verstehen sich in ihrem Erklärungsan-spruch nicht von selbst, sondern verdanken ihre Entstehung und ihre jeweilige Form der Theoriebildung einer vorwissenschaftlichen Lebenswelt, die den Wis-senschaften erst ihr Problembewusstsein und ihre Problemorientierung gibt. Die-sen Zusammenhang innerhalb einer umfassenden lebensweltlichen Praxis, die in sich die Praktiken der Wissenschaft begreift, aufzudecken und kritisch zu reflek-tieren, muss also die wesentliche Aufgabe der Philosophie sein – die jedoch auch in ihrem eigenen Darstellungs- und Begründungsmodus einem systematischen und damit wiederum grundlegend wissenschaftlichen Anspruch zu genügen hat. Insofern sollte Philosophie ihrem methodologischen Selbstverständnis nach zum einen selbst Wissenschaft und zum anderen (als ‚Meta-Wissenschaft‘) die kriti-sche Reflexion auf die methodologischen Grundlagen der Theoriebildung in den Wissenschaften sein. Doch Husserl konstatiert bereits im Jahr 1936:

Der Glaube an die Philosophie, und zwar in Form einer wieder zu restituierenden „universalen, in konsequenter apodiktischer Einsicht fortwerdenden, in apodikti-scher Methode sich durch sich selbst normierenden Philosophie“ (Krisis, 16f.), ist verschwunden. An Husserls diagnostischem Befund hat sich mit Blick auf die Ent-wicklung der Philosophie auch in den vergangenen Jahrzehnten nur wenig verän-dert, obwohl es zwischenzeitlich mindestens zwei vielversprechende neue Anläufe gegeben hat. Zum einen hat sich die philosophische Betrachtung der Wissenschaf-ten, der Standards von Wissenschaftlichkeit und der Verfahren wissenschaftlicher Theoriebildung seit der Mitte des 20. Jahrhunderts als Disziplin einer Philosophi-schen Wissenschaftstheorie bzw. Wissenschaftsphilosophie etabliert und teils in verschiedene Schulen und divergierende Konzeptionen ausdifferenziert. In ihrer aufgeklärtesten Form erweist sich eine solche Wissenschaftsphilosophie zumin-dest als Wissenschaftskritik: So argumentiert etwa Jürgen Mittelstraß (1989, 2015) überzeugend dafür, dass Entscheidungsfragen zwischen den verschiedenen wis-senschaftstheoretischen Schulen sich gerade nicht aus den wissenschaftstheoreti-schen Positionen selbst, sondern (gleichsam ‚eine Ebene höher‘) nur philosophisch klären und beantworten lassen. Zum anderen gab es einige bedeutende Versuche, in Wiedererinnerung an eine transzendentale Tradition des Philosophierens und im Sinne einer grundlegenden Metaphysik noch einmal Fragen der Letztbegrün-dung zu stellen und in systematisch gediegener Form möglichst umfassend zu be-antworten. Aber diese, etwa von den verschiedenen Jahrgängen der Frankfurter Schule, den Transzendentalpragmatikern und anderen wiederholt zur Geltung gebrachte ‚ganzheitliche‘ Philosophie der Vernunft hat es nicht vermocht, sich wirklich durchzusetzen.5 Denn inzwischen, so Husserl weiter, haben „menschli-ches Philosophieren und seine Ergebnisse […] im gesamtgesellschaftlichen Da-sein […] die bloße Bedeutung privater oder sonstwie beschränkter Kulturzwecke“ (Krisis, 18) angenommen, weil es, dem nüchtern-analytischen Geschmack der Zeit entsprechend, eben kaum vorstellbar ist, dass sich die gegenwärtig akademisch betriebsamen Philosoph:innen noch aufrichtig als „ Funktionäre der Menschheit “ (ebd.) begreifen und den damit verbundenen Anspruch einlösen wollten:

Doch in welchem Zustand befindet sich dann die gegenwärtige Philosophie, wie sie an Universitäten und Hochschulen gelehrt wird, wenn „das wahre Sein der Menschheit“ – eine zeitlos schöne, aber im philosophischen Diskurs inzwischen kaum noch vermittelbare Formulierung  – inzwischen unter Pathosverdacht zu fallen droht? Mit einem naheliegenden Kalauer, der an dieser Stelle trotz aller Ernsthaftigkeit des Themas erlaubt sei, kann man sagen, dass die Philosophie auf den Hund oder vielmehr auf das Huhn gekommen ist.

2 Stand der Dinge

Um die momentane Lage der Philosophie vor allem mit Blick auf die eingangs an-gesprochenen Hochschulreformen zu veranschaulichen, bietet sich ein zugespitz-ter Vergleich an: In Betracht kommt hierfür das sogenannte Hybridhuhn , welches man auch etwas weniger technisch das normierte Einheitshuhn nennen kann. Normierte Einheitshühner sind speziell für die industrielle Geflügelproduktion optimierte Hühner: Für die meisten kommerziellen Zuchtlinien werden maximal vier Rassen verwendet, und je nach gewünschtem Geflügelprodukt wird zwischen Lege- und Masthybriden unterschieden. Die einschränkende Definition der ge-netischen Ausstattung, des gewünschten Wachstums und des zu erwartenden Ertrages ermöglicht es, genau zu bestimmen, wieviel Platz etwa eine Legehenne im Käfig (der berüchtigten Legebatterie), in der Bodenhaltung oder im Freiland benötigt und welches Futter für die rasche Aufzucht am besten geeignet ist. Für

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all diese Parameter gibt es normierende, also verbindliche und zugleich einheit-liche Bestimmungen, Gesetze und Regelungen, weshalb die Rede vom normier-ten Einheitshuhn durchaus sinnvoll ist. Und diese Normierung führt in der Tat zu höchst erstaunlichen Resultaten: Einheitshühner sind Hochleistungskreatu-ren, aus denen um der Effizienz willen eine möglichst zahlreiche Eierproduktion oder ein schnellstmöglich zu erlangendes Schlachtgewicht herausgezüchtet wird. Für den Verbraucher mögen derartige Einheitsnormen gemeinhin recht nützlich sein, denn er weiß damit ziemlich genau, wieviel Gramm Brustfleisch er an einem Hähnchen erwarten darf und wie schwer ein Ei in einer der vier festgelegten Ge-wichtsklassen ist. Zweifelsohne wurde damit aus einer schier unübersichtlichen Menge traditioneller Haushuhnrassen mit höchst heterogenen Lege- und Mast-merkmalen – wir sehen da etwa Braun-, Grün- und Weißleger mehr oder weniger munter neben verschiedensten Arten von Broilern, Poularden und Kapaunen – eine ungemein leistungsfähige Standardform extrahiert, deren Individuen sich in puncto Lege- und Fleischleistung quantitativ und qualitativ direkt miteinander vergleichen lassen.6

Auf den ersten Blick mag einem Betrachter das derart zur Anschaulichkeit ge-brachte Einheitshuhn wohl nicht einmal als die schlechteste ‚Version‘ von Philo-sophie als Wissenschaft erscheinen. Denn schließlich werden an ihr bestimmte Merkmale, die einem solchen Wesen bereits ‚von Natur aus‘ inhärent sind, auf eine zwar verwertungslogisch industrialisierte, aber grundsätzlich kultivierende Wei-se hervorgehoben und auf ein besonderes Niveau gebracht.7 Ließe sich nun dies-bezüglich dafür argumentieren, die an normierten Einheitshühnern zur Geltung gebrachten einheitlichen Merkmale seien womöglich sogar ‚das Beste‘, was aus dem ‚Wesen‘ einer Wissenschaft zu machen ist? Mitnichten. Denn das Einheits-huhn steht wie die vereinheitlichte Wissenschaftsdisziplin in einem spezifischen Kontext, dem in diesem Fall eine extrem einseitige Tendenz zur Homogenisierung korrespondiert: Unter den effizienzlogischen Bedingungen einer bestimmten Pro-duktionsform verkörpert das normierte Einheitshuhn die ideale Anpassungsstufe, um den dort geforderten Ansprüchen gerecht werden zu können. Diese Ansprü-che legen bestimmte Kennzahlen fest, an denen sich jedoch nicht einfach andere Hühnerrassen schematisch messen lassen können. So sind etwa die höchst unter-schiedlichen jährlichen Legeleistungen eines Bielefelder Kennhuhns (230) nur sehr bedingt mit derjenigen des indonesischen Cemani-Huhns oder des ostasiatischen Seidenhuhns (jeweils 80) vergleichbar – einmal ganz abgesehen von Form, Farbe und Geschmack der Eier. Denn die spezifischen Voraussetzungen für die Haltung, Aufzucht und Verwendung dieser Hühner sind jeweils sehr verschieden. Doch es kommt bei der Bewertung dieser Rassen auch gar nicht darauf an, mit dem Ein-heitshuhn der industriellen Geflügelproduktion zu konkurrieren, da die Züchter traditioneller Haushuhnrassen zum Teil völlig anderen normativen Verbindlich-keiten entsprechen wollen. Ihnen geht es in der Zucht gerade um den Erhalt der spezifischen Vielfalt der einzelnen Rassen und ihrer typischen Merkmale, wes-halb in einer Geflügelzüchterschau niemand auf die Idee käme, ein Schwedisches Schwarzhuhn direkt mit einem Kosovo-Kräher zu vergleichen. Das normierte Einheitshuhn ist somit einerseits zwar etwas unvergleichlich Besonderes, es ist an-dererseits aber nicht in einem höheren Maße besonders als die Appenzeller Spitz-haube, der Brügger Kämpfer, das Holländer Haubenhuhn, die Ostfriesische Möwe oder der Westfälische Totleger.

3 Einheit und Vielfalt

In der besonderen Gestalt eines solchen auf wenige Merkmale hin reduzierten Einheitshuhns läuft die Philosophie allerdings Gefahr, zu einer Schwundform ihrer selbst zu degenerieren und sich letztlich zu einer Art von Disziplin zu ent-wickeln, die im Kontext der Geschichtswissenschaften in tendenziell abwerten-der Diktion als Hilfswissenschaft oder in einer wertneutralen, aber im selben Sinn zu verstehenden Formulierung als Grundlagenwissenschaft bezeichnet wird. Der Philosophie käme als einer solchen propädeutischen und lediglich standardisierte Methoden einübenden Grundlagenwissenschaft mit einer nur noch scheinbaren Wahrung integrativer Transdisziplinarität bloß noch die Aufgabe zu, mit dem Status einer querschnittlich für andere Disziplinen fungierenden Dienstleisterin (vulgo: Magd) etwa probate Einführungen in die Argumentationstheorie oder all-gemeine wissenschaftsmethodologische Reflexionen zu offerieren. Und falls sich die Philosophie nicht zu einer derartigen Propädeutik mausert, sondern stattdes-sen versucht, in Analogie zu den empirischen Wissenschaften eigene erklärende Behauptungen, etwa über den menschlichen Geist, aufzustellen, wird sie dieser Konkurrenz nicht wirklich gewachsen sein können, ohne selbst eine empirische Wissenschaft zu werden.8

Das Einheitshuhn entspricht lediglich einer bestimmten Erscheinungsform von objektivistischen Wissenschaften . Diese verfügen mit Husserl allerdings nur über ein sehr eingeschränktes Wissenschaftsverständnis, da sie den bestimmenden Maßstab wissenschaftlicher Objektivität als selbstverständlich voraussetzen und kein adäquates Bewusstsein dafür haben, auf welchem Sinn die ihnen inhärenten Standards und Kriterien wissenschaftlichen Erkenntnisinteresses gründen und wie auf diesen kritisch zu reflektieren wäre.9 In einer konsequent degenerierten Form entwickelt sich auch die Philosophie zu einer solchen objektivistischen Wis-senschaft, sofern sie in Gestalt des normierten Einheitshuhns explizit oder impli-zit als unreflektierter Maßstab für die vergleichende Bewertung aller Hühner her-angezogen wird. Dann besteht allerdings die Gefahr, dass andere, gewissermaßen ‚alternative‘ (oder eigentlich: natürliche) Formen des Huhn-seins und deren Viel-falt nach und nach zum Verschwinden gebracht werden, weil dieser objektivis-tischen Einheitsnorm eine unbeschränkte Geltung eingeräumt wird. Diese bloß zugewiesene Geltung ist jedoch vollkommen kontingent, da sie als lediglich fak- tische Geltung zudem einer Begründung bedarf, um als begründete Geltung auch tatsächlich einen Geltungsanspruch erheben zu können.

Vor dem Hintergrund dieser genealogisch und geltungslogisch nachvollzieh-baren Identifikation der Philosophie mit den Einzelwissenschaften ist an die zu Beginn gestellte Diagnose zu erinnern: Die Philosophie muss als eine an Universi-täten und Hochschulen vertretene Disziplin unter den gegenwärtigen Bedingun-gen so betrieben werden, dass sie den Anforderungen und Normierungen einer einheitlich-verbindlichen Wissenschaftlichkeit genügen kann. Wenn diese Art von Philosophie selbst ausschließlich zu einer Wissenschaft neben anderen Wis-senschaften wird und den Anspruch auf die kritische Reflexion der allgemeinen normativen Standards von Wissenschaftlichkeit aufgibt, dann hört Philosophie letztlich sogar auf, eine wissenschaftstheoretische Reflexionsdisziplin und damit Wissenschaftskritik zu sein.10 Unter Bologna-Bedingungen gerät die Philosophie somit in die prekäre Situation, sich im Modus bloßer, unreflektierter Wissen-schaftlichkeit zum Gegenstand und Bestandteil einer an sich möglichen wissen-schaftskritischen Praxis zu machen, deren tatsächlichen Vollzug sie aber dadurch zugleich verhindert.

Mit Blick auf die Praxis des Philosophierens bedeutet das: Sobald der normative Einheitsstandard von Philosophie als Wissenschaft im eingeschränkt-unreflektierten Verständnis allein maßgeblich für die Bewertung dessen wird, was als philosophisch zu gelten hat, ist eine genuine Diversität des Denkens bedroht, die auch dem jeweili-gen Gegenstand des Denkens gerecht werden kann. Das normierte Einheitshuhn ist nicht etwa deshalb zu kritisieren, weil es eine artifizielle Hervorbringung ist und da-mit einer vermeintlichen Natürlichkeit entbehrt, die von manchen naiven Kritikern gefordert sein mag. Denn schließlich steht die Vielfalt der zahlreichen Hühnerrassen ebenfalls im Zusammenhang mit einem handwerklich versierten Züchtungs- und Selektionsprozess. Dem normierten Einheitshuhn kann jedoch durchaus zum Vor-wurf gemacht werden, dass es das originäre τέλος des Huhn-seins eklatant verfehlt und nur noch eine bloße Reduktion auf die τέχνη verkörpert.11 Denn das normierte Einheitshuhn der Philosophie bedient sich auf parasitäre Weise in Name und Ge-stalt einer Reminiszenz an die Idee einer Philosophie , ohne deren genuinen Sinn einer Wissenschaft der Wissenschaften verstehen und den damit verbundenen Anspruch einlösen zu können, geschweige denn zu wollen. Doch gerade die Sinnvergessenheit der Einzelwissenschaften und vor allem einer disziplinären Philosophie, die nicht bloße Hilfswissenschaft sein möchte, macht die Wiederbesinnung auf eine Philoso-phie in den vielfältigen Gestalten des Philosophierens notwendig.12

Momentan entsprechen bestimmte philosophische Diskurs- und Denkformen (wie etwa die an szientistischen Paradigmen orientierte analytische Philosophie) sui generis offenbar besser den Standards der Evaluierbarkeit als andere Diskurs- und Denkformen. Diese anderen Diskurs- und Denkformen werden deshalb innerhalb der Philosophie als akademische Disziplin zunehmend verdrängt und können nicht mehr in ihrer ‚Eigenart‘ angemessen zur Geltung gebracht werden. In diesem Sinne hat Michael Hampe (2014, 12f.) den behauptend-belehrenden Habitus einer doktrinär und szientistisch verfahrenden Philosophie scharf kri-tisiert: Die Unterscheidungsgewohnheiten dieser Art des Philosophierens gemäß wissenschaftlich-verallgemeinernder Begriffsbildung vermögen es nämlich offen-bar nicht, die enorme Vielfalt und Individualität gewöhnlicher menschlicher Er-fahrungen adäquat zu beschreiben und philosophisch reflektierend einzuholen. Mit der bestimmenden Diskursform assertorischer Rede gehe, so Hampe, eine mutwillige Verengung der Möglichkeiten philosophischen Denkens einher: In dieser Form gemäß den Maßstäben wissenschaftlicher Theoriebildung kann zwar gerechtfertigter Weise gedacht werden, jedoch kann die Wissenschaft selbst als eine bestimmte Praxis und damit als Teil einer umfassenden Lebenswelt (die eben nicht in toto Wissenschaft ist) nicht mehr in kritischer Distanz denkend in den Blick genommen werden.13 Hampe verweist deshalb nachdrücklich auf die Not-wendigkeit der (Rück-)Besinnung auf eine ‚ursprüngliche‘ Praxis des Philosophie-rens im sokratischen Dialog: Die Figur des Sokrates wird von ihm ausdrücklich nicht als Lehrer oder Prophet, sondern in einer dezidiert anti-wissenschaftlichen Wendung als eindenkanregender ‚Störenfried‘ charakterisiert, dessen klärende Gesprächsführung überhaupt erst die Voraussetzung für einen gehaltvollen und vernünftig durchdachten Wissensbegriff ist, auf dem letztlich alle wissenschaftli-chen Geltungsansprüche beruhen (ebd., 89ff.). Obwohl Hampe damit der diskur-siven wie performativen Komplexität des Sokrates bei weitem nicht gerecht wird, versuchen er und andere zumindest, mit den Mitteln der Philosophie die Pluralität der Diskurs-, Denk- und nicht zuletzt Darstellungsformen in der Philosophie zur Geltung zu bringen, diese Formen als komplementäre Momente einer umfassen-den Erkenntnis auszuweisen und damit die reduktionistische Verengung auf eine oder einige wenige philosophische Denkrichtungen zurückzuweisen.14

4 Verschwinden und Wiederkehr

Das Verschwinden der Philosophie macht sich also auf verschiedene Weisen be-merkbar: In philosophiegeschichtlicher Perspektive wird deutlich, welchen Wan-del die Philosophie seit dem Beginn eines säkularisierten und rational aufgeklär-ten Zeitalters vollzogen hat – und was ihr von einem gleichsam emanzipatorischen Selbstverständnis als Wissenschaft der Wissenschaften noch geblieben ist. Eine ergänzende Sicht auf die akademische Gegenwart diagnostiziert mit dem Verlust der Diversität des Denkens zugleich einen szientistischen Reduktionismus, der ge-paart mit Sinnvergessenheit die Idee einer universalen Philosophie als einer Ein-heit der Vielfältigkeit des Wahrnehmens und Denkens desavouiert.

Das Verschwinden der Philosophie hat grundsätzlich zwei Seiten, eine phäno-menale und eine normative, die wie zwei Seiten einer Medaille zusammengehö-ren. In phänomenaler Hinsicht verschwinden die vielfältigen Formen des philo-sophischen Denkens in dem Maße, in welchem der Fokus und die Beleuchtung nur auf eine oder einige wenige Formen des Philosophierens beschränkt wird. Mit Bertolt Brecht kann man demnach sagen: „Denn die einen sind im Dunkeln / Und die andern sind im Licht. / Und man siehet die im Lichte / Die im Dun-keln sieht man nicht.“ In normativer Hinsicht wird die faktische Geltung des Bestehenden zugleich unreflektiert mit einer normativ verbindlichen Geltung identifiziert. Das folgenschwere Missverständnis besteht hierbei in einer Ver-wechslung, die symptomatisch für eine gegenwärtige Normativitätsvergessen-heit ist: Die faktische Geltung kann nämlich keinen Anspruch geltend machen, der über ihre bloße Faktizität hinausgeht, und muss sich erst über ein Verfahren hinreichender Begründung als normativ verbindliche Geltung erweisen. Zur Ver-deutlichung sei erneut das Huhn bemüht: Die Tatsache, dass einige, viele oder sogar alle Menschen die Eier und Broiler von Einheitshühnern verspeisen, be-sagt zunächst nur, dass diese Menschen faktisch den Kauf dieser Eier und Broiler als ein geltendes Mittel der Wahl zum Stillen ihres Nahrungsbedarfs erkannt haben. Doch dieser beschreibbare Zustand ist vollkommen kontingent, denn man kann sich ebenso gut eine Gesellschaft vorstellen, in der einige, viele oder sogar alle Menschen vollkommen auf Tierprodukte verzichten. Die Beschrei-bung der faktischen Geltung oder des faktischen Anerkannt-Seins unterscheidet sich grundlegend von der Begründung einer normativ verbindlichen Geltung: Man kann mit mehr oder weniger guten Gründen für oder gegen den Konsum von Einheitshühnerprodukten argumentieren, allerdings ist das zunächst weit-gehend unabhängig von den konkreten Handlungen wie vieler Menschen auch immer zu sehen. Dieses Phänomen kann u. a. als Handeln in Unwissenheit oder wider besseres Wissen beschrieben werden und bedeutet letztlich: Nur weil eini-ge, viele oder alle etwas Bestimmtes tun, ist dieses Handeln nicht schon dadurch unbedingt richtig.

Alle bisherigen Überlegungen konnten lediglich andeuten und grob umreißen, worin das Problem mit dem anhaltenden Verschwinden – oder auch etwas dra-matischer: dem Aussterben – einer bewahrenswerten Vielfalt des Philosophierens und einem damit einhergehenden Sinnverlust der Philosophie besteht. Es wäre daran anschließend eine vertiefende Betrachtung erforderlich, um diese Überle-gungen anhand von entsprechendem Material auf ihre Plausibilität hin zu prüfen und mögliche Lösungsvorschläge zu erarbeiten. Dazu würde zunächst und vor al-lem eine Bestandsaufnahme des gegenwärtigen disziplinären Philosophie(selbst)verständnisses gehören – ein Vorhaben, das in methodischer Hinsicht aussichts-reicher ist, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Ein Beispiel kann dies ver-deutlichen: Vor einigen Jahren hat Anita Rösch die Arbeit Kompetenzorientierung im Philosophie- und Ethikunterricht (Rösch 2012) vorgelegt. Der Titel legt nahe, dass es sich hierbei um eine Erörterung der Konzeptionen von Kompetenz und Kompetenzorientierung handelt, und zwar im Zusammenhang mit der breiten Verwendung dieser Begriffe etwa in den Dokumenten der Lehrerbildung, in den Rahmenrichtlinien und Lehrplänen für Schulen oder in den verbindlichen Vorga-ben der Kultusministerkonferenz. Wer dieses Buch das erste Mal in Händen hält, dürfte allerdings überrascht sein: Denn Rösch hat keine systematische Analyse der in Rede stehenden Begriffe vorgelegt oder erläuternde ideengeschichtliche Bezüge hergestellt, sondern sich stattdessen alle geltenden Lehrpläne und Rahmenricht-linien in Deutschland angeschaut und eine rasterartige Übersicht über die in die-sen Dokumenten verwendeten Kompetenzmodelle und Kompetenzverständnisse erstellt.

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Ein genauerer Blick auf diese Übersicht zeigt nun, worin der eigentliche Erkennt-nisgewinn dieser Zusammenstellung besteht: In den veröffentlichten Dokumen-ten manifestiert und perpetuiert sich nämlich ein bestimmtes Selbstverständnis aller Beteiligten in diesem Bereich, denn Studierende im Lehramt, Referendare, Lehrerinnen, Ausbilder am Studienseminar, aber auch Fachwissenschaftlerinnen und Fachdidaktikerinnen an der Universität beziehen sich auf diese faktisch gel-tenden, weil per rechtskräftigem Beschluss in Geltung gesetzten Regelungen zur kompetenzorientierten Unterrichtsgestaltung. Man erfährt also vorderhand nicht, was ein guter, gediegener oder idealtypischer Kompetenzbegriff wäre, nach dem es sich zu streben lohnte. Man erfährt hingegen etwas über eine normative Wirklich-keit, die sich dadurch konstituiert, dass sich all die genannten Personengruppen in ihrer praktischen Lehr- und Unterrichtstätigkeit tatsächlich selbstverbindlich an die vorgegebenen Regelungen zur Kompetenzorientierung halten  – zumeist jedoch ohne die begründete Geltung dieser Normen zu hinterfragen, wobei das dann noch am ehesten an den Universitäten geschieht.15

Für eine Bestandsaufnahme des gegenwärtigen disziplinären Philosophiever-ständnisses bietet sich ein ebenso reichhaltiger Materialfundus an, nämlich die Beschreibungen der Philosophie-Studiengänge gemäß der allgemeinverbind-lichen Vorgaben der zertifizierenden Akkreditierungskommissionen samt der zugehörigen Modulkataloge sowie Studien- und Prüfungsordnungen. Denn in-zwischen sind so gut wie alle Universitäten und Hochschulen modularisiert, auch wenn manchmal aus vermutlich nostalgischen Gründen noch alte Studienbe-zeichnungen (z. B. Staatsexamen) beibehalten wurden. Auf der Basis einer solchen detaillierten Erfassung des in Studiengangsdokumenten festgehaltenen und damit faktisch zum Ausdruck kommenden disziplinären Philosophieverständnisses lie-ße sich die hier skizzierte Diagnose eines Verschwindens der Philosophie – na-türlich nur in den genannten Hinsichten, als Disziplin existiert sie zweifelsohne noch – empirisch gestützt belegen, denn die bisherigen Schlussfolgerungen gehen lediglich auf eigene Erfahrungen zurück.

Auf diese Weise wäre es vielleicht möglich, diejenigen Wahrnehmungen und Erfahrungen besser zu verstehen, die zumindest einigen Beteiligten in nachdenk-lichen Momenten schmerzlich bewusst werden dürften: Wieso erscheint akademi-sches Philosophieren so oft als ein bloßes Verwalten von Wissensbeständen und Lerninhalten? Warum werden analytisch-deskriptive Fingerübungen als Quali-fikationsziele angesehen? Welche Motive entscheiden wirklich über die Wahl eines Seminarthemas, die Zulassung einer studentischen Abschlussarbeit, das Verfol-gen eines bestimmten Forschungsprojekts? Wieso fühlen sich viele permanent getrieben durch gerade aktuelle Debatten, deren Dauer und vergängliche Rele-vanz ohnehin schwer absehbar sind und denen man deshalb auch nur halbherzig, ohne echtes Interesse und entsprechende Freude an der Sache zu folgen bereit ist? Glaubt tatsächlich noch jemand an ein Lehren, Lernen und Forschen für das Le-ben? Und warum gibt es in diesem Verständnis des Philosophierens keine prak-tisch-produktive Bewährung, kein wirkliches Sich-einer-Aufgabe- oder -einem-Problem-Stellen mehr? Weil niemand mehr für das, was er theoretisch behauptet, auch lebenspraktisch einzustehen hat? Diese Fragen begleiten einen zunehmen-den Verlust an selbstbestimmter Bildung, wobei Bildung immer mehr zur Aus-bildung wird – auf Effizienz getrimmt, instrumentell verfügbar und gefügig ge-macht, stets in einer Relevanzfalle gefangen, um es den bestehenden Verhältnissen recht zu machen. Gemäß dieser Logik funktioniert schließlich auch eine staatlich subventionierte Forschungsförderung, für die man sich bewerben muss, wohlfeil ein ‚Produkt‘ auf einem Markt anpreisend, nach der jeweils aktuellen Mode der Forschungstrends Ausschau haltend.

Auf diesen ersten Schritt könnte dann ein zweiter Schritt erfolgen, mit dem exemplarisch in einer entwicklungsgeschichtlichen wie auch systematischen Perspektive zunächst gezeigt würde, wie die Funktion von Philosophie als wis-senschaftstheoretische Reflexionsdisziplin und letztlich als akademische wie

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nicht-akademische Wissenschaftskritik zu verstehen ist. Philosophie sollte sich keineswegs auf diese eine Funktion beschränken – im Bemühen um die Wieder-erlangung eines in weiten Teilen zum Verschwinden gebrachten philosophischen Selbstverständnisses kann jedoch eine im richtigen Sinne verstandene Wissen-schaftskritik der erste sichernde Schritt sein, um weiter voranzukommen. Es kann im Folgenden lediglich angedeutet werden, wie eine gute Wissenschaftskritik als ein in sich differenziertes, weil über mehrere Kritikstufen laufendes Verfahren nach Möglichkeit aussehen sollte:

Auf der 1. Stufe der Kritik geht es zunächst darum, die Wissenschaft (worin alle Wissenschaften, also Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften eingeschlos-sen sind) als eine bestehende und etablierte Praxis zu beschreiben, d. h. dieser Praxis in einer feststellenden Beschreibung gerecht zu werden. Dazu gehört eine differenzierte Darstellung des Sachstandes und damit der in der untersuchten Wissenschaft als gültig anerkannten Probleme und Fragestellungen sowie der Me-thodologie, mit der in der wissenschaftlichen Arbeit verfahren wird. Hier wird es zwingend notwendig sein, arbeitsteilig vorzugehen, denn die Spezialisierung in den Einzelwissenschaften ist seit dem Beginn des modernen Wissenschaftsver-ständnisses zu einem kaum überschaubaren Gegenstandsbereich geworden.

Die 2. Stufe der Kritikverfolgt eine genealogische Rekonstruktion , d. h. eine dif-ferenzierende Darstellung der Prozesse und wechselnden Gestalten, über die eine Wissenschaft diejenige Form angenommen hat, in der sie sich zum Zeitpunkt der kritischen Darstellung gemäß der 1. Stufe der Kritik befindet.

Auf der 3. Stufe der Kritik wird eine normative Rekonstruktion unternommen, d. h. der gegenwärtige Stand einer Wissenschaft ist hinsichtlich seiner genetischen Voraussetzungen und Entwicklungsmomente transparent zu machen (2. Stufe der Kritik) und als Geltungsgeschichte nachzuvollziehen, wobei sukzessive die jewei-ligen Legitimationsbedingungen auszuweisen sind.

Alle drei Stufen der Kritik – die genaue beschreibende Darstellung, die genea-logische Durchsichtigkeit und die normative Verbindlichkeit – bilden als Zusam-menhang eine Form von Wissenschaftskritik, für die in der Theoretischen und der Praktischen Philosophie alle notwendigen Voraussetzungen gegeben sind. Die Dynamik und fortlaufende Unabschließbarkeit einer derart verstandenen Wis-senschaftskritik in der Philosophie zeigt sich daran, dass sich diese Kritik selbst nicht gänzlich indifferent zu ihren eigenen Voraussetzungen der Wissenschaft-lichkeit verhalten kann, sondern sich als Wissenschaftskritik (zu einer bestimm-

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ten Zeit, unter bestimmten Voraussetzungen) ebenfalls und somit in ‚Selbstan-wendung‘ diesem Anspruch einer kritischen Revision zu unterziehen hat. Eine so verstandene Kritik stellt sich somit nicht auf eine vermeintlich neutrale Position, um von dort aus ‚meta-philosophisch‘ die Wissenschaften und die Philosophie zu beurteilen. Vielmehr entfaltet eine solche Kritik ihre eigentliche Stärke erst, indem sie sich die Reichweite, aber auch Beschränktheit ihres eigenen kritischen Standpunktes vor Augen führt und in ein kritisches Verhältnis zu anderen philo-sophischen Kritiken ihrer Art setzt.

Davon ausgehend wären dann in einem abschließenden dritten Schritt etwas allgemeinere Fragen zu beantworten, die damit zu tun haben, dass zum einen in-nerhalb des (weit gefassten) Raums philosophischer Praktiken eine Pluralität von Diskurs- und Denkformen zu konstatieren ist und sich zum anderen die akademi-sche Philosophie als Wissenschaft neben anderen Wissenschaften zu positionieren und zu profilieren hat. Fragen dieser Art lassen sich in drei Dimensionen verorten:

(a) disziplinäre Dimension : Wie ist, etwa mit Blick auf teils in der Öffentlichkeit geführte Debatten und ein auf vielfältige Weise zum Ausdruck gebrachtes Selbst-verständnis, die Philosophie zugleich als akademische Wissenschaftsdisziplin und als eine weitgehend auch nicht-akademisch betriebene Praxis des Philosophierens zu begreifen? Hier wäre etwa an Autoren wie Robert Musil zu denken, der als Wissenschaftler, Philosoph und Literat in einer Person die jeweiligen Selbst(miss)ver-ständnisse der Disziplinen und Praktiken aufschlussreich reflektiert hat.

(b) systemische Dimension : Welche Voraussetzungen (institutionell, diskursiv, normativ) müssten wirklich erfüllt sein, damit Philosophie ein wissenschaftliches wie auch wissenschaftskritisches Erkenntnisinteresse der Sache nach begründet und gerechtfertigt verfolgen kann?

(c) praktische Dimension : Wie wirkt sich der Versuch einer Selbstverständigung bereits in der gegenwärtigen Philosophie auf den Diskurs innerhalb und (bewusst) auch außerhalb der akademisch betriebenen Philosophie aus? Auf welche Weise wird Kritik an einer vermeintlich einseitigen Wissenschaftlichkeit von Philoso-phie geübt? Welche Möglichkeiten alternativer Diskurs- und Denkformen wer-den im nicht-akademischen öffentlichen Raum bereits erprobt? Und mit welchem Anspruch entstehen aus diesen kritischen Bezugnahmen auf eine zwar etablierte, aber als zu eingeschränkt empfundene Disziplin neue, nun ausdrücklich nicht-wissenschaftliche ‚Disziplinen‘, wie etwa Philosophische Salons, Podcasts und freie Akademien?

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Die sukzessive Beantwortung dieser Fragen und eine rekonstruktive Vergegen-wärtigung des Werdens und Vergehens von Philosophie kann dazu beitragen, diese wieder als eine „menschheitliche Selbstbesinnung, Selbstverwirklichung der Vernunft“ zu begreifen und die „Aufgabe, die sich der Philosoph stellt, sein Le-bensziel als Philosoph“ bewusst in den Blick zu nehmen: „universale Wissenschaft von der Welt, Universum der Wahrheiten an sich von der Welt, der Welt an sich“ (Krisis, 286f.).

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