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: Philosophie der Grenze

Philosophie der Grenze

Inhalt

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Grenzen des Menschlichen

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Thomas Steinforth

„To boldly go where no one has gone before!“ Kühnheit als Tugend an der Grenze?

So lautet die legendäre Einführungsrede in der Titelsequenz aller 178 Episoden der Fernsehserie „Star Trek: The Next Generation“ (1987–1994)1, gesprochen von Pat-rick Stewart als Captain Jean-Luc Picard. Fast genau so beschrieb bereits William Shatner als Captain James T. Kirk in „Star Trek: The Original Series“ (1966–1969)2den Auftrag seines Raumschiffs „Enterprise“. Wichtigster Unterschied ist die gen-derneutrale Formulierung „no one“ (Picard) statt „no man“ (Kirk). Beide sind sich einig: Wer die „letzte Grenze“ überwinden und in den unbekannten Weltraum vordringen will, braucht „boldness“, am treffendsten wohl mit „Kühnheit“ zu übersetzen.

Was das hymnische Intro feiert – mit pathetischer Musik und Bildern von zu den Sternen davonfliegenden Raumschiffen unterlegt – ist die Kühnheit, mit der Menschen ihren offenbar nicht zu begrenzenden Drang ausleben, die Grenze zwi-schen dem Bekannten und dem bislang Unbekannten zu überwinden.

Wie aber ist die hier popkulturell gefeierte Kühnheit menschlicher Grenzüber-windung zu deuten?

Eine Grenze, mit der alle Menschen – nicht nur Astronaut*innen – buchstäblich von Kindesbeinen an umgehen, ist die Grenze zwischen dem Bekanntem und dem bislang Unbekannten – zunächst und grundlegend in einem konkret räumlichen Sinne.

Oft verweilen oder bewegen wir uns an Orten und in Räumen, in denen wir uns auskennen: Wir wissen wenigstens im Sinne eines grundsätzlichen Orientiert-Seins, wo sich etwas befindet, was hier vorgeht, was welche Bedeutung für uns hat, mit wem wir zu tun haben, welche Rolle wir spielen, welche Spielregeln gelten, und so fort. Das Sich-Auskennen in uns bekannten Räumen – vom eigenen Zimmer bis zu dem, was wir „Heimat“ nennen – ist oft affektiv gefärbt: Es fühlt sich vertraut an. Dieses Sich-Vertraut-Fühlen wird in der Regel eher hintergründig erlebt und muss nicht in jedem Fall gut oder angenehm sein. Auch in vertrauten Räumen können wir z. B. Angst erleben, allerdings eher die Angst vor bekannten Gefahren in einem bekannten Raum, nicht die Angst, die uns befallen kann, wenn wir uns auf unbekanntem Terrain bewegen.

Bei allem Verortet-Sein in bekannten und vertrauten Räumen sind wir zugleich Wesen, die dazu neigen, die Grenze zum unbekannten Terrain zu überwinden. Die Neigung zu solch explorativem Verhalten mag individuell sehr unterschied-lich ausgeprägt sein; gleichwohl scheint es eine menschliche Tendenz zu geben, sich ins Unbekannte vorzuwagen. Eine wichtige Variante dieser Grenzüberschrei-tung beginnt schon, bevor wir gehen können. Bereits das Krabbeln und ähnliche frühkindliche Bewegungsformen dienen nicht selten dem Explorieren unbekann-ter Räume.

Unsere Sinne, vor allem die Fern-Sinne und insbesondere der Seh-Sinn, dessen Leistungskraft wir technisch verstärken können (Fernrohr, Teleskop oder auch – wie in Star Trek: Langstrecken-Sensoren und Sonden), oder auch durch Dritte vermittelte Bilder können uns zwar einen gewissen Einblick in unbekannte Räu-me vermitteln, ohne dass wir uns hinausbewegen müssten. Auch die Phantasie – eine erstaunliche menschliche Fähigkeit – versetzt uns in gewisser Weise über die Grenze des Bekannten hinaus. Das menschliche Wesen ist zwar zunächst leiblich-räumlich an einem Ort positioniert, allerdings gilt zugleich:

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Dieser Wunsch kann uns bewegen, tatsächlich selbst dort „vor Ort“ zu sein, wo wir bislang noch nicht gewesen sind. 2.2 Überwinden als Verschieben der Grenze

Wenn wir die Grenze zwischen dem Bekannten und bislang Unbekannten über-winden, lässt sich das auch als Verschieben dieser Grenze beschreiben: Die mir bekannte räumliche Welt hat sich durch die Grenzverschiebung vergrößert – auch wenn die eindeutige Unterscheidung zwischen einer mir bekannten Welt und ei-ner mir unbekannten Welt viel zu schlicht ist. Erstens variiert die Kenntnis bereits bekannter Orte stark je nach Dauer, Intensität und Qualität der Erfahrungen, die ich an ihnen gemacht habe. Zweitens stoßen wir auch an uns bislang unbekannten Orten nicht selten auf Phänomene, die uns bekannt vorkommen, während wir auch an Orten, die uns sehr vertraut sind, von bislang nicht wahrgenommenen Phänomenen überrascht werden können.

Auch wenn die Unterscheidung bekannter und unbekannter Räume daher nicht allzu eindeutig verstanden werden darf, gilt: Das Erkunden und Erschlie-ßen bislang unbekannter Räume und Orte, die Überwindung bzw. die Verschie-bung der Grenze zwischen dem räumlich Bekannten und bislang Unbekannten scheint trotz individuell unterschiedlicher Ausgestaltung ein wichtiger Grund-vollzug nicht nur, aber insbesondere des Menschen zu sein – mit erheblicher Be-deutung für das individuelle Leben wie für Gesellschaften und für die Mensch-heit insgesamt.

Seit ihrer evolutionsgeschichtlichen Herausbildung in einer bestimmten afrika-nischen Region4 zeigt die Menschheit eine im Vergleich zu wohl den meisten an-deren Tierarten deutlich stärkere, letztlich fast den gesamten Globus umfassende und ihn künftig vielleicht hinter sich lassende Tendenz zum Entdecken, Erkunden und Erschließen bislang unbekannter Räume.

Warum und wozu jedoch gehen Menschen hinaus ins Unbekannte? Ist es nicht viel plausibler, dort zu bleiben, wo wir uns auskennen? Was hinter dieser Grenze lockt uns? 3 Motive der Grenzüberwindung 3.1 Neugieriges Streben nach Wissen aus eigener Erfahrung

In vielen Fällen lässt uns das Streben nach neuem Wissen, oft empfunden als lustvolle Neugier, bisherige Grenzen überwinden. Bereits Aristoteles beschreibt den Menschen als ein von Natur aus nach Wissen strebendes Wesen5, ohne dass dieses angestrebte Wissen unbedingt von instrumentellem Wert sein muss. Die Neigung, sich unbekannte Räume bekannt zu machen, kann daher als basale Spielart menschlichen Strebens nach neuem Wissen verstanden werden – und zwar nach einem in eigener sinnlicher Erfahrung fundiertem Wissen. Manch-mal reicht uns das vermittelte Wissen eben nicht, so informationshaltig es auch sein mag. Der Reiseführer kann hoch informativ sein – aber er ersetzt die eigene Reise nicht.

Nicht zuletzt diese absichtslose lustvolle, nie endgültig befriedigte Neugier auf unbekannte Welten wird in „Star Trek“ bis zum Schluss gefeiert, etwa dann, wenn sich Captain Kirk in seinem letzten Auftritt seiner drohenden Verrentung verwei-gert und auf der Kommandobrücke den Befehl gibt: „Second star to the right – and straight on ’til morning!“6

Nicht selten ist es auch die Aussicht auf ökonomischen Nutzen, den wir jenseits der Grenze vermuten, seien es Ressourcen, die im bisherigen Raum fehlen oder allzu knapp geworden sind, seien es Absatz- und Handelsmöglichkeiten oder sonstige Vorteile.

Gerade mit Blick auf dieses Motiv zeigt sich, dass das Vordringen in unbekann-te Räume keineswegs harmlos ist: Sich unbekannte Räume bekannt zu machen, kann zwar als friedliche Suche nach Handels- und Kooperationsmöglichkeiten zum wechselseitigen Vorteil geschehen, kann aber auch mit einem verwertenden und unterwerfenden Sich-Aneignen dieser Räume einhergehen – ohne angemes-sene Rücksicht auf die Interessen derer, die in diesen Räumen leben. Die früher mit einem problematischen Begriff als „Zeitalter der Entdeckungen“ bezeichnete Ära geht nicht zufällig Hand in Hand mit dem Zeitalter der Expansion europäi-scher Eroberungsmacht, welche den Kolonialismus begründet und bis heute Fol-gen im kolonialen Umgang mit anderen Räumen zeitigt.

Auch das für die US-amerikanische Geschichte wichtige jahrzehntelange Ver-schieben der „frontier“ Richtung Westen ist bis heute mit großem Leid derjenigen verbunden, die bis dahin jenseits der „frontier“ gelebt hatten – was gerne ausge-blendet wird, wenn eine eng mit der „frontier“ und ihrem beständigen Verschie-ben verbundene „Trek-Mentalität“ als primär positives Merkmal eines kollektiven „Spirit“ der USA verstanden wird.7

Die zitierte Eingangsrede zu den Star Trek-Episoden greift das Signalwort der „frontier“ auf und lässt den „Trek“ zu den Sternen als eine folgerichtige Erweite-rung eines unkritisch gefeierten Treks Richtung Westen erscheinen. Allerdings spricht es für die Qualität von Star Trek, dass das positive Selbstbild der „Födera-tion der Planeten“ und ihrer „Sternenflotte“ kritisch hinterfragt wird: Zwar sind Kirk, Picard und die anderen Protagonisten nicht auf kriegerische Expansion und gewaltsame Aneignung aus. Gleichwohl wird ihr Selbstverständnis, aus reinem Forschergeist friedliebend in unbekannte Welten vorzudringen, von manchen kontaktierten Spezies in Frage gestellt und z. B. als Kaschierung eines kulturellen Hegemoniestrebens kritisiert. 3.3 Not und Zwang

Das genannte Streben nach Nutzen- und Machtsteigerung als Beweggrund, sich in unbekanntes Terrain fortzubewegen, sei es temporär oder auch dauerhaft, lässt die Wahl zu bleiben oder sich tatsächlich hinauszuwagen. Erhoffter Nutzen auf der einen sowie Kosten und Risiken auf der anderen Seite können – mehr oder weniger zuverlässig – eingeschätzt und abgewogen werden.

Anders verhält es sich, wenn der gravierende Mangel an notwendigen Ressour-cen eines menschenwürdigen Lebens oder auch Unterdrückung, Verfolgung und Vertreibung zum Fortgehen ins Unbekannte nötigen. Der Weg hinaus (mit einem biblischen Bild: der Exodus) muss auch dann gegangen werden, wenn der Weg selbst und die Zielorte mit nicht einschätzbaren Gefahren und Entbehrungen verbunden sind oder mit solchen, die Menschen kaum auf sich nehmen würden, wenn sie die Wahl hätten.

Die Grenze zum bislang unbekannten Raum zu überwinden, ist über die Menschheitsgeschichte hinweg und bis heute in vielen Fällen kein freiwilliges Wa-gen und Erkunden, sondern erzwungene Migration oder Flucht. 3.4 Wettbewerbsstreben: Als Erste*r dort sein!

Ein besonderer Fall des Überschreitens bzw. Verschiebens dieser Grenze ist dann gegeben, wenn ein Mensch sich in ein Terrain hinauswagt, das nicht nur ihm selbst unbekannt ist, sondern ein bis dato generell unbekanntes Terrain, eine terra incognita darstellt – wenn ein Mensch dorthin geht, wo nie zuvor ein Mensch ge-wesen ist.

Hier scheint es ein Wettbewerbsstreben zu geben mit dem starken Motiv, als der oder die erste einen Ort zu betreten. Damit kann ein ökonomisch messbarer Nutzen einhergehen, z. B. die Möglichkeit, Eigentums- und Verwertungsrechte zu beanspruchen. Aber auch ohne greifbaren Nutzen kann die Aussicht, als erster Mensch einen Ort buchstäblich zu betreten und allen anderen zuvorzukommen,

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offenbar Prestige und Anerkennung verheißen  – für die Menschen selbst oder auch für das Kollektiv, für das sie stellvertretend den bis dahin unbekannten Ort betreten und z. B. die Flagge ihres Staates in den Boden rammen.

Die aus dem Star Trek-Intro zitierte Wendung „To boldly go where no one has gone before!” betont dieses Motiv und signalisiert, dass es vor allem für das Erkun-den schlechthin unbekannter Orte einer besonderen Einstellung bedarf – eben der boldness bzw. der Kühnheit. 4 Angst und Kühnheit an der Grenze zum Unbekannten

Was auch immer die Beweggründe sein mögen: Nicht selten ist das Hinausge-hen mit Angst verbunden. Da wir allenfalls über ein vermitteltes Wissen darüber verfügen, was uns erwartet, mangelt es an einer in eigener Erfahrung und Ver-traut-Sein gründenden Orientierung. Wir wissen nur bedingt, welche Herausfor-derungen oder Gefahren auf uns zukommen, und wir können nicht auf gewohnte Handlungsroutinen zurückgreifen. Das Hinausgehen über die Grenze zum Un-bekannten ist ein mehr oder weniger riskantes Sich-Hinauswagen.

Die Bandbreite der Unsicherheit oder Angst ist sehr unterschiedlich. In vielen Situationen – etwa dem Spaziergang in einem uns bis dahin nicht bekannten Vier-tel der eigenen Stadt oder der gut organisierten Pauschalreise in ein uns noch nicht bekanntes Urlaubsland – spielt sie in aller Regel keine bedeutsame Rolle. Je frem-der und riskanter uns ein unbekannter Ort erscheint – auf der Basis unseres mehr oder weniger fundierten Vorwissens – desto stärker können Gefühle der Verunsi-cherung und Angst sein. Besonders stark kann es verunsichern, dorthin zu gehen, wo noch niemand gewesen ist: In diesem Fall gibt es noch nicht einmal ein durch Dritte vermitteltes Wissen.

Verunsicherung und Angst müssen zwar keineswegs unser Streben blockieren, die Grenze zum Unbekannten zu überwinden – sie können sogar als eine ambi-valent erlebte Angstlust einen Anreiz darstellen. Sie können aber auch affektive Blockaden sein, deren hemmende Macht wir überwinden müssen, wenn wir ins Unbekannte hinauswollen.

Für den Umgang mit dieser Angst können kognitive Überlegungen zur Ein-ordnung und Einhegung der Angst, Informationsbeschaffung und andere Ab-sicherungsstrategien eine gewisse Rolle spielen. Mitunter braucht es aber eine

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affektive und motivationale Kraft, die uns die Angst zwar nicht nimmt, uns aber hilft, mit dieser Angst so umzugehen, dass sie uns nicht am Hinausgehen hindert. Hier kommt eben die Kühnheit ins Spiel: eine individuell mehr oder weniger stark ausgeprägte Disposition, uns auch und gerade in ängstigenden Situationen an der Grenze zum Unbekannten über diese Grenze hinauszuwagen.

Folgt man dem Sprachgebrauch, wird Kühnheit oft als eine spezifische Variante des Mutes bzw. der Tapferkeit verstanden: Mut ist eine charakterliche Disposition zu sehr unterschiedlichen Handlungsweisen, z. B. auch zum Standhalten, Aushar-ren und Verweigern. Bei der Kühnheit geht es primär um Handlungen des Sich-Vorwärtsbewegen und Voranschreitens – zunächst in einem konkret räumlich-leiblichen Sinne. Kühn ist jemand, der oder die sich durch Risiken und Gefahren und dadurch hervorgerufene Ängste in seinem Voranschreiten nicht aufhalten lässt.

Traditionell sind es vor allem der (üblicherweise männlich konnotierte) Typ „Krieger“ (etwa die „kühnen Recken“ des Nibelungen-Lieds) und der Typ „Entde-cker“, denen im besonderen Maße Kühnheit als an-, vorwärts- und hinaustreiben-de Kraft zugeschrieben wird und die im Kampf bzw. auf der Reise ins Unbekannte trotz Risiko und Gefahr vorwärtsdrängen. Beide Typen finden sich auch in der Star Trek Erzählung: Kirk, Picard und die anderen Mitglieder der Sternenflotte agieren primär als Entdecker*innen und Forscher*innen unbekannter Welten (wie im Intro hymnisch gefeiert) – müssen aber auch bereit sein, in den militäri-schen Verteidigungskampf zu ziehen.

Wie aber ist die zur Grenzüberwindung geneigt machende Kühnheit zu bewer-ten? Hat sie schlechthin eine positive moralische Qualität – ist Kühnheit eine Tu-gend im ethisch anspruchsvollen Sinne des Wortes? 5 Die Gefahren der Kühnheit

Wie für alle Tugenden gilt auch für die Kühnheit: eine von anderen Tugenden abgekoppelte, mangelhaft in das gesamte Wahrnehmungs-, Strebe- und Urteils-vermögen integrierte Kühnheit ist problematisch, für den kühnen Menschen selbst wie für die von seinen kühnen Handlungen Betroffenen – letztlich ist sie dann keine Tugend mehr, sondern ein Geneigt-Sein zu moralisch fragwürdigen Handlungen.

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So kann Kühnheit, die nicht mit Klugheit und Urteilskraft gepaart ist, dazu verleiten, Risiken und Gefahren einzugehen, die nicht mit einer entsprechenden Chance einhergehen und den handelnden Menschen selbst oder auch andere Menschen ohne triftigen Grund erheblich schädigen können. Auch in Fällen, in denen die Zeit für umfangreiche Risiko-Analysen knapp oder mögliche Szena-rien aufgrund ihrer Komplexität und aufgrund begrenzten Wissens schwer einzu-schätzen sind, bedarf es eines klugen Vorgehens, das zwar keine allumfassenden Abwägungen vornehmen kann, aber doch zu einer hinlänglich angemessenen Einschätzung der Situation kommt. Auch dann bleibt die kühne Handlung ein Wagnis, das mit dem Unberechenbaren rechnen muss und unerwünschte Folgen zeitigen kann, jedoch ist es verantwortbar und unter Umständen auch geboten. Solche kluge Kühnheit ist von der irrationalen Tollkühnheit zu unterscheiden. In Star Trek verkörpert Captain Kirk eine sehr forsche Kühnheit, die ihn mitunter mitreißt und zum allzu riskanten „Draufgänger“ werden lässt. Eine wichtige, die abwägende Klugheit ins Spiel bringende Korrekturfunktion hat dann sein stets rational-nüchterner Erster Offizier Spock.

Als mythologischer Prototyp kluger Kühnheit mag Odysseus gelten, der im Kampf wie auf seiner abenteuerlichen Reise in die Heimat kühn voranschreitet, seine Handlungen dabei aber von Klugheit und ihrer Variante der List leiten lässt. Seine „Odyssee“ ist zwar eine Reise in die Heimat, führt aber notgedrungen durch Räume jenseits der Grenze des Bekannten – eine Reise also, die viel kluge Kühn-heit erfordert. Das Odyssee-Motiv wird übrigens auch in Star Trek aufgegriffen: In der Fernsehserie „Star Trek: Voyager“ (1995–2001) fehlt im Intro die zitierte Eingangsrede mit ihrem Lob der Kühnheit, und das Ziel des Raumschiffs Voya-ger unter dem weiblichen Captain Janeway sind nicht mehr unbekannte Welten, sondern der Heimatplanet Erde. Gleichwohl muss es dazu über 70 000 Lichtjahre hinweg durch bis dahin gänzlich unbekanntes Gebiet reisen – was Captain wie Mannschaft immer wieder mit Klugheit gepaarte Kühnheit abverlangt.

Problematisch kann die Kühnheit auch werden, wenn sie nicht an ein Streben nach Gerechtigkeit gebunden ist und aus dem Blick verliert, wer vom kühnen Vor-wärtsdrängen in unbekannte Räume betroffen ist und welche legitimen Ansprü-che den Betroffenen zustehen. Das kühne Vorwärtsgehen kann solche Ansprüche übergehen und die Kühnheit kann zu Handlungen geneigt machen und für diese sehr nützlich sein, die als ungerecht und böse gelten können. In einem für die Tugendethik einschlägigen Text hat Philippa Foot darauf hingewiesen, dass auch

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ein Mörder in einem gewissen Sinne Mut beweist, wenn er im Zuge eines gewagten Verbrechens große Risiken eingeht und entsprechende Unsicherheiten und Ängs-te überwinden muss.8 Freilich handelt es sich dann aufgrund der Abkoppelung des Mutes von der Gerechtigkeit nicht mehr um Mut im Sinne einer ethischen Tugend. Ähnlich bedarf es angesichts drohender Gegenwehr und anderer Gefah-ren auch einer gewissen Kühnheit, sich in Unterwerfungsabsicht oder auch nur in rücksichtsloser Neugier unbekannte Räume zu erschließen und dabei die berech-tigten Interessen der bereits dort lebenden Menschen zu missachten. Auch dafür ist Kühnheit hilfreich, in diesem Fall jedoch keine Tugend im ethischen Sinne des Wortes.

In Star Trek wird die Gefahr eines kühnen Vorwärtsdrängens, berechtigte Inte-ressen zu übergehen, immer wieder thematisiert: Zwar lehnt die „Föderation der Planeten“ kolonialistische Unterwerfung ab. Zugleich weiß man, dass bereits das bloße Eindringen in unbekannte Welten aus reinem Forschergeist heraus die dort existierenden Kulturen beeinträchtigen kann. Aus diesem Grund wird die Kühn-heit des Erforschens neuer Welten eingehegt und reguliert, insbesondere durch ein strenges Regelwerk rund um den sogenannten „first contact“, also der ersten Begegnung mit bislang unbekannten Spezies. 6 Grenzüberwindung, Kühnheit und das gute Leben 6.1 Grenzüberwindung und das lebendige Leben

Über die Grenzen des vertrauten Raums hinauszugehen und sich in unbekannte Räume hinauszuwagen, kann das Leben lebendiger machen und bereichern. Es kann buchstäblich den Horizont erweitern, was auch ohne einen dadurch entste-henden, ökonomisch bedeutsamen Nutzen zu beglückenden Erfahrungen führen kann, die wir um ihrer selbst anstreben und genießen. Zudem kann es uns helfen, auch unseren vertrauten Raum im Lichte neuer Erfahrungen jenseits der Grenze neu zu sehen und vertieft wahrzunehmen.

Das Sich-Hinauswagen sollte jedoch, damit es tatsächlich bereichernde Erfah-rungen ermöglicht, einhergehen mit dem Streben nach einer immer wieder auch verweilenden und innehaltenden Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt. Ohne dies wird die Dynamik der Grenzüberwindung zu einem rastlosen Immer-Weiter, in dem wir uns viele bis unbekannte Räume zwar oberflächlich bekannt machen, sie aber nicht wirklich entdecken und erschließen.

Wie sehr Menschen dazu neigen, sich aus ihrem vertrauten, heimatlichen Raum he-rauszubewegen und unbekannte Räume zu erkunden, kann abhängig von individuel-ler Persönlichkeitsstruktur, Präferenzen und Lebenszielen durchaus unterschiedlich ausfallen. Auch die dazu notwendigen Ressourcen sind keineswegs selbstverständlich gegeben. Sofern diese aber gegeben sind, dürfte es für ein gelingendes Leben hilf-reich sein, immer wieder mal zu prüfen, ob eventuell eine der beiden Tendenzen (Im vertrauten Raum leben – Die Grenze zum Unbekannten überwinden bzw. verschie-ben) zu stark vernachlässigt wird, sodass wir uns entweder zu sehr auf das Vertraute zurückziehen, uns dadurch unnötig begrenzen und dadurch an Lebendigkeit und Offenheit einbüßen oder aber in eine unzufriedene Rastlosigkeit verfallen. 6.2 Wie bildet sich Kühnheit?

Tugenden als charakterliche Dispositionen zu bestimmten Handlungstypen sol-len uns zu einem guten Leben befähigen. Insofern uns die Kühnheit dazu geneigt macht, sich über Grenzen zum bislang Unbekannten hinauszuwagen, den eigenen Horizont zu erweitern, bereichernde Erfahrungen zu machen und lebendiger zu leben, ist auch sie eine Tugend – freilich unter der genannten Bedingung, dass sie in ein umfassendes Wahrnehmungs-, Strebe- und Urteilsvermögen integriert ist und insbesondere mit Klugheit und Gerechtigkeit einhergeht.

Wenn Kühnheit in diesem Sinne wünschenswert ist – wie wird man kühn? In einem gewissen Umfang ist das Ausmaß der Kühnheit – wie auch des Bedürf-nisses, Grenzen zu überwinden – ein gegebener Aspekt unserer Persönlichkeits-struktur, den wir kaum in der Hand haben und nur begrenzt beeinflussen können. Allerdings wird die Kühnheit wie Tugenden überhaupt zu einem beträchtlichen Teil erworben und eingeübt.

Eine wichtige Rolle spielen hier Bildungsprozesse, sofern man Bildung in einem umfassenden Sinne als Persönlichkeitsbildung versteht. Unerlässlich für eine so

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verstandene Bildung und auch für die Bildung von Kühnheit ist die Ermöglichung von bedeutsamen Erfahrungen, in diesem Falle insbesondere Erfahrungen des Er-kundens, des Sich-die-Welt-Erschließens, des Sich-Hinauswagens. Kühnheit kann und muss schrittweise eingeübt werden! Gibt es genügend solcher Erfahrungen – in quantitativer wie qualitativer Hinsicht – und werden sie gemeinsam reflektiert und für die Persönlichkeitsbildung fruchtbar gemacht, kann Kühnheit erworben und verankert werden.9 Vieles spricht dafür, dass die Kühnheit im Kontext räum-lich-leiblicher Grenzüberwindung hinaus ins Unbekannte auch in anderen Hin-sichten kühn machen kann, z. B. im Sich-Erschließen bislang unbekannter Wis-sensgebiete oder auch sozio-kultureller Kontexte.

Popkulturelle Produkte wie Star Trek haben zwar keinen unmittelbar bilden-den Effekt, schon deshalb, da sie keine Erfahrungen mit eigener Aktivität er-möglichen. Wer das Lob der Kühnheit im genannten Star Trek Intro hört, kann es auf dem heimisch-vertrauten Sofa genießen und wird dadurch allein nicht kühn. Allerdings: Vielleicht kann es uns ja doch ein wenig auf den Geschmack bringen und Lust und Neugier wecken, uns – im Rahmen unserer begrenzten, nicht gerade galaktischen Möglichkeiten – immer wieder mal hinauszuwagen ins Unbekannte.

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Benjamin Rathgeber
Grenzen der Künstlichen Intelligenz

Sprachliche Bestimmungen über Grenzen haben selbst immer Grenzen. Dies ist nicht nur eine façon de parler sondern trifft einen systematisch-philoso-phischen Punkt. Es betrifft die Reflexion der eigenen Sprache selbst . Es wirft nämlich die Frage auf, mit welchem Recht und welcher Geltung wir den An-spruch einlösen können und dürfen, etwas terminologisch als begrenzt zu be-stimmen. Indem wir einen Sachverhalt als begrenzt beurteilen, müssen wir also zugleich beantworten, mit welchem Anspruch diese Grenzziehung überhaupt sinnvoll ist. Lässt sich dieser Geltungsanspruch entsprechend nicht einlösen, ist die Grenzziehung entweder willkürlich-beliebig oder doktrinär-ideologisch. Beide Alternativen disqualifizieren sich für eine angemessene und reflektierte Redeweise.

Dies gilt insbesondere für das kritische Nachdenken über Künstliche Intelligenz ( KI ) und deren unglaubliches Innovationspotential. Gerade hier erscheinen die Möglichkeiten unbegrenzt zu sein. Ständig neue Erfolge beflügeln die Erwartun-gen in diese Schlüsseltechnologie ins Astronomisch-Grenzenlose. Die technischen Rekorde und innovativen Durchbrüche verschieben permanent die Anwendungs-möglichkeiten in bisher ungeahnte Gebiete. Bereiche, die bisher nur menschlichen Akteuren vorbehalten waren, werden mühelos von der KI überboten. Ob in Spiel-industrie oder im Marketing, in der Medizin, in der Arbeitsmarktentwicklung oder im Finanzsektor, in der Produktion, der Mobilität oder Kommunikation – es scheint keinen Bereich unserer modernen Gesellschaft mehr zu geben, der von dieser Technologie ausgespart bleibt.1 Selbst in Feldern der künstlerischen oder wissenschaftlichen Innovation, die dem rein kreativ-menschlichem Geist vor-behalten schienen, werden zahlreiche Leistungen von KI -Systemen aufgrund deren schieren Datenleistungen übertroffen. So können heutzutage Künstliche Neuronale Netze ( KNN ) hochkomplexe Proteinsequenzen entziffern,2 neue Sym-phonien komponieren oder anspruchsvolle Aufsätze verfassen, die von mensch-lichen Akteuren häufig ununterscheidbar sind.3 Die Leistungen der besten Spezia-list*innen werden hier nahezu spielend in den Schatten gestellt. Bei einer derartig innovativen Technologie scheinen die Möglichkeiten völlig unabschätzbar zu sein. Wie sollte man hier also sinnvoll über Grenzen reflektieren?

Dennoch braucht es aber genau diese Reflexion: Sosehr nämlich die Rede über Grenzen selbst rechtfertigungsbedürftig ist, sosehr gilt umgekehrt, dass über die Reflexion der Grenze erst dasjenige begreiflich wird, was ansonsten unverständ-lich bleiben würde  – nämlich das zu bestimmende Phänomen. Nur wenn wir etwas genauer eingrenzen können, tritt hervor, was ansonsten un(ter)bestimmt bleiben würde. Wollen wir also KI -Systeme angemessen verstehen, müssen wir de-ren Grenzen ausloten. Nur darüber können wir die Geltung dieser Schlüsseltech-nologie adäquat beurteilen. Das gilt insbesondere dann, wenn utopische Heils-erwartungen oder dystopische Schreckensszenarienevoziert werden, die unser gesellschaftliches Bild von KI maßgeblich prägen. Sie bestimmen unser Verständ-nis über den Nutzen oder den Missbrauch und leiten den Diskurs über die ver-schiedenen Einsatzmöglichkeiten oder deren Verbote. Aufgrund ihrer Dominanz sollten sie immer einem kritischen Korrektiv unterliegen. Wenn wir also nicht ex- plizit und kritisch über die Grenzen der KI reflektieren, werden diese letztendlich implizit und unkritisch gesetzt – mit jeweils unabsehbaren Folgen. 1 Strategien der Grenzziehung in der KI -Forschung

Welche Grenzen lassen sich somit im Bereich der KI angemessen ziehen? Hier fin-det sich eine Vielzahl an verschiedenen Strategien, die von ethisch-normativen Überlegungen4 (beispielsweise zu Prinzipien ethischer Richtlinien im Umgang mit KI ) über soziale Kritikstrategien (hinsichtlich z. B. des Bias bei KNN ) bis hin zu technisch-mathematischen Bestimmungen (z. B. über die Frage nach Reichwei-te und Erklärbarkeit von verschiedenen Modellen) reichen.5

In all diesen Fällen wird eine bestimmte Schwierigkeit auf technischer, gesell-schaftlicher oder ethischer Ebene beleuchtet. Grob lassen sich diese Strategien nach zwei Seiten hin differenzieren: nach innen , was die informatisch-mathema-tischen Entwicklungsmöglichkeiten anbelangt, nach außen , was die gesellschaft-lichen, sozialen oder moralischen Implikationen betrifft. Im ersten Fall sollen die technische Machbarkeit und deren Grenzen deskriptiv ausgelotet, im letzteren die sozialen Auswirkungen normativ abgewogen werden.

Sosehr hier allerdings spezifische Wechselwirkungen zwischen diesen inneren und äußeren Aspekten der KI reflektiert werden, bleibt zumeist dieses Verhält-nis selbst außen vor. Gerade für ein umfassendes Verständnis von Möglichkeiten und Grenzen der KI könnte das allerdings ein Fehler sein. Denn nur wenn wir das Verhältnis von innen und außen, von technischen Möglichkeiten und norma-tiven Anforderungen so zueinander in Relation stellen, dass dieses Verhältnis als Grenzverhältnis selbst bestimmbar wird, lässt sich ein übergreifendes Bild der KI entwerfen. Der Vorteil hierbei wäre, dass nicht eine rein inhaltliche Festsetzung vorgenommen wird, was KI ist oder was nicht – was sie überhaupt kann oder nie-mals technisch einlösen wird. Dies scheitert schon erstens daran, dass „die KI “ gar kein klar umrissenen und homogenen Bereich darstellt. Vielmehr werden darunter unterschiedlichste technische Gegenstands- oder Forschungsbereiche subsumiert, die heterogen gebraucht werden und keine abschließenden Festlegungen erlauben. Zweitens müsste man bei einer Funktionsbestimmung über die Grenzen der KI prognostisch vorgehen, indem man die zukünftigen Entwicklungen antizipiert und in die Grenzziehung miteinrechnet. So überzeugend und wissenschaftlich eine Vielzahl an Prognosen über Entwicklungen der KI sein mögen, können sie den-noch nicht in eine auf umfassende Geltung abzielende Grenzziehung vordringen.

Was heißt es also, das Verhältnis als Grenzverhältnis selbst zu bestimmen? Das bedeutet mindestens zweierlei. Erstens , dass es sich hier nicht einfach um eine fes-te Grenze handelt, sondern dass es um einen Forschungsbereich geht, der dyna-misch immer wieder neu wissenschaftlich auszuhandeln wäre. D. h. es gibt nicht die genaue Grenze und dann noch einen dynamischen Aushandlungsprozess, son-dern im kritischen und wissenschaftlichen Aushandlungsprozess bestimmt sich genau dasjenige, was begrifflich als Grenze zu bestimmen wäre. Zweitens ist dieser Aushandlungsprozess jedoch nicht willkürlich geleitet, sondern bestimmt sich aus der Geltung der technischen und normativen Praxen und deren faktisch einzu-lösenden Geltungsansprüchen selbst . Und hier liegt jetzt genau der interessante Punkt für die KI -Forschung. Leitend sind ihre inhärent erhobenen, häufig aber auch von außen an sie herangetragenen Ansprüche, dass es sich hier nicht nur um eine Technologie unter vielen anderen handeln würde, sondern dass es technische Systeme seien, die wirklich intelligent agieren. Zwar wird dies von unterschied-licher Seite immer wieder bezweifelt (und häufig nur von maschinellem Lernen gesprochen), dennoch sind es genau diejenigen kognitiven Leistungen, die diese Technologie so herausragend und exzeptionell machen. Dass solche Ansprüche auch nicht völlig unberechtigt sind, zeigt sich – zumindest auf Seiten der Prag-matik – an ihren unbezweifelbar technischen Erfolgen. Diese Erfolge sind gera-de dadurch bedingt, dass KI etwas leistet, was andere Technologien bisher nicht einlösen konnten. So nutzen beispielsweise Deep Learning Verfahren spezifische Methoden, die darauf ausgerichtet sind, sich derart auf sich selbst anzuwenden, dass sie sich immer weiter optimieren können. Dadurch eröffnen sich technisch unbegrenzte Möglichkeiten, die mit Ausdrücken wie selbst-lernend oder selbst-op- timierend , selbst-entwickelnd oder gar selbst-bestimmend sinnvoll belegt werden und genau dasjenige erbringen und häufig überbieten, was bisher nur Menschen einlösen konnten. Kurzum – diese Systeme scheinen Leistungen zu erbringen, die wir in den ersten rudimentären Zügen als dasjenige beschreiben würden, was als autonom zu bezeichnen wäre. Genau darin unterscheiden sie sich von vorausge-henden Technologien. 2 Autonomie von KI -Systemen?

Was genau ist allerdings die Autonomie von KI -Systemen?6 Autonomie (von gr. αὐτός  – selbst und gr. νόμος  – Gesetz ) bedeutet im ursprünglichen Sinne die gesetzgebende Funktion von politischen Akteuren. Im antiken Griechenland war es die Polis, die sich selbst Gesetze geben konnte. Ab der Neuzeit verschiebt sich die politisch-soziale Dimension mehr in den individuellen Bereich von Personen, die sich jetzt selbst Zwecke setzen. In dieser Zwecksetzungsfunktion bestimmen und verwirklichen sie sich selbst. Im Begriff Autonomie schwingen also immer drei Aspekte mit: erstens ein initiierender Part eines Selbst (sei es ein politisch-soziales Gebilde oder eine individuelle Person), dass aktiv etwas hervorbringt; zweitens eine Selbst- Gesetzgebung , bei der sich das Selbst wirkmächtig ein eigenes Gesetz gibt (heute oft im Sinne von Zwecksetzungskompetenz verstanden). Und drittens ein reflexiver Selbst -Vollzug, bei dem sich performativ das Selbst dieses Gesetz selbst gibt. Das Selbst tritt hier also sowohl in subjektiver als auch in objektiver Funktion auf („es gibt sich selbst ein Gesetz“). In dieser selbst-gesetzgebenden Funktion verwirklicht sich also das Selbst eigenständig. Es bestimmt sich hierbei sowohl nach innen (indem es sich Gesetze auferlegt) als auch nach außen , indem es sich selbst darin eine Grenze gibt, die es von anderen unterscheidet. Es begrenzt sich also in seiner Form der eigenen Selbst-Bestimmung. Genau darin ist es über-haupt im umfassenden Sinne autonom .

Überträgt man jetzt diesen Begriff auf das KI -Konzept und fragt, wie genau die-se verschiedenen Funktionen angemessen zuzuschreiben wären, zeigen sich hier eine Vielzahl von Problemen. Erstens ist überhaupt nicht klar, inwiefern KI -Sys-teme als aktiv wirkende Akteure auftreten. Sosehr sich KI -Systeme rekursiv auf sich selbst anwenden lassen, sosehr treten sie hier nicht selbst als Akteure auf, die etwas initiieren, sondern nur eine beliebig große Vielzahl von Operationen durch-führen. Zweitens geben sich die KI -Systeme auch nicht selbst ein Gesetz, insofern sie von einer bestimmten Architektur, Topologie und den entsprechenden vorge-gebenen und aufbereiteten Datenmengen vollständig abhängig bleiben.7

Drittens – und das scheint mir ein weiterer zentraler Punkt zu sein, der häu-fig nicht berücksichtigt wird – bestimmt sich die KI in ihrem Vollzog auch nicht selbst . Die von ihr durchgeführten, häufig rekursiv vollzogenen Operationen sind nicht ein reflexiver Vollzug, in welchem eine Grenzziehung zwischen innen und außen realisiert wird, sondern in dem eine immer größere Form von Datenmen-gen durchsucht und über verschiedene Parameter jeweils verarbeitet wird. Dies gilt auch für derzeit aktuelle komplexe KI -Technologien, wie z. B. für GPT- 3, einem Autoregressiven Language Models welches 2020 von OpenAI entwickelt wurde und ein erstaunliches Leistungsvermögen zeigt.8 Bemerkenswert ist hier insbesonde-re, dass GPT-3 mittels einer Vielzahl von unterschiedlichen Bibliotheken trainiert wurde, um entsprechende Informationen zu gewinnen, die es für verschiedene Aufgaben und Funktionen – wie z. B. das Verfassen von komplexen Textbaustei-nen – benötigt. Es scheint hier so zu sein, als ob sich diese KI selbst Informatio-nen extrahiert, um sinnvolle, auf Semantik abzielende Texte zu produzieren. Von der pragmatischen Seite ist genau diese Implikation auch zunächst überzeugend. Dennoch dürfen die Ergebnisse nicht mit dem auf Bedeutung zielenden Vollzug verwechselt werden.9 Sosehr nämlich die Resultate überwältigend sind, sollten sie nicht einer inhärenten Semantik zugeschrieben werden, die diese Erfolge selbst hervorbringen. Vielmehr werden durch die Entwickler*innen diese Zwecke vor-gegeben und letztendlich über sehr komplexe, mit sehr viel Mühe verbundenen Trainingsverfahren herbeigeführt.10 Es ist also nicht „das Selbst“ eines ominösen KI -Systems, das sich selbst bestimmt und in einem aktiven Vollzug eine intelligen-te Semantik herausbildet, sondern es sind nur die pragmatisch herbeigeführten Ergebnisse, die uns auf dahinterliegende Intelligenzleistungen schließen lassen.

Entsprechend fungiert der substantivierte Ausdruck „Selbst“ bei selbst -ler-nenden und selbst -optimierenden Systemen metaphorisch . In dieser Substan-tivierung von rekursiven Eigenschaften, sich auf sich selbst anwenden lassen, werden diese zu Substanzen stilisiert, die so erscheinen, als ob sie Entitäten sei-en, die selbständig agieren und auf Bedeutung abzielende Leistungen hervor-bringen. Faktisch sind es aber allein die mathematisch-technischen Methoden der Entwickler*innen. Erst in der nachträglichen interpretativen Beschreibung erscheinen diese Praxen als autonome Akteure, die sich selbst optimieren und weiterentwickeln können. Sie sind aber nur Verdinglichungen mathematisch-technologischer Modelle, die ein wirkmächtiges Instrumentarium bereitstellen, komplexe rekursive Funktionen zu lösen, die immer weiter – und immer besser – entwickelt und optimiert werden. 3 Grenzen unbegrenzter Möglichkeiten: Autonomie als Grenze

Wenn wir uns also fragen, was die Grenzen der KI auszeichnet, dann sind es nicht die faktischen Grenzen und Entwicklungspotentiale technologischer In-novationen. Diese sind in doppelter Hinsicht grenzenlos.11 Sie lassen nur un-absehbare Möglichkeiten erahnen, die sich bereits jetzt in den erstaunlichen Ergebnissen aktueller technischer Transformationen zeigen. Die eigentlichen Grenzen der KI liegen vielmehr in der sprachlichen Beschreibung und Interpre-tation dieser Resultate – d. h. in der Darstellungs- und Redeweise über die Leis-tungen der KI -Systeme und ihrer Geltung. Es sind gerade nicht die KI -Systeme selbst, sondern die Projektionen unserer menschlichen autonomen Leistungen, die wir in diesen Technologien spiegeln. Es handelt sich also letztendlich nur um diejenigen Methoden und Informationen, die wir in diese Systeme hineingelegt haben, um bestimmte komplexe Funktionen operationalisieren und automati-sieren zu können.

Wenn wir uns jedoch von unseren eigenen Projektionen beirren lassen und die-se als selbständige Entitäten reifizieren, verbirgt sich darin eine subtile Gefahr: Indem wir uns zu KI -Systemen so verhalten, als ob sie tatsächlich eigenständige Akteure seien, missverstehen wir uns in unserer eigenen Autonomie. Wir deuten nämlich dasjenige als autonom, was wir letztendlich selbst sind und verdinglichen dadurch unsere Selbstbestimmung. Genau darin geben wir einen Teil unserer Autonomie auf und überlassen sie der von uns selbst geschaffenen Technik. In der Verdinglichung der KI liegt also bereits eine Art von self-fulfilling prophecy verbor-gen. Pointiert könnte man sagen: Wir erleben uns in unserer eigenen Autonomie heteronom, indem wir die Heteronomie der KI selbst als autonom stilisieren. Da-mit verlieren wir uns in einem fatalen Selbstmissverständnis und vergessen letzt-endlich, was wir sind – nämlich selbst autonom .

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Ursula Ohliger
Zwischen grenzenloser Selbstbestimmung und begrenzter Autonomie? Über Potenziale und Grenzen der KI-basierten Mensch-Maschine- Interaktion

So beschrieb der Philosoph Konrad Paul Liessmann in einem Interview die für die menschliche Entwicklung existenzielle Bedeutung von Grenzen.2 In Anbetracht der Grenzen menschlicher Physis haben Neugier und Freiheitstrieb den Menschen demzufolge auch immer wieder zu technologischen Innovationen angetrieben.3 Die mitunter revolutionärsten technologischen Fortschritte werden aktuell im Bereich der künstlichen Intelligenz (KI) erzielt. Innovationen wie KI können uns Menschen heute in vielfältigen Anwendungsbereichen dabei unterstützen, bisherige Grenzen in der Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft zu überwinden. Von intelligen-ten Industrierobotern über medizinische Assistenzsysteme und selbstfahrende Autos – KI besitzt das Potenzial, viele Prozesse effizienter und unser Alltagsleben komfortabler und sicherer zu gestalten. Innovationen, mit denen wir eine neue Stufe der technischen Erschließung unserer Welt betreten, erweitern Grenzen und unseren Freiheitsspielraum für ein selbstbestimmtes Leben.Gleichzeitig ru-fen Begleiterscheinungen und Risiken algorithmischer Zukunftsszenarien Ängste hervor. So befürchten manche, der breite Einsatz von KI-Technologien könnte die menschliche Autonomie begrenzen. Gleichwohl stoßen aktuelle KI-Technologien im Bereich von Emotion, Empathie und sozialer Intelligenz scheinbar selbst an un-überwindbare Grenzen. So sind Eigenschaften der menschlichen Intelligenz, etwa Urteilsvermögen, Moral, Werte, Telos bisher weitgehend nicht programmierbar.

Die Diskussion ethischer Implikationen, die aus der Überwindung technologi-scher Grenzen in unserer Gesellschaft resultieren, ist von großer philosophischer Relevanz, da sie fast alle Dimensionen des gesellschaftlichen Zusammenlebens betrifft. Dabei geht es nicht nur um die Verschiebung bisheriger technologischer Grenzen durch menschliche Intelligenz und Ingenieurskunst, sondern auch um die Charakteristika der Grenzen menschlicher und maschineller bzw. künstlicher Intelligenz selbst. Im Mittelpunkt des Beitrags steht daher die ambivalente Bewer-tung der Überwindung menschlicher und technologischer Grenzen und die da-raus entstehenden Folgen für Mensch und Gesellschaft. Der Beitrag knüpft damit innerhalb des Sammelbandes an die Diskussion der Grenzen des Menschlichen an. Zielsetzung ist, die Bedeutung von künstlicher Intelligenz mit Hilfe verschie-dener anthropologischer Grenzkonzepte anwendungsethisch zu diskutieren. Für die Analyse werden dazu exemplarisch Potenziale und Grenzen der KI-basierten Mensch-Maschine-Interaktion im Industriekontext untersucht. 2 Philosophische Konzeptualisierungsansätze zur Bedeutung technologischer Grenzüberwindungen

Künstliche Intelligenz untersucht als Teilgebiet der Informatik, wie intelligente Entscheidungsstrukturen des Menschen in Computerprogrammen nachgebildet werden können. Die Begriffsdefinition wird vor allem durch die Unschärfe des

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Begriffs Intelligenz erschwert.4 Von der bildlich-räumlichen Intelligenz über die Sprachintelligenz zur zwischenmenschlichen, sozialen Intelligenz umfasst der Be-griff Fähigkeiten unterschiedlicher Anwendungsfelder und wandelte sich im Lauf der Zeit immer wieder.5 Der Beitrag folgt der Auffassung, dass Intelligenz eine fortgeschrittene Form der Anpassung darstellt, die innerhalb der Lebenszeit eines einzelnen Systems stattfindet, und dass die Veränderungen, die sie hervorruft, von den bisherigen Erfahrungen des Systems abhängen.6 Der Begriff künstlich wird dabei in Abgrenzung zur natürlichen, also menschlichen Intelligenz verwendet.7Zeigen nun Maschinen oder Computer kognitive oder geistige Fähigkeiten, die denen des Menschen ähneln – etwa Fähigkeiten wie Lernen aus Erfahrungen oder bestimmte Problemlösungen  – so beschreibt dies eine künstliche Intelligenz.8Demnach können mit Hilfe von KI-Methoden Computerprogramme Fähigkeiten wie Lernen, Planen oder Problemlösen verwirklichen, um abstrakte Aufgaben und Probleme eigenständig zu bearbeiten.9 Der Vorgang des Lernens wird dabei in der Regel durch einen Lernalgorithmus ausgeführt, der einige Trainingsdaten als Eingabe erhält und ein aus den Daten erlerntes Modell erstellt.10 Diese Fähigkeiten beschreiben die sogenannte schwache KI, während starke KI alle Ansätze umfasst, die versuchen, den Menschen bzw. die Vorgänge im menschlichen Gehirn abzu-bilden und zu imitieren, technisch so bislang aber noch kaum realisiert werden können.11 Intelligente, selbstlernende Algorithmen oder vermeintlich eigenstän-dig agierende Roboter werden auch autonome Systeme genannt, die teilweise un-abhängig von menschlicher Überwachung und Steuerung agieren können.12 Hier werden verschiedene Autonomiegrade unterschieden: Die Einteilung reicht hier von vollständig durch menschliche Anweisungen (fern)gesteuert, also nicht-auto-nom, bis hin zu vollständig autonom.13 2.1 Von der Spinning Jenny zum Kollegen KI – Historische Entwicklungsschritte der Mensch-Maschine-Interaktion

Mit der Einführung mechanischer Produktionsanlagen mit Hilfe von Wasser- und Dampfkraft startete um 1750 die erste Industrielle Revolution.14 Schlechte Arbeitsbedingungen und die strukturelle Armut von Fabrikarbeiter*innen führte anschließend zur zweiten Industriellen Revolution, die durch arbeitsteilige Mas-senproduktion mit Hilfe elektrischer Energie geprägt war.15 Anfang der 1960er Jahre folgte die dritte Industrielle Revolution, die – getrieben durch den Einsatz von Elektronik sowie Informations- und Kommunikationstechnologie  – eine zunehmende Automatisierung von Produktionsprozessen ermöglichte.16 Nach Mechanisierung, Elektrifizierung und Informatisierung der Industrie läutete Ende des 20. Jahrhunderts der Einzug des Internets der Dinge eine vierte Industrielle Revolution ein – im Industrie 4.0-Zeitalter sind die Maschinen, Lagersysteme und Betriebsmittel der Unternehmen weltweit miteinander vernetzt.17 Durch diesen Prozess stehen mittlerweile große Datenmengen zur Verfügung, die auch den Ein-satz von KI-Systemen ermöglichen. Diese lernen im laufenden Betrieb weiter, ver-bessern vorab trainierte Modelle und können ihre Wissensbasis sowie ihre Fähig-keiten damit stetig erweitern. Da KI auch viele kognitive Aufgaben der Menschen im Tertiärsektor (Dienstleistungen) automatisiert, ist dies die erste Technologie, die in mehreren Sektoren gleichzeitig zu Produktivitätssteigerungen führt und sich damit wesentlich von früheren technischen Fortschritten unterscheidet.18 Be-reits seit Beginn des Industrialisierungsprozesses setzen sich Menschen reflexiv mit den Grenzen der Technik sowie potenziellen Gefahren der Durchdringung ihrer Lebenswelt durch technologische Innovationen auseinander: Während im 19.   Jahrhundert soziale Folgen der Technisierung der Fabriken diskutiert wurden, gibt es heute Befürchtungen, der zunehmende KI-Einsatz bewirke einen Autono-mieverlust des Menschen, der sich in einer gefühlten Ohnmacht gegenüber einer (zu) mächtigen Technologie manifestiert.19

Der philosophische Autonomiebegriff gilt seit dem 17. Jahrhundert als Kern-begriff der Aufklärung, erfährt im Zuge der aktuellen Debatte um die sozialen Veränderungen durch KI aber eine Wiederbelebung.20 Von Immanuel Kant wird Autonomie vor allem als die Möglichkeit der Selbstbestimmung als freiheits- und vernunftfähiges Wesen zur Überwindung gegebener Abhängigkeiten und Fremdbestimmung beschrieben.21 Egal, ob damit der Anspruch auf Selbstbestim-mung gegen Bedrohungen von innen (Tyrannis) und Fremdherrschaft formuliert werden, Kerngedanke von Autonomie bleibt diese durch äußere und innere De-terminanten einerseits begrenzte, durch diese Strukturen andererseits aber auch ermöglichte Selbstbestimmung.22 Im Kontext von KI-Systemen wird Autonomie als Prozess eines selbstbestimmten, situationsadäquaten Operierens verstanden, der die Fähigkeiten einschließt, Teilprobleme zu erkennen und eigenständig zu lö-sen.23 In Anknüpfung an diese neuen Kontexte, wird Autonomie im weiteren Ver-lauf als die Fähigkeit zur selbstbestimmten Handlung, reflexiven Bewertung der eigenen Handlung sowie zur situativen Anpassung in Bezug auf die aktuelle Um-gebung, Ereignisse bzw. Handlungen verstanden. Die Autonomie des Menschen kennzeichnet dabei – in Abgrenzung zu KI-Technologien – die Fähigkeit, sich von Überlegungen, Wünschen, Bedingungen und Eigenschaften leiten zu lassen, die einem nicht einfach von außen auferlegt werden, sondern Teil dessen sind, was man als sein authentisches Selbst betrachten kann.24 Autonomie ist daher gleich-bedeutend mit der Ausübung des freien Willens, Selbstbestimmung ist somit ein Zustand der Ausübung der eigenen Autonomie.25

Die vermeintliche Autonomie technologischer und selbstlernender Systeme stellt insofern eine neue gesellschaftsphilosophische Herausforderung dar, da die Technologie als (scheinbar) eigenständiger sozialer Akteur eigene Normen durchsetzt sowie ethische und rechtliche Fragen nach Verantwortlichkeit auf-wirft.26 Die Entwicklung von KI-Technologien zeigt uns – im Einklang mit Liess-manns Zitat zu Beginn – unsere eigenen Grenzen auf und gibt zugleich Impulse, diese durch technologische Innovationen zu überwinden. 2.2 Die ambivalente Bewertung menschlicher und technologischer Grenzen in der Anthropologie und Technikphilosophie Das Konzept der Grenze in der philosophischen Anthropologie

Dem Phänomen der Grenze kam in der Philosophie lange Zeit wenig Aufmerksam-keit zu, sie rückte eher unfreiwillig ins Blickfeld, da zentrale Fragen der Unterschei-dung – etwa zwischen Sein und Nichtsein oder Natur und Technik – zwangsläufig die der Abgrenzung einschließen.27 Es ist daher wenig überraschend, dass die Grenze im Kontext verschiedener Philosophiekonzepte immer wieder einen zentralen Dis-kussionspunkt darstellt – von Immanuel Kant über Georg Wilhelm Friedrich Hegel bis Jacques Derrida und Michel Foucault.28 So diskutierte Immanuel Kant bereits die Grenzen der Vernunft und menschlicher Erkenntnisfähigkeit.29 Im Vergleich zu Kant schreibt Georg Wilhelm Friedrich Hegel der Grenze einen stärker dialektischen Cha-rakter zu, da sie nicht statisch, sondern auch wandelbar sei und die Grenze in dieser doppelten Funktion zugleich auch eine Art kontextabhängige Schranke darstelle.30

Zentral ist das Konzept der Grenze in der philosophischen Anthropologie insbesondere bei Helmuth Plessner,31 der den Begriff der exzentrischen Positio-nalität als Wesensmerkmal des Menschen in die philosophische Anthropolo-gie einführte – und damit auch die subjektive Wahrnehmung von Grenzen und Grenzerfahrungen: „Der Mensch, in seine Grenze gesetzt, lebt über sie hinaus, die ihn, das lebendige Ding, begrenzt. Er lebt und erlebt nicht nur, sondern er erlebt sein Erleben“.32 Diese Positionalität manifestiert sich in dreierlei Hinsicht: Die Kategorie der Positionalität für das Phänomen des Lebens bedeutet, dass – anders als beim unbelebten Ding – hier etwas in eine Grenze gesetzt und als grenzrealisierendes Ding ausgesetzt sei.34 Lebendige Körper unterscheiden sich daher durch eine prinzipiell divergente Außen-Innen-Beziehung von unbe-lebten Dingen.35 Fischer zufolge eröffne diese membranhafte Unterscheidung Plessners zwischen Innen und Außen dem lebendigen Ding einen eigenen Spielraum der Selbstbehauptung: Während das Leben des Tieres zentrisch sei, sei das Leben des Menschen, ohne die Zentrierung aufzugeben, exzentrisch – diese exzentrische Positionalität markiere die Sonderstellung menschlicher Lebewesen.36

Grenzen sind komplexe Konstruktionen, deren Bestimmung variabel vom histo-rischen und gesellschaftlichen Kontext abhängig ist.37 Im diesem Kontext können technologische Grenzüberwindungen auch als Fortschritt des Menschen interpre-tiert werden, da technische Errungenschaften Freiheit, Selbstbestimmtheit und Entwicklung ermöglichen. So müssen Äcker durch die Entwicklung moderner Landmaschinen heute nicht mehr mühsam mit Pferden bestellt werden, gleichzei-tig hat dies auch soziale Folgen (z. B. Entstehung neuer sozialer Schichten, Wandel von Berufsbildern). Bei der philosophischen Analyse gesellschaftlicher Potenziale, Grenzen und Folgen technologischer Innovationen müssen daher Anthropologie und Technikphilosophie miteinander verknüpft werden. Hierfür bietet Helmuth Plessners Werk, das bis vor kurzem in der Technikphilosophie kaum eine Rolle gespielt hat, relevante Anknüpfungspunkte.38 So analysierte Verbeek mit Hilfe von Plessners Anthropologie unter anderem am Beispiel der Anwendung von Psycho-pharmaka, intelligenter Prothesen und Gehirnimplantate, wie die Technologie uns über das Menschliche hinausführt.39 Demzufolge geben neue technologische Ent-wicklungen den Impuls, Plessners Theorie der Exzentrizität zu erweitern.40 Auch die Fortschritte in der KI-Forschung können hier helfen, die theoretische Analyse der menschlichen Natur sowie die Grenzen des Menschseins weiterzuentwickeln. Menschliche Exzentrizität als Triebfeder technologischer Innovationen Die moderne KI-Forschung zielt darauf ab, traditionell nur dem Menschen vorbe-haltene Kompetenzen – etwa Vernunft, Autonomie, Urteilskraft – auf künstliche Systeme zu übertragen bzw. diese nachzuahmen.41 Plessner folgend, begründen aber genau solche Wesenseigenschaften den fundamentalen Unterschied zwischen Menschen und anderen Lebewesen.42 So befindet sich künstliche Intelligenz im Unterschied zum Mensch eben nicht in der dreifachen Charakteristik – Außen-welt, Innenwelt und Mitwelt. Künstliche Intelligenz hat die Fähigkeit, sich auf die Außenwelt und – falls entsprechend programmiert – sich in begrenzter Form auch auf die Mitwelt zu beziehen. Im Gegensatz zu unbelebten Dingen kann man KI-Systemen – ebenso wie Tieren und Menschen – also zwar eine gewisse Form von Positionalität in der Hinsicht attestieren, als sie eine Grenze zwischen Innen und Außen wahrnehmen, aber diese Grenzen eben – ebenso wie Pflanzen – nicht aus einem Zentrum heraus erfahren können.43 Die menschliche Existenzweise zeich-net sich nach Plessners Auffassung aber genau durch jenen bewussten Bezug zum eigenen Zentrum aus. Diese Innenwelt bleibt der künstlichen Intelligenz verbor-gen. Die exzentrische Positionalität als Wesensmerkmal des Menschen determi-niert also die Grenze jeglicher künstlichen Intelligenz.

Gleichzeitig markiert die menschliche Exzentrizität, also Erfahrung einer per-manenten Unvollkommenheit, die Bedingung, warum der Mensch durch Technik versucht, sich eine künstliche Umgebung zu schaffen, um die erlebte Unvollkom-menheit zu kompensieren.44 Durch technologische Innovationen hat die Entwick-lung an Dynamik gewonnen und das Umfeld der menschlichen Existenz ändert sich durch die Technik selbst.45 Dabei kann zwischen Technologien, die in eine aktive Interaktion mit dem Menschen treten, sowie solchen unterschieden wer-den, die nicht mit unserer Umwelt, sondern mit uns selbst verschmelzen.46 Bei KI-Systemen mit zunehmendem Autonomiegrad wird es immer komplexer, die Unterscheidung zwischen Menschlichem und Technologischem noch trenn-scharf zu ziehen, hier findet eine zunehmende Verschmelzung in der Kollabo-ration statt. Diese Form der Interaktion mit Technologien fügt Verbeek zufolge der Positionalität – dem entscheidenden Unterschied zwischen Steinen, Pflanzen, Tieren und Menschen – eine neue Dimension hinzu.47 Wie die menschliche Ex-zentrizität über die Zentriertheit des Tieres hinausgeht, könnten uns neue Techno-logien gleichzeitig über die bisherige Exzentrizität des Menschen hinausführen.48In dieser Hinsicht führt die Überwindung technologischer Grenzen auch zu Ver-schiebungen bisheriger Grenzziehungen in der Anthropologie: Verbeek kritisiert die scheinbar offensichtliche Dichotomie von physis versus techne in der mensch-lichen Existenz daher als verzerrt, so sei Technologie als Element unserer natür-lichen Künstlichkeit vielmehr ein integraler Bestandteil der menschlichen Natur.49Dies wiederum knüpft insofern an Hegels Grenzkonzept an, als sich hier die dia-lektische Tradition der Anthropologie sowie das ambivalente Verhältnis zwischen den Grenzen des Menschen und Fortschritten durch Technik manifestieren: Im Spiegel der Technik entdecken und überwinden wir uns immer wieder selbst.50 3 Komplementäre Koexistenz von Mensch und Maschine? – Potenziale und Grenzen von KI im Industriekontext

Die größten Potenziale der KI-basierten Mensch-Maschine-Interaktion im Indus-triekontext bestehen darin, die für die Arbeit benötigten Informationen schneller und besser bereitzustellen sowie Beschäftigte von wenig produktiven Routine-tätigkeiten bzw. körperlich sehr anspruchsvollen oder gefährlichen Aufgaben zu entlasten.51 Für die Beschäftigten entsteht damit die Chance, sich selbstbestimmt auf die Tätigkeiten mit der höchsten Wertschöpfung zu konzentrieren – ein Effekt, der aktuell auf allen Hierarchie- und Bildungsebenen beobachtet werden kann.52In der Industrieproduktion können so etwa vernetzte Produktionsabläufe und Qualitätssicherungsprozesse flexibel automatisiert, die Effizienz gesteigert und bessere Ergebnisse erzielt werden.53 Die KI-basierte vorausschauende Wartung ermöglicht zudem, Ausfallzeiten von Industrieanlagen zu reduzieren, hohe War-tungskosten zu senken und gleichzeitig die Ressourceneffizienz zu erhöhen.54 Da-durch kann einer zunehmenden Ressourcenknappheit begegnet und eine nach-haltigere Industrieproduktion erreicht werden.

Im Gegensatz zu den ersten drei Industriellen Revolutionen, werden Maschinen in diesen Kontexten so vom bloßen Objekt zum Kollegen für Facharbeiter*innen, die in kollaborativen Teams zusammenarbeiten. Durch die Entstehung hybrider Arbeitssysteme, in denen menschliche und nicht-menschliche Akteure bei geteil-ter Verantwortung interagieren, ändert sich durch KI-Systeme dadurch auch das Verhältnis zwischen menschlicher Arbeitskraft und Technik.55 Dies wiederum be-trifft auch direkt die Identität und Autonomie der Beschäftigten, also basale Kom-ponenten des individuellen Selbstverständnisses und der sozialen Anerkennung,56weshalb hier von manchen ein Autonomieverlust befürchtet wird. Technologie-Innovationen können dann als Eingriff in die Autonomie bzw. als Einschränkung der eigenen Wirksamkeit und als Bedrohung der eigenen Identität verstanden werden (vgl. Kap.  2.1), wenn Menschen unvorbereitet mit der neuen Situation konfrontiert werden und sich zunehmend als Objekte einer anonymen Steue-rungslogik begreifen, denn als ihr Gestalter.57 Bei der kollaborativen, KI-basierten Mensch-Maschine-Interaktion verbleibt die Autonomie aber grundsätzlich beim Menschen, die Maschinen lernen von ihm und befolgen dessen Anweisungen – der Mensch koordiniert das Team aus Mensch und Maschine und programmiert neue Arbeitsabläufe.58 Darüber hinaus ergeben sich positive Rückkopplungseffek-te: Auch der Mensch lernt von der Maschine, da beide integrale Bestandteile einer systemischen Arbeitsorganisation sind, die die gegenseitige Anpassung an flexib-le Produktionsbedingungen und komplexe Arbeitsvorgänge ermöglicht.59 Neben einem möglichen Autonomieverlust befürchten viele Beschäftigte auch eine De-qualifizierung oder sogar den Verlust ihres Arbeitsplatzes: Im Mittelpunkt dieser Sorge steht, dass Unternehmen im Interesse der maximalen Kapitalverwertung menschliche Arbeit so in den Arbeitsprozess integrieren, dass die Arbeitsleistung unabhängig vom Willen und der Kooperationsbereitschaft der Beschäftigten ab-gerufen werden kann.60

Es ist aktuell schwierig, valide Prognosen über die künftigen Auswirkungen von KI auf den Arbeitsmarkt zu erstellen, allerdings wird es durch die KI-Im-plementierung in allen Industriezweigen zu großen Veränderungen kommen so-wie zu einem Wettlauf um technologische Innovationen im Bereich der KI-For-schung.61 Mittel- bis langfristig kann zudem nicht ausgeschlossen werden, dass KI-Systeme mit fortschreitendem technischen Fortschritt den Menschen nicht nur bei anspruchsvolleren Aufgaben assistieren, sondern auch bei einfachen Tä-tigkeiten ersetzen werden.62 Bei diesem Szenario der Substitution gilt es allerdings, die Grenzen von KI-Technologien zu berücksichtigen: So sind KI-Systeme aktuell vorwiegend ein menschliches Hilfsmittel, sie können deren Kreativität nur unter-stützen, sie aber nicht ersetzen, auch fehlen KI-Systemen die notwendige sozial-emotionale Intelligenz sowie urmenschliche Eigenschaften.63 Dazu gehören neben Kreativität analytisches Denkvermögen und die Fähigkeit, Probleme im Team zu lösen, dies sind Schlüsselkompetenzen der Zukunft, die aktuell nur unzureichend von KI-Systemen geleistet werden können.64 Ein weiteres Spannungsfeld bei der KI-basierten Mensch-Maschine-Interaktion besteht hinsichtlich der klaren Zu-ordnung von Verantwortlichkeiten: So wird bestritten, dass KI-Systeme die Mög-lichkeit einer Verantwortungsübernahme besitzen, weil sie nicht oder nicht in ausreichendem Maße an Autonomie, Urteilskraft oder Handlungsfähigkeit ver-fügen.65Die Frage nach den Grenzen von KI-Systemen betrifft daher auch ihre technische Robustheit und ihre Anfälligkeit gegen vorsätzliche Angriffe – so hat ein KI-System keine moralischen oder ethischen Bedenken, das Verhalten folgt vorgegebenen Verlust- oder Belohnungsfunktionen und gelernten Datenmustern, die möglicherweise verzerrt, diskriminierend oder nicht repräsentativ sind.66

Statt einer Substitution ist daher eine komplementäre Beziehung zwischen Mensch und KI-System sehr viel wahrscheinlicher, Berufsbilder werden sich dabei wandeln und die Anforderungen an die Spezialisierung von Beschäftigten stei-gen.67 So können intelligente Maschinen zwar künftig noch besser steuern und überwachen, allerdings wird das Produktionspersonal auch weiterhin die auto-matisierte Bearbeitung überwachen und gegebenenfalls korrigierend eingreifen müssen.68 Job- und Tätigkeitsprofile von Beschäftigten im Industriesektor werden sich langfristig daher vermutlich eher verändern, da die Entscheidungsfindung KI-basierter Systeme auch weiterhin auf von Menschen definierten Algorithmen basiert.69 Auch zukünftig definiert das Fehlen dieser Fähigkeiten daher eine Gren-ze der Einsatzpotenziale von KI und das sinnvolle Reagieren auf vollkommen neue Situationen wird voraussichtlich auch künftig dem Menschen vorbehalten bleiben.70 Die Bewertung des KI-Einsatzes hängt daher maßgeblich davon ab, wie Menschen die Arbeitsteilung im Unternehmen, die Interaktion von Mensch und Technik sowie die Arbeitsorganisation gestalten.71

Eine gewinnbringende Koexistenz von qualifizierten Beschäftigten und künstli-cher Intelligenz im Industriekontext erfordert daher neue, KI-spezifische Kom-petenzen, da Menschen die Rückmeldungen und Entscheidungen der Technik auf ihre Plausibilität hin kritisch beurteilen und bei Technikversagen einschreiten müssen. Zentrale Elemente für die künftige Mensch-Maschine-Interaktion sind daher die aktive Arbeitsgestaltung sowie die berufliche Weiterqualifizierung, damit Technik so eingesetzt wird, dass es zu keiner Fremdbestimmung oder zu weniger Freiheitsspielraum von Beschäftigten kommt. Dann können sich in hybri-den Teams die Potenziale menschlicher und künstlicher Intelligenz voll entfalten und zum Nutzen der Gesellschaft beitragen. Daraus lassen sich Anforderungen an einen ethisch reflektierten Technologieentwicklungsprozess sowie einen wer-tebasierten Einsatz von KI-Systemen ableiten.72 Zu diesen für eine technologisier-te Gesellschaft notwendigen Determinanten gehören die übergeordneten Werte Selbstbestimmung, als Zustand der Ausübung der eigenen Autonomie,73 sowieTransparenz. Die ethischen Grundlagen für die Entwicklung und Anwendung müssen widerspiegeln, dass der Einsatz von KI-Technologien der Förderung des Gemeinwohls dienen soll, die Ergebnisse einer KI transparent nachvollziehbar sind und individuelle Zugriffsrechte aus Datenschutzgründen reguliert werden müssen.74 In der Konsequenz bedeutet dies, dass KI-Systeme im Industriekontext diskriminierungsfrei programmiert und entsprechend robust sind und in der Pra-xis so eingesetzt werden, dass kein unannehmbares Sicherheitsrisiko entsteht und Schaden für Einzelpersonen, die Gemeinschaft und die Umwelt vermieden wird.75Künstliche Intelligenz bietet vielfältige Potenziale für unsere Wirtschaft, Wis-senschaft und Gesellschaft – im Industriekontext können KI-basierte Assistenz-systeme Beschäftigte von monotonen oder schweren körperlichen Aufgaben ent-lasten und Raum für sinnstiftende und kreative Tätigkeitsfelder eröffnen. Dies macht eine Neujustierung der Aufgabenverteilung notwendig, da durch ma-schinelles Lernen und andere Verfahren Maschinen befähigt werden, bestimm-te Aufgaben selbstständig auszuführen und dabei laufend dazuzulernen.76 Die Leistungsgrenzen vermeintlich autonom gesteuerter Roboter und KI-Systeme – etwa die fehlende Kreativität, emotionale Intelligenz oder situative Anpassungs-fähigkeit  – bedingen, dass der Mensch auch künftig der Hauptakteur in der Mensch-Maschinen-Interaktion bleiben wird. Gleichzeitig könnten die Grenzen menschlicher Intelligenz durch die Potenziale künstlicher Intelligenz komple-mentär ergänzt werden, ohne Autonomieverluste zu evozieren. Damit könnte es uns Menschen gelingen, im Spiegel der Technik unsere eigenen menschlichen Grenzen zu überwinden.77 Dies steht im Einklang mit Plessners Konzept der ex-zentrischen Positionalität, wonach Menschen aufgrund ihres Selbstbewusstseins ein reflexives Verhältnis zu Technik und Werkzeugen – in diesem Fall KI – ent-wickeln können.

Für den vertrauensvollen KI-Einsatz braucht es zudem ein verlässliches ethisch-rechtliches Fundament.78 Um Befürchtungen eines möglichen Kontroll- oder Autonomieverlusts durch den Einsatz von KI-Systemen zu begegnen, ist es wich-tig, Beschäftigte bei der KI-Implementierung von Beginn an einzubinden, die Mensch-Maschine-Interaktion im Interesse der Beschäftigten aktiv zu gestalten und Folgen des Prozesses stetig ethisch und arbeitssoziologisch zu reflektieren. Um den technologischen Wandel im Sinne des Gemeinwohls zu gestalten, muss die Technologie daher an die Potenziale menschlichen Denkens und Handelns anknüpfen und technologische Grenzen berücksichtigen.79 Nur eine koordi-nierte Balance, die sowohl den Beschäftigten als auch den technologischen und wirtschaftlichen Potentialen von KI gerecht wird, kann zur individuellen und ge-sellschaftlichen Akzeptanz des KI-Einsatzes führen.80 Die zentrale Aufgabe ein-zelner Beschäftigter wird es dabei sein, die Entscheidungen von KI-Systemen auf Plausibilität hin zu überprüfen. Wichtigste Aufgabe von Wirtschaft und Politik ist es, die Entwicklung und Anwendung von KI so zu regulieren, dass Selbstbe-stimmung und Transparenz als zentrale Determinanten einer technologisierten Gesellschaft berücksichtigt werden. Egal, ob in Informatik, Rechtswissenschaft oder Philosophie – die Wissenschaft hat die Aufgabe, die Folgen der KI-Transfor-mation und des technologischen Wandels für unser Technikverständnis aber auch für unsere Gesellschaft (z. B. Haftungsfragen) in einem breit angelegten, interdis-ziplinären Dialog zu diskutieren.

Alice Gaspari und Loris Zambon in der Tanzperformance „Industrial

Movements“, Choreographie: Mónica García Vicente, Hannover-Linden 2019.

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Claudia Paganini
Grenze als Krise. Zur Dynamik von (Medien)Wandel

Sie ist uns ganz nah und sie ist real: die schöne neue Medienwelt mit einer Viel-zahl an über das Internet verbundenen Computern, Tablets, Smartphones, Wea-rables und Smart-Ambience-Systemen, mit einer Vielzahl an Möglichkeiten. Sie unterstützt uns dabei, effektiv zu sein und uns zu vernetzen, und war in Zeiten der Corona-Pandemie Garant dafür, dass das soziale, kulturelle und wirtschaft-liche Leben nicht zum Erliegen kam. Trotzdem sind wir nicht alle glücklich. Ganz im Gegenteil: beim Elternabend in der Schule, am Stammtisch und im Feuilleton dominieren Ängste und düstere Zukunftserwartungen. Bücher, die vor digitaler Demenz und vor einer nicht näher definierten, jedenfalls aber gefährlichen Cy-ber-Krankheit warnen, verkaufen sich in hoher Auflage und werden vom Publi-kum wie prophetische Schriften rezipiert. Es kommt zu einer „digitalen Hysterie“1, wie Psycholog*innen und Medienwissenschaftler*innen konstatieren. Die Grenze zwischen analogen und digitalen Medien – oder besser: das Überschreiten dieser Grenze – scheint Menschen auf der ganzen Welt zutiefst zu verunsichern, uns in eine Krise zu stürzen. Doch woher kommt diese Angst? Kommt sie daher, dass die digitalen Medien wirklich so gefährlich sind? Oder liegen andere Gründe vor? 1 Die alte Kritik am neuen Medium Ein Blick in die Vergangenheit liefert einen ersten Hinweis: Befasst man sich nämlich mit der Geschichte der Medienrezeption, stellt man schnell fest, dass die Grenzüberschreitung von altem zu neuem Medium immer schon als Krise erlebt wurde. Was Fachkolleg*innen als „Medienangst“ bezeichnen – und wobei es sich de facto eher um eine Angst vor dem Wandel oder der Grenze handelt –, lässt sich im Wesentlichen mit der an der Grenze einsetzenden Irritation alter Gewohnhei-ten erklären. Das Neue lässt die alten Gewohnheiten als unangemessen erschei-nen, macht uns schmerzlich bewusst, dass eingespielte Verhaltensweisen nicht mehr passen, adaptiert werden müssen.2

So wurde beispielsweise der Siegeszug der Sonnenuhr im alten Rom als große Ir-ritation wahrgenommen. Die Sonnenuhr löste zwar kein altes Medium ab – außer vielleicht den Menschen selbst als Medium der Zeitwahrnehmung –, markierte aber eine einschneidende Grenze: Mit der Verfügbarkeit der Sonnenuhr war die Zeit grundsätzlich präzise messbar geworden. Statt Freude dominierte zunächst aber moralisches Entsetzen, waren sich die Zeitgenossen doch sicher, mit der Son-nenuhr einen Abgott geschaffen zu haben, ein technisches Machwerk, das den wahren Glauben gefährden musste und den Menschen der Tyrannei der Technik ausliefern würde.3

Ähnlich groß war das Unbehagen gegenüber dem Fernsprechapparat oder (Fest-netz)Telefon, einer Weiterentwicklung der Telegraphie, viele Jahrhunderte später. Die Übermittlung von Nachrichten über eine räumliche Distanz, bei der zwischen den beiden Orten keine Objekte und keine Bot*innen mehr hin- und herbewegt werden mussten, wurde mit dem Telefon revolutioniert. Die alten, seit der Anti-ke beschriebenen4 Sicht- und Schallsignale wie Rauchzeichen, Horngebläse oder Glockengeläut waren damit ebenso überholt wie die telegrafische Kodierung eines zu übermittelnden Textes. Die Grenze zu der qualitativ hochwertigeren Form der Kommunikation, bei der man trotz großer Entfernung miteinander sprechen konnte, als ob man sich im selben Raum befände, löste jedoch bei vielen Menschen massive Ängste aus.

„Noch hatte man nicht begriffen“, liest man etwa in einer Biographie aus dem Jahr 1949, „dass mit dem Telefon ein Dämon ins Haus […] gedrungen war, der sich unangemeldet jederzeit mit schrillem Läuten ankündigen kann, den Gang der Gedanken und Gespräche mit einem kleinen gesundheitsschädlichen Schock jäh unterbricht.“5 Das neue Medium wurde also nicht so sehr als Erleichterung des Alltags wahrgenommen, sondern vielmehr als Eindringling ins Private, klingelte es doch schrill und unnachgiebig im Innersten des eigenen Wohnraums, wäh-rend Besucher*innen und Postboten (zunächst) vor der Tür verharrten und in der Regel erst eintraten, wenn sie dazu eine Erlaubnis erhalten hatten.6 Neben dem Problem der bedrohten Privatheit fürchtete man besonders die mit dem Erfolg des Telefons zu erwartende schädliche Reizüberflutung und unnatürliche Beschleuni-gung der Kommunikation. Am lautesten wurde die Kritik am Telefon übrigens in dem Moment, in dem die neue Technologie massenhaft Verbreitung fand.

Die letzte Beobachtung trifft nicht nur auf das Telefon zu, sondern lässt sich quer durch die Kulturgeschichte verfolgen, wann immer die Grenze zwischen al-tem und neuem Medium erreicht ist. Die ersten, ausschließlich einer kleinen Elite zur Verfügung stehenden neuen Artefakte erfuhren üblicherweise große Wert-schätzung, am Übergang zum Massenmedium dagegen veränderte sich die Wahr-nehmung radikal. Die im 19. Jahrhundert aufkommende Kulturtechnik des Foto-grafierens etwa wurde solange als Errungenschaft gefeiert, als es noch eine Frage von Rang und Geld war, ob man sich zu besonderen Anlässen ein solches Abbild der eigenen Person oder Familie leisten konnte. In dem Moment aber, wo selbst einfache Menschen einen Fotoapparat besaßen, waren sich die Kritiker*innen einig, dass das neue Medium schädlich sei, weil es einen daran hindern würde, authentische Erfahrungen zu machen und das Wesentliche im Leben zu erkennen. „Der Anblick der Reisenden en masse […] erregt ein Ekelgefühl der Zivilisation, besonders, wenn das stumpfsinnige Photographieren beginnt“7 – so das Resümee zum Zeitpunkt der Grenzüberschreitung.

Zitate wie diese dienen uns heute aber nicht nur zur Erheiterung bei der Lektüre und zur Auflockerung von Fachvorträgen, sie zeigen – in ihrer Gesamtheit be-trachtet – auch, dass die an der Grenze zwischen zwei Medien bzw. an der Grenze zwischen der exklusiven und der massenhaften Nutzung eines Mediums geäußer-ten Kritikpunkte durch die Zeit weitgehend konstant sind. Im Wesentlichen sind es fünf Vorwürfe, die regelmäßig wiederkehren und die interessanter Weise im-mer von Expert*innen, häufig von Mediziner*innen, bestätigt werden.8 Zunächst einmal gilt das neue Medium im Vergleich zu den bereits etablierten älteren Me-dien und Kulturgütern als minderwertig bzw. als Gefahr für das kulturelle Niveau der Gesellschaft, ohne dass dafür allerdings Gründe genannt werden (können). Spannend ist in diesem Kontext, dass das Ansehen des neuen Mediums im Lauf der Zeit immer besser wird, ohne dass sich am Medium selbst etwas verändert hätte. Anders ist nur, dass die Anwender*innen inzwischen ausreichend Zeit hat-ten, die eigenen Verhaltensunsicherheiten zu überwinden und sich neue Gewohn-heiten anzueignen.

Zweitens wird dem neuen Medium in der Regel vorgeworfen, dass sich der Um-gang mit ihm nachteilig auf die Vorstellungs-, Denk- und Sprachfähigkeit auswir-ke, zur Sucht führe und ernst zu nehmende Gesundheitsprobleme verursache, die somatischer, psychosomatischer und psychischer Natur sein können. Während man im Bereich der psychischen und psychosomatischen Schäden primär mit Angst, Aggression, Hysterie und Neurosen rechnet, lassen sich die körperlichen Probleme in einer immer wiederkehrenden Trias abbilden, nämlich Augen, Hirn (von simplen Kopfschmerzen bis zu degenerativen Prozessen) und Skelett (Hal-tungsschäden, Schäden durch Bewegungsmangel).

Drittens wird ein Anstieg von Gewalt, Kriminalität und Selbstmord befürch-tet, was damit einhergeht, dass besonders den Jugendlichen an der Grenze zwi-schen altem und neuem Medium Schwierigkeiten in der Identitätsentwicklung sowie eine Verminderung ihrer Sozialkompetenz bescheinigt werden, sofern sie letztere – ob der medialen Bedrohung – überhaupt entwickeln konnten. Viertens begegnet in der Kritik immer wieder das Argument, das neue Medium täusche dem Publikum ein falsches Bild von der Wirklichkeit vor, treibe damit den Verlust des Realitätssinns voran, schade langfristig der gesellschaftlichen Ordnung und leiste einem Werteverfall Vorschub. Vorwurf Nummer fünf richtet sich schließlich gegen die Entwickler*innen und Förderer der neuen Medien ganz allgemein bzw. gegen diejenigen, von denen man aufgrund ihrer Funktion – z. B. als Medien-ethiker*in – eine kritische Haltung erwartet, sofern sie diese nicht oder zu wenig deutlich einnehmen. Diesen Personen werden nämlich gerne charakterliche und intellektuelle Defizite unterstellt, das heißt, sie sind verantwortungslos und eigen-nützig, insofern sie sich durch Herstellung und Vertrieb des neuen Mediums bzw. durch Bestechung seitens der Industrie einen materiellen Vorteil verschaffen, oder aber schlichtweg dumm, weil sie die vom medialen Umbruch ausgehenden Ge-fahren nicht zu erkennen fähig sind.9

Zieht man zur Veranschaulichung des hier Gesagten den Medienwandel heran, den das Fernsehen mit sich gebracht hat, fällt zunächst einmal auf, dass erst ab den 1970er Jahren eine negative Einschätzung der neuen Technologie beobachtet werden kann, zu einem Zeitpunkt also, wo sich der Übergang zum Massenme-dium vollzog. Als dagegen Mitte der 1950er Jahre die ersten Fernsehgeräte auf den Markt kamen, konnten sich diese nur wohlhabende Familien leisten. Dementspre-chend wertschätzend wurden sie rezipiert und gar als Anlass dafür gelobt, dass sich die Familie nun wieder im Wohnzimmer versammle, im Fernsehen gewis-sermaßen ein neues gemeinsames Hobby gefunden habe. Schlagartig verändern sollte sich die Rezeption dagegen in dem Moment, als sich auch einfache Fabrik-arbeiter*innen ein eigenes TV-Gerät leisten konnten.

Für das neue Massenmedium wurde im Zuge der Verschiebung der Wahrneh-mung rasch eine Fülle an pejorativen Bezeichnungen gefunden: „Pantoffelkino“, „Verdummungsapparat“, „heimtückisches Betäubungsmittel“ oder „Droge im Wohnzimmer“10. Anders als im Fall des – in seinen Anfangstagen ebenso des kul-turellen Verfalls bezichtigten11 – Romans, von dem man sich mittlerweile sicher war, dass er Geist und Phantasie beflügle, rechnete man beim Fernsehen mit einer Verdummung und Nivellierung der Kultur, mit dem Aussterben des kindlichen Spiels, einer Verarmung der zwischenmenschlichen Kommunikation und der Zerstörung der Familie. Ohne viel über die Unterschiede zwischen einer substanz-gebundenen und einer substanzungebundenen (Verhaltens)Sucht nachzudenken, sah man im Fernsehen eine gefährliche Droge, deren Konsum zu Kontrollverlust, Abhängigkeit und dem Zwang zur Dosissteigerung führen müsse. Wohl durch die allgemeine negative Haltung in der Bevölkerung veranlasst, forderte der damali-ge deutsche Bundeskanzler Schmidt einen fernsehfreien Tag, das Bundesgesund-heitsministerium schloss sich seinem Begehren an.12

All das ist vergleichbar mit den alarmierenden bis apokalyptischen Einschätzun-gen, denen man heute häufig im Zusammenhang mit den digitalen Medien be-gegnet. Das Fernsehen seinerseits wird nicht mehr als Bedrohung für eine ganze Generation an Jugendlichen angesehen und auch von den dazumal propagierten Entzugskliniken für Fernsehsüchtige, für die sich de facto nie ein Kostenträger hat-te finden lassen, ist längst keine Rede mehr. Vielmehr wirkt die Aufregung um das Fernsehen wie ein Relikt aus fernen Zeiten. Ähnlich wie im Fall des Buches, der Fotografie und des Telefons sind die Ängste allmählich abgeklungen, je länger das Medium Fernsehen und die mit ihm verbundenen Kulturtechniken in Gebrauch waren. Die Medienangst, die sich in der Kulturgeschichte als Konstante beobach-ten lässt, dürfte also nicht in erster Linie mit der Gefährlichkeit des jeweils neuen Mediums zusammenhängen, sondern mit der Grenze, die im Moment des Medien-wandels überschritten wird, bzw. mit der Wahrnehmung dieser Grenze als Krise.

Natürlich könnte man auch eine allgemeine menschliche Disposition, die Zu-kunft tendenziell negativ zu imaginieren, als (eine) mögliche Ursache nennen.13Denn abhängig von der Persönlichkeitsstruktur und anderen Einflussfakto-ren  – wie genetische Disposition, soziokulturelle Erfahrung, familiäres Um-feld in Kindheit und Jugend, Persönlichkeit der primären Bezugspersonen und positive Spiegelung durch diese, Problemlösungsfähigkeit, Selbstkontrollüber-zeugungen, Selbstwert und Selbstbewusstsein14 – stellen sich Menschen das, was morgen kommen wird, in eher hellen oder eher dunklen Farben vor. Für Er-fahrungen offene Menschen neigen dazu, die Zukunft mit den je neuen Medien positiv zu sehen. In der gesellschaftlichen Wahrnehmung jedoch überwiegen die pessimistischen Prognosen, möglicherweise weil es ihnen besser gelingt, Auf-merksamkeit auf sich zu ziehen und zu sich selbst verstärkenden Masternarra-tiven zu werden. Eine Verstärkung erfährt dieses Phänomen insofern, als die Generation der Eltern und Großeltern die Angst um die Kinder selbstverständ-lich besonders intensiv erlebt. Denn ähnlich wie die eigenen Kinder das Wert-vollste sind, was (Groß)Mütter und (Groß)Väter im Leben haben, ist die Jugend das Wertvollste, was eine Gesellschaft besitzt, denn sie sind letztlich die Zukunft einer jeden Gesellschaft. 2 Wahrnehmung der Grenze

Doch sehen wir uns unabhängig davon das Problem der Grenze näher an. Um besser verstehen zu können, was die Grenze zwischen alten und neuen Me-dien – bzw. zwischen deren Nutzung – so besonders macht, könnte es sich als hilfreich erweisen nachzuvollziehen, wann in der Psychologie von „Krise“ und wann von „Stress“ die Rede ist. Wenngleich der Begriff der „Krise“ derzeit in-flationär gebraucht wird und insofern an Schärfe verloren hat, lässt sich die Krise von anderen fordernden Situationen dadurch unterscheiden, dass die wahrgenommene Herausforderung bzw. Gefährdung „qualitativ eine ihr inne-wohnende Umbruchsdynamik aufweist, die das Narrativ einer Person, Grup-pe oder Gesellschaft in ein Vorher und ein Nachher aufteilt“15. Neben diesem Grenzerleben ist weiters typisch, dass eine Krise sowohl Stimuli zur Bewältigung der Herausforderung als auch die Gefahr des Scheiterns16 beinhaltet. Psycho-epidemologisch gut untersucht17 ist mittlerweile der Prozess der kollektiven „Symptombildung“, der immer dann eintritt, wenn – wie im Fall eines Medien-wandels – eine große Zahl von Menschen betroffen ist. Da das neue Medium die alten Gewohnheiten zumindest partiell unbrauchbar macht, entsteht bei vielen ein Gefühl von Überforderung bzw. Kontroll- und Autonomieverlust. Emotio-nen werden freigesetzt. In einer Stimmungslage zwischen einem permanenten sozialen Hyperarousal und einer vermehrten Aggression bzw. Frustration18wird – zunächst einmal – alles darangesetzt, den Zustand vor der Grenzüber-schreitung wiederherzustellen.19

Zugleich rücken bestimmte Themen in den Fokus, nämlich die Frage nach dem Sinn, der Einsamkeit und der Freiheit des Menschen, ganz besonders aber nach dem Tod, und zwar als Bedrohung für das einzelne Subjekt ebenso wie für die ganze Menschheit, deren – ansonsten ausgeblendete – Verletzlichkeit und Ver-gänglichkeit bei kollektiven Krisen schlagartig ins Bewusstsein treten.20 Nach C. G. Jung lassen sich auch archetypische Bilder wahrnehmen wie Apokalypse und Chaos, Hoffnung und Wandel. Eine symbolische Aufladung des faktisch Ge-gebenen findet statt21, in Form von sogenannten Schattenprojektionen werden ei-gene „dunkle“ Seelenanteile wie etwa Aggression auf das bedrohliche Objekt, die neuen Medien, übertragen, die in weiterer Folge als das Böse schlechthin wahr-genommen werden, eine geradezu diabolische Kraft, deren Gefährlichkeit kon-sequenter Weise weit höher eingeschätzt wird, als es der Realität entspricht. In diesem Kontext lässt sich auch der Umstand erklären, dass Personen, die neue Medien propagieren oder nicht ausreichend kritisieren, häufig mit massiven Angriffen konfrontiert werden, fungieren sie im Rahmen dieser Projektion doch als „Schattenträger“ und rücken insofern ebenso in die Sphäre des bedrohlich Teuflischen wie die neuen Medien selbst.22

Je nach Persönlichkeitsstruktur kommt es zu unterschiedlichen Abwehrfor-men23, für die allesamt gilt, dass sie zu einer „Vereindeutung“24 tendieren und gerade nicht das differenzierte Wahrnehmen komplexer Zusammenhänge fördern. Die oder der Einzelne empfindet in einer solchen Situation Stress, ein fataler Kreislauf setzt sich in Gang: Denn das als inkongruent empfundene Verhältnis zwischen den Anforderungen der Grenzüberschreitung und den eigenen Ressourcen25, der vermeintliche Kontrollverlust das neue Medium betreffend und die fehlende Per-spektive zu einer selbstermächtigenden Bewältigung fördern das Schwarz-Weiß-Denken und „Katastrophisieren“. Durch die erhöhte Aufmerksamkeit für alles Bedrohliche26 entsteht ein „Tunnelblick“, an die Stelle von erkundungsgesteuertem Verhalten tritt ein angstgesteuertes.27 Und da Angst ebenso ansteckend wie selbst-verstärkend ist, kommt zur ursprünglichen Realangst mit der Zeit immer mehr eine dysfunktionale Angst hinzu, die sich im Erstarren ebenso äußern kann wie in der Aggression.28

Dabei besteht seit den bahnbrechenden Arbeiten von Hans Selye dahingehend ein Einvernehmen in der Forschungslandschaft29, dass das entscheidende Krite-rium dafür, ob man eine Veränderung positiv als Eustress oder negativ als Di-stress wahrnimmt, die subjektive Einschätzung ist, ob die neue Herausforderung mit Hilfe der eigenen Ressourcen bewältigt werden kann oder nicht. Wenn dies gelingt, können Menschen, die Grenzen begegnen und sie überschreiten, daran wachsen und sich charakterlich entfalten, es kommt zu einem „stress-related growth“30. Da dies manchen Menschen aber – ohne große Anstrengung – (sehr) leicht und anderen (sehr) schwer zu fallen scheint, fragt sich, was man selbst dazu beitragen kann, um an der Grenzerfahrung nicht verzweifeln zu müssen, sondern selbstwirksam und konstruktiv mit ihr umzugehen. 3 Überwindung der Grenze

Die Fähigkeiten, die hier gefragt sind, wurden in der jüngeren Vergangenheit im-mer öfter unter dem Terminus „Coping“31 subsumiert. Beim Coping geht es nicht nur um das Überwinden- Wollen , sondern vor allem um den gezielten Einsatz von Strategien zur Bewältigung akuter wie künftiger Probleme, auch wenn dieser Ein-satz mehr oder weniger bewusst erfolgen kann. Coping geschieht nicht im sozia-len Vakuum32, sondern wird dort erleichtert, wo das Umfeld sich aktiv mit dem herausfordernden Thema befasst. Wenngleich innerhalb der wissenschaftlichen Community Dissens darüber besteht, ob Coping am besten mit einigen wenigen Strategien oder mit einer Vielfalt und Breite unterschiedlicher Lösungsansätze ge-lingt, zeichnet sich dahingehend ein Konsens ab, dass das Auffinden von Sinnzu-sammenhängen sich jedenfalls positiv auf den Umgang mit Grenzsituationen aus-wirkt.33 Es gilt zu fragen, was aus der jeweiligen Krise gelernt und mitgenommen werden kann bzw. wo ihr kreativitätsförderndes Potential liegt.34

Damit dies aber gelingen kann, ist es erforderlich, das bestehende Bedrohungs-gefühl zu validieren, die gemeinsame Betroffenheit deutlich zu machen und nach als Referenz dienenden Bedrohungsszenarien und Grenzüberschreitungen in der Kulturgeschichte zu suchen, deren Analyse das Gefühl von Sicherheit vermitteln kann.35 Idealer Weise erfolgt dabei eine Unterscheidung zwischen „gesunden“ Angstanteilen und solchen, die destruktiv sind und die Bewältigung erschweren. Wo diese Differenzierung gelingt, ist bereits der erste Schritt in Richtung Dis-tanzierung getan, negative Affekte wie Angst, Hilflosigkeit oder Trauer treten in den Hintergrund, die Gefühlsüberflutung weicht allmählich der (vorsichtig) zu-versichtlichen Reflexion. Die Grenze schließlich muss nicht mehr in erster Linie als Ende des Bekannten und Guten imaginiert werden, sondern als Übergang zu einer grundsätzlich offenen Zukunft. 4 Ausblick

Was auf diesen Seiten analysiert wurde, ist die Frage, warum die Grenze zwischen alten und neuen Medien als Krise erlebt wird. Was nicht geschehen ist, jedoch – soll ein genetischer Trugschluss vermieden werden – nachgeholt werden müsste, ist die Diskussion darüber, ob die (gerade jetzt) neuen Medien über die genann-ten psychologischen Ursachen hinaus einen Anlass für Realängste bieten. Statt-dessen wurde überlegt, wie ein Kollektiv und seine Individuen die Angst vor der Grenze überwinden können, sprich: wie Anpassungsstrategien konstruktiver und effizienter verlaufen können, als das in der Regel der Fall ist. Sofern dies nicht geschieht, besteht aber kein besonderer Grund zur Sorge. Denn, wie die Medien-rezeptionsforschung gezeigt hat, wird die Gewöhnung an das neue Medium die Grenze mit der Zeit nicht mehr als Stressor erleben, ja irgendwann nicht einmal mehr als Grenze wahrnehmbar sein lassen. Das Erleben von Bedrohung und Überforderung wird dann nachlassen, bis ein zu einem späteren Zeitpunkt neues Medium uns einmal mehr an die Grenzen des Gewohnten und – wie nicht anders zu erwarten – in die Krise treiben wird.

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Tobias Skuban-Eiseler
Don’t forget about sex! Sexualität als eine von Jaspers vergessene Grenzsituation

Der Begriff „Grenzsituation“ mag zunächst als wenig „philosophisch“ erscheinen, ist aber einer der zentralen Termini im Werk des Philosophen und Psychiaters Karl Jaspers (1883–1969). Dass der Mensch Grenzen erfährt, ist eine urmensch-liche Erfahrung. Jaspers untersuchte solche „urmenschlichen“ Grenzen und be-schrieb eine Reihe von Phänomenen, die bezüglich ihrer Gestalt zwar in verschie-denen Menschenleben unterschiedliche Formen annehmen können, ihrem Wesen nach aber für alle Menschen Geltung haben. Dies insofern, als sie dem Menschen seine Grenzen offenkundig machen – und damit folgerichtig als Grenzsituationen bezeichnet werden können.1

In seinen beiden Werken „Psychologie der Weltanschauungen“ (1919) und „Phi-losophie II – Existenzerhellung“ (1932) entwickelt Jaspers ausführlich seine Theo-rie der Grenzsituationen und beschreibt auch, welche Aspekte des menschlichen Lebens damit gemeint sind. Die Sexualität wird von Jaspers dabei nicht als Grenz-situation aufgeführt.

In diesem Beitrag möchte ich untersuchen, ob aber nicht auch Sexualität eine Grenzsituation im Jaspers’schen Sinne ist. Dazu gebe ich zunächst einen Über-blick über Jaspers’ philosophische Auseinandersetzung mit Grenzsituationen. Alsdann stelle ich ein Verständnis von Sexualität vor, das mir geeignet erscheint, die mit diesem Begriff verbundene Fülle an inhaltlichem Gehalt angemessen zu fassen. Hernach werde ich darlegen, warum eine so verstandene Sexualität eine Grenzsituation nach Jaspers darstellt.

Jaspers verknüpft zwei verschiedene Begriffe (Situation und Grenzsituation) mit zwei unterschiedlichen Seinsformen (Dasein und Existenz). Das Dasein sieht er als mit der Situation, die Existenz als mit der Grenzsituation verbunden. So ist „Situation“ nach Jaspers die konkrete, „sinnbezogene“, psychophysisch erfassbare Wirklichkeit,2 aus der das Dasein nicht heraustreten kann.3 Dasein und Situation sind nach Jaspers damit untrennbar miteinander verbunden. Situationen sind al-lerdings nicht starr, sondern unterliegen einem ständigen Wandel; dabei kann das Dasein immer nur eine eingeschränkte Erkenntnis des vollen kontextualen Ge-haltes der Situationen haben.4 Somit ändern sich zwar fortlaufend die Situationen, indes kann das „In-Situation-Sein“5 nicht aufgehoben werden.

Grenzsituationen sind dagegen von völlig anderer Qualität. Sie „ wandeln sich nicht, sondern nur in ihrer Erscheinung“6, sind vollkommen unverfüg-, nicht ak-tiv wandel- und allenfalls eingeschränkt kontrollierbar.7 Sie machen dem Dasein somit eine Grenze offenbar, sind „wie eine Wand, an die wir stoßen, an der wir scheitern“8.

Dieser vielleicht etwas pessimistische Befund Jaspers’ ist aber nur ein Teil dessen, was Grenzsituationen ausmacht. Denn bereits der Terminus „Grenze“ impliziert nach Jaspers, dass ein Anderes existiert, das außerhalb der Grenz-situationen liegt.9 Diese sind damit also nicht ein Ende, sondern bieten dem Da-sein die Chance, zu einer anderen, tieferen Seinsform zu gelangen, die Jaspers als „Existenz“ bezeichnet und die vielleicht annähernd als „innerster Kern“10des individuellen Seins umschrieben werden kann: „Situation wird zur Grenz-situation, wenn sie das Subjekt durch radikale Erschütterung seines Daseins zur Existenz erweckt.“11

Im siebten Kapitel des zweiten Bandes der „Philosophie“ Karl Jaspers‘ („Exis-tenzerhellung“, 1932) beschreibt er sechs Grenzsituationen: die geschichtliche Be-stimmtheit der Existenz, Tod, Leiden, Kampf, Schuld und die „Fragwürdigkeit allen Daseins und der Geschichtlichkeit des Wirklichen überhaupt“.12 In seiner 1919 erschienenen „Psychologie der Weltanschauungen“ führt er als zusätzliche einzelne Grenzsituation noch den Zufall an,13 der in der „Existenzerhellung“ im Rahmen der Grenzsituation der geschichtlichen Bestimmtheit der Existenz ab-gehandelt wird,14 außerdem wird hier das Leid als übergeordnete Grenzsituation aufgefasst.15 2 Sexualität

Sexualität zu definieren, ist kein triviales Unterfangen. Man läuft sehr schnell Ge-fahr, den Begriff zu verkürzen, etwa, wenn mit Sexualität vor allem „Genitalität“ gemeint ist, also alles Verhalten, das mit dem Gebrauch von Geschlechtsorganen im weitesten Sinne zu tun hat und dessen Ziel die Erreichung eines Orgasmus’ ist.

Dieses Verständnis von Sexualität lässt sich aus der Entwicklungsgeschichte der Sexualwissenschaft ableiten, die Sexualität zunächst sehr behavioristisch inter-pretierte und vor allem mit „sexuellem Verhalten“ (verstanden als Spielarten zur Befriedigung genitaler Lust) gleichsetzte.16 Dies spiegelt sich nicht zuletzt in den sogenannten „Kinsey-Reports“ wieder, die sich um den Sachstand menschlicher Sexualität bemühten, dabei aber ausschließlich den Verhaltensaspekt in den Fokus rückten (eine Tatsache, die sich schon an den Titeln der Veröffentlichungen – „Sexual Behavior in the Human Male“17 und „Sexual Behavior in the Human Female“18 – ablesen lässt).

Auch die von William H. Masters und Virginia E. Johnson vorangetriebenen ersten Entwicklungsschritte dessen, was wir heute unter Sexualtherapie verste-hen, konzentrierten sich vor allem auf den genitalen Aspekt der Sexualität, auf die entsprechenden körperlichen Reaktionen und Veränderungen und trugen damit nicht unerheblich zu einem auf wissenschaftlichem Terrain gesellschaftsfähigen verkürzten Begriffsverständnis von Sexualität bei.19

Dass bei Verwendung des Wortes „Sexualität“ entscheidende Aspekte ausge-blendet werden und wurden, gründet aber schon in seiner Begriffsgeschichte. Bis ins 17. Jahrhundert existierte der Begriff gar nicht, sexuelle Themen wurden in einer blumenreichen Sprache ausgedrückt, ohne auf den eher lustbefreiten Begriff „Sexualität“ zurückgreifen zu können.20 „Sexualität“ als wissenschaftlicher Ter-minus kommt zunächst in Zusammenhängen der Biologie auf und bezeichnete nicht mehr und nicht weniger als das Vorkommen männlicher und weiblicher Or-ganismen und erfuhr erst im Laufe des 19. Jahrhunderts eine Übertragung auf den Menschen.21 Damit ist auch nachvollziehbar, warum sich die Ideengeschichte von Sexualität ab diesem Zeitpunkt sehr stark auf die Genitalität bezog. Wenn aber nun „Sexualität“ in diesem sterilen und wenig substanziellen Sinne vor allem als Mittel der Fortpflanzung verstanden wird, werden Aspekte wie Lust, Liebe, Lei-denschaft und Erotik vollkommen ausgeblendet.

In dieser eingeschränkten Auffassung wäre Sexualität wenig dazu angetan, als Grenzsituation im Jaspers’schen Sinne in Frage zu kommen. Erst in einem um-fassenderen, holistisch angelegten Verständnis wird nachvollziehbar, warum hier überhaupt von einer Grenzsituation die Rede sein kann. Um sich bei der An-nahme eines möglichst breit angelegten Verständnisses von Sexualität aber nicht im Dschungel eines zu weit gefassten Begriffes zu verlieren, schlage ich vor, drei Dimensionen von Sexualität zu unterscheiden, die den Rahmen dessen aufspan-nen, was unter Sexualität verstanden werden kann: eine Ich-, eine Du- und eine Wir-Dimension.

Dabei spielen die drei Dimensionen in unterschiedlichen Bedeutungs- und Ver-wendungszusammenhängen des Wortes sicher nicht immer eine gleichberechtigte Rolle, ich postuliere allerdings, dass keine Dimension jemals vollkommen irrele-vant ist. 2.1 Ich-Dimension

Die hier vorgestellte Ich-Dimension subsumiert sämtliche Aspekte der Sexualität, die primär mit dem sexuellen Subjekt zu tun haben. Da ist zunächst das biologi-sche Geschlecht. Ich bin Geschlecht, insofern ich Mensch bin. Menschsein und Geschlechtsein sind untrennbar miteinander verbunden und haben erst einmal wenig erotische Implikationen. Es geht hier vor allem darum, sich selbst in seiner Rolle als Mann, als Frau oder als andere nicht binäre Geschlechtlichkeit zu fin-den.22 Erst auf diesem Hintergrund tritt der Aspekt der Lust und der Erotik hinzu. Geschlechtlichkeit ist dann dazu angetan, Menschen Befriedigung zu verschaf-fen – und diese ist zunächst etwas, das ein Subjekt wahrnimmt bzw. herbeiführt.

Sexualität offenbart sich damit als Dimension, die gar nicht unbedingt ein reell anwesendes „Du“ braucht, und dies nicht erst seit der ubiquitären Verfügbarkeit pornographischen Materials im World Wide Web der Neuzeit. Sich selbst als ero-tisches, als sexuelles Wesen wahrzunehmen und mit sich selbst eine persönliche Erotik und Sexualität zu pflegen, sind damit keine Surrogat-Verhaltensweisen, die interpersonelle sexuelle Aktivitäten ersetzen, sondern wichtige und unersetzbare Teile von Sexualität.

Die Ich-Dimension von Sexualität kann als Vorbedingung aller anderen Di-mensionen begriffen, aber auch als Hintergrund verstanden werden, der in jeder sexuellen Handlung, in jedem sexuellen Gedanken und jeder sexuellen Empfin-dung eine Rolle spielt.

Sexualität erschöpft sich nicht im Subjekt, sondern ist (auch) auf ein Objekt aus-gerichtet und hat damit eine erhebliche beziehungsstiftende und kommunikative Dimension.23 Die unterschiedlichen sexuellen Aktivitäten, denen Menschen nach-gehen, sind unlösbar mit der Beziehung verbunden, die zwischen den sexuellen Partnern eingenommen wird – und sei es auch nur während der sexuellen In-teraktion. Menschen teilen Lust, erkunden ihre Körper, berühren sich, tauschen Zärtlichkeiten aus, erleben Macht und Unterdrückung, re-inszenieren Gewalt etc. – keine Beschreibung dessen, was im Rahmen sexueller Handlungen zwischen Menschen geschieht, kommt ohne irgendeine Form der Benennung von Kommu-nikation und Beziehung aus.

Sexualität in diesem Sinne, Sexualität in der Du-Dimension ist damit aber auch weit mehr als ein Akt der Fortpflanzung; auch in langjährigen Beziehungen bleibt ein Arbeiten an Sexualität und ein Ringen um eine gut gelungene Paarsexualität eine der wichtigsten Aufgaben.

Die Du-Dimension ist erheblich herausfordernd, treffen wir doch mit unter-schiedlichen sexuellen Wünschen und sehr verschiedenen (auch über die Zeit wechselnden) sexuellen Bedürfnislagen zusammen. Es ist in diesem Zusammen-hang ein Gemeinplatz darauf hinzuweisen, dass diese sexuellen Begegnungen nicht nur zwischen ungefähr gleichaltrigen binär Empfindenden unterschiedli-cher Geschlechtlichkeit stattfinden, sondern in jedweder Kombination auftreten. 2.3 Wir-Dimension Sexualität entfaltet sich nicht im luftleeren Raum, sondern ist getragen und beein-flusst von vielfältigen soziokulturellen Einflüssen.24 Wir Menschen befinden uns in einer individuellen Lerngeschichte mit unserer näheren und weiteren Umgebung, tragen aber auch ein soziales Erbe, das vor allem durch die Kultur bestimmt wird, in die wir hineingeboren werden. Die Erfahrung von und Auseinandersetzung mit der eigenen Sexualität wird damit immer Reibeflächen hinsichtlich bestehender kultureller Gepflogenheiten und moralischer Vorstellungen bieten.

Deutlich wird dies, wenn unterschiedliche Vorstellungen davon zusammentref-fen, was unter Sexualität zu verstehen ist bzw. was in einem normativen Sinne als sexuell erlaubt bzw. verboten angesehen wird. Dies kann man etwa daran ablesen, wie schwierig es sein kann, andere sexuelle Traditionen und Kulturen zu integ-rieren – und dies nicht nur im Rahmen von Fragen der Einwanderung fremder Menschen, sondern auch im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um die Sexualmoral verschiedener religiöser Traditionen. 3 Sexualität als Grenzsituation

Sexualität spielt in Jaspers’ Werk nahezu keine Rolle,25 daher verwundert es auch nicht, dass Jaspers die Sexualität nicht unter seinen Grenzsituationen aufführt. Dass Sexualität im oben beschriebenen Sinne aber durchaus eine Grenzsituation im Jaspers’schen Sinne ist, möchte ich im Folgenden zeigen. Dazu werde ich drei Aspekte beschreiben, unter denen Sexualität als Grenzsituation zu verstehen ist; dann möchte ich aufzeigen, was unter diesen Aspekten jeweils im Blickwinkel auf Sexualität zu verstehen ist und was es bedeuten kann, in der Grenzsituation „Se-xualität“ die eigene Existenz zu ergreifen. Zudem werde ich versuchen, aus den angestellten Reflektionen ethische Implikationen abzuleiten. 3.1 Gegebenheit

Sexualität ist kein Phänomen, das der Mensch frei wählen oder gar abwählen kann. Es ist mit der menschlichen Natur gegeben. Der Mensch ist in Bezug auf seine geschlechtliche Identität kein Neutrum, das Leben entfaltet sich in einer Fül-le von (sexuellen) Identitäten, die dem Menschen individuell gegeben sind. Dies bietet eine Vielzahl von Reibeflächen, die für Menschen mit hohen Herausforde-rungen verbunden sein können: So können Menschen mit ihrer eigenen sexuellen Identität hadern, den Aspekt von Geschlechtsein aus ihrem Leben ausblenden wollen oder aber unter der als diskrepant zum eigenen Erleben wahrgenomme-nen Geschlechtszuweisung durch andere leiden. Mit der menschlichen Natur ist aber auch das Erleben von sexueller Lust, von Begehren, von Erotik im weitesten Sinne gegeben. Der Mensch erlebt sich unweigerlich als bedürftiges Wesen, das den eigenen Körper als Quelle von Lust und Befriedigung in sehr individueller Weise entdecken kann. Dabei setzt diese Form sexueller Entwicklung nicht erst mit der Pubertät, sondern durchaus schon mit der Geburt ein.26 Mit fortschreiten-dem Alter differenziert sich die eigene Sexualität im Sinne eines eigenen sexuellen Skripts, wird damit zur individuell ausgestalteten Gegebenheit .27 Aus diesem Ent-wicklungsprozess kann der Mensch ebenso wenig ausbrechen wie aus seiner je eigenen geschlechtlichen Identität.

Dass auch Lust eine Gegebenheit darstellt, illustrieren etwa Bemühungen um sexuelle Abstinenz zur Prävention von HIV-Infektionen, die aufgrund der hier beschriebenen sexuellen Disposition des Menschen nur äußerst eingeschränkt er-folgreich sein können.28

Darüber hinaus ist der Mensch auch ein soziales Wesen und dieser Sozialnatur entsprechend strebt er nach Kontakt und Kommunikation mit anderen Menschen. Versteht man Sexualität als eine besondere Form von Kommunikation zwischen zwei menschlichen Wesen, dann kann Sexualität auch in dieser Hinsicht als dem Menschen gegeben aufgefasst werden.

Zuletzt ist Sexualität auch eine kulturelle und soziale Gegebenheit, d. h. selbst wenn es einem Menschen gelänge, die eigene Sexualität vollkommen auszublen-den, wäre er doch fortwährend damit konfrontiert, dass auch in der Gesellschaft (fortwährend) sexuelle Themen präsent sind.

Unter dem Aspekt der Gegebenheit wird Sexualität dann zur Grenzsituation, wenn sie sich entgegen eigenen Wünschen als unausweichlich darstellt, wenn man mit dem schieren Vorhandensein von Sexualität als Teil der menschlichen Natur hadert. Die eigene Existenz zu ergreifen und zu einer tieferen Seinsdimension zu gelangen, hieße dann anzuerkennen, ein sexuelles Wesen zu sein und dies eben nicht aufheben zu können. Gelingt dies, ergeben sich auch relevante ethische Di-mensionen: Nur wer sich selbst in seiner unausweichlichen Sexualität erkannt hat, kann auch andere in ihrer unvermeidlichen sexuellen Wesenhaftigkeit und ihrer je eigenen Geschlechtlichkeit, ihren Bedürfnissen, ihrer Lust und Erotik akzeptieren. 3.2 Unveränderbarkeit Sexualität ist nicht nur gegeben, sie ist auch zu einem erheblichen Grad unver-änderbar und auch hinsichtlich dieser Unveränderbarkeit kann Sexualität eine Grenzsituation darstellen.

Die geschlechtliche Identität eines Menschen ist als gegebene auch unverän-derbar. Sehr anschaulich kann man dies gerade bei Menschen zeigen, die sich im „falschen“ Körper fühlen: Selbst robuste biologische Gegebenheiten (etwa in Form des Phänotyps der äußeren und inneren Geschlechtsmerkmale, der hor-monellen oder genetischen Ausstattung) können diese Empfindung transidenter Menschen nicht konterkarieren. Dies kann zu einem dermaßen großen Leidens-druck führen, dass ein Leben in dem Geschlecht angestrebt wird, als das man sich wahrnimmt – und eben nicht in dem Geschlecht, als das man durch seine Umgebung „gelesen“ wird.

Auch die sexuelle Orientierung ist kaum veränderbar. Ob ich mich etwa als he-terosexuell, homosexuell oder bisexuell empfinde, obliegt nicht meiner Entschei-dung, sondern ist mir unveränderbar eingeschrieben. Zahlreiche „therapeutische“ Versuche, homosexuelle Menschen zu heterosexuellen umzuerziehen und die teil-weise tragischen Ergebnisse solcher „Bemühungen“ tragen Zeugnis von der Aus-sichtslosigkeit dieser Verfahren.29

Wenn man mit der eigenen Sexualität in Konflikt steht, sich diese aber als un-veränderbar darstellt, kann sich Sexualität als Grenzsituation erweisen. Hier bietet sich allerdings eine sehr große Chance, die eigene Existenz zu er- und begreifen. Sich etwa selbst mit seiner Transidentität zu versöhnen oder sich zu seiner Homo- oder Bisexualität zu bekennen, sind unabdingbare Voraussetzungen dafür, ein sexuell selbstbestimmtes und erfülltes Leben zu führen. Ein Vollzug der Grenz-situation hat hierbei auch hohe ethische Relevanz: Es geht nicht nur darum, tole-rant gegenüber verschiedenen anderen sexuellen Realitäten zu sein, sondern auch darum, sowohl Freiheiten als auch Grenzen von Sexualität zu respektieren und, wenn nötig, juristisch einzufordern. 3.3 Unverfügbarkeit

Sexualität ist gegeben, sie ist unveränderbar, sie ist darüber hinaus aber auch un- verfügbar . Die nur eingeschränkte Steuerbarkeit von Sexualität entfaltet sich in vielerlei Kontexten.

So liegt es nicht vollkommen in der Hand eines einzelnen Menschen, ob eine erotische Situation auftritt oder nicht. Sie ist von Umgebungsvariablen und ins-besondere von anderen Menschen ebenso abhängig wie von der eigenen sexuellen Gestimmtheit, welche sich ebenfalls als nur bedingt kontrollierbar darstellt. Wer hat noch nicht erlebt, dass eine zwischenmenschliche Situation sich unvermittelt erotisch auflädt, ohne dass dies geplant oder gar beabsichtigt gewesen wäre? Wer kennt es nicht, dass man manchmal alles dafür tun kann, um eine erotische At-mosphäre zu schaffen, und man scheitert dennoch kläglich? Sexualität entzieht sich unserer Kontrollierbarkeit, sie ist unverfügbar.

Zur Grenzsituation unter dem Aspekt der Unverfügbarkeit wird Sexualität etwa dann, wenn man gerade an der Kontrolle, am Verfügbar-Machen von Sexualität scheitert. Zu denken wäre hier etwa an Menschen, die mit einer übersteigerten oder einer defizitären sexuellen Lust zu kämpfen haben. In beiden Fällen stellt sich der Leidensdruck oft erheblich dar.30 Die Bewältigung der Grenzsituation kann hierbei eine Chance bieten, einen angemessenen Umgang mit der Ausprägung der eigenen sexuellen Lust zu finden: Erst wenn sich ein Mensch etwa nicht mehr sei-ner Hyper- oder Hyposexualität unterwirft, kann er sich über dieselbe erheben und einen neuen, stimmigeren und letztendlich befriedigenderen Umgang mit sich und seiner Sexualität finden.

Sexualität ist, so deren Verständnis nicht unangemessen verkürzt wird, ein Phäno-men, das eine Grenzsituation darstellt, wie sie von Karl Jaspers beschrieben wur-de. Sie entspricht den anderen von Jaspers beschriebenen Grenzsituationen in den Eigenschaften, die als konstitutiv für Grenzsituationen angesehen werden können. So betrifft Sexualität in den beschriebenen Dimensionen (Ich-, Du-, Wir-Dimen-sion) alle Menschen, ist ihrem gegebenen, unveränderbaren und unverfügbaren Wesen nach „ nicht überschaubar “31 und bietet als Grenze genügend Anlass zu „ra-dikale[r] Erschütterung“32. Darüber hinaus kann Sexualität, wenn als Grenzsitua-tion erkannt und angenommen, eine tiefere Seinsform möglich machen.

Aktuelle Relevanz erfahren diese anthropologischen Überlegungen zur Sexuali-tät insbesondere in Hinblick auf den damit verbundenen ethischen Impetus. Das Verstehen von Sexualität als Grenzsituation bietet die Chance, die Toleranz be-züglich unterschiedlichster sexueller Realitäten und die Offenheit sowohl für das eigene sexuelle Begehren als auch die Sexualität anderer Menschen zu vertiefen.

Unabdingbar ist eine solche tolerante, akzeptierende und offene Haltung, wenn anderen Menschen etwa in sexualtherapeutischem Kontext begegnet wird – somit wächst Sexualität als Grenzsituation verstanden eine unmittelbare praktisch-therapeutische Tragweite zu, die weit über steril anmutende theoreti-sche Überlegungen hinausgeht. Es gilt für die Sexualität wie eben auch für die anderen Grenzsituationen: „Was der Mensch eigentlich ist und werden kann, hat seinen letzten Ursprung in der Erfahrung, Aneignung und Überwindung der Grenzsituation […].“33

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Manuela P. Gaßner
Solidarität mit Bäumen: Hyperion, Luna und die Wälder unseres Planeten

Seit 1990 gingen laut FAO 420 Millionen Hektar Wald verloren,5 eine Fläche, die der halben Größe Brasiliens entspricht.Auch auf der jüngsten UN-Klimakon-ferenz in Glasgow wurde die Brisanz der Entwaldung thematisiert, „[w]e therefore commit to working collectively to halt and reverse forest loss and land degradation by 2030 while delivering sustainable development and promoting an inclusive ru-ral transformation“6.

Wie können wir die grenzenlose Zerstörung der Wälder verhindern und damit unsere globale Zukunft positiv gestalten? Im Folgenden möchte ich versuchen, das bisherige semantische Verständnis von pathozentrischer Solidarität für leidfähi-ge Lebewesen zu entgrenzen und auf Bäume und Wälder zu einer zusätzlichen arborealen Solidarität erweitern. Solidarität setzt eine Ich-Du-Beziehung voraus. Deshalb orientiere ich mich an Martin Bubers Wortpaaren Ich-Es und Ich-Du, denn „[d]ie Welt als Erfahrung gehört dem Grundwort Ich-Es zu. Das Grund-wort Ich-Du stiftet die Welt der Beziehung.“7 Hierbei gehe ich auf Ursachen der (1) Ich-Es-Beziehung und (2) Ich-Du-Beziehung ein und reflektiere (3) die Es-Du-Ambivalenz zwischen Mensch und Baum. Um gut zu (über-)leben, müssen wir Ich-Es verstehen, zum Ich-Du gelangen und dieses, in der fragilen Auslotung zwi-schen Bäume nutzen (Es) und schützen (Du) innerhalb der planetaren und sozia-len Grenzen, wiederum ins kollektive Wir transformieren. Bevor der letzte Baum gerodet ist8, werden unzählige Opfer den Weg säumen und die Lebensbedingun-gen so schlecht sein, dass wir uns selbst ausgerottet haben. 1.1 Ursachen der Ich-Es-Beziehung

Durch Verallgemeinerung, Technologisierung, räumliche Entfernung, emotionale Distanz und intransparente Wertschöpfungsketten verkümmern Natur und Lebewe-sen als ökonomische und bilanzfähige Werte bzw. Nicht-Werte zum Ressourcending, einer „antlitzlosen Nummer“9. Das beziehungslose Ich-Es entsteht aus der „naturhaften Abgehobenheit“10 und der Ab-straktion zum leblosen Objekt. Diese reduktionistische und begrenzte Sicht ist die Ursache der Zerstörung von Wäldern und Lebensräumen. 1.2 Distanz durch Ordnung Bäume stellen sich uns in ihrer ungeordneten Pluralität entgegen. Aus der Ferne ist der ortsgebundene Baum die höchste lebendige Struktur, die unsere Landschaft auf den primär vorhandenen anorganischen Gegebenheiten vertikal formt. Über den Phänotyp gelingt dank Carl von Linnés Kategorisierung11 die Zuordnung über Klasse, Ordnung, Gattung, Art und Varietät innerhalb eines hoch komplexen Evo-lutionsstammbaums. In der Linnean Society of London entmystifizierte Charles Darwin 1858 den Homo sapiens über die Evolutionstheorie und ordnete ihn eben-falls in ein Kategoriensystem ein. Retrospektiv bezeichnete Freud dies, nach der kosmologischen, als die biologische Kränkung des Menschen. Durch Sammeln, Ordnen und Systematisieren empirischer Daten taucht der Baum (und alles an-dere) ins Es ein, denn „[N]ur Es kann geordnet werden“12. Der Einzelbaum ist an-onymer Teil eines allgemeingültigen Systems und hat sich in die binäre Nomen-klatur der botanischen Taxonomie als Objekt eingegliedert. Die naturalistische Ab-straktion schritt voran vom Holzkörper, Baumaterial, Heizwert, Sauerstofflie-feranten zum CO2

-Speicher, ein abstraktes Ressourcending transformiert zu Men-ge x von Einheit y unter all den anderen Objekten, die ihr Telos in der Nützlichkeit für den Menschen haben. Die Natur wurde berechenbar, durch Naturgesetze vor-hersehbar und somit ein beherrschbarer entmystifizierter Gegenpol. Unbestreit-bar führen naturwissenschaftliche Ordnungsmöglichkeiten und -erfolge zu einem besseren deskriptiven und expliziten Verständnis der physikalischen Welt und er-weitern unseren epistemischen und lebensweltlichen Horizont. Früher unerklär-liche Phänomene, wie häufige Blitzeinschläge in Eichen, müssen heute nicht mehr mit dem Donner- und Kriegsgott Thor metaphysisch erklärt werden. Elektrische Energie entlädt sich über den kürzesten Weg (großer Baum) mit dem geringsten Widerstand (charakteristisch für Eichen). Thor ist empirisch widerlegt.13 Jedes Es hat einen begrenzten physischen oder systematischen Platz vor, hinter, über, unter oder neben etwas, dennoch ist die „geordnete Welt [ist] nicht die Weltordnung“14. 1.3 Distanz durch Technik Der sesshafte Mensch humanisiert die Natur15, indem er Wälder rodet und Platz für Felder, Straßen und Städte schafft. Die vielfältige Baum- und Holznutzung wird Grundlage der Kulturentwicklung. Durch die Verbesserung der Werkzeu-ge wurde die benötigte Körperkraft reduziert, die Arbeitsgeschwindigkeit erhöht, aber neben der haptischen Distanzierung auch die emotionale Entfremdung kata-lysiert. Wo früher die baumnahe Axt viel Schweiß erforderte, sind es heute baum-ferne Harvester, die „Es“ im Minutentakt fällen, ablängen und entasten. Zum Transport der Mengeneinheiten dienen Forwarder mit mehreren hundert Pferde-stärken. Globale und grenzüberschreitende Transportmöglichkeiten haben die Zerstörung und Ausbeutung in annähernd jeden Winkel der Erde exportiert und anonymisiert. Der Homo technicus kann sich mehr und schneller nehmen als die natürliche Erneuerung „nachliefert“. Durch räumliche, sinnliche und emotionale Distanz übt er dieses entgrenzte Nehmen aus, ohne Berücksichtigung der plane-taren und sozialen Grenzen und degradiert die Natur zur Ressource. Dabei kann „[d]ie Verengung auf den Menschen allein und als von aller übrigen Natur ver-schieden […] nur Verengung, ja Entmenschung des Menschen selbst bedeuten“16. Datenerfassung, Systematisierung, Technik und globalisierte Kommunikation sind aber auch Werkzeuge, die das Ausmaß der Zerstörung aufzeigen, Zukunfts-szenarien modellieren, Wissen vermitteln und Handlungsmöglichkeiten bereit-stellen. „Das Grundwort Ich-Es ist nicht vom Übel – wie die Materie nicht vom Übel ist. Es ist vom Übel – wie die Materie, die sich anmaßt, das Seiende zu sein.“17Die Genealogie einer Ich-Du-Beziehung entwickelt sich im Abbau von Grenzen, Mauern und Vorurteilen mit der Suche nach Gemeinsamkeiten und der emotio-nalen Integration. Dieser subjektive Handlungsvorgang baut sich auf über Zeit-lichkeit und benötigt ein Mindestmaß an Wiederholung, Dimensionalität und Intensität, um die normative Wertigkeit zu transformieren, denn Dinge sind im Raumnetz und Handlungsvorgänge im Zeitnetz verortet18. 2.1 Nähe durch Symbolhaftigkeit

Ernst Cassirer verstand den Menschen als animal symbolicum , der seine Welt durch symbolische Vermittlung erfährt. Bäume nahmen/nehmen als pluralisti-sche Symbole einen zentralen Platz ein. In der aktiven Wahrnehmung und Inter-aktion werden sie anthropomorphisiert, transformieren sich vom nebensächli-chen Objekt zum bedeutungsvollen Subjekt und Symbol für etwas . Der Baumleib ist hierbei ausschlaggebend für zahlreiche Analogien. Offensichtlich ist der Baum, wie wir, ein abgrenzbares physisches Einzelwesen, ein Solitär. Seine Existenz-spanne ist innerhalb menschlicher Generationen verortbar. Die Ähnlichkeit der oberirdischen verästelten Teile, zu einer grünen Lunge, zeigt metaphorisch un-sere konstitutive Angewiesenheit auf Photosynthese und Sauerstoffproduktion. Wälder symbolisch als die „Grünen Lungen der Welt“ zu bezeichnen macht so-wohl optisch als auch stofflich Sinn. Nicht umsonst steht die Farbe Grün, die der Mensch nicht endogen produzieren kann, für Leben und Hoffnung. Die unsicht-bare Wurzel hat häufig eine höhere Biomasse, als das oberflächlich Sichtbare, sie vernetzt sich mit der anorganischen und organischen Unterwelt und gibt bestän-dige lebenslange Orthaftigkeit. Die Wurzeln des Menschen liegen in seiner sozio-kulturellen Umgebung, sind für die Innen- und Außenwelt teilweise unsichtbar und geben einen emotional-ambivalenten Halt. Der verwurzelte Baum zieht die intensionale Aufmerksamkeit ins Hier und Jetzt – besonders, wenn man auf ihn klettert. Um sicher zu sein, muss man sich vorher verletzlich machen, denn „[m]it Schuhen und Socken zwischen meinen Füßen und den Ästen wusste ich nie genau, ob der Ast, auf dem ich stand, stark genug war und ob ich mit meinen Füßen ausreichend Halt fand“19. Für eine begrenzte Zeit verlässt man den Bo-den der Tatsachen, um dem unbegrenzten Unendlichen näher zu sein und einen partiellen Blick über „die Welt von dieser unglaublichen Perspektive“20 oder sich selbst zu erhaschen. Anders stellt sich das Klettern auf Berge dar. Auf den Dächern der Welt erfahren wir unsere eigene raumzeitliche Begrenztheit in der Reibung mit dem Anorganischen und Unbezwingbaren. Wir ziehen stets den „Kürzeren“, wenn auch mit neuen Erkenntnissen. Dieses „Kürzere“ stellt unsere fragile organi-sche Lebendigkeit, Sterblichkeit, unser Geboren-sein und Getötet-werden-können dar, was wir analog im Baum wiederfinden. Als Dorfbäume standen sie sowohl physisch als auch symbolisch im Zentrum des Zusammenlebens, dort wurde ge-sellig gefeiert und zwischen Gut und Böse unterschieden. In Kunst und Religion symbolisieren Bäume Übergänge in andere Welten wie in Alice im Wunderland, Pu der Bär, Pans Labyrinth oder Yggdrasil, dem allumfassenden Weltenbaum. Sie versinnbildlichen Emotionen; Angst im unheimlichen Grimmschen Wald, Mitge-fühl im Bodhi-Baum, Unsicherheit in Huxleys 1984, Einsamkeit bei Caspar David Friedrich, Lebendigkeit bei Gustav Klima, Liebe bei Goethe oder Beständigkeit in Vitraya Ramunong, dem Baum der Seelen der Na’vi. Bäume gelten als berühr-bare, endliche und unvollkommene Heiligtümer und/oder sind Teil der sozialen Gemeinschaft. 2.2 Nähe durch Benennung

Das Schweigen eines Baumes ermöglicht es, die individuelle sozio-kulturelle Rolle abzulegen, denn er kann nichts weitererzählen und nicht verurteilen. Die Bezie-hung ist untersprachlich „und unser Du-Sagen zu ihnen haftet an der Schwelle der Sprache“21. Die Benennung mit Eigennamen ist ein Akt des kognitiven Erkennens, der emotionalen Zuwendung, der sozialen Eingliederung und führt zu einer kon-kreten individuellen Verbindung. Aus dem aktuell höchsten Lebewesen, einem Se- quoia sempervirens (Küstenmammutbaum, 115,5 Meter) wird Hyperion, benannt nach dem griechischen Titanen, dessen Eltern Gaia (Erde) und Uranos (Himmel) sind. Methusalem heißt der älteste bekannte nicht-klonale Baum ( Pinus longaeva , Langlebige Kiefer, 4850 Jahre) und Old Tjikko der älteste klonale Baum ( Picea abies , Gemeine Fichte, 9950 Jahre). Luna, ebenfalls ein Sequoia sempervirens , wurde be-kannt durch die solidarische Handlung gegen ihre Abholzung von Julia Hill, deren kontinuierliche Baumbesetzung 738 Tage dauerte.22 Der Gigantismus dieser außer-gewöhnlichen Exemplare ist zeitlich und räumlich begrenzt von der Art, biotischen und abiotischen Faktoren und nun auch von ihrem Status innerhalb normativer Wertesysteme. Die Yanomami nennen den Amazonas-Regenwald23 urihi „a living entity, part of a complex cosmological dynamic of exchanges between humans and non-humans“24, für die kongolesischen Bayaka ist der Wald ejengi , eine Elternfigur und ein Hüter (guardian)25 und aus einem Wald zwischen Aachen und Köln wur-de über Jahrzehnte des Widerstands gegen seine Abholzung, Hambi (Hambacher Forst). Wälder haben in diesem Kontext keinen begrenzt-relationalen, sondern einen absoluten Wert, der sich auch aus dem Respekt vor dieser Lebensform ergibt. Durch Eigennamen erhalten nicht nur Superlative der Natur, sozio-ökologisch be-deutsame Wälder, sondern auch jeder andere Baum einen nicht-substituierbaren Platz. Dieser festigt sich durch eine dauerhafte Auseinandersetzung. 2.3 Nähe durch Dauerhaftigkeit

Zwei Modalitäten der Dauerhaftigkeit konstituieren eine stabile subjektive Wer-tigkeit; die immanente Beständigkeit des Baumes selbst und die emotionale Inte-gration in den Alltag. Über eine aufmerksame sinnliche Wahrnehmung erschlie-ßen sich charakteristische und ästhetische Merkmale, beispielsweise der leicht süßliche Duft von Lindenblüten, der harzig-zitronige Geschmack von jungen Tannennadeln, die glatt-fransige Haptik einer Birkenrinde oder Psithurism, das vielfältige Rauschen von Blättern im Wind.

Julia Hill „Butterfly“ empfand „[d]ie Besetzung von Luna […] von Anfang an als sinnvoll. Hier konnte [sie] etwas tun, um den Lauf der Dinge zu verän-dern“29. Nach 71 Tagen im ständigen Mangel an Ruhe, Schlaf, Nahrung, Wär-me, Erfolg, emotionaler Unterstützung und Schmerzen stellte sie sich die Fra-ge „Warum bin ich überhaupt hier?“30 Ihre Antwort war: „[W]enn wir nicht das tun, was wir sagen, dann mindert das unseren Wert als Person“31. Nach über einem Jahr hat die Zeit für Hills „sich entfaltenden Geist jede Bedeutung verloren“32, nach eineinhalb Jahren war der Baum ein Teil von ihr geworden, oder sie von ihm33 und kurz vor dem Abstieg nach 738 Tagen wird sie „die bes-te Freundin verlassen, die [sie] je hatte“34. Was würden Menschen berichten, die seit Generationen im und mit dem Wald leben? Und nicht zurück in ein altes Leben können?

Die subjektive Baumerfahrung entgrenzt das solipsistische Menschenselbst in seiner leiblichen und emotionalen Selbsterfahrung zu einem Teil des Ganzen. In der dauerhaften Resonanz mit der vertrauten Fremdheit finden wir uns selbst. In Japan wird dies als Shinrin-Yoku, Baden im Wald bezeichnet. Bei dieser Fülle an Ich-Du-Erfahrungen, stellt sich die Frage woher kommt die Gnade des Du 35? „Was ich den Bäumen zurückgebe, weiß ich nicht. Hoffentlich bekommen sie etwas zu-rück, denn Bäume gehören zu meinen engsten Freunden.“36 Was können wir den stummen Wesen zurückgeben? Eine arboreale Solidarität und unseren Schutz in Form von Stimme und Handlung gegen die unnötige Zerstörung von Leben und Lebensmöglichkeiten aus Respekt vor der Natur und um den Respekt vor uns selbst nicht zu verlieren. 3 Ambivalenz zwischen Nutzen und Erhalten

Im Es-Modus der Technik und den Naturwissenschaften werden Entitäten not-wendigerweise dekonstruiert und deren Eigenschaften als primäre Informatio-nen extrahiert. Im Du-Modus konstruiert sich das Subjekt der Solidarität durch die Vereinigung von kognitiven Informationen und emotionalen Bezügen zu einem unteilbaren und selbstzwecklichen Ganzen. Solidarität mit Bäumen ver-ändert normative Wertvorstellungen indem ihnen ein moralischer Eigenwert zukommt. Trotzdem bleibt der Baum eine nachwachsende Ressource und „[d]ie Kameradschaft, die sich über die Jahre zwischen mir und den Bäumen ent-wickelte, hindern mich nicht, sie manchmal zu Überlebenszwecken zu benut-zen“37. Wo liegt nun das nachhaltige Equilibrium? Welche Bäume und Wälder sind schützenswert und welche nicht? Wieviel und welche benötigen wir für was und warum ? Die Antworten sind weder zeitlich noch örtlich klar definiert und erfordern eine kontinuierliche dialektische Auseinandersetzung zwischen Ich, Du, Es und Wir.

Abholzung und Brandlegung lassen sich größtenteils auf ökonomische In-teressen zurückführen, bezogen auf das Material oder die Fläche. Hier muss, v.  a. im Globalen Norden, ein massives Umdenken des hedonistischen Über-konsums stattfinden. Ausverkauf, spekulative Börsengeschäfte und illegale Flächenenteignungen ( Land Grabbing ) müssen über international anerkannte In-stitutionen vertraglich verhindert und geahndet werden. Auch wenn sich Wald-flächen in Privat-, Unternehmens- oder Staatseigentum befinden, sollte der Grundsatz „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“38 implementiert werden, denn das Wohl der Allgemein-heit gedeiht nicht in der Bereicherung Einzelner, der Verletzung von Menschen-rechten und der ausbeuterisch-irreversiblen Zerstörung von Lebensräumen. Wie Hans Jonas schreibt:

Ganz konkret zeigten sich Ungerechtigkeiten und mafiöse Strukturen im erschre-ckenden Rekord von 227 Morden an Umweltschützer*innen in 2020, wobei der Sektor Holzeinschlag mit den meisten in Verbindung gebracht werden konnte.40Die Dunkelziffer ist wie so oft ungewiss. Wir müssen realisieren,

Ökonomie ist ein Mittel zur gerechten Güterverteilung über Raum und Zeit und kein Zweck an sich. Die Ökologie hingegen ist immanente Grundlage allen Lebens. Der Baum als ökologischer Wertträger „funktioniert“, wenn sich der Mensch als integraler und angewiesener Teil innerhalb des komplexen Ökosystems betrach-tet. Für eine arboreale Solidarität benötigt es zudem den sozio-kulturellen Aspekt, denn erst in dieser Betrachtung wird die instrumentelle Es-Eingrenzung durch das Entstehen einer Du-Beziehung aufgelöst. Diese solidarische Nähe kann nicht rational in Zahlen beschrieben werden, sie ordnet sich nicht in allgemeingülti-ge empirische Wahrheiten ein, sondern wird vielschichtig und subjektiv im Da-zwischen erfahren. Solidarität, als freiwilliges Gefühl der Zusammengehörigkeit, vertritt Interessen, übernimmt Verantwortung und strebt nach Gerechtigkeit. In diesem Falle für einen Baum oder ein Baumkollektiv, welcher/welches nicht Nein-sagen kann. Beim Nein-Sagen beginnt der Einsatz für den Erhalt des Baumes, des ihm innewohnenden und umgebenden Lebensraums. Für eine sozial-ökonomi-sche Transformation im Sinne der 17  Sustainable Development Goals (SDGs) muss Solidarität entgrenzt werden, um sowohl zu einer nachhaltigen Ich-Es-Be-ziehung (Nutzung), als auch Ich-Du-Beziehung (Schutz) zu gelangen, denn „[o]hne Es kann der Mensch nicht leben. Aber wer mit ihm allein lebt, ist nicht der Mensch43“. 4 Schlusswort

Die Tendenz des Menschen zur Verdinglichung und Instrumentalisierung der Natur führt, u. a. befeuert durch die Entwaldung, in einen ungebremsten an-thropogenen Klimawandel, überschreitet die planetaren Grenzen und zerstört die Grundlagen für ein gutes Leben (Planetary Health) der aktuellen und zu-künftigen menschlichen und nicht-menschlichen Generationen. Der Solidari-tätsgedanke muss heute expandierte Zeit- und Raumhorizonte erfassen, denn vor der Globalisierung war, „die wirksame Reichweite der Aktion  […] klein, die Zeitspanne für Voraussicht, Zielsetzung und Zurechenbarkeit kurz, die Kontrolle über Umstände begrenzt“44. Heute hat sich „die Beschränkung auf den unmittelbaren Umkreis der Handlungen“45 aufgelöst. Die mannigfaltigen Zerstörungsmöglichkeiten und -dimensionen erfordern neue Werte, „das heißt die Anerkennung von ‚Zwecken an sich selbst‘ über die Sphäre des Menschen hinaus auszudehnen und die Sorge dafür in den Begriff des menschlichen Guts einzubeziehen“46. Wir können die planetaren Grenzen einhalten, wenn wir vor-herrschende Paradigmen transzendieren und entgrenzen, indem „bewusstlose“ Lebewesen aktiv impliziert werden. Ein alleiniges Vertrauen auf die Technik ist auf Grund der universalen Bedeutung vitaler Bäume und Wälder für Bio-diversität, ökologische Regenerationsfähigkeit, Klimastabilität und Sauerstoff-produktion utopisch. Keine Maschine, egal wie „intelligent“ sie ist, wird den globalen Photosyntheseprozess substituieren können. Dennoch sind Ökonomie und Technik mächtige Es-Werkzeuge, die richtig genutzt Du-Beziehungen posi-tiv und fair fördern können. Ein iterativer Transformationsprozess der norma-tiven Werte, um epistemische, ökonomische und technische Errungenschaften für ein gutes Leben sinnvoll zu nutzen, ist möglich. Die Reflexion moralischer Handlungsoptionen erfordert hier unabdingbar einen interkulturellen Polylog, denn eine globale Homogenisierung auf anthropozentrische und/oder eurozen-tristische Ethik-Paradigmen gleicht einem Kahlschlag und ist ein Schritt in die Moralkolonisation. Um die Lebensgrundlage und Autonomie der Menschen zu sichern, muss juristisch ihre demokratische Partizipation bei politischen und ökonomischen Entscheidungen gesichert werden. Wenn wir kein kollektives Bewusstsein zur pluralen Wertigkeit und Selbstzwecklichkeit von Bäumen und keine intrinsische Motivation zu ihrem Schutz ausbilden, werden wir die Be-endigung der Entwaldung bis 203047 und einige der Sustainable Development Goals sowohl für den Globalen Süden als auch Norden nicht erreichen. Es wären nur leere Sätze auf einem Stück Papier, den Überresten eines Baumes. Den län-geren Atem haben Bäume, sie können auch ohne uns, aber wir nicht ohne sie. Unsere Grenzen verengen sich, wenn wir Bäume ausschließlich als Es betrachten und dehnen sich aus, wenn wir unsere Solidarität erweitern und das Du mit ihnen zelebrieren.

Mira Sopart , Fotoprojekt „exploring lost places“, Hannover-Linden, 2020.

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Viet Anh Nguyen Duc
Zur Vielseitigkeit des Lachens – Einschließen, ausschließen, Grenzen überwinden

Lachen kann viele verschiedene Bedeutungen annehmen, je nachdem, wie man lacht, mit wem man lacht und in welchen Kontexten man es tut. Stets werden dabei mehr oder minder bewusst Grenzen gesetzt, überwunden oder in Frage gestellt. Lachend gehen wir, kurz gesagt, mit Grenzen um.

Im Nachfolgenden möchte ich untersuchen, wie dies genau geschieht und wel-che Weisen des Lachens sich dabei zeigen. Der Hauptfokus liegt dabei auf drei Formen des Lachens: dem inklusiven Lachen, dem gewaltsamen-ausschließenden Auslachen und dem Lachen über sich selbst. Während die ersten beiden Formen des Lachens als Alltagsphänomene in den Blick kommen, so wird die letztere Form des Lachens – das Lachen über sich selbst – in Auseinandersetzung mit Nietzsche als ein philosophisches Motiv entfaltet, nämlich als eine reflexive Grenzfigur, die selbst-ironisch an die konstitutiven Selbstbegrenzungen erinnert: Erst ein solcher Akt des Lachens erlaubt es nämlich, erfolgreich die eigenen Grenzen zu überwin-den, um somit offener für andere Perspektiven zu werden. 1 Entgrenzendes Lachen: Wohlfühlen, miteinander lachen, Grenzen überwinden

Im Lachen kommt, wie sich auf den ersten Blick wohl sagen ließe, ein positives Verhältnis zur Grenze zum Ausdruck. Lachend teilen wir Anderen unsere Freu-de und unser Wohlbefinden mit und dies innerhalb gegebener Grenzen, etwa in der Familie, unter Freunden, Bekannten etc. Wenn wir lachen, scheint sich die Situation, die vorher womöglich noch angespannt, vielleicht sogar etwas feind-selig gewirkt haben mag, zu lockern, die Atmosphäre wird leicht schwebend und angenehm. Man könnte auch sagen, dass man beim Lachen aufhört, die Grenzen

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zu spüren, die einen womöglich belasten; ja Verpflichtungen, Ängste oder sonstige Reglementierungen des Alltags treten in den Hintergrund.

Auch fremde Personen verlieren etwas von ihrer Fremdheit, sobald wir mit ihnen gemeinsam lachen, sie erscheinen dann schon in einem sehr viel sympa-thischeren, vertrauenswürdigeren Licht; in dieser Hinsicht ließe sich das Lachen auch als eine spezifische Form begreifen, Grenzen zu überwinden, da sie eben so etwas wie Gemeinsamkeit stiftet, obwohl es vielleicht gar nicht allzu viel Gemein-sames gibt. Manchmal kann lachen auch ansteckend sein; so lacht jemand einfach mit, selbst dann, wenn der Grund, weshalb gelacht wird, nicht ganz klar ist. „Eine Person“, so beschreibt es Ágnes Heller, „die andere gut zum Lachen bringen kann, ist wie jemand, der ein brennendes Streichholz in einen Heuhaufen wirft.“1 Das Lachen kann auch etwas Eruptives haben und nicht ganz zufällig sprechen wir ge-legentlich davon, dass jemand in ein Lachen ausgebrochen sei, also sich vor lauter Lachen gar nicht mehr zurückhalten kann.

Weil Lachen etwas Verbindendes hat, spielt es häufig auch in geschäftlichen oder diplomatischen Kontexten eine wichtige Rolle. Man erzählt sich einen Witz oder macht eine amüsante Bemerkung, um z. B. die geschäftliche Atmosphäre aufzulo-ckern. Auch hier kann das gemeinsame Lachen dazu helfen, Misstrauen abzubau-en und somit zwischenmenschliche Hürden zu überwinden. In dieser Funktion liegt dann auch der Symbolgehalt des Lachens begründet, denn was das Lachen im positiven Sinne bewirken kann, symbolisiert es auch. Das hat zur Folge, dass in manchen Fällen vor allem aufgrund des Symbolgehalts des Lachens gelacht wird. So präsentieren sich Diplomat*innen gelegentlich auch lachend vor der Öffentlich-keit bzw. vor den Kameras, jedenfalls wenn es darum geht, Offenheit, Vertrauen und vielleicht auch Freude zum Ausdruck zu bringen; hier spielt der konkrete An-lass wie etwa der eines Witzes eine untergeordnete Rolle, denn man würde wo-möglich auch lachen, wenn man den Witz nicht als lustig empfinden würde. „Der Lachende ist zur Welt geöffnet“, schreibt Helmuth Plessner und man kann, um am Beispiel der lachenden Diplomat*innen zu bleiben, hinzufügen, dass der „La-chende“ sich auch seinen Mitmenschen öffnet.2 Zumindest bringt dies die Geste des Miteinander-Lachens zum Ausdruck, denn inwiefern die Lachenden wirklich für einander offen sind, lässt sich allein an dem Umstand, dass zusammen gelacht wird, noch nicht ausmachen. Das Lachen signalisiert nur die Offenheit, garantiert sie aber nicht. 2 Ausgrenzendes Lachen: Ausschließen, verletzen, Grenzen ziehen

Sicherlich ließe sich auch behaupten, dass lachend nicht nur Grenzen überwun-den, sondern dass gewisse Grenzen situativ neu definiert werden. Denn es ist ja keineswegs so, als wären alle Grenzen aufgehoben, nachdem man zusammen ge-lacht hat, vielmehr begegnet man sich schon in einer anderen Weise, vielleicht etwas freundlicher, aufgeschlossener oder gar herzlicher. Möglicherweise werden nun auch Dinge sagbar, die man sich vorher nicht gesagt hätte, weil man gewisse Grenzen des Nichtsagbaren nicht mehr spürt, diese Grenzen sich also durch das gemeinsame Lachen aufgelockert haben. Gerade, wenn man in einen ironischen Modus des Miteinandersprechens kommt, erzählt man sich – vielleicht auch um der lustigen Stimmung willen – alberne Dinge, die die andere Person dann amü-sieren oder ganz im Gegenteil vielleicht auch entsetzen kann. Trifft letzteres zu, so werden wieder neue Grenzen gesetzt, Grenzen, die es nun zu wahren gilt, viel-leicht, weil man mit seiner ironischen Bemerkung die Werte des Anderen verletzt oder in Frage gestellt hat. Damit wären dann auch schon die negativen Kontexte angedeutet, in denen das Lachen ebenfalls stattfinden kann. Lachend kann man sich auch über Grenzen hinwegsetzen, die eigentlich eingehalten werden sollten, weil sie eben erst ein gutes Miteinander ermöglichen.

Worin diese Grenzen bestehen, ist allerdings von Fall zu Fall, von Person zu Per-son verschieden: Hierfür braucht man einen gewissen Feinsinn, um die Grenzen richtig einschätzen zu können, d. h. ab wann eine Person etwas nicht mehr lustig, unangebracht oder gar verletzend findet. Manche Leute finden politisch inkorrek-te Witze lustig, die etwa auf der Diskriminierung von ethnischen Minderheiten, Frauen, Homosexuellen, Menschen mit Behinderung beruhen, im Wissen darum, dass sie eigentlich inkorrekt sind; andere wiederum verurteilen solche Witze und verweigern dann das gemeinsame Lachen, weil sie damit deutlich machen wollen, dass hierin keine Gemeinsamkeit besteht. Stets ist das Lachen auch an moralische

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Schranken gebunden; überschreitet man diese, so kann dies zu Empörung führen, wie etwa im Fall Armin Laschets, der während Frank-Walter Steinmeiers Rede über die Flut-Opfer im Juli 2021 ausgelassen lachte, und sich in der Folge genötigt sah, hierzu öffentlich Stellung zu nehmen.3

Zweifellos gibt es auch Situationen, in denen das Lachen ganz bewusst darauf abzielt, andere Personen zu kränken oder zu verletzen. Das Lachen kann dann schnell zum Ausdruck von Feindseligkeit, Schadenfreude, Ressentiment, Ver-achtung, Neid oder Zorn werden.4 So sucht eine Person oder Gruppe eine andere durch hämisches, spottendes oder verhöhnendes Lachen zu demütigen; es wird dann wie eine Waffe gebraucht. Man denke etwa an ein Kind, das von anderen Kindern gemobbt wird oder an einen Schwarzen Fußballspieler, der vom Publi-kum aus rassistischen Motiven verhöhnt wird, etwa, indem ihm das Publikum lachend eine Banane vor die Füße wirft. Auch hier wird viel Lachen im Spiel sein, aber es ist dann kein inklusives, herzliches Lachen, sondern ein ausschließendes, gewaltsames Auslachen. Auch solches Lachen kann Gemeinsamkeit stiften, wenn-gleich eine durch und durch zerstörerische, primär auf Ausgrenzung beruhende Gemeinsamkeit.

Natürlich muss es nicht immer zwingend um der Ausgrenzung willen gesche-hen, wenn in einer Weise gelacht wird, bei dem nur ausgewählte Personen daran teilhaben können. So kann es beispielsweise auch sein, dass in einer Gruppe über einen Insider Joke gelacht wird, den eine andere Person nicht versteht. Hierbei muss gar nicht die Absicht bestehen, dass man sich von jener Person, die nicht mitlachen kann, abgrenzen möchte. Obwohl beim Lachen die soziale Zugehörig-keit immer eine Rolle spielt, geht es beim Lachen nicht immer um das Markieren von Gruppenzugehörigkeit, wie es etwa beim Auslachen der Fall ist. Beim Lachen spielt sich oft Vieles nebenbei ab, ohne dass damit etwas unmittelbar bewirkt wer-den soll.

Überhaupt scheint das Lachen über sich selbst eine ganz besondere Form zu sein, mit Grenzen umzugehen, die sich auch qualitativ von den anderen Formen des Lachens abhebt, da sich das Lachen hierbei nicht bloß auf einen Gegenstand, Sach-verhalt oder auf Personen, sondern auf sich selbst richtet. Die lachende Person tritt demnach in ein Verhältnis zu sich, aber dies in einer nicht ganz ernsten Weise. Man könnte demnach von einem freieren Umgang mit sich selbst sprechen, denn wer über sich selbst lachen kann, muss sich selbst nichts vormachen, da man kein allzu eitles Selbstbild haben kann.

Friedrich Nietzsche hat aus dem Phänomen des Über-sich-selbst-Lachens ein interessantes philosophisches Motiv gemacht, indem er es mit seiner prominen-teren Denkfigur der Selbstüberwindung verband. Der Kerngedanke ist auch hier, dass wer über sich selbst lachen kann, im Grunde genommen einen souveränen Umgang mit sich hat, insofern diese Person auch die Beschränktheit der eigenen Perspektive berücksichtigen kann; eben diese Einstellung macht dann offener für neue Perspektiven und Erkenntnisse. Diese philosophische Überlegung möchte ich nachfolgend im Anschluss an Nietzsches Auseinandersetzung mit der The-matik des Lachens entfalten. Als Ausgangspunkt hierfür eignet sich Nietzsches Motto zur Fröhlichen Wissenschaft, das er noch seiner Vorrede des gleichnamigen Buchs vorangestellt hat und den Titel Über meiner Haustür trägt. Dieses Motto lautet: „Ich wohne in meinem eignen Haus, / Hab niemandem nie nichts nach-gemacht/ Und – lachte noch jeden Meister aus, / Der nicht sich selber ausgelacht.“5

Das Motto hat einen beiläufigen, spielerischen Charakter und verschafft seiner Fröhlichen Wissenschaft eine Leichtigkeit, die schnell darüber hinwegtäuschen kann, dass hierin einer seiner leitenden Gedanken im Kontext seiner religions- und systemkritischen Philosophie zum Ausdruck gebracht wird. Zunächst ein-mal erhält das Motiv des Über-Sich-Selbst-Lachens eine positive Konnotation, denn offenkundig nimmt das Subjekt des Mottos nur all jene ernst, die auch in der Lage sind, über sich selbst zu lachen. Sodann lacht es gewissermaßen auch über sich selbst, denn die tendenziell pathetische Aussage, dass es in seinem „eig-nen Haus“ wohnt, was auf philosophische Kontexte übertragen auch als System bzw. Gedankengebäude aufgefasst werden kann, wird subversiv durch den darauf folgenden selbstironischen Satz, dass das Subjekt „niemandem nie nichts nach-gemacht“ hätte ins Lächerliche gezogen. Der Satz enthält eine absurde doppelte Verneinung und hat die inhaltliche Pointe, dass es geradezu unmöglich ist, nichts nachzumachen. Demnach ist es – so ließe sich das Motto weiter interpretieren – auch nicht möglich, ein völlig eigenes „Hause“ aufzubauen, da ja aufgrund dieser Nachahmung das Eigene immer von ‚Fremden‘ durchsetzt ist. Der eigene An-spruch auf Originalität, den womöglich Personen vertreten, die sich als „Meister“ verstehen, erweist sich demnach als geradezu dogmatisch und darum lächerlich, da dieser Anspruch eben die Tatsache vergessen macht, dass es unmöglich ist, ganz aus eigener Kraft etwas zu schöpfen. Die wahren Meister – so ließe sich die Lehre dieses Mottos dechiffrieren – sind also jene, die zwar von dem Willen an-getrieben sind, ein „eignes Haus“ bzw. System oder Werk zu schaffen, aber gleich-zeitig um die Vergeblichkeit des Gelingens solcher Ambitionen wissen – gerade dieses ironische Bewusstsein ermöglicht es ihnen, über sich selbst zu lachen. Was das Motto zum Ausdruck bringt, ist demnach eine Wertschätzung jener selbstiro-nischen Haltung, dass man auch über sich selbst lachen kann.

Bezeichnenderweise kommt Nietzsche dann direkt im ersten Aphorismus des ersten Buches nochmal auf das Motiv zurück. Dort erlangt es einen noch ausge-prägteren philosophischen Sinn, insofern es nun von Nietzsche in einen unmittel-baren Zusammenhang mit dem Wahrheitsbegriff bzw. den des „Wahrheitssinns“ und der „Weisheit“ gebracht wird; – so schreibt er:

Die Passage bedarf einiger Erläuterung. Die „Zeit“, die Nietzsche im Blick hat, begreift er als „Tragödie“, weil ihm zufolge das Leben unter der Herrschaft der platonisch-christlichen Metaphysik verneint wird; denn diese strebt das Ewige und Jenseitge als das Wahre an und verdammt das Vergängliche, d. h. Irdische als das Unwahre. Eine solche vergeistigte Denkweise nimmt das Leben selbst nämlich Nietzsche zufolge als allzu tragisch und verleiht ihm eine Schwere, von der sich Nietzsche befreien möch-te. Die prominente Formel der „Umwertung aller Werte“, die Nietzsche in diversen Schriften immer wieder heraufbeschwört, zielt genau auf diesen Zusammenhang der Selbstermächtigung des Lebens ab; in diese Programmatik reihen sich auch die oben erwähnten Titelworte „Komödie des Daseins“, „fröhliche Wissenschaft“ ein. Das gilt nun auch für das Motiv des Lachens; denn nicht nur kündigt sich hierin eine Bejahung des Hier- und Jetztseins an, auch kommt der Leib auf seine Kosten; er wird bejaht. Denn lachend triumphiert der Leib gewissermaßen über den Geist durch seine eigene wohltuende Evidenz – auch der Leib hat seine eigene Wahrheit.

Was die Rede von dem Über-sich-selbst-Lachen betrifft, so lässt diese sich eben-falls vor dem Hintergrund von Nietzsches Metaphysik bzw. Religionskritik erläu-tern. Weil die metaphysischen bzw. religiösen Denkweisen für sich jeweils eine spezifische Sicht auf die Welt als wahr beanspruchen und sich infolge dessen auch ernstnehmen müssen, sind sie nicht im Stande, sich selbst zu hinterfragen und damit eben auch die Bedürfnisse und Ängste offenzulegen, die eben hinter die-sen Konstruktionen stehen. Genau dies ist aber Nietzsches Wahrheitssinn nach dem, was erkannt werden müsste. Denn die „Komödie des Daseins“ besteht nach Nietzsche darin, dass es eben nicht die letzte Wahrheit gibt im Sinne einer einzig richtigen Perspektive auf die Welt, sondern, dass diese immer neu gestiftet wird. Die komödiantische Pointe seiner Philosophie besteht demnach darin, dass wir dazu tendieren, uns eine Instanz auszudenken, die uns vorgibt, wie wir die Welt zu sehen haben, und so tun, als wären wir daran gar nicht beteiligt gewesen. Genau das ist aber ein lächerlicher Akt, eine Angelegenheit, über die man eigentlich zu lachen hätte. Der Mensch ist im Grunde genommen frei und kann sich stets zu seinen Perspektiven – die ihn auch gefangen nehmen können, wie es Nietzsche zufolge etwa die platonisch-christliche Metaphysik tut – verhalten, die sich selbst vor dem Hintergrund anderer möglicher Perspektiven relativieren. Ist man in der Lage, über sich selbst zu lachen, so ist man auch in der Lage, eben die Begrenztheit seiner eigenen Perspektive zu erkennen: Genau das macht einen offen und emp-fänglich für andere Perspektiven. So kann man die eigenen Grenzen überwinden, die man sich auferlegt hat. Genau darin sieht Nietzsche den „Wahrheitssinn“ des Lachens bzw. des Lachens-Über-Sich-Selbst: Hierin drückt sich, kurzum, ein Be-wusstsein der eigenen Begrenzungen aus, die man gleichzeitig durch das Lachen transzendiert, um eben damit zu einer neuen Festlegung seiner selbst und damit auch seiner eigenen neuen Grenzen zu kommen.

Inwiefern diese Figur des Über-Sich-Selbst-Lachen-Könnens mit einer offenen Lebenseinstellung einhergeht, ließe sich wohl auch am Phänomen der politischen Satire und der politisch konnotierten Memes demonstrieren. So sind politische Satiren und Memes, die sich gelegentlich auch auf sehr alberne Weise über Polik-ter*innen lustig machen können, in demokratischen Gesellschaften nicht nur er-laubt, viel mehr sind sie selbstverständlich und man könnte auch sagen, ein Kenn-zeichen eben jener demokratischen Gesellschaften.7 Anders hingegen verhält es sich in autoritären Regimen, in denen satirische Darstellungen von führenden Poli-tiker*innen je nachdem, ob sie der politischen Führung nun missfallen oder nicht, verfolgt und bestraft werden können. Man denke hierbei etwa an die verschiedenen Memes über Xi Jinping, in denen er mit Winnie Puuh verglichen wurde. Dieser recht alberne Vergleich hatte zur Folge, dass die chinesische Zensurbehörde diese Disney-Figur aus dem für die chinesische Bevölkerung zugänglichen Internet ver-bannte.8 Hier wird dann eine bedrohliche Grenze offenkundig, die eben satirische bzw. subversive Perspektiven unterbindet, um einen gewissen autoritären, bitteren Ernst zu wahren, der keine Infragestellung duldet. Aber auch an solchen autoritä-ren Maßnahmen macht das Lachen nicht halt, auch hier kann, – vielleicht – muss gelacht werden, um sich von der Autorität nicht ganz einnehmen zu lassen, um ge-wissermaßen selbst eine Grenze zu ziehen, zwischen Öffentlichem und Privatem.9Lachend werden Grenzen überwunden, neu verhandelt, affirmiert oder hin-terfragt. Beim Lachen wird hörbar, wer dazu gehört bzw. mitlachen kann und wer nicht, über was gelacht werden darf und über was nicht. Oft geht es hierbei um soziale Zugehörigkeit, um das Einhalten von Konventionen, Normen und Erwartungen, die man gegenseitig hegt, manchmal geht es aber auch darum, sich bewusst davon abzugrenzen. Nicht immer lacht man aus Freude, hin und wieder kommt es vor, dass gelacht wird, um anderen zu schaden, oder sie gar auszuschließen.

Eine besondere Form des Lachens ist das Lachen über sich selbst: Denn wer über sich selbst lachen kann, nimmt sich selbst nicht allzu ernst und ist in diesem Sinne auch in der Lage, seinen eigenen Standpunkt zu verlassen: Man muss ihn dann nicht bis zum Äußersten verteidigen, so als befürchte man, sein Gesicht zu ver-lieren. Nietzsche hat das Motiv des Über-Sich-Selbst-Lachen-Könnens zum Motto seiner Fröhlichen Wissenschaft gemacht: Denn eben ein solches fröhliches Über-Sich-Selbst-Lachen stiftet erst dazu an, die eigene Perspektive zu überwinden und sich gewissermaßen experimentell auf neue Perspektiven einzulassen. Lachen wird so zum Ausdruck von Freiheit, einer Freiheit, die sich gewissermaßen im selbstironischen Akt der Aufhebung eigener Begrenzungen realisiert.

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Gottfried Schweiger
Kritik der Entgrenzung von Arbeit und Leben. Oder: warum das gute Leben Grenzen braucht

1 Einleitung Seit mehreren Jahren wird die Entgrenzung von Arbeit und Leben in den Sozial-wissenschaften kritisch diskutiert.1 Die Erfahrungen der COVID-19 Pandemie haben der Flexibilisierung von Arbeitsort und Arbeitszeit noch stärkeren Antrieb gegeben.2 Das Home-Office ist gekommen, um zu bleiben. Entgrenzung vollzieht sich nicht nur als Vorgabe von „oben“, sondern auch im Paradigma der Selbst-bestimmung und des Freiheitgewinns, gerade unter hochgebildeten Arbeitneh-mer*innen wie Akademiker*innen. Der Übergriff der Arbeit in den privaten Raum und die private Zeit – die beiden wesentlichen Modi der Entgrenzung – birgt viele Risiken, die zwar massenhaft auftreten, aber doch in der Leistungsgesellschaft in-dividualisiert werden. Es ist daher nötig, die Grenze zwischen Arbeit und Leben wieder zu ziehen und bewusst zu machen, wo sie verschwindet und warum. Das gute Leben ist davor zu bewahren, in der Idealisierung einer Selbstverwirklichung in der Arbeit aufzugehen.

In diesem kurzen Essay wird eine Kritik der Entgrenzung vorgelegt. Im ers-ten Abschnitt werden Begriff, Motive und Folgen der Entgrenzung entwickelt. Im zweiten Abschnitt werden dann unter Rückgriff auf eine Sozialphilosophie der Anerkennung zwei Formen der Kritik vorgebracht: auf der einen Seite wird Ent-grenzung auf ihrer materiellen Ebene, als Übergriff in den Ort und die Zeit des Privaten kritisiert. Auf der anderen Seite wird Entgrenzung auf ihrer diskursiv-ideologischen Ebene, als Übergriff auf die Authentizität und Selbstverwirklichung kritisiert. Entgrenzung vollzieht sich nämlich auch in dem Modus der Ideologie, die sie als „normal“ und sogar „positiv“ und Teil eines guten Lebens propagiert. Im dritten und letzten Abschnitt wird die Notwendigkeit der Grenzziehung noch-mals herausgearbeitet, die zu einem guten Leben wesentlich dazugehört und be-tont, dass es kollektive Praktiken braucht, um das Individuum vor der Entgren-zung zu schützen. 2 Entgrenzung von Arbeit und Leben

Entgrenzung von Arbeit und Leben beschreibt den Prozess der Verschiebung, Auf-hebung und Unkenntlichmachung der Grenzen von Erwerbsarbeit und Privatle-ben. Mit Blick auf die historische Entwicklung der Erwerbsarbeit und ihr Verhält-nis zum Privatleben ist die Entgrenzung eine Regression. Die klare Abgrenzung zwischen Erwerbsarbeit und Privatleben vollzog sich erst im Laufe der Industriali-sierung, die die Basis für die Entstehung der Dienstleistungsgesellschaft bereitstell-te, welche heute noch die bestimmenden Formen der Erwerbsarbeit in modernen Gesellschaften darstellt. Während in den früheren Formen der agrarischen Sub-sistenzwirtschaft Arbeit und Leben unmittelbar miteinander verbunden waren, ermöglichte die Industrialisierung die Trennung dieser beiden Sphären. Diese Trennung erfolgte sowohl in räumlicher als auch zeitlicher Hinsicht: Arbeits- und Wohnort, Arbeits- und Freizeit. Damit einher ging auch eine soziale Trennung und die Überformung bzw. Stabilisierung dieser Trennung und die sie sichernden Grenzen durch rechtliche Regulierung und soziale Konventionen. Erwerbsarbeit und Privatleben bilden die wichtigsten Bühnen für soziale Rollen, die der moderne Mensch in seinem Leben – für sich und für andere – einnimmt.3 Die Freizeit wur-de zum zentralen Ort des Konsums von Gütern und Dienstleistungen. Das Verhältnis zwischen Erwerbsarbeit und Privatleben ist seit jeher von Konflikten und Übergriffen geprägt. Das Mehr an Freizeit, welches durch Arbeitszeitverkür-zungen gegen die Interessen der Industrie durchgesetzt wurde und das Mehr an Lohn, welches die Ausweitung des Konsums auf die Masse ermöglichte, sind das Resultat von gewerkschaftlichen Kämpfen ebenso wie von Kompromissen und ge-setzlicher Regulierung zur Befriedung der sozialen Frage. Nicht unerwähnt bleiben soll hier, dass die Grenzziehung zwischen Erwerbsarbeit und Privatleben zunächst und bis vor wenigen Jahrzehnten stark männlich dominiert war, weil Frauen aus einigen Bereichen der Erwerbsarbeit ausgeschlossen waren und mit Ausnahme der niedrigeren sozialen Schichten ihre Beteiligung an der Erwerbsarbeit als un-angemessen galt. Die Fürsorge- und Reproduktionsarbeit, die auch heute noch vor allem von Frauen geleistet wird, wird noch immer dem Bereich des Privatlebens zugeordnet.4

Die Grenzziehung zwischen Erwerbsarbeit und Leben vollzog sich auch in der Strukturierung von Lebensphasen – was man Normalbiographie nennen kann5 –, also die Etablierung einer Phase vor der Erwerbsarbeit, die durch ausgedehnte Schulzeiten und die Öffnung des Studiums für mehr Menschen immer länger wurde, und die Eta-blierung einer Phase nach der Erwerbsarbeit, also die Rente oder Pension, die vor allem in den letzten Jahrzenten durch die gestiegene Lebenserwartung und den besseren Ge-sundheitszustand älterer Menschen immer mehr an Bedeutung gewinnt. Idealtypisch ist die Phase der Kindheit und Jugend, die Vorbereitung auf die Erwerbsarbeit durch Schule und Reifung und die Phase des höheren Alters als die Phase des Genusses des wohlverdienten Ruhestandes nach einem Erwachsenenleben der Erwerbsarbeit.

Die Trennung von Erwerbsarbeit und Privatleben ist ein wesentlicher Impuls für die Privatisierung des Lebensglücks: zwar wurde die Erwerbsarbeit früh als ein wesentlicher Faktor für ein gutes Leben, für Selbstwert, Authentizität und Selbstverwirklichung erkannt6, aber dennoch war es vor allem das Privatleben, in dem der moderne Mensch er oder sie selbst sein kann und sein soll. Der Konsum ermöglicht das Erkaufen von Freude durch Dinge und Dienstleistungen, die das Leben lebenswert machen und für die es sich zu arbeiten lohnt. Die Freisetzung von räumlichen und zeitlichen Ressourcen, die nicht für Erwerbsarbeit genutzt werden müssen, machen das moderne Streben nach Glück möglich. Die Frage, was will ich mit meinem Leben außerhalb der Erwerbsarbeit tun, wird zentral für viele Menschen. Die Leistbarkeit von immer mehr materiellen und immateriellen Gütern und Dienstleistungen verstärkt diese Frage nochmals drastisch. Eine Ent-wicklung, die spätestens seit den 1970er Jahren auch heftig kritisiert wurde7, unter anderem, weil sie zwischenmenschliche Beziehungen und das Selbstverhältnis des Menschen verdinglicht und zu Entfremdungserfahrungen führen kann. Auch in diesem Bereich kommt es also zu einer Form der Entgrenzung – dem Übergriff der Warenförmigkeit auf alle Bereiche des Lebens und der Identität selbst.

Die Entgrenzung von Erwerbsarbeit und Privatleben beschreibt nun die partielle Rückführung dieser Trennung, aber natürlich unter gänzlich anderen Vorzeichen als in der vorindustriellen Zeit. Erstens ist die Entgrenzung heute vor allem auch angetrieben durch die technischen Möglichkeiten. Mobiles Arbeiten an allen mög-lichen Orten und zu allen möglichen Zeiten ist ein wesentlicher Faktor dafür, dass Menschen in der Freizeit arbeiten oder die Grenze zwischen Freizeit und Arbeits-zeit sowie zwischen Privatraum und Arbeitsort verschwimmen.8 Natürlich ist diese Form der Entgrenzung nicht für alle Formen der Erwerbsarbeit möglich, da In-dustrie und Handwerk aber auch einige Dienstleistungen wie der Handel die un-mittelbare Anwesenheit der Arbeitnehmerin am Arbeitsort verlangen. Zweitens ist die Entgrenzung von Erwerbsarbeit und Privatleben angetrieben durch kulturelle, soziale und rechtliche Prozesse und Veränderungen. Es sind Erwartungshaltungen durch die Unternehmen und Vorgesetzten ebenso anzutreffen wie Erwartungshal-tungen der Arbeitnehmer*innen, die eine flexiblere Zeit- und Ortordnung ihrer Erwerbsarbeit einfordern. Das heißt auch, dass einige Formen der Entgrenzung durchaus als Privilegien anzusehen sind, die von besser gestellten Arbeitneh-mer*innen durch ihre (individuelle oder kollektive) Verhandlungsmacht durchge-setzt wurden. Die rechtliche Deregulierung, z. B. die Ausweitung der Selbststän-digkeit auf Ein-Personen-Unternehmen, die de facto früher normale Angestellte waren, oder die Etablierung von all-in-Verträgen rahmen und ermöglichen Ent-grenzung.9 Drittens stellen die heutigen Prozesse der Entgrenzung die hohe Be-deutung der Konsum- und Erlebnisgesellschaft, die auf das Privatleben fokussiert, keineswegs in Frage, obwohl es in manchen Bereichen zu einer Entgrenzung des Konsums kommt – Privatnutzung von technischen Geräten, der Besuch von Ver-anstaltungen in der Freizeit zur Akquise von Kund*innen und zur Vernetzung mit Geschäftspartner*innen usw. Viertens ist eine Entwicklung der letzten Jahrzehnte eine beständige Aufwertung der Bedeutsamkeit der Erwerbsarbeit für ein gutes Le-ben und für das Selbst. Erwerbsarbeit soll nicht nur das Einkommen für ein gutes (privates) Leben bereitstellen, in dem man sich dann durch Konsum selbstverwirk-licht, sondern die Erwerbsarbeit soll selbst als wertvoll, erfüllend, identitätsstiftend erfahren werden. Das ist, wie schon erwähnt, keineswegs neu, da so etwas wie Stolz und Berufsethos schon lange eng mit Erwerbsarbeit verbunden waren, aber die Su-che nach Sinn und Authentizität hat sich durch die Ausweitung der privaten und beruflichen Optionen verändert. Man kann hier auch auf die Prozesse der Indivi-dualisierung verweisen10, die das Selbst immer stärker zu einem Projekt der Einzel-nen gemacht und aus den kollektiven Orientierungsmustern weggeführt hat, die lange Zeit Berufe und Professionen geprägt haben.

Der Prozess der Entgrenzung gefährdet die Möglichkeiten eines guten Lebens. Diese These ließe sich psychologisch verstehen, also so, dass Menschen, die unter Bedingungen der Entgrenzung arbeiten und leben, sich schlecht dabei fühlen, gestresst, ausgepowert oder unter größerem Druck. Es gibt in der empirischen Forschung Belege dafür, dass Entgrenzung diese Folgen – z. B. Burnout – haben kann, abgefedert durch einige individuelle, organisationale oder soziale Resilienz-faktoren.11 Aus guten Gründen sollte die psychologische Kritik aber nicht überbe-wertet oder als einzige Methode herangezogen werden. Das gute Leben kann auch dann in Gefahr sein, wenn die betroffenen Menschen sich dessen nicht bewusst sind oder jene Prozesse, die hier kritisiert werden, selbst suchen und forcieren. Die Bildung adaptiver Präferenzen12, also die Anpassung der Struktur eigener Wün-sche und Erwartungen an soziale Bedingungen, ist ein Prozess, den es zu beach-ten gilt. Verschiedene Formen von sozialem Druck prägen die Vorstellungen des guten Lebens ebenso wie Sozialisation, Vorstellungskraft und mediale Bilder und Erzählungen. Ebenso sind die diskursiven Werkzeuge der Kritik der Lebenswelt und der Distanzierung zum eigenen Selbst nicht für alle gleichermaßen verfügbar. Das kann mit dem Konzept der epistemischen Ungerechtigkeit deutlich gemacht werden, von denen eine wichtige Form jene der hermeneutischen Ungerechtigkeit ist.13 Hermeneutische Ungerechtigkeit liegt dann vor, wenn Menschen die epis-temischen Mittel fehlen, die eigene Situation, sich selbst und die Welt, die einen umgibt, adäquat zu verstehen. Die beständige Suche nach Authentizität, Erfüllung oder Selbstverwirklichung bleibt eine oberflächliche Schablone, eine soziale Vor-gabe, die zwar internalisiert und angenommen wird, aber unverstanden bleibt, wenn nicht die epistemischen Mittel vorhanden sind, diese Konzepte, ihre Wir-kungen auf einen selbst und andere und dahinterliegende Motive zu verstehen. Solche epistemischen Mittel sind unter anderem Formen der Selbstreflexion, der Sprach- und Ideologiekritik, des Wissens und seiner Anwendung, aber auch des sozialen Austauschs mit anderen und die Fähigkeit, eigene und fremde Erfahrun-gen auf sich wirken zu lassen.

Es ist daher sinnvoll, Entgrenzung auch aus einer normativen Perspektive des gu-ten Lebens zu kritisieren. Das bedeutet eben auch anzuerkennen, dass manche Men-schen nicht nur ganz gut mit Entgrenzung zurechtkommen, sondern diese aktiv suchen und einfordern. Entgrenzung ist kein plumper Modus der Herrschaft durch Mobilisierung privater Ressourcen (vor allem Raum und Zeit) zum Zwecke der Er-werbsarbeit und der kapitalistischen Verwertung von Arbeitskraft. Der Übergriff, der sich durch Entgrenzung vollzieht, ist weitaus subtiler und in sich nicht ohne Widersprüche, da sie auch Interessen der Arbeitnehmer*innen bedient. Daher ist es auch angebracht, die Paradoxien und Widersprüche, die in der Entgrenzung liegen, und die sich im Changieren zwischen Herrschaft und Freiheit, Anerkennung und Missachtung zeigen, aufzugreifen. Das zeichnet moderne Arbeitsverhältnisse ins-gesamt aus, dass sie nicht mehr nur nach den relativ klaren Mustern des 19. oder frü-hen 20. Jahrhunderts funktionieren, in denen Ausbeutung so offensichtlich war.14

Ein gutes Leben umfasst die materielle Sicherheit ebenso wie die soziale An-erkennung und die Möglichkeit der Selbstverwirklichung. Das gute Leben ist unter den Bedingungen der Individualisierung – und hinter diese lässt sich nicht zurückgehen – darauf ausgerichtet, sich selbst zu finden und darin frei zu sein. Das sollte nicht einseitig als rücksichtsloser Egoismus verstanden werden, der die soziale Bindung aller menschlichen Freiheit und die Verletzlichkeit des Menschen leugnet. Es ist die Erfahrung der sozialen Anerkennung durch andere, die es er-laubt, eine positive Selbstbeziehung und Identität zu entwickeln.15 Die Herausfor-derung besteht darin, Authentizität, Selbstverwirklichung oder Freiheit, die zu Schlagwörtern geworden sind und heute vor allem in kommodifizierter Form auf-treten, wieder zu kritischen Konzepten und Praktiken zu machen. Erwerbsarbeit und Privatleben sind aus dieser Perspektive beide für ein gutes Leben wichtig, da in ihnen die Güter entstehen – aber auch deformiert werden können –, die ein gutes Leben auszeichnen: materielle Güter und Einkommen, Anerkennung und soziale Beziehungen, Identität und Selbstverwirklichung. Das Verhältnis zwischen Erwerbsarbeit und Privatleben ist nicht abstrakt, sondern steht heute unter den spezifischen Bedingungen eines hochentwickelten Kapitalismus, der sowohl die Konsum- und Erlebnisgesellschaft, die die breite Masse inkludiert, als auch die Reproduktion von sozialer Ausgrenzung und Armut hervorbringt.16 Darin einge-schlossenen sind jeweils geschlechts-, schicht- und milieuspezifische Unterschie-de, die in dieser Kritik der Entgrenzung, die mit einem breiten Pinsel gemalt wird, nicht adäquat abgebildet werden können.

Entgrenzung macht es schwierig bis unmöglich, sich vor der Erwerbsarbeit und ihren Ansprüchen zu schützen. Die Erwerbsarbeit dringt durch Entgren-zung ins Privatleben ein und überantwortet an die Arbeitnehmer*in die Aufgabe, sich selbst abzugrenzen, zu kontrollieren und in die jeweils angebrachte soziale Rolle als Arbeitnehmer*in auf der einen Seite oder als Vater, Mutter, Partner*in, Freund*in oder Bürger*in auf der anderen Seite zu schlüpfen. Entgrenzung ver-lagert Verantwortung und die Aufgabe der Grenzziehung, da Erwerbsarbeit und Privatleben weiterhin im Sinne der konkreten Tätigkeit, der sozialen Rolle und der Kontrolle getrennt sind, ohne dass dadurch jedoch ökonomische Macht an die Arbeitnehmerin übergehen würde – diese bleibt weiterhin Arbeitnehmerin und damit in die Hierarchie der Erwerbsarbeit eingebunden. Die Erwerbsarbeit bleibt weiterhin die Praxis der ökonomischen Tätigkeit, auch wenn sie im privaten Raum oder in privater Zeit stattfindet oder wenn sie emotionalisiert und sinnhaftig als Teil der eigenen Identität erfahren wird.

Entgrenzung ist aber eben nicht nur ein räumlicher und zeitlicher Prozess, in-dem Erwerbsarbeit und Privatleben ineinandergreifen, sondern es kommt auch zu einer Entgrenzung von solchen persönlichen Aspekten des Lebens wie Au-thentizität, Sinn, Selbstverwirklichung oder Freiheit. Diese sollen gleicherma-ßen in Erwerbsarbeit und Privatleben gelebt werden – was bedeutet, dass sie in beiden Sphären durch das Individuum hergestellt und aufrechterhalten werden müssen.17 Dadurch wird die Einzelne nicht nur immer stärker ökonomisch von der Erwerbsarbeit abhängig, sondern auch ihre Identität und ihr Selbst. Und zwar nicht nur von der Erwerbsarbeit als solche, sondern von den Projekten, Aufgaben und Tätigkeiten in der Erwerbsarbeit, in denen diese persönlichen Dimensionen eines guten Lebens hineingelegt werden. Diese Form der Entgrenzung wird durch die räumliche und zeitliche Flexibilisierung von Erwerbsarbeit und Privatleben begünstigt. Die Modi der Anerkennung, die für Erwerbsarbeit und Privatleben unterschieden werden können, verschwimmen. Arbeitsbeziehungen werden teils wie Freundschaften geführt, Freundschaften wie rationale, ökonomische Austauschbeziehungen.18

Auf der diskursiv-ideologischen Ebene werden diese Prozesse der Entgrenzung begleitet, legitimiert und in Erwartungen transformiert, die die Einzelne interna-lisiert und als eigene annimmt. Das kann als soziale Pathologie kritisiert werden. Eine soziale Pathologie zeichnet sich nicht primär dadurch aus, dass eine Defor-mation der Bedingungen eines guten Lebens massenhaft in der Gesellschaft auf-tritt, sondern dass diese Deformation diskursiv-ideologische verschleiert wird, um sie als Normalität in den sozialen Normen und Praktiken zu verankern19. Eine soziale Pathologie ist also dann zu konstatieren, wenn viele der betroffenen Menschen diese als solche nicht mehr erfahren oder erkennen, sondern sich in ihr heimisch gemacht haben. Das ist bei Entgrenzung der Fall. Gerade im Feld der hochqualifizierten Wissensarbeiter*innen ist es selbstverständlich geworden, Erwerbsarbeit und Privatleben fast bis zur Unkenntlichkeit in Eins zu setzen und dies als Fortschritt gegenüber der starren Trennung der Industrie-, Verwal-tungs- oder Dienstleistungsarbeit zu sehen.20 Dadurch kommt es nicht nur zu Hyperaktivität in der Erwerbsarbeit, also einem beständigen Arbeiten und stän-dige Verfügbarmachung der Arbeitskraft und -zeit, sondern auch zu verstärkter Selbst- und Peerkontrolle und zu Prozessen der Selbstoptimierung, um solche Erwerbsarbeit mittel- und langfristig auszuhalten. Die soziale Pathologie der Entgrenzung ist also teils durch ökonomische Prozesse in den Organisationen und Unternehmen, teils durch die Arbeitnehmer*innen selbst angetrieben, die sich dadurch Freiheitsgewinne und eine bessere Balance von Erwerbsarbeit und Privatleben versprechen. Es sollte auch nicht geleugnet werden, dass Privilegien der Entgrenzung existieren, von denen nicht-entgrenzte Formen der Erwerbsar-beit ausgeschlossenen sind. Dennoch sollte die ökonomische Rationalität hinter der Entgrenzung nicht ausgeblendet werden, die darauf abzielt, Produktivität im Rahmen marktlicher Konkurrenz zu steigern. Das Privatleben als Rückzugsort gerät in Gefahr und droht nur mehr unter den Vorzeichen der Erwerbsarbeit ge-sehen zu werden, als Zeit und Ort, der selbst zu organisieren und aufrechterhal-ten werden muss. 4 Das gute Leben schützen

Das gute Leben braucht Grenzen. Das betrifft nicht nur die Grenze zwischen Er-werbsarbeit und Privatleben, aber eben auch diese. Grenzen schaffen nämlich Räume und Strukturen. Sofern das Privatleben nicht vollständig der Erwerbs-arbeit untergeordnet werden soll, weil es berechtigt ist anzunehmen, dass das gute Leben nicht nur in Erwerbsarbeit besteht, bedarf es einer Grenze zwischen diesen beiden zentralen Sphären des modernen Lebens. Natürlich wäre es denk-bar, dass die Erwerbsarbeit derartig anders organisiert und gelebt wird, dass sie vollständig in ein gutes Leben integriert ist. Das ist wohl der Kern der Utopie der nichtentfremdeten, gesellschaftlichen Arbeit bei Marx.21 Diese Bedingungen sind heute aber nicht gegeben. Die Grenzen zwischen Erwerbsarbeit und Privatleben sind aber nicht nur durch räumliche und zeitliche Trennung zu sichern, sondern gerade auch auf der Ebene persönlicher Ressourcen und auf diskursiv-ideologi-scher Ebene. Diese Grenzziehung sichert erst, dass bestimmte Formen der Praxis, nämlich der ökonomischen Erwerbsarbeitsbeziehung (in ihren unterschiedlichen Formen zwischen Vorgesetzten und Mitarbeiter*innen, zwischen Kolleg*innen oder zwischen Arbeitnehmer*innen und Kund*innen) nicht ubiquitär werden. Das Privatleben ist in der Konsum- und Erlebnisgesellschaft sowieso bereits ökonomisiert, weil diese die Lebenswelt zu einer voller käuflicher Waren und Dienstleistungen machen, aber die Erwerbsarbeit als hierarchisches Machtver-hältnis, welches auf Produktivität ausgelegt ist, ist mit authentischen privaten Beziehungen auf Dauer nicht vereinbar. Das bedeutet nicht, dass das Privatleben und solche sozialen Beziehungen oder Emotionen, wie sie das Privatleben prägen, nicht auch in der Erwerbsarbeit zu finden sind oder dort ihren Ursprung haben können – das ist natürlich der Fall. Aber die Erwerbsarbeit als Modus einer sozia-len Praxis, die mit bestimmten Normen und Rollenerwartungen ausgestaltet ist, darf nicht zum bestimmenden Modus des Privatlebens werden. Das gute Leben wird, sofern es unter Bedingungen des modernen Kapitalismus überhaupt (oder gar: für alle) möglich ist, darin bestehen, in beiden Sphären, der Erwerbsarbeit und dem Privatleben, die jeweils angebrachten materiellen Güter (z. B. Einkom-men), soziale Anerkennung (z.  B. Kollegialität oder Freundschaft und Liebe), Freiheit und positive Selbstbeziehung (z. B. Authentizität und Selbstverwirkli-chung) vorzufinden und dort leben zu können. Diese Dimensionen eines guten Lebens sollen also durchaus in der Erwerbsarbeit ihren Platz finden, aber nicht verschleiern, dass Erwerbsarbeit zu einem anderen Zweck existiert, nämlich der Herstellung ökonomischer Güter und Dienstleistungen mit dem Ziel des Profits. Erwerbsarbeit ist unter den Bedingungen der marktlichen Konkurrenz und der betrieblichen Rationalität immer auch prekär auf andere Ziele als das gute Leben der Arbeitnehmer*innen ausgerichtet. Das gute Leben braucht daher die Gren-ze, um sich entfalten zu können – nicht unabhängig von der Erwerbsarbeit, aber eigenständig und in Zeit und Raum, die nur dem Privatleben, also einem selbst, gehören. Die Grenzziehung zwischen Arbeit und Leben kann und soll aber nicht dem Individuum als Aufgabe auferlegt werden, sondern es handelt sich hier um eine kollektive Verantwortung. Die Individualisierung der Arbeitsbeziehungen, also die Reduktion kollektiver, gewerkschaftlicher Vertretung und die Erosion ihrer (Ver)Handlungsmacht sind ein Grund für die Verschlechterung der Ar-beitsbedingungen vieler Menschen. Natürlich gibt es privilegierte Gruppen von gut ausgebildeten und gefragten Arbeitnehmer*innen, die für sich selbst gute Be-dingungen aushandeln können. Genauso gibt es eine finanzielle Elite der Arbeit-nehmer*innen in den Chefetagen, die auf Gewerkschaften nicht angewiesen sind, sondern vor allem die Interessen der Shareholder und Eigentümer – zu denen sie großteils selbst gehören – vertreten. Die allermeisten Arbeitnehmer*innen, ins-besondere in prekarisierten Bereichen, sind jedoch von kollektiver Organisierung

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abhängig, um ihre Interessen effektiv vertreten zu können.22 Dazu gehört auch die Begrenzung der Entgrenzung. Dabei ist es die Entgrenzung, vor allem die räumliche Auflösung betrieblicher Strukturen, die eine solche Organisierung erschweren kann, weil sie die einzelnen Arbeitnehmer*innen im Home-Office isoliert, kollegialen Austausch und die Ausbildung empathischer Solidarität er-schwert. Dabei wäre der normative Wert der Kollegialität zu schützen.23 Die Be-dingungen des guten Lebens zu schützen ist keine Privataufgabe.

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Wolfgang Neuser
Grenzfall Tod

Wie total ist die Todesgrenze? Markiert sie das absolute Ende der leiblich-see-lisch-geistigen Existenz des Menschen oder liegt noch etwas hinter der Grenze? Jedenfalls gibt es ein Nachdenken über den Tod, das an der Grenze des Physischen Halt macht, ebenso wie die metaphysische Frage, ob nach dem Tod „noch etwas kommt“. Darum soll im Folgenden zunächst bedacht werden, wie unerbittlich der Tod das irdische Leben begrenzt (1), sodann wie Kulturen, Philosophien und Reli-gionen diese Grenze respektieren bzw. transzendieren (2) und schließlich warum und inwiefern Philosophieren sterben lernen heißt (3). 1 Absolutheit der Grenze

Die Totalität der physischen Todesgrenze wird noch dadurch verstärkt, dass wir nicht wissen, wann und wie der Tod uns ereilen wird, selbst wenn er uns heute noch oder morgen übermannte. So sicher wir sterben werden, so unbekannt sind Zeitpunkt und Umstände seines Zugreifens. Der Tod kann uns als Gesunde aus dem prallen Leben reißen oder von Krankheit und Schmerzen freimachen. Für die einen ist er böse, brutale Macht, für die anderen pure Erlösung. Die einen müssen (viel zu früh) sterben, andere dürfen (endlich) sterben.

Wie kein anderer Philosoph nimmt Michel de Montaigne den Tod in den Blick. Immer wieder kommt er in seinen Essays auf diese Grenze zu sprechen. Dabei inte-ressiert ihn nicht, ob danach noch etwas kommen könnte. Für ihn ist diese Grenze unüberwindbar. Leben bedeutet für ihn, sich mit dem zwangsläufigen Lebensende auseinanderzusetzen, obwohl er zugesteht, gerade erst 39 Jahre alt geworden zu sein.1 Das war auch vor 400 Jahren trotz der geringeren Lebenserwartung noch kein Alter, in dem man täglich den Tod erwartete. Montaigne meint sogar, dass er „eigentlich wenigstens noch einmal so alt werden“ müsste.2

Wer nicht an den Tod denkt, dem bescheinigt er „tierische[n] Stumpfsinn“3. Denn „den Tod […] fühlt man nur in den Gedanken, die man sich über ihn macht“.4Unter den vielen Gestalten des Todes ist der Tod aus Altersschwäche zu seiner Zeit offenbar höchst ungewöhnlich; nur wenige erreichen diese „äußerste Grenze“5. Viel zu viel kann den Menschen schon vorher dahinraffen, etwa eine Krankheit, ein Unfall oder ein gewaltsamer Tod von fremder oder eigener Hand. Unter Berufung auf Cäsar und Plinius favorisiert Montaigne einen „kurzen Tod“ gegenüber einem qualvoll langwierigen, es sei denn es handelt sich um das langsame Verlöschen im hohen Alter, das einen bewusst und dankbar das Leben beschließen lässt.6 Letzteres wäre heute die Gnade eines begleiteten Sterbens zu Hause oder in einem Hospiz. Oder wie es in der Bibel von Abraham und Isaak berichtet wird, dass sie „alt und lebenssatt“ starben. Sie hatten nicht das Leben satt, sondern waren gesättigt von einem reichen, erfüllten Leben, dessen Ende sie akzeptierten, wie man willkomme-nen Besuch auch gerne wieder verabschiedet. Wohl dem, dem es vergönnt ist, so zu sterben, nämlich das Zeitliche zu segnen und nicht zur Unzeit sterben zu müssen.

Den Unterschied zwischen Sterben und Tod hebt Montaigne nicht eigens hervor. Schließlich endet jedes Sterben mit dem Tod. Dass die Menschen sich jedoch vor dem Sterben weit mehr fürchten als vor dem Augenblick des Todes, zieht er nicht in Zweifel. Er geht sogar so weit zu vermuten, dass „der Gedanke an den Tod den meis-ten Menschen mehr Qualen bereitet als das Erleiden des Todes selbst“.7 Montaigne sinniert über den Tod in einer schonungslosen Ehrlichkeit seinen Empfindungen gegenüber – manchmal mit einem verschmitzten Unterton, wenn er beispielsweise meint, dass man den Tod „sozusagen probieren“ könne, weil er dem Schlaf so ähn-lich sei.8 Wichtiger als glücklich zu sterben ist ihm jedoch, glücklich zu leben.

Denn der Tod kann bereits vor dem Tod etwa in Gestalt der Vereinsamung nach dem Menschen greifen. Bei Fortbildungen für Pflegekräfte in Altenheimen fällt in Fallschilderungen immer wieder auf, wie viele Bewohner*innen entweder keine Angehörigen haben oder von diesen völlig allein gelassen werden, sodass als ein-zige Bezugspersonen die Pflege- und Reinigungskräfte bleiben. Jene unbesuchten Menschen erleiden den sozialenTod lange vor ihrem einsamen physischen Tod. Aber auch für alle anderen gilt, dass niemand den letzten Wegabschnitt mitgehen kann. Wir leben mit anderen Menschen, aber sterben allein. Im Sterben machen wir die radikalste Erfahrung der Einsamkeit (Levinas). Kein Lebender kann sie mitvollziehen, und stünde er oder sie der sterbenden Person noch so nah.

Können wir das alles begreifen, den Tod be-greifen , in den Griff kriegen, so wie wir das Leben planen, gestalten und erklären? Wir können es nicht! Wenn wir den Tod mit seinen zahllosen Facetten definieren könnten, wären wir im Begriff, ihn zu be-herrschen. Aber „nicht wir beherrschen den Tod, sondern der Tod beherrscht uns“.9Welches seiner Gesichter wir auch anschauen, der Tod bleibt letztlich ein Rätsel.

Eigentlich hat jede und jeder spätestens ab dem Jugendalter vielfache Gelegen-heit, eine zentrale Lektion über den Tod zu lernen: Der Tod ist eine unberechenbare Macht, die nicht nur ergraute Menschen abruft, sondern die ebenso, anscheinend wahllos, einen jungen Menschen aus der Blüte seiner Jahre reißen kann. Aber we-nige jugendliche Menschen dürften die Ergriffenheit kennen, die der fünfzehnjäh-rige Hegel empfand, als er bei einem Spaziergang zufällig die dunkle Totenglocke zu einem Begräbnis hörte. Byung-Chul Han kommentiert diesen Tagebucheintrag des jungen Hegel so, dass „sich der Tod unauslöschlich ins Bewußtsein Hegels ein-gegraben haben“ müsse und dass er damit eine „Erfahrung des Todes als eines ab-soluten Verlustes“ gemacht habe.10 Hegels Philosophie sei sodann ein Ankämpfen gegen den Verlust und erwachse aus dem „Bedürfnis nach einer ‚Wiederherstel-lung der Totalität‘“, so Han.11 Es bleibt jedoch zu fragen, ob das Ankämpfen gegen den Tod eine erfolgversprechende Reaktion auf seine Macht ist.

Nicht das Ankämpfen, sondern das Akzeptieren des Todes und ihn für das Leben fruchtbar zu machen, ist das, was philosophische und religiöse Traditionen von Anbeginn der Menschheit lehren. Der Ägyptologe Jan Assmann identifiziert den Tod gar als „Ursprung und Mitte der Kultur“.12 Sowohl wegen des Mangels an Ins-tinktsicherheit als auch wegen des Mangels an Unsterblichkeit müsse der Mensch sich „eine künstliche Welt erschaffen, in der er leben kann. Das ist Kultur.“13 Ohne von der Unsterblichkeit zu träumen, könne der Mensch nicht leben. Erst das Hin-ausdenken über „seinen begrenzten Lebenshorizont“ mache das Leben sinnvoll.14Insofern sei der Tod „ein Kultur-Generator ersten Ranges. Ein wichtiger Teil unse-res Handelns, und gerade der kulturell relevante Teil […] entspringt dem Unsterb-lichkeitstrieb, dem Trieb, die Grenzen des Ich und der Lebenszeit zu transzendie-ren.“15 Assmann gewinnt diese Einsicht am Totenkult der Ägypter, der das Leben über seine biologische Grenze hinaus verlängere. Mittels der Grabmonumente sollte der Mensch (Körperselbst und Sozialselbst, nicht Leib und Seele) über die Schwelle des Todes hinaus eingebettet sein „sowohl im Diesseits, in der Gemein-schaft der Nachwelt, als auch im Jenseits, wo ihn die Götterwelt in ihre Konstel-lationen aufnehmen sollte.“16 Ihre Auflehnung gegen den Tod habe die Ägypter veranlasst, mit ihrer (Bau-)Kunst eine Gegenwelt zu schaffen, eine Todesreligion. Sie „behandeln“ den Tod und überführen ihn „in eine kulturell heilvolle Form“.17

Eine phantasievolle Bewältigungsstrategie ohne Totenkult bietet die Annahme einer unsterblichen Seele. Wenn schon der Mensch als ganzer den Tod nicht über-dauern kann, vielleicht kann es ja ein Teil von ihm. Der für jedermann ersichtliche Verwesungsprozess des Körpers nach dem Tod lädt ja geradezu ein, demjenigen, was die nun tote Materie „beseelte“, ein Weiterleben in einer anderen Existenz-form zuzutrauen. Was unter Seele zu verstehen ist, ist allerdings nicht auf einen Nenner zu bringen. Die Bedeutungsbreite des Begriffs reicht von Bewusstsein (griech. psyché ) über Wesenskern oder Lebensprinzip des Menschen bis zum um-fassenden Ausdruck für die Einheit von Leib, Seele und Geist, hebräisch: näfäsch (Lebensatem, Hals, Kehle), was Luther mit lebendige Seele übersetzte und in neu-eren Übersetzungen lebendiges Wesen (Gen 2,7) lautet. Danach hat der Mensch nicht eine Seele, er ist Seele.

Auch die alten Ägypter hatten eine differenzierte Sicht des Verhältnisses von Leib und Seele. Einerseits konnten sie die „Körperseele“ als Vogelgestalt über der Mumie des Verstorbenen schwebend darstellen, wie es eine Malerei aus dem 13. Jahrhundert v. Chr. zeigt.18 Andererseits konservierten sie den Leichnam ja gerade deshalb so aufwändig, damit die Einheit von Körper und Seele auch in der nachtodlichen Existenz erhalten und die Interaktion mit der Gemeinschaft der Lebenden und der Toten möglich blieb.19 Der Ba-Vogel ( ba  – Seele)sollte nicht nur davonfliegen, etwa in die „Halle des Totengerichts“, sondern die Totenriten dienten dazu, ihn danach wieder mit dem Leichnam zu vereinigen.20

Dagegen geht die scharfe Zweiteilung ( Dichotomie ) des Menschen in Leib und Seele bekanntlich auf Platon zurück. Er meinte gar, die Seele sei im Gefängnis des Körpers eingekerkert und werde erst im Tode befreit. Dabei verlässt sie den Menschen nach landläufiger Vorstellung durch den Mund und „flattert gleich einer Fledermaus in den Hades, wo sie als blutloser Schatten ohne eigentliches Be-wußtsein west“.21 Aber bereits sein Schüler Aristoteles teilt diese Auffassung nicht mehr. Die Seele ist für ihn kein eigenständiges Wesen, sondern bezeichnet das, was den Körper lebendig macht. „Wie Pupille und Sehkraft zusammen das Auge sind, so sind […] Seele und Körper zusammen das Lebewesen.“22

Seitdem diskutieren Philosoph*innen und Psycholog*innen das „Leib-Seele-Problem“, ohne jemals zu einem übereinstimmenden Ergebnis gekommen zu sein. In jüngerer Zeit fließen zwar auch die Ergebnisse der Hirnforschung ein, was aber nicht zur Klärung, sondern lediglich zur Erweiterung des ohnehin ausgedehnten Spektrums von Ansichten geführt hat („Gehirn-Geist-Problem“). Im Zentrum des Problems geht es um zwei Fragen: Handelt es sich bei Leib und Seele überhaupt um zwei verschiedene Wesenheiten? Und zweitens: in welcher Beziehung stehen psyché und physis zueinander? Ausgehend vom Gegensatz zwischen Idealismus und Materialismus kann man die Kernfrage auch so formulieren: Handelt es sich bei dem, was den Menschen lebendig macht, bei seinem Bewusstsein, seinem Er-leben, seiner Subjektivität, im Wesentlichen um geistig-seelische oder um biolo-gisch-materielle Prozesse? Die Auffassungen reichen vom Dualismus (Plato, Des-cartes) – zwei eigenständig existierende Seinsbereiche in Wechselwirkung – über eine psycho-physisch neutrale Sicht (Spinoza) – zwei Seiten derselben Sache – bis zum Monismus  – Einheit von Leib und Seele –, der sich noch einmal auffächert in die idealistische Bestimmung dieser einheitlichen Seinsweise als Geist (Hegel), die spiritualistische Bestimmung als Seele (Schopenhauer) oder die physikalistische Bestimmung als Materie (Epikur, Armstrong).

Für die Frage, ob der psychisch-mentale Seinsbereich des Menschen seinen Tod überdauert, einfach gesagt, ob die Seele unsterblich ist, zeigt die Diskussion der Leib-Seele-Problematik, dass dies lediglich bei einer streng dualistischen Sicht, also einer strikten Trennung von Leib und Seele, denkbar wäre. Zugleich ergeben die psycho-logischen wie die neurologischen Forschungen, wie eng Körper, Geist und Seele mit-einander verwoben sind. Dennoch hat die sokratisch-platonische Vorstellung einer unsterblichen Seele nachhaltigen Einfluss auf die volkstümliche christliche Sicht von Sterben und Tod genommen – und zwar entgegen dem biblischen Befund.

Von einer nebulösen oder irgendwie als Vogel oder kleines Kind darstellbaren Seele, die nach dem Tod gen Himmel schwebt, ist nämlich weder im Alten noch im Neuen Testament die Rede. Gleichwohl hält sich die dualistische Vorstellung hartnäckig bis dahin, dass auch heute Angehörige das Fenster des Sterbezimmers öffnen, damit die Seele des Verstorbenen entschweben kann. Trotz griechischer Einflüsse im Neuen Testament (z. B. 1 Petr 2,11; 3 Joh 2) kann die gesamtbibli-sche Sicht des Menschen nur als ganzheitlich bezeichnet werden. Wenn es etwa in Psalm 118,11 heißt: „Ich werde nicht sterben, sondern leben“, ist auch im Kontext keinerlei Aufsplittung des Menschen zu finden. Oder wenn der verzweifelte Elia klagt: „Es ist genug, so nimm nun, Herr, meine Seele“ ( näfäsch ), so spricht er nicht von einem Teil, sondern von sich als ganzem, (noch) lebendigem Menschen. Im Neuen Testament begegnet der auferstandene Christus seinen Jüngerinnen und Jüngern leibhaftig . Am deutlichsten wird Paulus, indem er in seinem großen Auf-erstehungskapitel 1 Kor 15 klarstellt: „Es wird gesät ein natürlicher Leib und wird

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auferstehen ein geistlicher Leib.“ (V. 44) Keine Rede von einer separaten Seele. Im Alten wie im Neuen Testament, in der jüdischen wie in der christlichen Theologie, werden Leib und Seele zwar unter schieden, aber nicht ge schieden.

Auch Sören Kierkegaard vertritt die These, dass der Tod lediglich eine Art Durchgang zu einem anderen Leben ist, und zwar aufgrund seines christlichen Auferstehungsglaubens.23 Unter dieser Voraussetzung dringt er in seiner Abhand-lung über Die Krankheit zum Tode zu einem ermutigenden Verständnis des Todes vor – entgegen dem Anschein, den sein Buchtitel erweckt. Seine Grundthese lau-tet, dass das Selbst des Menschen (im Unterschied zu den Tieren) ein Verhältnis ist, das sich zu sich selbst verhält. Ein solches Selbst kann der Mensch aber nicht aus sich hervorbringen, es muss von Gott „gesetzt“ werden. Die Krankheit zum Tode ist darum die Verzweiflung, die diejenigen befällt, die dieses Verhältnis igno-rieren. Denn im Verhältnis zu Gott hat der endliche Mensch Anteil an Gottes Un-endlichkeit. Der Mensch ist somit zugleich endlich und unendlich, zeitlich und ewig, festgelegt und frei. Da sein Selbst zwischen diesen Polen changiert, muss es sich zu diesem Verhältnis verhalten. Verzichtet der Mensch auf das Bewusst-sein, dass sein Selbst eine Synthese von Unendlichkeit und Endlichkeit ist, kann seine Verzweiflung sogar darin bestehen, nicht sterben zu können, nämlich einen ewigen Tod zu erleiden in dem Sinne, „daß selbst die letzte Hoffnung, der Tod, nicht besteht.“24 Akzeptiert der Mensch in seiner Freiheit jedoch sein Verhältnis zu Gott, befreit er sich von der Krankheit zum Tode und empfängt ein Leben, das der Tod nicht zerstören kann. So ist er in der Lage, sein Selbst in der Balance von Endlichkeit und Unendlichkeit zu verwirklichen.

Dagegen kommt die Existenzphilosophie Martin Heideggers ohne Auferstehungs-hoffnung aus. Er vertritt wie Jean Paul Sartre und Albert Camus einen atheistischen Existenzialismus. In Sein und Zeit bezeichnet Heidegger das menschliche Leben schlicht als „Sein zum Tode“.25 Heidegger zufolge gelangt das menschliche Dasein erst im Tod zu seiner Ganzheit. Ohne den Tod bliebe es unvollständig. Auch die ver-storbene Person ist ja immer noch Gegenstand der Sorge der Angehörigen, indem diese alle Vorkehrungen zu ihrer Bestattung zu treffen haben und um sie trauern. Und die Sorge – im Selbst-sein und Mit-sein – macht nach Heidegger ontologisch gesehen das Dasein aus. Er nimmt also die Existenz des Menschen als Gesamtheit von Dasein und dessen Ende in den Fokus und nicht allein das Phänomen Tod. Seine in diesem Sinne existenziale Analyse und Interpretation des Todes führt ihn zur Cha-rakterisierung des Seins zum Tode als einer „ leidenschaftlichen […] ihrer selbst gewis- sen und sich ängstenden Freiheit zum Tode “ [H. i. O.]26. Ein solches Verständnis macht auch ohne Aussicht auf ein Danach Mut, sich dem eigenen rätselhaften Tod zu stellen.

Von der Heilkraft des Todes (ohne Unsterblichkeitsüberlegungen) spricht auch Byung-Chul Han im Anschluss an Adorno in seinen „[p]hilosophische[n] Unter-suchungen zum Tod“. Er hat dabei nicht die Kultur oder die Sozialität des Men-schen, sondern das Selbst im Blick. „Vom Tod geht die Kraft der Dissoziation, der Erschütterung des Selbst aus. Sie läßt die verhärtete Grenze gegen das Auswendi-ge bzw. das Andere durchlässig werden.“27 Das Auswendige, das radikal Fremde (Waldenfels) ist der Tod, der dem Leben diametral gegenüberzustehen scheint. Wer sich jedoch dem Todesgedanken aussetzt, also sein Leben zu Ende denkt, fin-det seine Identität und gewinnt das Leben. Die harte Grenze zwischen dem In-wendigen und dem Auswendigen, zwischen dem Selbst und dem Anderen, wird fließend, der Tod wird gewissermaßen ins Leben integriert. Er ist nicht mehr der Feind, sondern das lebensnotwendige Gegenstück zum Leben wie die Rückseite einer Münze, ohne die es keine Vorderseite gäbe.

Die Mauer des Todes lässt nicht den geringsten Blick auf das zu, was hinter ihr liegen könnte. Diese Dunkelheit versuchen die Religionen mit ihren Zukunfts-erwartungen zu erhellen. Die Annahmen von Judentum, Christentum und Islam über das Danach reichen von absoluter Glückseligkeit in einem Paradies bis zu ewiger Verdammnis in nie verlöschendem Höllenfeuer. Und wer wo landet, kann ebenso vom Lebenswandel wie von der Willkür der göttlichen Macht abhängen. Oder gläubige Hindus und Buddhist*innen hängen der Vorstellung an, dass ihre Karma-Energie die Todesgrenze überwindet und ihnen die Wiedergeburt als ande-rer Körper gewährt. Das eigentliche Ziel der Buddhist*innen ist es jedoch, den Tod dadurch zu überwinden, dass ihnen das Leben gleichgültig wird. Denn wer alle Lei-denschaft für das Leben besiegt hat, dem kann der Tod nichts mehr wegnehmen.28Sodass das letzte Ziel die Überwindung der Wiedergeburt sein muss, weil jede noch den Tod zur Folge hat. Das Ende des Todes wird hier zum Zweck des Lebens.

Niemand kann zeigen oder beweisen, wie endgültig die Endlichkeit alles Seien-den ist. Es zeugt jedoch von einem begrenzten Blick, nur bis zur sichtbaren und wissenschaftlich greifbaren Grenze zu schauen. Könnte es nicht eine Wirklich-keitsebene geben, die mit unseren begrenzten Mitteln nicht zu ermitteln ist? Könn-te es nicht auch Ewiges in, mit und unter dem Endlichen geben? Denn Ewigkeit ist ja mehr als ein Zeitbegriff, sie ist nicht nur Quantität, sondern eine Qualität, die Raum und Zeit entgrenzt, ein Attribut (Gottes), das unser Begreifen übersteigt. 3 „Philosophieren heißt sterben lernen“

Unabhängig davon, ob es ein Weiterleben nach dem Tod gibt oder nicht, ist die To-desgrenze von existentieller Bedeutung für das Diesseits. So paradox es klingen mag: Ohne den Tod gäbe es kein Leben. Ein uneingeschränktes Entstehen ohne Vergehen würde in kürzester Zeit zu einer Überfüllung unseres Lebensraums führen, die nur in einem Kollaps gigantischen Ausmaßes enden könnte, der wiederum nichts an-deres als eine Art Tod wäre. Unter den räumlichen Bedingungen des Universums kann (außer einem Gott außerhalb von Raum und Zeit) nichts gedacht werden, das nicht einen Anfang und ein Ende hätte. Raum und Zeit sind per se limitiert. Einen Bereich ohne Begrenzung kann man nicht Raum nennen, auch nicht mehr Bereich , sondern allenfalls Unendlichkeit oder „Unräumlichkeit“, wobei die Bezeichnungen in sich widersprüchlich sind, denn sie setzen die Erfahrung von Begrenzung voraus. Ebenso ist die Zeit konstitutiv beschränkt, andernfalls wäre es keine Zeit, sondern unvorstellbare endlose Gegenwart (Wittgenstein: „Unzeitlichkeit“29).

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, dass Michel de Montaigne die Aus-einandersetzung mit der faktischen Grenze Tod und die Vorbereitung auf ihn zur zentralen Aufgabe der Philosophie erhebt: „Philosophieren heißt sterben lernen“.30Epikur („Der Tod geht uns nichts an.“) und Wittgenstein („Der Tod ist kein Ereignis des Lebens.“31) würden das wohl nicht sagen; ihr Philosophieren heißt leben lernen. Aber genau darauf, auf die Qualifizierung des Lebens (vor dem Tod), zielen auch Montaigne und Heidegger ab, nur eben nicht unter Ausklammerung des Todes, sondern im Gegenteil denken sie den Tod als Vollendung des Lebens im qualitativen und quantitativen Sinn von Erfüllung und Aufhören. Aber auch die Erwartung, dass die Todesgrenze überwunden werden wird, kann eine befreiende Rückwirkung auf das Leben haben.

Wer den Tod als i-Punkt, als Zieleinlauf hochschätzt, fürchtet ihn weniger. Bei Montaigne bewirkt das Philosophieren eine große Gelassenheit dem Tod gegen-über: „Der Tod heilt nicht nur eine Krankheit, sondern er heilt alle Leiden; er ist ein sicherer Hafen; er braucht uns nie zu schrecken, und oft ist er erstrebens-wert.“32 Keine Angst vor dem Sterben zu haben, bedeutet für ihn Freiheit, auch die Freiheit, über den Zeitpunkt des eigenen Todes selbst zu entscheiden: „Unser Leben hängt vom Willen anderer ab, der Tod von unserem eigenen Willen.“33 Da-mit beantwortet bereits Montaigne die Frage nach der ethischen Vertretbarkeit des (assistierten) Suizids positiv, ohne jede Rücksicht auf die geltenden religiösen Normen.

Heidegger dagegen macht „Mut zur Angst vor dem Tod“34, damit das „Man“ nicht in seiner Beruhigung und Entfremdung vom Tod als alltägliches Vorkomm-nis – man stirbt zwar, aber ich doch (noch) nicht – vernebelt dahinlebt. Das „Man“, das das Denken an den Tod tabuisiert, verkehrt gewissermaßen die Gelassenheit Montaignes in Lässigkeit oder gar Gleichgültigkeit. Andererseits fürchtet Heideg-ger „ein berechnendes Verfügenwollen über den Tod“35 durch ständiges Grübeln darüber, dass dieser jederzeit eintreten könnte. Er plädiert vielmehr für das Zu-lassen und Aushalten der Angst und erblickt in diesem Bewusstsein des Seins zum Tode die „Freiheit zum Tode“36. Auch für Kierkegaard führt die Angst zur Freiheit. Er sieht den Menschen in der Grundverfasstheit der Verzweiflung, der Krank- heit zum Tode . Die Angst vor dem Tod befreit jedoch zur Sündenerkenntnis und ermöglicht so Vergebung durch Christus und damit die Hoffnung auf ewiges Le-ben an der Seite des Auferstandenen.37 Diese unterschiedlichen Freiheitsbegriffe könnten in folgendem Gedanken zusammenfinden.

Denn Sterbenlernen lässt sich nicht nur (ontologisch) existential verstehen, sondern auch (ontisch) existenziell, nämlich als Selbstrücknahme und Anerken-nung des fremden Anderen. Das heißt, die Auflehnung gegen das radikal Fremde des Todes aufzugeben, auch unsere vermeintliche Überlegenheit gegenüber dem Fremden; 38 mithin den Tod zuzulassen, wie man den anderen Menschen in sei-ner bedrohlichen und bereichernden Andersheit an sich heranlässt und sich auf ihn einlässt. Es geht darum, das Selbst aus dem Mittelpunkt der Welt zu rücken, auf die eigene Göttlichkeit und damit auf die Unsterblichkeit zu verzichten. Wer in diesem Sinne sein Leben verliert, der wird es gewinnen (vgl. Jesus, z. B. Luk 9,24). Mystiker und Mystikerinnen wie Meister Eckhart und Simone Weil haben dieses Leerwerden gelebt und gelehrt.39 Es ist alles andere als Selbstaufgabe oder Kapitu-lation vor der Macht und dem Geheimnis des Todes, es ist das Akzeptieren des To-des als End- und Zielpunkt des Menschseins, das Akzeptieren der Tatsache, dass wir das Rätsel Tod nicht lösen können und dennoch über diese absolute Grenze nachdenken und reden müssen.

Die Einsicht in unser begrenztes Wissen, unser Nichtwissen, lässt sich nirgends besser als am Phänomen Tod gewinnen, und das Bescheiden vor dieser Grenze zwischen Protest und Akzeptanz lässt sich lernen. Wen die Auseinandersetzung mit dem Tod zu dieser Erkenntnis geführt hat, der kann getrost „das Zeitliche segnen“ – gerade auch in dem Sinn, dass sie und er das zeitlich begrenzte Leben vor dem Tod bewusster lebt.

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Karla Steeb
Grenzen des Mitgefühls am Beispiel der Erinnerungskultur

1 Einleitung – Mitgefühl und Menschenwürde einer Maschine Data sieht aus wie ein Mensch, seine Intelligenz steht denen der Menschen in nichts nach – rationales und logisches Denken beherrscht er einwandfrei. Und doch will ihn ein Sternenflottenkommander einem Experiment unterziehen, bei welchem er vollkommen auseinandergebaut werden soll, womit nicht unerhebli-che Risiken für Data einhergehen. Der Kommander Bruce Maddox ist ein Experte im Bereich der Kybernetik und Data ein Android, beide entstammen der Fernseh-serie Raumschiff Enterprise 1.

Als Data dieses Experiment missbilligt und sogar die Sternenflotte verlassen möchte, um seinem Schicksal zu entgehen, wird ihm diese freie Entscheidung un-tersagt. Die Begründung: er sei eine Maschine und somit Eigentum der Sternen-flotte. Kapitän Picard, Vorgesetzter Datas und diesem sehr verbunden, setzt sich für ihn ein, woraufhin es zu einer Gerichtsverhandlung kommt. Die Entscheidung, ob Data selbst Rechte innehaben kann, also wie die Menschen Rechtssubjekt sein kann, oder ob er, wie alle von den Menschen beherrschten Gegenstände, ebenso wie Tiere, nur Rechtsobjekt sein kann und somit Teil des menschlichen Eigentums, wird maßgeblich an seiner Fähigkeit zu fühlen festgemacht. Maddox begründet sei-ne Ansicht, Data sei bloß Eigentum, mit der Aussage er sei „kein fühlendes Wesen“. Fühlend ist hier natürlich weiter zu sehen als die bloße Fähigkeit, mit Hilfe eines Nervensystems Gegenstände zu ertasten oder das bloße Wahrnehmen von Bedürf-nissen. Denn in diesem Fall wäre sowohl Data ein fühlendes Wesen – mit Sicher-heit wurde ihm bei seiner Konstruktion die technische Möglichkeit mitgegeben, ein Nervensystem nachzuempfinden, ebenso wie Programme zur Selbsterhaltung, welche also den Überlebenstrieb nachbilden – aber auch alle Tiere wären nach die-ser Definition fühlende Wesen. Konsequenterweise müsste man also auch an allen Tieren das Eigentum aufgeben und sie als Rechtssubjekte anerkennen.

Mit „fühlendem Wesen“ kann an dieser Stelle also nur „mitfühlendes Wesen“ gemeint sein. Denn alle Gefühle, die ein isoliertes Wesen empfindet, das die Ge-meinschaft nicht kennt und auch nicht braucht, sind im Grunde nur Triebe. Es sind Gefühle, die nur auf sich bezogen sind. Alle weiteren Gefühle sind im Grunde immer auch auf andere gerichtet und haben somit eine gemeinschaftliche Kompo-nente. Auch wenn sich diese in unterschiedlichen Ausprägungen zeigt. Selbst ein einsamer Mensch ist nicht einsam, weil er allein ist, sondern weil ihm das Fehlen der anderen bewusst ist. Darin liegt eine Wertschätzung der Gemeinschaft, selbst wenn sie häufig versteckt ist. Die höchste Form der nach außen gerichteten Ge-fühle ist dabei sicherlich die Fähigkeit, mit anderen mitzufühlen.

An dieser Stelle, aber auch im folgenden Text möchte ich die Betrachtung von Tieren in Bezug auf Mitgefühl bewusst ausklammern, da insbesondere Säugetie-ren, welche sich in Gruppen organisieren, Mitgefühl nicht ohne Weiteres abge-sprochen werden kann und sich hieraus ein eigener Themenkomplex ergibt.

Auffällig ist, dass sich die gesamte Entscheidung darüber, ob Data wie ein Mensch behandelt werden soll um den Punkt dreht, ob er in der Lage ist, mit anderen Menschen mitzufühlen. Auch wenn es sich um eine Serie aus den späten 1980er Jahren handelt, zeigt diese Folge eindrücklich unser heute noch aktuelles Verständnis, das die Fähigkeit des Menschen, mit anderen mitzufühlen, als ur-menschliche Eigenschaft sieht. Diese Folge der Serie deutet sogar an, dass es einen tiefgreifenden Zusammenhang zwischen dem Mitgefühl und der Menschenwürde gibt, indem die Voraussetzung, dass Data wie ein Mensch behandelt wird, in sei-ner Fähigkeit zu Mitgefühl gesehen wird. Wird er wie ein Mensch behandelt, er-kennt man auch seine Menschenwürde an, welche letztlich dazu führt, dass seine Versklavung unmöglich wird oder zumindest eine Verletzung seiner Menschen-würde darstellen würde. Ist er nicht in der Lage, Mitgefühl zu empfinden, wird ihm dementsprechend auch nicht die Menschenwürde anerkannt.

Dieses Beispiel zeigt deutlich die Bedeutung des Phänomens Mitgefühl und soll hier der Anlass für eine genauere Auseinandersetzung mit dieser scheinbar ur-menschlichen Eigenschaft sein, wobei vor allem die Blockaden, Irrwege und Gren-zen von menschlichem Mitgefühl genauer betrachtet werden sollen.

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An dieser Stelle soll der Begriff des Mitgefühls von zwei ihm nahestehenden Phä-nomenen abgegrenzt werden: der Empathie auf der einen Seite, der Anerkennung auf der anderen. Dieser Text wird sich bei dieser Abgrenzung auf ein grundle-gendes Verständnis der Begriffe beschränken. Zum einen, da schon das Beispiel mit Data, entsprungen aus einer Fernsehserie, gemacht für ein breites Publikum, das mit einem eher alltagstauglichen Begriffsverständnis arbeitet. Zum anderen und vordergründig, weil sich die nachfolgenden Betrachtungen auf gesamtgesell-schaftliche Phänomene konzentrieren, bei denen für ein grundlegendes Verständ-nis auch für Nicht-Philosoph*innen ein normalsprachlicher Begriff nicht nur von Vorteil, sondern auch am naheliegendsten ist.

Wenn man sich die Gerichtsverhandlung zu Datas Schicksal noch einmal in Erinnerung ruft, so kommt die Frage auf, weshalb hier nach seiner Fähigkeit, Mit-gefühl zu zeigen, gefragt wird, nicht jedoch nach seiner Empathiefähigkeit. Es könnte zumindest daran liegen, dass Datas Empathiefähigkeit gar nicht in Frage gestellt wird. Während Mitgefühl als die Fähigkeit verstanden wird, mit ande-ren mitzuempfinden, ist Empathie die Bereitschaft und Fähigkeit, Einstellungen anderer Menschen nachzuempfinden. Mit anderen Worten: eine höchst rationale Fähigkeit, welche ein hochintelligenter Android ohne Zweifel beherrscht. So wird Data sicherlich in der Lage sein nachzuvollziehen, weshalb Kapitän Picard der Sternenflotte beigetreten ist, wenn er nur genügend Hintergrundinformationen zur Verfügung hat. Ausgehend von diesem Verständnis könnte er auch verste-hen, welche Gefühle er gegenüber dieser Position empfindet, wie etwa Stolz oder Freude. Er wäre also empathisch gegenüber Picard. Ob er mit ihm mitfühlt ist eine vollkommen andere Frage. Empathie wird als notwendige Vorstufe zu Mit-gefühl verstanden. Es findet also eine Weiterentwicklung statt, ausgehend von dem Verstehen der Gefühle anderer, der Empathie, hin zu einer mitfühlenden Zuwendungshaltung gegenüber anderen. Eltern sind gegenüber ihren Kindern in aller Regel nicht nur empathisch, sondern auch mitfühlend. Wenn ihr Kind weint, verstehen sie nicht nur, welches Gefühl zu dieser Regung geführt hat, sondern haben auch das Bedürfnis, es zu trösten. Hierbei handelt es sich also um eine Zu-wendung, welche aus der mitfühlenden Haltung gegenüber ihrem Kind resultiert.

Anerkennung ist das zweite Phänomen, das von Mitgefühl abzugrenzen ist. All-gemein verstanden als die Respektierung oder Würdigung einer anderen Person.

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Während die Unterscheidung von Empathie und Mitgefühl darin liegt, dass es sich bei Empathie um eine notwendige Vorstufe von Mitgefühl handelt, dem die zugewandte Haltung fehlt, so ist eine Abgrenzung zu dem Begriff der Anerken-nung nicht ganz so einfach.

Zunächst ist Empathie keine Voraussetzung für Anerkennung, sehr wohl jedoch für Mitgefühl. Einen großen Forscher kann man beispielsweise für seine Erkennt-nisse respektieren, ohne zu wissen, was er für ein Mensch ist oder was er fühlt. Worin liegt dann die Funktion der Anerkennung? Während Empathie durch seine Passivität ausgemacht wird, vereint Mitgefühl dieses passive Verstehen der Gefühle anderer mit einer aktiven Komponente – der mitfühlenden Zuwendung. In dem Beispiel der mitfühlenden Eltern war eine verständnisvolle Zuwendung gegenüber einem anderen, dem weinenden Kind, konkret möglich. Dass eine sol-che konkrete Zuwendung gegenüber einem anderen möglich ist, stellt jedoch kei-ne Voraussetzung dafür dar, dass Mitgefühl möglich ist. Wir sehen es geradezu als menschliche Fähigkeit an, auch mit anderen Menschen mitzufühlen, die sich nicht in unserem unmittelbaren Einflussbereich befinden. Denen gegenüber wir dieses Mitgefühl also gar nicht ausdrücken können. In unserer digitalen Welt werden viele Familiengeschichten, vor allem von berühmten Personen, online geteilt und unmittelbar erlebbar gemacht. Ein Fan kann mit der Geburt eines Kindes oder dem beruflichen Erfolg mitfühlen, ohne diese Personen jemals getroffen zu haben. Auf dieser Fähigkeit basiert auch der Erfolg eines jeden Spielfilms oder Romans. Niemand würde wohl J. R. R. Tolkiens Der Herr der Ringe lesen, wenn es nicht möglich wäre, mit den Gefährten mitzufiebern, also mitzufühlen.

Mitgefühl ist also möglich, auch ohne konkrete Zuwendungsmöglichkeit. Das bedeutet jedoch nicht, dass auch das Bedürfnis aktiv zu werden entfällt. Viele Fans einer berühmten Person wünschen sich beispielsweise ihre Idole kennenzulernen oder gar an ihrem Leben teilzuhaben. Genauso wie sich die Leser*innen von Tol-kiens Werken sicher in der einen oder anderen aussichtslosen Situation wünschen würden, eingreifen zu können.

Mitgefühl zeigt somit auch Grenzen auf. Zum einen, wenn die Situation der anderen Person gar nicht hinreichend bekannt ist, um Mitgefühl zu entwickeln. Zum anderen, wenn die Möglichkeit, eine mitfühlende Zuwendungshaltung zu entwickeln, fehlt. Beispielsweise wenn einem anderen Menschen ein unrechtmä-ßiges Übel zugefügt wird oder wurde, ohne dass für einen konkreten Menschen eine Zuwendung möglich ist. In diesem Kontext kommt die Anerkennung zu ihrer

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Funktion. Neben dem Begriff der Respektierung, welcher zuvor kurz zur Sprache kam, scheint mir der Begriff der Würdigung entscheidend zu sein. Eingestiegen bin ich mit der These, dass Datas Fähigkeit mitzufühlen die entscheidende Vo-raussetzung dafür ist, dass er die Menschenwürde besitzt. Nun taucht die Wür-digung im Kontext der Anerkennung erneut auf. Nicht nur ist Datas Fähigkeit mitzufühlen Voraussetzung für seine Menschenwürde, sie ist auch Voraussetzung dafür, dass er die Würde anderer Menschen anerkennt. Denn genau diese An-erkennung der Menschenwürde liegt der mitfühlenden Zuwendung gegenüber einem anderen abstrakt zugrunde.

Anerkennung kann mit Mitgefühl einhergehen, sie kann aber auch losgelöst da-von auftreten, so gesehen als Ersatz, für den Fall, dass mitfühlende Zuwendung nicht möglich ist. Denn anstatt durch die mitfühlende Zuwendung die Würdi-gung der anderen Person auszudrücken, geschieht das im Zuge der Anerkennung, unabhängig von einer Handlung gegenüber dem anderen. Es handelt sich also um eine abstrakte Anerkennung der Menschenwürde, welche jedoch keinesfalls pas-siv ist, sich aber in vielen verschiedenen Formen ausdrücken kann.

In dieser ersten begrifflichen Abgrenzung des Mitgefühls wurden bereits erste Grenzen des Mitgefühls angedeutet. Ausführen möchte ich diese anhand einer bereits angedeuteten Thematik, dem Mitgefühl auf Distanz. 3 Objektive Grenzen des Mitgefühls – Entfernung

Dieser Text unterscheidet zwischen objektiven und subjektiven Grenzen von Mit-gefühl, wobei die Beschäftigung mit den subjektiven Grenzen ausgeklammert werden soll. Selbstverständlich ist die Fähigkeit, Mitgefühl zu empfinden, immer an eine konkrete Person, aber auch eine konkrete Situation gebunden. Es handelt sich also um eine höchst individuelle Fähigkeit mit subjektiven Grenzen. Diese ergeben sich aus höchst individuellen Voraussetzungen der einzelnen Menschen. Hier sind persönliche Erfahrungen, Persönlichkeitsmerkmale und die psychische Verfassung von Bedeutung. Damit handelt es sich bei subjektiven Grenzen von Mitgefühl um einen grundlegenden Themen- und Forschungskomplex der Psy-chologie, welcher hier nicht weiter ausgeführt wird.

Stattdessen soll der Fokus auf den objektiven Grenzen liegen. Gemeint mit der Bezeichnung objektive Grenzen sind an dieser Stelle gesamtgesellschaftliche

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Phänomene, welche gewissermaßen vereinfacht für eine Allgemeinheit betrachten werden. Wen genau diese Allgemeinheit meint, setzt paradoxerweise selbst eine subjektive Wertung voraus und lässt sich somit nicht abschließend definieren. Die Betrachtung der objektiven Grenzen von Mitgefühl soll eine abstrakte Vorstufe zu einer weiterführenden individuellen Beschäftigung mit den subjektiven Grenzen von Mitgefühl darstellen, bei welcher eine Konkretisierung der objektiven Gren-zen vorgenommen werden kann.

Objektive Grenzen von Mitgefühl liegen in verschiedenen Ausprägungen des Phänomens der Entfernung, welche im Grunde eine mitfühlende Zuwendung gegenüber einem anderen blockiert und somit eine mitfühlende Zuwendungs-haltung ins Leere laufen lässt. Anhand von Beispielen wird das Phänomen der zeitlichen Entfernung genauer betrachtet, daran anknüpfend soll die Bedeutung von Mitgefühl im jeweiligen Kontext erörtert werden und diskutiert werden, welche Rolle der Anerkennung hier zukommt. Die angestellten Beobachtungen können auch auf die Phänomene der räumlichen oder gefühlten Entfernung übertragen werden. Alleine die Möglichkeiten der Anerkennung unterscheiden sich jeweils. 3.1 Zeitliche Entfernung

Eine zeitliche Entfernung zu einer anderen Person birgt ein Hindernis für Mit-gefühl in zweierlei Hinsicht: Zum einen ist ein empathisches Verständnis der Si-tuation dieser Person schwer, wenn die Situation nicht aktuell ist, sondern in der Vergangenheit liegt. Zum anderen ist eine unmittelbar mitfühlende Zuwendungs-haltung zu jemandem, für den diese Situation in der Vergangenheit liegt, unmög-lich. Zunächst muss also geklärt werden, ob Empathie, also der Nachvollzug der Gefühle eines anderen, angesichts einer solchen Hürde möglich ist. Erst dann ist die Voraussetzung für Mitgefühl gegeben. In einem zweiten Schritt wird die Frage gestellt, wie eine mitfühlende Zuwendungshaltung trotz dieser zeitlichen Entfer-nung möglich sein kann, oder ob zumindest ein Ersatz besteht.

In meinen folgenden Ausführungen werde ich an meine Tätigkeit an der Evan-gelischen Versöhnungskirche an der KZ-Gedenkstätte Dachau anknüpfen, indem ich beide Probleme anhand von Beispielen aus der Erinnerungsarbeit behandeln werde.

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Die Zeit des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945 steht in allen Bundesländern Deutschlands, wenn auch in leicht unterschiedlichen Ausprägungen und für ver-schiedene Klassenstufen, auf dem Lehrplan des Geschichtsunterrichts. Die ver-schiedenen Aspekte müssen häufig in recht kurzer Zeit vermittelt werden. Das führt dazu, dass gerade die Thematik der Verfolgung von verschiedenen Bevöl-kerungsgruppen recht kurz abgehandelt werden muss. Die Zeit, sich im Unter-richt mit Biographien von Verfolgten zu beschäftigen, fehlt oft. Stattdessen werden Schüler*innen mit Zahlen und Statistiken versorgt, die dem Schicksal des und der Einzelnen keinen Raum lassen können. Verständlicherweise ist ein empathisches Verständnis der Situation einer Einzelperson nicht möglich, wenn alleine Infor-mationen aus Statistiken vermittelt werden. Die Information, dass über 6 000 000 Juden und Jüdinnen von den Nationalsozialisten ermordet worden sind, ist ein wissenschaftlicher Fakt, aber dem empathischen Verständnis absolut unzugäng-lich. Es handelt sich um eine Zahl ohne Gesicht.

Anders ist es bei der biographischen Beschäftigung mit einer Person. Das Schicksal einer einzelnen Person wird in den Vordergrund gerückt. Aber auch hier ist ein empathisches Verständnis nicht immer möglich. Einige Überleben-de haben sich nach 1945 dazu entschieden, über ihre Geschichte zu sprechen und somit Einblicke zu gewähren. Viele Überlebende haben jedoch nicht in der direkten Nachkriegszeit mit ihren Berichten begonnen, zum einen aus einer persönlichen Entscheidung heraus, zum anderen aber auch, weil ihre Erzählun-gen lange Zeit nicht gefragt, nicht einmal erwünscht waren. Es ist nicht auszu-schließen, dass sich manche Erinnerungen über Jahrzehnte hinweg verändern. Hinzu kommt, dass ein tatsächliches Verständnis vor allem für jene, welche die Zeit des NS-Regimes nicht erlebt haben, nicht uneingeschränkt möglich ist, da die Situation, in welcher die Erinnerung entstanden ist, nicht abschließend nachvollzogen werden kann. Noch schwieriger wird es bei denjenigen, die die Verfolgung nicht überlebt haben. Häufig sind die einzigen Dokumente, wenn überhaupt welche vorhanden sind, durch die Nationalsozialisten beziehungs-weise die SS angelegt worden. Hinter der Sprache der Täter*innen lässt sich die wahrhafte Person kaum erahnen. Zwar tragen die Forschungen von Histori-ker*innen, beispielsweise an Gedenkstätten von ehemaligen Konzentrations-lagern und durch das Arolsen Archive dazu bei, Lücken in solchen Biografien

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zu schließen, was jedoch über die vorhandenen Dokumente hinausgeht, kann nicht rekonstruiert werden.

Wenn man die Bedeutung des empathischen Verständnisses in Bezug auf Mit-gefühl ernst nimmt, so ist Mitgefühl mit den Verfolgten des NS-Regimes in den meisten Fällen nicht möglich. Und doch resigniert die Erinnerungskultur nicht vor dieser Erkenntnis. Vielmehr werden biographische Ansätze, vor allem im Rahmen von Gedenkstättenarbeit immer weiter in den Vordergrund gerückt. Eine Entwicklung, die auch damit zu erklären ist, dass es immer weniger Zeitzeug*in-nen gibt. Ein Beispiel ist die Dachauer Initiative Gedächtnisbuch für die Häftlin- ge des KZ-Dachau . Hierbei können Privatpersonen eigenständig Recherchen zu einem ehemaligen Häftling anstellen und ihre individuelle Beschäftigung mit der Biographie der Person in einer Kurzbiographie zusammenstellen, welche Einblick in das Leben dieser Person geben soll.

Auch wenn es nicht möglich ist, ein vollkommenes, tatsächliches Verständnis für das Leben einer Person aufzubauen, so ist es dank solcher Projekte doch mög-lich, zumindest eine Idee zu bekommen. 3.3 Schwierigkeit der mitfühlenden Zuwendung

Fraglich ist, ob eine solche empathische Idee ausreicht, um die weiterführende mitfühlende Zuwendungshaltung zu entwickeln. Vor kurzem erzählte mir eine Kommilitonin, sie könne nicht verhindern, sich in gewisser Weise für die Ver-folgungen im Nationalsozialismus schuldig zu fühlen, ein Ereignis also, das weit vor ihrer Geburt stattgefunden hat. Schuld ist jedoch nur möglich, wenn man ent-weder durch Handeln oder Unterlassen eine Pflicht verletzt hat. Objektiv schei-nen diese Schuldgefühle nicht plausibel zu sein. Wenn man aber annimmt, dass sie aufgrund einer empathischen Idee gegenüber den Verfolgten des NS-Regimes, welche zu einem empathischen Verständnis komplementiert wurde, eine mitfüh-lende Zuwendungshaltung entwickelt hat, sind diese Schuldgefühle erklärbar. Aus einer mitfühlenden Zuwendungshaltung ergibt sich ein Bedürfnis, diese Haltung auch in einer tatsächlichen Zuwendung zu realisieren. Das ist jedoch in diesem Fall nicht möglich, da die Verfolgung der Nationalsozialist*innen in der Vergan-genheit liegt. Diese Zuwendung kann also nicht realisiert werden, woraus sich sol-che Schuldgefühle ergeben.

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Zunächst möchte ich darauf eingehen, weshalb es schädlich ist, wenn Mitgefühl in diesem Zusammenhang zu Schuldgefühlen führt. Um das zu erörtern, werde ich Bezug nehmen auf Erfahrungsberichte und Gespräche von meiner Tätigkeit in Dachau. Ich erinnere mich gut an Aussagen von Personen, die sich beruflich viele Jahre an der Gedenkstätte Dachau oder der Evangelischen Versöhnungskirche mit den Unrechtstaten der SS im Konzentrationslager Dachau beschäftigt haben: Man dürfe die Ereignisse auf der einen Seite nicht zu nah an sich heranlassen, solle auf der anderen Seite aber aufpassen, dass man nicht zu sehr abstumpfe .

Wer an einem solchen Ort arbeitet und von ständigen Schuldgefühlen beglei-tet wird, der kann diese Schuldgefühle nicht lange ertragen. Genau genommen stehen sich diese beiden Seiten, vor denen gewarnt wurde, gar nicht konträr ge-genüber, sondern gehören zusammen. Denn wer die Geschichte so nah an sich heranlässt, dass er Schuldgefühle entwickelt, für den ist es ein pragmatischer Ausweg, demgegenüber abzustumpfen, andernfalls folgt eine psychische Über-lastung. Beide möglichen Alternativen, soviel steht fest, stehen einer guten Er-innerungsarbeit im Weg.

Ähnliches gilt für die Menschen, die nicht an einer KZ-Gedenkstätte arbeiten, sondern einen solchen Ort besuchen. Noch vor wenigen Jahrzehnten war es üblich, auf Rundgängen durch Gedenkstätten den Besucher*innen sogenannte Schockbil-der zu zeigen. Als Schockbilder werden Bilder bezeichnet, auf denen die Bedingun-gen in den Konzentrationslagern häufig kurz nach der Befreiung festgehalten wur-den. Während der Kriegsjahre waren Konzentrationslager extrem überfüllt und die Nahrungsmittelrationen reichten bei weitem nicht aus, um alle Häftlinge zu ernähren. Hinzu kamen Epidemien, welche sich auf dem engen Raum, begünstigt durch katastrophale hygienische Bedingungen, rasant ausbreiteten. Im KZ-Da-chau kamen die Krematorien in den letzten Monaten vor der Befreiung aufgrund der hohen Sterberaten nicht mehr mit der Verbrennung der Leichen hinterher. Die amerikanischen Soldaten fanden bei der Befreiung Leichenberge und ausgemer-gelte Häftlinge vor, was sie auf Fotografien festhielten.

Wem auf einem solchen Rundgang diese Art von Bildern gezeigt werden, dem bleiben gewissermaßen zwei Möglichkeiten. Zunächst zu der fataleren der beiden: Es ist ihm unmöglich, die abgebildeten Menschen als Menschen zu erkennen. Sie werden zu einem fremden Gegenüber. Hierbei handelt es sich genau genommen bereits um die Frage nach dem empathischen Verständnis, welches fehlschlägt. Da hier alle Möglichkeiten des Mitgefühls verwehrt werden, besteht die Gefahr,

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dass die Betrachter*innen eher bereit sind, sich mit den Täter*innen als mit den Opfern zu solidarisieren, da sie unter Umständen eher in der Lage sind, diese als Menschen zu erkennen.

Aber auch wenn es den Betrachter*innen möglich ist, die abgebildeten Men-schen als Menschen zu erkennen und daraufhin eine Art empathische Idee zu entwickeln, werden sie Mitgefühl in Form von Mitleid empfinden, das sie hilflos zurücklässt, denn eine Zuwendung gegenüber diesen Menschen ist unmöglich, woraus für die Betrachter*innen Schuldgefühle entstehen. Höchstwahrscheinlich lässt sie diese Erfahrung schockiert zurück, daher auch der Name Schockbilder. Aus dieser Erfahrung heraus wird die Bereitschaft der Betrachter*innen, sich weiter mit diesem Thema auseinander zu setzen, erheblich gemindert. Wer heute Menschen im Alter ab ca. 50 Jahren fragt, wenn sie denn zu Schul- oder Jugendzei-ten in einer Gedenkstätte gewesen waren, welche Erinnerung sie damit verbinden, der wird von dieser negativen Erfahrung häufig noch einen Nachklang finden. Oft bleibt diesen Menschen im Gedächtnis, dass die Beschäftigung mit den Verfolgten des Nationalsozialismus schockierend sein muss.

Mitgefühl ist somit in Bezug auf eine zeitliche Entfernung grundsätzlich mög-lich, allerdings kann es sich nur um eine Form des Mitgefühls handeln, bei wel-cher die mitfühlende Zuwendungshaltung blockiert ist, was zu Schuldgefühlen führt. Daraus folgen gravierende Probleme für eine gelungene gesamtgesellschaft-liche Aufarbeitung der Geschichte. Selbstverständlich ist die Schlussfolgerung da-raus nicht, wie es von einigen Angehörigen national-konservativer Parteien und Organisationen propagiert wird, die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus ruhen zu lassen. Vielmehr stellt sich die Frage, ob Mitgefühl an dieser Stelle an-gemessen ist und ob sich nicht eine andere Form des angemessenen Umgangs aufzeigt. 3.4 Anerkennung statt Mitgefühl?

Eine bereits angesprochene Alternative ist die Anerkennung, also die Würdigung einer Person, ohne dabei eine mitfühlende Zuwendungshaltung zu entwickeln. Wie bereits angesprochen kann sich Anerkennung in vielen verschiedenen For-men realisieren, der Begriff ist somit durch die Erinnerungskultur selbst ausfül-lungsbedürftig. Entscheidend ist dabei, dass durch die Anerkennung die sonst im

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Mitgefühl enthaltene Anerkennung der Menschenwürde isoliert realisiert wird. Das kann nur funktionieren, wenn eine solche Anerkennung so ausdifferenziert wie möglich stattfindet. Ob also eine Kranzniederlegung für die Gesamtheit der Verfolgten des Naziregimes ausreicht, um eine angemessene Anerkennung darzu-stellen, ist fraglich. Einen Gegenentwurf stellen biographische Projekte dar, wel-che vor allem auch auf die Geschichten der einzelnen Menschen vor und nach ihrer Verfolgung eingehen und somit versuchen, sie nicht nur auf ihre Rolle als Opfer zu reduzieren.

Dass gelungene Anerkennung möglichst differenziert stattfinden sollte, zeigt sich auch daran, dass es in der Erinnerungskultur in Deutschland insgesamt in den letzten Jahren verstärkt Bemühungen gibt, die verschiedenen Verfolgtengrup-pen differenzierter zu betrachten und sich dabei auch lange Zeit ignorierten Ver-folgtengruppen, wie beispielsweise den Häftlingsgruppen der sogenannte „Aso-zialen“ und sogenannten „Berufsverbrechern“ zuzuwenden. 4 Die Grenze des Mitgefühls

Abschließend soll eine Idee der Grenze des Mitgefühls formuliert werden. Um diese zunächst zu lokalisieren, ist es wichtig zu verstehen, welche Frage wir in-direkt mitstellen, wenn wir nach Mitgefühl fragen: Habe ich diesen Menschen als gleichartigen Menschen erkannt, der, genau wie ich, Träger der Menschenwürde ist? Auch wenn diese Frage unabhängig von Mitgefühl gestellt werden kann, beispiel-weise in Bezug zur Anerkennung, folgen aus ihr in Bezug auf Mitgefühl nur zwei Möglichkeiten: entweder Mitgefühl oder kein Mitgefühl. Zwar kann die Antwort für eine Person in Bezug auf eine andere bestimmte Person immer anders aus-fallen, je nachdem, wann gefragt wird, auf die Frage selbst gibt es jedoch nur diese Antworten: ja oder nein. Daraus folgt, dass sich die Zustände, welche sich daraus ergeben, Mitgefühl oder kein Mitgefühl, notwendigerweise ausschließen. Dem-nach handelt es sich bei der Grenze des Mitgefühls um eine polarisierende Grenze. Der Zustand der Grenze selbst, sowohl Mitgefühl als auch kein Mitgefühl, kann nicht eingenommen werden. Sie existiert nur als abstraktes Gedankenkonstrukt.

Am Beispiel der Schockbilder lässt sich erkennen, welche Bedeutung diese Grenze haben kann. Das liegt daran, dass hier auf der anderen Seite der Grenze nicht nur der Zustand kein Mitgefühl liegt, sondern darüber hinaus ein negativer

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Spiegelzustand folgen kann, eine Identifikation mit den Täter*innen. Andernfalls kann die Grenze aber auch im Dunkeln liegen, im Fall der Unkenntnis einer Per-son. Wer einen Menschen nicht kennt, der empfindet kein Mitgefühl für ihn, ohne dass hier aus dem Zustand kein Mitgefühl eine Wertung gezogen würde. Die ent-sprechende Person ist sich über den anderen gar nicht bewusst. Hieraus folgt, dass die vorangehende Frage, ob der andere als gleichwertiger Mensch erkannt wird, erst gestellt werden kann, wenn ein Bewusstsein in Bezug auf diesen anderen be-steht. Erst dann entscheidet sich, auf welcher Seite der Grenze sich ein Mensch in Bezug zu einem anderen lokalisiert. Eine solche Lokalisierung unterliegt somit nicht nur temporalen Schwankungen, sondern verläuft auch immer individuell zwischen zwei Personen.

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Mónica García Vicente und Joshua Bhima, Hannover-Linden 2021

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Grenzüberschreitungen im Zwischenmenschlichen

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Karolin Kuhn

Sexuelle Gewalt ist Grenzüberschreitung. Ihre Prävention Grenzarbeit

1 Sexuelle Gewalt als Grenzüberschreitung Bei sexueller Gewalt handelt es sich um Grenzüberschreitungen, um sexuelle Handlungen an oder vor Betroffenen, an denen diese nicht teilhaben wollen oder denen sie „aufgrund körperlicher, seelischer, geistiger oder sprachlicher Unterle-genheit nicht wissentlich“ zustimmen können.1 Es geht somit um Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung von Minderjährigen oder Erwachsenen. Täter*innen instrumentalisieren ihre eigene Macht und die Abhängigkeit des/der anderen – auf Kosten der Betroffenen. Dass dabei Macht und Gewalt im Mittelpunkt stehen kön-nen und gar nicht die Sexualakte an sich, betont der Begriff „sexualisierte Gewalt“.

Zudem – und das wird in der Debatte oft noch übersehen – kann sexuelle Ge-walt auch dadurch ausgeübt werden, dass der Schutz vor Übergriffen oder die Aufrechterhaltung expliziter oder impliziter moralischer Normen so betont wird, dass mann*frau ihre sexuellen Bedürfnisse auch einvernehmlich nicht mehr ohne negative Konsequenzen befriedigen können. Ein klassisches Beispiel ist für die BRD die Strafbarkeit einvernehmlicher homosexueller Kontakte zwischen Männern bis 1994. Sexualethische Maßstäbe und daraus resultierende Normen, die eigentlich dem Leben dienen und es schützen sollen, können als allzu star-re Grenzen der selbstbestimmten Entfaltung der Individuen im Wege stehen. Auch in diesem Fall handelt es sich um sexuelle bzw. sexualisierte Gewalt, denn die ausgeübte Gewalt hat einen negativen Einfluss auf die Sexualität, sexuelle Entfaltung, Selbstbestimmung und Entwicklung von Betroffenen – diesmal durch Verhinderung. 2 Sexuelle Gewalt und das Problem der unklaren Definitionen und Grenzen

Schon die obige Definition zeigt, dass eine Kultur der Prävention, die eine positi-ve psychosexuelle Entwicklung sowie die sexuelle Selbstbestimmung aller zu för-dern und zu schützen sucht, einen Balanceakt darstellt. Die Frage der Grenzen oder Kipppunkte ist entscheidend, nämlich die Frage, wer was wann als sexuelle Gewalt definieren bzw. aus welchen Schutz- oder anderen psychologischen, ethi-schen, kulturellen etc. Gründen einvernehmliche Sexualkontakte bis hin zu For-men des Solosex verbieten darf.

Dies gilt zunächst im Blick darauf, wer weshalb wovor zu schützen ist. Das deut-sche Strafgesetzbuch legt das Mindestalter, ab dem Jugendliche sexuellen Aktivi-täten willentlich und wissentlich zustimmen können, auf 14 Jahre fest. Der Blick auf die höchst heterogene weltweite Lage zeigt, dass es sich dabei um eine mehr oder weniger willkürliche, kulturell und historisch geprägte Setzung handelt.2 Die jeweiligen Altersgrenzen allein besagen zudem nicht, ob in den jeweiligen Län-dern auch homosexuelle Kontakte straffrei oder legal wären. Endgültig überwun-den wurde die strafrechtliche Ungleichbehandlung männlich homosexueller Ak-tivitäten in Deutschland – wie gesagt – erst 1994. Die Regierung Kohl begründete die besondere Schutznotwendigkeit männlicher Jugendlicher vor homosexuellen Erfahrungen noch 1987 mit der „Möglichkeit einer dauerhaften Umprägung Ju-gendlicher in ihrem Sexualverhalten“.3 Auch § 179 StGB (Sexueller Missbrauch widerstandsunfähiger Personen) wurde erst 2016 gestrichen. Dies entkriminali-sierte die Sexualität von Menschen mit geistiger Behinderung dahingehend, dass ihnen jetzt nicht mehr grundsätzlich das Recht auf Sexualität abgesprochen wird.

Ebenso unscharf und in vielen Bereichen ungeklärt ist die Frage, wo so starke Asymmetrien bzw. Abhängigkeiten bestehen, dass sich eine sexuelle Beziehung auch unter Erwachsenen verbietet, wie das z. B. für den Bereich der Psychothe-rapie festgeschrieben ist. Wie sind Beziehungen zwischen Chefarzt und Stations-schwester, Seelsorgerin und einem von ihr in einer Trauerphase Begleiteten, Sachbearbeiterin im Sozialamt und einer geflüchteten Klientin zu beurteilen? Wann rechtfertigt die in der Asymmetrie liegende Abhängigkeit und Vulnera-bilität Schutzbestimmungen bis hin zum grundsätzlichen Verbot sexueller Kon-takte in diesen Beziehungen? Wann schränken Regelungen die sexuelle Selbst-bestimmung der Betroffenen zu weit ein und verhindern mögliche frei gewählte Begegnungen?4

Zu den Herausforderungen in der Definition kommen Verfahrensfragen. In § 177 Abs. 1 StGB werden sexuelle Handlungen gegen den erkennbaren Willen einer Person unter Strafe gestellt. Da die Taten oft im Privaten und Geheimen ge-schehen, steht nicht selten Aussage gegen Aussage. Unschuldsvermutung trifft auf Opfervermutung , wobei (traumatisierte) Betroffene zurecht darauf drängen, mit dem Erlittenen Gehör zu finden und Gerechtigkeit zu erlangen.5 Allzu oft verhallt ihre berechtigte Anklage noch folgenlos für Täter*innen und retraumatisierend für sie selbst. So ist es verständlich und konsequent, dass die Anlaufstelle für Frau-en, die im kirchlichen Raum Gewalt erfahren haben, die Sicht der Betroffenen in den Mittelpunkt stellt.

Dennoch kann es nicht die Aufgabe von Betroffenen sein, Sachverhalte zu definie-ren, allein für Gerechtigkeit zu kämpfen oder gar Konsequenzen für Täter*innen festzulegen. Es ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe für gerechte Verfahren zu sorgen, die die berechtigten Interessen aller Beteiligten wahren und die Wahrheit zu ergründen suchen. Gute Präventionsarbeit ist nicht ohne entschiedene, gerech-te und transparente Verfahren der Intervention sowie die systematische Aufarbei-tung von sexueller Gewalt in der Vergangenheit denkbar. 3 Prävention als Grenzarbeit und Grenzüberwindung

Präventionsarbeit hat sich dem zu stellen, was einer Kultur entgegensteht, in der förderliche sexuelle Selbstbestimmung geschützt wird. Im Folgenden werden vier Problembereiche skizziert. 3.1 Gesellschaftliche Tabus sowie Aus- bzw. Begrenzungen in Diskurs und Handeln

Grundlegend geht es dabei um den Diskurs darüber, wer warum wovor wie zu schützen ist. So ein Diskurs findet, wie Michel Foucault7 herausstellte, nie in einem leeren oder neutralen Raum statt, sondern im Dispositiv, also dem Netz zwischen den relevanten Akteuren, Institutionen, Gesetzen, wissen-schaftlichen Erkenntnissen und moralischen Werten.8 „Das Dispositv ist also immer in ein Spiel der Macht eingeschrieben […]. Eben das ist das Dispositiv: Strategien von Kräfteverhältnissen, die Typen von Wissen stützen und von diesen gestützt werden.“9 Es ist also auch bei Fragen der Grenzziehung zwi-schen Gewünschtem und sexuell Gewaltvollem auf die Bedingungen zu ach-ten, unter denen sie stattfindet. Wer hat die Macht, Definitionen und Konse-quenzen festzulegen? Wessen Stimme wird in den Diskurs einbezogen, wessen Stimme bleibt ungehört oder verhallt? Wer agiert und über wen wird regiert? Was wird nach wie vor totgeschwiegen? Wo fehlt zur Beurteilung notwendiges Wissen? Etc.

Sexueller Kindesmissbrauch und seit der Me-too-Bewegung auch sexuelle Ge-walt zumindest an erwachsenen Frauen gewinnen zunehmend medial an Auf-merksamkeit. Das öffentliche Interesse hinkt aber nach wie vor weit hinter der gesellschaftlichen Bedeutung des Themas hinterher. Die europäische Union geht davon aus, dass jedes 5.  Kind vor dem 18.  Geburtstag sexuelle Gewalt erlebt.10Angesichts der oft dramatischen (gesundheitlichen) Konsequenzen11 handelt es sich dabei um einen handfesten Skandal. Präventionsarbeit ist also weiterhin he-rausgefordert, zunächst dem Diskurs den Boden zu bereiten und (persönliche, gesellschaftliche, religiöse sowie kulturelle) Tabus und Mythen zu entlarven, die es Menschen, die von sexuelle Gewalt oder der Verhinderung ihrer persönlichen Sexualität betroffen sind, schwermachen, Gehör, Glauben und Unterstützung zu finden. 3.2 Strukturelle Herausforderungen und grenzverletzende Machtsysteme in Organisationen

Zudem stellen sich soziologische Fragen. Der gesellschaftliche Aufschrei ist zu-recht groß, dass z. B. die Kirchen sexuellem Missbrauch an ihnen anvertrauten Menschen schier weltweit nicht nur nicht vorgebeugt, sondern Täter*innen sys-tematisch geschützt und sich der institutionellen Aufarbeitung zum Teil bis heute entzogen haben. Von einem organisationssoziologischen Standpunkt her betrach-tet ist dies aber leider gar nicht so verwunderlich.

Während Max Weber die Tatsache, dass in Organisationen der Fokus auf der Erledigung der Amtsgeschäfte liegt und dabei idealiter persönliche Empfindungs- elemente wie ein Gewissen, Scham- oder Schuldgefühle außen vor bleiben, posi-tiv konnotierte,12 stellt Geoff Moore heraus, dass Organisationen fast schon on-tologisch Horte unmoralischen Verhaltens sein können. Bezugnehmend auf die Arbeiten von Zygmunt Bauman betont er, dass komplexe Organisationen die moralischen Prinzipien der für sie Handelnden dadurch aushöhlen können, dass Entscheidungsfindung und -ausführung durch hierarchische Arbeits- und (Ver-antwortungs-)teilung voneinander getrennt sind und die Konsequenzen des orga-nisationalen Handelns für die Betroffenen oft nicht unmittelbar erfahren werden. So wohne ihnen schon systemisch die Möglichkeit zu Machtmissbrauch und Im-moralität inne.13

Die Gefahr, dass in Organisationen diese selbst, ihr Ziel oder ein jeweiliges Eigen- bzw. Gruppeninteresse geschützt und vor die berechtigten Anliegen von Anver-trauten gestellt wird, ist soziologisch und organisationstheoretisch hinreichend bekannt. Ihr sollte deshalb in der Prävention aktiv begegnet werden. Sexuellen Gewalttaten sowie ihrer Vertuschung wird vorgebeugt durch klare, etablierte und im Moment der Erschütterung Führung bietende Verfahrensweisen. So können im Interventionsfall die Rechte aller gewahrt werden. Dazu gilt es klar zu benen-nen, wer wofür verantwortlich ist – „sowohl im Sinne von Zurechenbarkeit als auch von Verpflichtung vor jemandem “.15 Wie Verantwortung, Transparenz und Rechenschaftspflicht im Blick auf Prävention, Intervention und Aufarbeitung zu leben sind, kann somit nicht allein den jeweiligen Organisationen überlassen wer-den. Es ist wiederum ein (gesamt-)gesellschaftlicher Wertbildungs- und Normie-rungsprozess vonnöten. Und natürlich obliegt es auch der Gesellschaft als Ganzer, die unabhängigen Kontrollstrukturen zu schaffen, die notwendig sind, um orga-nisationalem Versagen vorzubeugen. Wenn die Strukturen verlässlich Sicherheit geben, kann in Betroffenen bzw. ihren Vertrauenspersonen oder Tatzeug*innen wirklich das wachsen, was der antike Begriff der Parrhesia umschreibt: der Mut, die Freiheit und die Macht, die Wahrheit zu sagen – eben auch von unten nach oben.16 Diese handlungsleitenden Strukturen zu schaffen, dass diese Wahrheiten gehört und beachtet werden, ist Kernauftrag für Prävention.

Auch die Frage eines angemessenen Umgangs mit Täter*innen ist neu in den Blick zu nehmen. Sexuelle Gewalt zeichnet sich dadurch aus, dass Täter*innen ihre Macht nutzen, um eigene Bedürfnisse auf Kosten der Betroffenen zu befriedigen. Unabhängig davon, ob diese ihr Nein in der jeweiligen Situation zum Ausdruck zu bringen vermochten oder nicht, und unabhängig davon, ob ihr Körper auf die sexuelle Stimulation reagierte oder nicht, sind Betroffene nie (mit-)verantwort-lich für die Übergriffe. Die Taten sind allein den Täter*innen zuzurechnen. Es ist Teil der Perfidität sexueller Gewalt sowie der vorangegangenen Grooming-mechanismen, dass sich Betroffene oft (lebenslänglich) schuldig fühlen und mit Schamgefühlen zu kämpfen haben. Deshalb sind Betroffene von Verantwortlichen in Organisationen, Justiz und Hilfesystemen entschieden darin zu unterstützen, dass ihnen Gerechtigkeit widerfährt und die Täter*innen für ihre Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden. Betroffene müssen weder Verständnis für Täter*in-nen zeigen, noch eine etwaige Wut ablegen oder gar die Hand zur Versöhnung reichen, schon gar nicht, wenn ihnen Gerechtigkeit und das Wenige, das an Wie-dergutmachung (finanziell) möglich ist, verwehrt bleibt. All dies sollte eigentlich selbstverständlich sein, ist es aber leider noch keinesfalls, wie Betroffene, die wie Nestbeschmutzer behandelt, ausgegrenzt und retraumatisiert wurden, vielfach berichten. Hier sind Aufarbeitung und Konsequenzen für die Intervention drin-gend vonnöten – wie auch angemessene Angebote für Betroffene, die sie – so ge-wünscht – auf dem Weg der Heilung unterstützen können.

Gleichzeitig scheint einer weiteren Ausgrenzungs- oder Verdrängungsbewe-gung entgegenzuwirken zu sein. Täter*innen werden zunehmend als eine Art fau-ler Äpfel angesehen, die möglichst schnell entfernt werden müssen, um den Baum vor weiterem Schaden zu bewahren. Natürlich haben sie ihre gerechte Strafe zu erhalten, aber bei angstbesetzten, letztlich wieder auf das Wohl der Organisation zielenden Reaktionen entstehen weitere Probleme. So kann eine Null Toleranz-Politik z. B. dazu führen, dass das rechtliche Prinzip der Verhältnismäßigkeit auf-gegeben wird. Der Besitz des Bildes eines masturbierenden 17-Jährigen17 ist bzgl. der Rechtsfolgen im katholischen Kirchenrecht der schwersten Vergewaltigung kleiner Kinder potentiell gleichgestellt.18 Dies führt zu Ängsten bei nicht über-griffigen Geistlichen, die befürchten, im Anschuldigungsfall ohne langes Zögern als Sündenbock geopfert zu werden.19 Zugleich negieren vermeintlich radikal agie-rende Organisationen, dass die Grenzbereiche zwischen angemessenem (pädago-gischem) Verhalten, Grenzverletzungen und Grenzüberschreitungen eigentlich auch erst im Diskurs und der gelebten Praxis ausgehandelt werden müssten. Ein Erzieher wurde auf Drängen von Eltern hin mit Verweis auf das Schutzkonzept entlassen. Er hatte bei einem vollständig angezogenen Kind mit Windelpaket im Rollenspiel mit dem Finger auf der Hose „Fieber gemessen“. Sein Verhalten war sicher fragwürdig und ungeschickt, aber doch wohl kein Kündigungsgrund. Hätte man nicht eher mit dem jungen Mann bzw. dem ganzen Team an angemessenen Umgangsweisen und zu Nähe und Distanz, Gewalt und Kinderschutz arbeiten sollen? Auch solche vermeintlich klaren Reaktionen, können dazu beitragen, dass sich immer weniger Personen trauen, grenzverletzendes Verhalten von Kolleg*in-nen zur Sprache zu bringen oder bei eigenen Unsicherheiten offen Hilfe und Aus-tausch zu suchen. Denn nicht nur gute Täterarbeit ist Prävention, ja Opferschutz; auch das Ringen um (pädagogische) Standards, die selbstverständliche Konfron-tation und unterstützende Begleitung von Mitarbeiter*innen, deren Verhalten Fragen aufwirft, muss Anliegen und gelebte Praxis guter Prävention sein. Nur so kann eine Fehlerkultur entstehen, die die Balance wahrt zwischen Offenheit und Vertrauen sowie Klarheit und Konsequenz.

Noch schwieriger ist oft die Auseinandersetzung mit Übergriffen unter Peers sowie in Bereichen, in denen Sexualität nicht a priori ausgeschlossen ist, wie es z. B. bei Beziehungen zwischen Chefs und Angestellten der Fall ist. Hier sind die Grenzen oft nicht so klar. Carmen Kerger-Ladleif verweist z. B. darauf, dass Ju-gendliche Beziehungen und Sexualität lernen müssen. Sie unterscheidet zwischen Tester*innen und Täter*innen , wobei erstere Fehler machen, aber aufhören, wenn sie dies merken, nachfragen, Signale ernstnehmen, sich gegebenenfalls entschul-digen und sich grundsätzlich „richtig“, d. h. zum Wohl mit dem Einverständnis des/der anderen verhalten wollen.20 Daneben gibt es kindliche Übergriffe und ju-gendliche Täter*innen. Schutzkonzeptarbeit und Sexualpädagogik sollten gerade im Kinder- und Jugendbereich Hand in Hand gehen, damit Beziehungen, Sexua-lität und grenzwahrendes Verhalten gelernt und geübt werden können. Auch in der Praxis der Behindertenhilfe zeigt sich, dass viele der kognitiv eingeschränkten Täter*innen auf eine eigene Opfergeschichte zurückblicken, die nie aufgearbei-tet wurde. Zudem bleiben in der Regel Täter*innen und Betroffene weiterhin auf Gemeinschaftseinrichtungen angewiesen. Sie in ihren Beziehungen und sexuellen Erfahrungen zu begleiten, zu schützen, zu begrenzen und ihnen selbstbestimmte Zugänge zu ermöglichen, muss also ein Desiderat für die (präventive) Praxis sein, auch wenn man sich dabei in Grenzgebiete hineinbegibt, in denen ständig auf die Kipppunkte zwischen neuen Erfahrungen und Gewalt zu achten ist. 3.4 Von den Täterpotenzialen in uns

Schlussendlich ist der Blick auf jeden und jede von uns zu richten. Denn gera-de die Arbeit mit Täter*innen bzw. mit Menschen, die sich grenzverletzend ver-halten, setzt eine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte, den eigenen Verwundungen, dem eigenen Gewaltpotential und somit der eigenen Identität voraus – persönlich und als Organisation oder Gesellschaft. Der israelische Psy-chologe Dan Bar-On, der sich seit Jahrzehnten für einen Versöhnungsprozess zwischen Nachkommen von Holocaustopfern und Nazitäter*innen engagiert, stellt heraus, dass die Strukturierung der Identität mittels eines „Anderen“ , also ein auf einem äußeren Feindbild bzw. einer monolithischen Haltung basierendes Identitätskonzept überwunden werden muss.21 Die dazu nötige Erfahrung be-schreibt er wie folgt:

Wahrscheinlich gilt für das Thema der (sexuellen) Gewalt ganz analog, dass zu-nächst mit eigener Betroffenheit und eigenen Lebenswunden umgegangen werden muss, bevor die eigenen Täteranteile und das Gewaltpotential in einem selbst, der eigenen Organisation, Religion, Kultur oder Gesellschaft angenommen und in-tegriert, d. h. in einen fruchtbaren und offenen inneren Dialog gebracht werden können, der all die Ungereimtheiten und Widersprüche, die Grauzonen und eige-nen Grenzen nicht mehr verleugnet. Dan Bar-Ons Erfahrungen können uns dabei eine Mahnung sein, wo der Weg zu beginnen hat.

Und vielleicht wird auch Präventionsarbeit erst dann ihr volles Potential entfalten und zu einem wirksamen Werkzeug im Schutz vor Übergriffen werden, wenn die jeweils eigenen Täterpotentiale erkannt und angenommen sind. Hier hat Präven-tion den Blick zu weiten und die blinden Flecken ins Licht zu rücken – die wahr-scheinlich schwerste aller Präventionsaufgaben.

Auf der Grundlage alles Vorangegangenen kann in einem inklusiven, offenen Dis-kurs verhandelt werden, wer oder was durch Prävention wovor geschützt werden soll. Vielleicht sollte Vulnerabilität das Leitwort für diese Wertedebatte sein.

Verwundbarkeit als die Anfälligkeit, (sexuell) missbraucht zu werden oder andere (sexuell) zu missbrauchen, wohnt allen Menschen, jeder Organisation, jeder ge-sellschaftlichen Gruppe inne. Normen und damit Grenzen sind so zu setzen, dass die Verwundbarkeit von Individuen und Gruppen geschützt wird. Dann können Strukturen dazu beitragen, dass Beziehungen so gestaltet werden, dass sich Men-schen öffnen können, Verwundbarkeit wagen dürfen und in eine (frei gewählte) Intimität hineinwachsen können, die befruchtet und befreit.

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Anna Noweck
Grenzen der Anwaltschaft. Vom wohlmeinenden Paternalismus zur responsiven Repräsentation

Bei der Konzeption und Moderation eines Panels am Katholikentag 2018 hatte ich die Theologinnen Musa Dube (Gaborone) und Regina Polak (Wien) eingeladen, um über Frauen als „Grenzgängerinnen“ – so der Titel des Podiums – zu spre-chen, die als Arbeitsmigrantinnen im Setting einer einerseits global entgrenzten, andererseits doch neo-kolonialen Weltordnung Grenzen zwischen den Welten, zwischen Peripherien und Zentren überschreiten. Neben vielen interessanten Ein-sichten und Diskussionsfäden blieb für mich als Theologin in der Sozialen Arbeit, die sich intensiv mit Fragen der Solidarität, der Option für die Armen und der ethischen Reflexion sozialarbeiterischen Handelns auseinandergesetzt hatte, die Frage offen, wie ich selbst als vielfach privilegierte, weiße, westliche, akademisch gebildete Frau weiterhin über Problemlagen, denen ich selbst nicht ausgesetzt bin, die ich vielmehr sogar mitverschulde oder davon profitiere, überhaupt sprechen könne , ob ich Menschen in mir letztlich fremden Kontexten überhaupt vertreten dürfe . Machte ich mich damit nicht selbst des Paternalismus schuldig, den ich doch weit von mir weisen wollte? Die „Grenzgängerinnen“ hatten mir also meine eigenen Grenzen und die Grenzen meines professionellen Handelns aufgezeigt. Und diese Frage treibt mich um: Können wir – gerade in der Sozialen Arbeit – be-rechtigt für andere – aus ganz anderen Lebenskontexten, Milieus, Kulturen – spre-chen und wenn ja, in welcher Art und Weise?

Um dem auf die Spur zu kommen, werde ich im Folgenden zunächst das an-waltschaftliche Selbstverständnis Sozialer Arbeit und die entsprechende Praxis der Vertretung ihrer Klient*innen problematisieren  (1). Ausgehend von dieser Problemstellung schärft die Zusammenschau mit der postkolonialen Debatte, ge-nauer Gayatri Chakravorty Spivaks Reflexionen zur Repräsentation, noch einmal den Blick auf unsere Wahrnehmung anwaltschaftlicher Vertretungspraxen  (2). Um einen Ausweg aus dem Dilemma von Unmöglichkeit und Unabdingbarkeit von Anwaltschaft aufzuzeigen, werde ich schließlich im Rekurs auf Iris Marion

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Youngs Entwurf einer kommunikativen Demokratie einen Ansatz responsiver An-waltschaft ableiten  (3).1 So möchte ich einerseits deutlich machen, wo Grenzen unzulässiger Weise überschritten werden, und andererseits aufzeigen, wie Gren-zen in reflektierter und rückgekoppelter Weise doch durchlässig gemacht und da-mit bearbeitbar werden können. 1 Anwaltschaft Sozialer Arbeit in der Spannung ihrer Mandate

Anwaltschaft für Benachteiligte gehört zum ureigenen Anspruch und Selbst-verständnis Sozialer Arbeit. Anwaltschaft im Sinn einer Vertretung für Schutz-befohlene auf der Machtbasis von Ressourcen, Netzwerken und Status gegen die symbolische Gegenleistung der Ehrerbietung strukturiert bereits die historischen Anfänge der Sozialen Arbeit. Diese „besondere Form asymmetrischer Wechsel-seitigkeit“2 erstreckt sich bis in die heutige professionelle Beziehung zwischen Klient*in und Sozialarbeiter*in hinein: Sozialarbeiter*innen, aber auch die Träger auf institutioneller Ebene verstehen sich als Anwält*innen benachteiligter, von ge-sellschaftlichen Prozessen ausgeschlossener Menschen und suchen gesellschaft-liche Rahmenbedingungen zu deren Gunsten zu verändern. Während eine weiter-gehende Klärung der Begrifflichkeit in der Sozialen Arbeit jedoch fehlt3, verschärft die Einbindung der Sozialen Arbeit in das sogenannte Doppelmandat4 die damit virulenten Fragen von Vertretung, Macht und Paternalismus.

Das Doppelmandat spannt die Sozialarbeiter*in zwischen das Mandat der Kli-ent*in und die Beauftragung durch den Staat und damit zwischen die Pole der Hilfe und der Kontrolle ein. Einerseits soll die Klient*in bei der Gestaltung eines gelingenden Lebens unterstützt werden, andererseits ist Soziale Arbeit vom Staat beauftragt, Menschen zur Einhaltung sozialer Normen zu bewegen und bleibt so grundlegend „eingebunden in gesellschaftliche Deutungskontexte, Aufgabenzu-weisungen und sozialpolitische Strategien“5. In ihrer Anwaltsfunktion für margi-nalisierte Individuen und Gruppen, die sogenannten „schwachen Interessen“, hat die Soziale Arbeit den Anspruch, gerade die, die sich selbst nicht vertreten kön-nen und mithin „unsichtbar und politisch wirkungslos bleiben“6 „nach außen“ in den gesellschaftlichen, staatlichen, politischen Bereich hinein zu vertreten. In ihrer umfangreichen Analyse zur advokatorischen Anwaltschaft stellt Martina Messan allerdings fest, dass sich im Kontext des aktivierenden Sozialstaates zwei Klassen von Klient*innen hinsichtlich ihrer ökonomischen Förderungswürdig-keit formieren.7 Vorrangig nach außen vertreten werden vorzugsweise die, für die gemäß ihrer wirtschaftlichen Leistungs- und Anschlussfähigkeit Mittel eingeworben werden können, womit sich wiederum die Träger im Bereich des Marktes sozialer Dienstleistungen platzieren können. So vermengen sich deren eigene Interessen als Wohlfahrtsunternehmer mit dem Anliegen der Vertretung von Klient*innen. Auf der anderen Seite kommt es dagegen zu Abgrenzungen: „Man scheut die Identifikation mit ‚selbstverschuldeten Verlierern‘ und Men-schen, die vermeintlich ohne Gegenleistungen auf Sozialleistungen zugreifen.“8Messan nimmt an, dass derartige Grenzziehungen in der Wahrnehmung von Anwaltschaft im Kontext der Entwicklung der Sozialpolitik kontinuierlich zu verfolgen sind: „Die Orientierung […] am jeweiligen sozialpolitischen Leitbild und an den Werten der Mittelschicht würde damit auf mögliche unveränder-te exkludierende Auswirkungen advokatorischer Anwaltschaft verweisen.“9 Ist die politische Repräsentation insofern an die Passung der Klient*innen an das ge-sellschaftlich vorherrschende Setting gebunden, reproduziert die Soziale Arbeit die gesellschaftlich bedingten Exklusionsmechanismen. So wird sie ihrer An-waltsrolle kaum gerecht, sondern baut selbst an den Grenzziehungen mit, anstatt diese aufzulösen.

Das Verständnis der Anwaltschaft drückt sich aber auch auf der Ebene der pro-fessionellen Beziehung zwischen Klient*in und Sozialarbeiter*in aus. Diese birgt die Chance des direkten Austauschs mit der zu vertretenden Gruppe ebenso wie die Herausforderungen einer vierfachen Asymmetrie angesichts des Wissensvor-sprungs der Sozialarbeiter*in, ihrer geschützten Position als Insider*in in profes-sioneller Distanz gegenüber der fachlich nicht versierten, existentiell gefährdeten Klient*in, die ihr Innerstes nach außen kehren muss.10 Ist es im Prinzip der An-spruch der Sozialen Arbeit, der Klient*in und deren „Eigensinn“ im Ansatz einer Hilfe zur Selbsthilfe Rechnung zu tragen, verbleibt die Deutungshoheit doch letzt-lich auf Seiten der versierten Sozialarbeiter*in.11 Die mit dieser asymmetrischen, hierarchisierten Positionierung verbundenen ungleichen Machtverhältnisse sind umso genauer zu reflektieren als die Sozialarbeiter*in in der Konzeption des Dop-pelmandats auch als Vertreter*in des Staates agiert und als solche gesellschaftliche Ansprüche ggf. auch gegen die Klient*in durchsetzt. Dies kann sich durchaus sub-til in Form der Auswahl kommunizierter Informationen oder der Darstellung von Interventionen äußern; im Hintergrund steht aber dabei immer die Frage nach der Richtung einer solchen „Normalisierungsmacht“, letztlich die Frage nach der zugrundeliegenden Idee des guten Lebens. Bleibt dies unterbestimmt und unre-flektiert, setzt sich Soziale Arbeit dem Verdacht der Bevormundung, des Paterna-lismus im Blick auf das Individuum und der Kolonialisierung der Lebenswelten insgesamt aus.

Ich möchte hier nicht auf die verschiedenen Rechtfertigungsstrategien des Pa-ternalismusproblems eingehen,12 sondern die Kritik – Soziale Arbeit wird ihrem hohen Anspruch der Anwaltschaft nach außen nicht gerecht, da nur eine partielle Vertretung erfolgt; die Machtposition im Inneren führt darüber hinaus dazu, dass die Gefahr der Bevormundung der zu Vertretenden besteht – in den Bezug zur weiteren Diskussion der postkolonialen Debatte stellen. 2 Anwaltschaft als Repräsentation in den Postcolonial Studies

Die Diskussion um die Möglichkeit und Legitimität von Anwaltschaft im Begriff der Repräsentation gehört zu den zentralen Themen postkolonialer Theorie, die Machtasymmetrien und die Ausübung epistemischer Gewalt im Kontext (neo-)kolonialer Prozesse zu ihrem Gegenstand hat. Dabei hat sie das Muster, aus der Position (vermeintlicher) Überlegenheit und Macht (wohlmeinend) über andere zu bestimmen, sie „als andere“ zu definieren und abzuwerten, klar herausgearbei-tet. Soziale Arbeit hat selbst Anteil am Prozess der Kolonialisierung, sodass ihre Rolle als Akteurin in den genannten Konstellationen grundsätzlich zu reflektie-ren ist.13 Darüber hinaus aber sind die Kritikpunkte auf jedwedes Feld asymme-trischer Beziehung und damit eben auch auf die Frage nach anwaltschaftlichem Handeln der Sozialen Arbeit generell anzulegen.

Gayatri Chakravorty Spivak setzt sich in ihrem klassischen Essay „Can the Sub-altern speak?“14 intensiv mit der Möglichkeit der Repräsentation auseinander. Sie zeigt auf, dass es gesellschaftliche Gruppen gibt, die sogenannten Subalternen, die in sich heterogen, den dominanten Gruppen gegenüber abgewertet und vom ge-sellschaftlichen Diskurs ausgeschlossen sind, „in epistemische[r] Diskontinuität“15stehen: Ihre Perspektiven werden nicht wahrgenommen, ihre Anliegen nicht ge-hört, sie besitzen keine Handlungsmacht im gesellschaftlichen Raum. Da die Sub-alternen nicht sprechen können bzw. nicht gehört werden, stellt sich unweigerlich die Frage, ob hier nicht ihre Vertretung gefordert sei.

Spivak zeigt in ihrer Analyse des Begriffs der Repräsentation auf, dass es dabei immer um ein Sprechen für in politischer Praxis sowie um ein Darstellen im Sinn einer deskriptiven Fremddarstellung geht. Beides ist verbunden, muss aber sorg-fältig unterschieden werden, denn mit der Vertretung ist immer auch die Gefahr des Otherings , also der Darstellung von außen, der (Re-)Produktion von Subalter-nität und der Ausübung epistemischer Gewalt verbunden. Repräsentation ist also unmöglich – und doch zugleich notwendig, um Subalterne und ihre Anliegen in die Aufmerksamkeit zu rücken: „In einem bestimmten Maß ist es also notwendig, zu lernen, wie man sich der Sache annehmen kann.“16

Hier kommen für Spivak die „Intellektuellen“ ins Spiel. Sie verweist einerseits auf deren Verstrickung in das herrschende System und die Gefahr ihrer Kompli-zenschaft, wenn sie aus der Position eines double binds heraus „genau die Struk-turen, die sie zu kritisieren such[en], intim bewohn[en]“17 und so in der Gefahr stehen, in ihrer Vertretungspraxis und der damit beabsichtigten Hinterfragung der dominanten Struktur selbst unbeabsichtigt deren Dominanz und Exklusion aufrechtzuerhalten. Dies macht die beständige Selbstreflexion ihrer Position, ihrer Verwobenheit in die herrschende Privilegienstruktur und ggf. auch ihrer eigenen Instrumentalisierung als token victim unabdingbar.18 Gleichzeitig überschreitet Spivak mit der Inpflichtnahme der Intellektuellen eine „simple Identitätspolitik“, die „die politische Praxis doch so lediglich auf das Private reduziert“19 lassen würde. Ansatzpunkt ist nicht die geteilte Identität, sondern der Widerstand gegen Unterdrückung in ihrer Vielfalt, in ihrer Kontextualität und in verschiedensten Erfahrungen. Spivak lässt uns zwar vor der Aporie stehen, dass die Subalternen nicht sprechen können, die Intellektuellen eigentlich nicht für sie sprechen kön-nen und dennoch aufgefordert sind, mit ihnen und für sie zu sprechen.20 In den oftmals kritisierten Widersprüchen Spivaks liegt deshalb vielleicht genau der Weg, um diesen Grat wandern zu können.

Und so sind es eben andererseits genau die Intellektuellen, die als aufmerksa-me Rezipient*innen Versuche der Repräsentation von Subalternen wahrnehmen und verstehen lernen müssen. Da die Subalternen nicht sprechen können, sie mit-hin nicht im Text vorkommen, verlangt Spivak, „ihr Schweigen zu vermessen“21. Es gilt, hier greift Spivak auf Derrida zurück, den leeren Zwischenraum im Text, „die unzugängliche Leere“ wahrzunehmen und die „Stimme des anderen in uns, delirieren [zu] lassen“22. Die Intellektuellen sollen mit den Subalternen „in eine Struktur der Verantwortlichkeit […] eintreten, in der Antworten in beide Rich-tungen fließen“23, sie sollen eine alternative Wissensproduktion vorantreiben und Interdependenzen erkennen. Ziel ist es letztlich, am Selbstverständnis der Subal-ternen als Träger*innen politischer Rechte und ihrer aktiven Beteiligung als aktive Staatsbürger*innen zu arbeiten.24

Drei Aspekte nehme ich daraus für die Frage der anwaltschaftlichen Vertretung in der Sozialen Arbeit mit: (1) Spivak macht mit ihrer Analyse deutlich, dass genau die zu vertreten sind, die aus dem System fallen, darin nicht gehört und somit ausgegrenzt werden; diese Subalternen fasse ich auch in den „schwachen Interes-sen“, die im Kontext ökonomischer Logik aus der Anwaltschaft Sozialer Arbeit ausgeschlossen werden. (2) Die Subalternen können ihre Interessen nicht selbst artikulieren und stehen somit in der Gefahr, bevormundet und fremdbestimmt zu werden; dies fragt Soziale Arbeit in ihrem Innenverhältnis zur Klient*in an. (3) In der Vertretung der Subalternen liegt für Spivak die Verantwortung der In-tellektuellen, derer, die im gesellschaftlichen Raum gehört werden; Soziale Arbeit ist also gefordert, anwaltschaftlich zu agieren. Wie die Intellektuellen muss sie dabei allerdings ihre eigene Verwobenheit in das herrschende System – institu-tionell, professionell und persönlich – und damit ihre eigene Begrenzung bestän-dig reflektieren und auf eine aktive Beteiligung der Subalternen im Sinn der Ent-Grenzung hinarbeiten.

Damit Subalterne zu demokratischen Akteur*innen werden und insofern Gren-zen überschreiten können, fordert Spivak die Rekonstruktion demokratischer Theorie und Öffentlichkeit.25 Ich möchte diese Forderung aufnehmen und fragen, welche Formen es braucht, um Repräsentation inklusiv und beteiligungsorientiert umsetzen zu können. Dazu greife ich auf den Entwurf einer kommunikativen De-mokratie der US-amerikanischen Philosophin und Politikwissenschaftlerin Iris Marion Young zurück.

Young geht von einer relationalen Autonomie, einem Verbundensein von Men-schen an sich, aus: „The claim of justice carries embedded in it an acknowledge-ment that we are socially bound to one another, whether we like it or not.“26 Dabei sind Menschen in Verhältnissen miteinander verstrickt, die ihre Zugehörigkeit, ihre Lebenschancen, ihre Machtposition und ihre Verletzlichkeit bestimmen. Sie gehören bestimmten Gruppen an, welche sich allerdings nicht essentialistisch, sondern relational im Verhältnis zueinander und zu anderen bestimmen; diese Gruppenzugehörigkeiten können darüber hinaus auch pluralisiert werden. Young analysiert ausgehend von dieser Zuordnung Formen gesellschaftlicher Unterdrü-ckung, die in Normen, institutionellen Regeln, Gewohnheiten, Praxen eingewoben sind – in diesem Zusammenhang ist ihre bekannte Ausarbeitung zu den Five Faces of Oppression zu nennen. Young will Gruppendifferenzen nicht tilgen, vielmehr werden diese in einem „ideal of diversity“27 respektiert und mit voller Partizipa-tion und Inklusion verbunden. Die Crux besteht auch hier darin, die Normativi-tät dieser gesellschaftlichen Strukturen, die vom Standpunkt einer vermeintlichen Universalität aus diskriminierend und exklusiv gestrickt sind, aufzubrechen:

Young entwirft in der Auseinandersetzung mit Habermas ein Modell kommuni-kativer Demokratie, das auf die politische Repräsentation von Gruppeninteressen setzt, diese aber in einen Zirkel beständiger Rückmeldung einfasst und zugleich die Formen argumentativer Auseinandersetzung weitet.29 Repräsentation beruht für Young nicht auf Identität, sondern ist als „mediated relation“ zu denken. Dazu greift sie auf Derridas Begriff der differánce zurück:

Gemäß dieser Spur trägt die Beziehung in der Repräsentation die Spuren der Ge-schichte jener Beziehungen, die diese hergestellt haben. Das Verständnis der Ver-tretung im Sinn der differánce impliziert, dass ein speaking for nicht ein speaking as meint, und definiert Repräsentation insofern „as a differentiated relationship“31. Gleichzeitig lebt sie jedoch von der Verbindung zwischen Repräsentierenden und zu Repräsentierenden, die sowohl die Autorisierung als auch die beständige Re-chenschaft im politischen Prozess wie in einem Zyklus umfasst, sodass „discours and action at each moment bears traces of the others“32. Hier wird die partizipa-tive Komponente ihres Entwurfs bereits deutlich: „[…] representation and partic-ipation are not alternatives in an inclusive communicative democracy, but require each.“33 Im Prozess des Austauschs werden verschiedene Perspektiven im Sinn eines „situated knowledge“34 eingebracht, wodurch die Partikularität jeder einzel-nen Perspektive zu einer umfassenden pluralen Sichtweise beiträgt und die Legiti-mität politischer Entscheidungen stärkt.

Der partizipative Charakter in Youngs Entwurf kommt auch darin zum Tragen, dass sie den Ausschluss von marginalisierten Individuen und Gruppen von öf-fentlichen Meinungsbildungsprozessen in sogenannten „interactive and commu-nicative exclusions“35 ausmacht und deshalb die Form, den Stil der Debatte selbst verändern will.36 Young entfaltet diese transformative Praxis in drei Aspekten: greeting , rhetoric und story telling .37 Bereits die Begrüßung als Eröffnung einer Austauschsituation birgt die Chance der expliziten gegenseitigen Anerkennung „[as] it refers to those moments in everyday communication where people acknow-ledge one another in their particularity“38. Hier bezieht sich Young auf Lévinas: „Greeting (which is my term, not Lévinas´s [sic!] is this communicative moment of taking the risk of trusting in order to establish and maintain the bond of trust necessary to sustain a discussion about issues that face us together.“39 Mit rhetoric kritisiert Young den Ausschluss von Emotionen, bildlicher Sprache oder unge-wöhnlicher Ausdrucksformen im Kontext rational-kognitivistisch verengter De-batten. Young stellt heraus, dass Emotionen wichtige Themen sowie den Anlass der Debatte deutlich machen, die Beziehung zu den Adressat*innen herstellen und zur politischen Entscheidung motivieren. Storytelling schließlich reagiert darauf, dass Exklusionen innerhalb von Debatten darauf beruhen, dass Vorannahmen, Erfahrungen und Werte nicht geteilt werden. Dagegen setzt Young narratives , um Verständnis für verschiedene Erfahrungen, Annahmen und Lebensgeschichten zu generieren. Dies ist besonders wichtig in Situationen von „total silencing and exclusion“:

Dadurch wird die diskursive Reflexion in und unter Gruppen angeregt und eine normative Sprache entwickelt, die dann Ungerechtigkeit als solche benennen kann. Das Teilen von Erfahrungen fördert den Perspektivwechsel und zeigt zu-gleich das gesellschaftliche Wissen, das in den einzelnen partikularen Perspekti-ven liegt und zusammen „social collective wisdom“41 ergibt. Wie Spivak verweist auch Young hier auf ein notwendig gleichberechtigtes Verständnis dieser Lern-prozesse, in denen alle etwas zu lehren und lernen haben. Auch wenn Young darin keinen Ersatz für Argumente als solche sieht, betont sie die notwendige Erweite-rung „in an enlarged conception of the democratic engagement“42.

Young eröffnet mit der begrifflichen Fassung der Repräsentation einen Weg aus der Aporie zwischen der Unmöglichkeit und der Unabdingbarkeit des Vertretens. Zugleich verbindet sie mit der Verantwortung zur Repräsentation die Verpflich-tung zu einer permanenten Rückkopplung im Meinungsbildungsprozess und weist dafür vielfältige Möglichkeiten aus. Die von Young vorgeschlagenen Aspek-te von greeting , rhetoric und story telling zeigen auf, woran die Beteiligung von marginalisierten Individuen und Gruppen scheitert und wie diese Hürden gemin-dert werden können. Young artikuliert ihre Forderung für den zivilgesellschaft-lichen Raum, wo diese auch hinsichtlich der Vertretungsaufgabe Sozialer Arbeit im gesellschaftlichen Außen greift. Sie ist aber auch als Anregung für die Soziale Arbeit in ihrem Innenraum zu verstehen, die mit der asymmetrischen Beziehung von Klient*in und Sozialarbeiter*in verbundene Distanz und Hochschwelligkeit abzubauen und in diesem Austausch eigene Vorstellungen des guten Lebens so-weit möglich zur Geltung und zum Tragen kommen zu lassen. Nur so können die partikularen Perspektiven des „situated knowledge“ durch und für die Klient*in-nen letztlich auch nach außen getragen werden, was angesichts Youngs grundle-gender Gerechtigkeitsforderung einer inklusiven Gesellschaft in all ihrer Diversi-tät unabdingbar ist. 4 Fazit

Zusammenfassend bleibt festzuhalten: Soziale Arbeit nimmt die Aufgabe der An-waltschaft nur begrenzt wahr und tendiert zugleich in ihrem Inneren zur Begren-zung ihrer Klient*innen. Wo Soziale Arbeit also an ihre Grenzen von Anwalt-schaft und Vertretung kommt, verlangt Spivak, diese Grenzen, die eigentlich nicht zu überschreiten sind, doch zu überschreiten. Dies kann nur in der Reflexion der Unmöglichkeit dieser Grenzüberschreitung und der beständigen Selbstreflexion der eigenen Verfangenheit in systemischen (und persönlichen) Eingrenzungen ge-lingen: Notwendig ist insofern eine reflexive Anwaltschaft .43

Wie Spivak fordert Young eine inklusive, entgrenzende Partizipation. Indem sie neue Räume einer responsiven Anwaltschaft im Austausch von Vertretenden und Vertretenen etabliert, weist sie der Sozialen Arbeit Wege über die Grenzen parti-kularer Perspektivität hinaus. Durch die zyklische Einbindung von Repräsentati-on und reziproker Rückmeldung kann sich eine legitime Möglichkeit abzeichnen, um zugleich mit und für andere zu sprechen. Young zeigt so, wie Grenzen durch eine partizipative Praxis durchlässig gemacht, überschritten werden können. Die darin liegenden Chancen sollte die Soziale Arbeit gerade angesichts ihrer prädes-tinierten Position an der Gelenkstelle zwischen Klient*in und Staat zum Ziel einer entgrenzenden Anwaltschaft nutzen und (wieder)beleben.

Juliane Steenbeck , Fotoprojekt „exploring lost places“, Eberswalde 2021.

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António Sousa Ribeiro
Übersetzen und Übersetztwerden: zurück in die Kontaktzone

1 Die Erfahrung der Grenze Auf den ersten Blick fast möchte es scheinen, dass die euphorische Vorstellung von einer Globalisierung ohne Grenzen, von der man vor nicht so vielen Jahren so ein-dringlich hören konnte, der Rückkehr der Nation und der damit einhergehenden Vervielfältigung und Konsolidierung von nationalen und anderen Grenzen Platz gemacht hat. Die Annahme einer „Rückkehr der Grenze“ ist jedoch irreführend: Grenzen und Globalisierung waren nie Gegensätze. In der Tat, weit davon ent-fernt, die Beseitigung von Grenzen zu bedeuten, hat die Globalisierung immer nur die Verschiebung und Neupositionierung von Grenzen bedeutet – war die phanta-sierte Globalisierung ohne Grenzen doch schließlich eine Globalisierung mit und durch Grenzen.

Der Begriff der Grenze, wie Etienne Balibar, Sandro Mezzadra, Naomi Sakai unter vielen anderen gezeigt haben, ist zum wichtigen theoretischen Operator für jede Reflexion über die soziale und politische Dynamik unserer Zeit gewor-den.1 Grenzen können natürlich einen materiellen Ausdruck finden – in einer geografischen Barriere, einem Fluss oder einer Bergkette, in einer Mauer, einem Zaun oder jeder anderen, normalerweise defensiven Vorrichtung. Aber ihre Be-deutung geht weit über ihre materielle Verkörperung hinaus. Jeden einzelnen Tag kann man mit einer entmaterialisierten Grenze konfrontiert werden, wie es so oft mit Ausschlussmechanismen geschieht – es genügt z. B. für eine lokale Behörde, keine angemessenen öffentlichen Verkehrsmittel zur Verfügung zu stellen, um eine unerwünschte Vorstadtbevölkerung, die Bewohner*innen der vielfältigen Banlieues auf der ganzen Welt, weit weg von den Stadtzentren zu halten. Wie die-ses Beispiel zeigen mag, gibt es in der Tat keine natürliche Grenze; eine Grenze ist eine soziale und politische Konstruktion und sie zeugt als solche in allen Fällen von der Dynamik der sozialen Differenzierung, die eine bestimmte Gesellschaft charakterisiert. Außerdem sind Grenzen nicht nur äußerlich, d. h. dazu angetan, einen Raum, der als innerlich homogen aufgefasst wird, von äußeren Bedrohun-gen, welche von anderen Räumen ausgehen, die als radikal heterogen aufgefasst werden, zu verteidigen; sie sind auch innerlich, sie durchkreuzen Gesellschaften auf verschiedenen Ebenen und machen offenbar, dass jede Vorstellung von einer homogenen Gesellschaft, national oder sonst, im Grunde rein fiktiv ist, in dem Sinne von Benedict Andersons Vorstellung von der Nation als einer imaginären Gemeinschaft.

Wir wissen, dass selbst die entzweiendste, unüberwindlichste Linie nicht in der Lage sein wird, einen bestimmten Raum vollständig abzuriegeln. Es ist eine fast triviale Behauptung, daran zu erinnern, dass während sie teilen, Grenzen auch in Kontakt setzen und durchaus als Artikulationsstellen funktionieren können. Die Kulturtheorie hat diese Vorstellung durch Konzepte wie Mary Louise Pratts Kontaktzone oder Homi Bhabhas dritten Raum oder den allgemeinen Begriff der Hybridisierung schon lange angesprochen.2 Sogenannte „border studies“ haben sich oft euphorischen Auffassungen von Hybridisierung als einer Art Treffpunkt hingegeben, der es erlaubt, Widersprüche zu überwinden und Differenzen zu überbrücken. Es handelt sich um eine utopische Vision mit einem hohen Grad an Attraktivität, die jedoch kritisch befragt werden muss. Mary Louise Pratt hatte bei der Darlegung des Konzepts der „Kontaktzone“ doch sehr explizit daran erinnert, dass eine solche Zone „oft in Kontexten hochgradig asymmetrischer Machtver-hältnisse wie Kolonialismus, Sklaverei oder deren Nachwirkungen, wie sie heute in vielen Teilen der Welt gelebt werden“ entsteht. 3 Und Etienne Balibar lädt uns dazu ein, die polysemische Natur der Grenze und die Tatsache zu berücksichtigen, dass die soziale Position der beteiligten Akteure ihre Wahrnehmung streng be-dingt. 4 Es ist nicht jedem gegeben, an einem utopischen Traum von universeller Mobilität und Pluralisierung der Identität teilzuhaben: es scheint offensichtlich, dass die Erfahrung der Grenze für den kosmopolitischen CEO eines großen In-dustrieunternehmens, für Tourist*innen oder für Migrant*innen wesentlich an-ders sein wird – bedeutet doch für den Migrant*innen, bzw. den Flüchtling die Konfrontation mit einer unüberwindlichen Grenze eine Erfahrung von gewalt-samer Ausgrenzung und Todesgefahr. Aber selbst wenn die Integration erfolg-reich zu sein scheint, kann die Grenze immer noch als eine offene Wunde bestehen bleiben, wie zahlreiche Untersuchungen über die so genannte „zweite Generation“ anschaulich gezeigt haben. 2 Die Grenze als Ort der Übersetzung

Die konstitutive gesellschaftliche Bedeutung der Grenze zwingt uns, die Dy-namik der Artikulation in der Kontaktzone zu überdenken. Eine solche Arti-kulation folgt, wie wir gesehen haben, keinem universellen Modell: Sie findet in konkreten Situationen statt, die nie völlig vorhersehbar sind, und sie drückt spezifische soziale Beziehungen aus, die das Zeichen von Konflikt und Distanz tragen und zwangsläufig entlang von Machtverhältnissen strukturiert sind. Als Denkbild im Benjaminschen Sinne gibt es eine Grenze, wann immer Kontakt mit dem, was als anders wahrgenommen wird, hergestellt wurde. Eine solche Wahrnehmung kann zu einer Reaktion des Ausschlusses führen, welche von dem, was Reece Jones in seinem Buch Violent Borders den „Invasionskomplex“ nannte, bestimmt wird.5 Sicherlich der mächtigste ideologische Operator für einen solchen Prozess der Ausgrenzung bleibt Samuel Huntingtons berüchtigte Vorstellung von einem „Kampf der Zivilisationen“. „Wir wissen nur, wer wir sind, wenn wir wissen, wer wir nicht sind, und oft nur, wenn wir wissen, gegen wen wir sind“, so lautet Huntingtons Grundannahme.6 Mit anderen Worten, um sich selbst zu kennen, muss man wissen, wer sein Feind ist und wo die Grenze gegen diesen Feind liegt, wobei die einzig mögliche Beziehung mit dem Ande-ren die gegenseitige Ausgrenzung und, fast zwangsläufig, der Krieg ist. Unter diesem Licht laufen Ausschluss und Nichtanerkennung auf eine Ablehnung jeg-licher Übersetzungsbemühungen hinaus. Huntingtons Theorie ist in der Tat das ultimative Modell des Begriffs einer wesentlichen Unübersetzbarkeit von Kul-turen. Umgekehrt kann jede grenzüberschreitende Artikulationsanstrengung als Übersetzungsprozess bezeichnet werden. Es scheint deshalb angebracht im Folgenden einige Fragmente einer Reflexion über Übersetzung als Grenzdenken darzulegen.

In den letzten Jahrzehnten haben uns die Kulturwissenschaften auf die grund-legende Komplexität des Konzepts der Kultur aufmerksam gemacht – wie Ray-mond Williams in einem vielzitierten Satz erklärte, ist Kultur eines der zwei oder drei komplexesten Wörter in der englischen Sprache, und – man darf wohl hin-zufügen – jeglicher Sprache.7 Die vielleicht wichtigste Präzisierung, die sich aus der radikalen Problematisierung des Kulturbegriffs ergibt, ist die Wahrnehmung, dass wir Kultur nicht mehr als eine Form von substanziellem Inhalt betrachten dürfen. Kultur muss vielmehr in Form einer Beziehung, einer offenen Beziehung konzeptualisiert werden. Anstelle einer homogenen nationalen Kultur als Sub-strat für den nachdrücklichen Begriff der Nation romantischer Abstammung, einem harmonischen Ganzen, das, wie bei Herder nachzulesen, den Kern der Seligkeit in sich trägt, ist Kultur als eine widersprüchliche, heterogene, offene Beziehung zu betrachten. Die Tragweite einer solchen Wahrnehmung ist offen-sichtlich: Wenn die Kultur nicht mehr auf der Grundlage eines mythischen subs-tanziellen Kerns definiert werden kann, der im Wesentlichen in sich selbst ver-schlossen ist, muss sie durch ihre Artikulationsorte, mit anderen Worten, durch ihre Grenzen konzeptualisiert werden. Dies wurde von Michail Bachtin deutlich auf den Punkt gebracht:

Wenn nun jeder kulturelle Akt an den Grenzen stattfindet, muss dies bedeuten, dass jeder kulturelle Akt zwangsläufig Übersetzungsprozesse voraussetzt. Man er-innere sich, dass für die romantische Vorstellung von Nation die Definition einer einheitlichen Sprache ein Schlüsselelement war – als Zeichen der Einheit, war die Nationalsprache eindeutig in der Lage, die Illusion einer anschaulichen, siche-ren, wenn auch immateriellen Grenze zu vermitteln, die einen im Wesentlichen sicheren Ort markierte, der durch den Exzeptionalismus von als überlegen vor-gestellten Idealen gekennzeichnet war, wie sie z. B. in kanonischen Sprachkunst-werken von unbestreitbarem, ewigem Wert Verkörperung gefunden hätten. Wenn wir diese Vorstellung als rein ideologisch hinter uns lassen, stehen wir vor einem Panorama der Komplexität und Heterogenität, im Rahmen einer instabilen, dyna-mischen Beziehung und einer permanenten Verhandlung mit Differenz, die einen endlosen Übersetzungsprozess erfordert.

In dieser Hinsicht ist es entscheidend zu verstehen, dass die Übersetzungs-arbeit als Werk des Grenzübertritts gleichzeitig ein akutes Bewusstsein der Grenze impliziert, ja einen Akt der Grenzproduktion bedeutet. Wie Anthony Pym zu Recht fragt, „Wenn es keine Übersetzungen gäbe, gäbe es definierbare Grenzen zwischen den Sprachen?“9 Das geläufigste Bild für den Übersetzungs-prozess ist sicherlich das Bild der Brücke. Diese Metapher sollte aber nicht wörtlich genommen und für selbstverständlich gehalten werden. Anstatt die Brücke als Lösung darzustellen, sollte sie eher als die Formulierung eines Pro-blems genommen werden. In der Tat, wenn es eine Brücke geben muss, dann deshalb, weil es irgendein Hindernis zu überwinden gilt. Und das ist natürlich die Schlüsselfrage: Man muss sich die Brücke nicht nur als etwas vorstellen, dass das Hindernis irrelevant erscheinen lässt, sondern auch als etwas, das die Existenz und Beharrlichkeit des Hindernisses offenbar macht. In diesem Sinne neige ich dazu, Übersetzung im agonistischen Sinn zu betrachten, d. h. nicht als den Aufbau eines harmonischen Ganzen, sondern als die Szene eines nie vollständig bewältigten Konflikts. Da Sprachen und Kulturen grundsätzlich in-kommensurabel sind, muss jede Übersetzungstheorie zunächst mit dem Prob-lem der Unübersetzbarkeit konfrontiert werden. M. a. W. der Übersetzungspro-zess ist der Kampf, um dieses Problem zu überwinden, indem ein gemeinsames Maß für das Verständnis und die Verbindung von dem, was unwiderruflich anders ist, gefunden wird. Jede Lösung in dieser Hinsicht ist jedoch, wie jeder Übersetzer und jede Übersetzerin weiß oder wissen sollte, immer prekär und in gewisser Weise provisorisch: Es gibt keine Universalien in der Übersetzung, keine vorgefertigten Rahmenbedingungen, denn letztlich hängt alles von der Besonderheit des Kontextes einer bestimmten Sprache und einer bestimmten Kultur ab, die einer anderen Sprache und Kultur begegnen und versuchen, mit dieser spezifischen Kontaktsituation umzugehen.

Den Begriff der Übersetzung auf einem Konzept von Unübersetzbarkeit grün-den zu lassen, ist nicht zu verwechseln mit Modellen, die die Nicht-Übersetzung oder die Weigerung zu übersetzen als defensive Grundlage der eigenen Identität voraussetzen, wie Huntingtons bereits erwähnter „Kampf der Zivilisationen“. Was ich herausstreichen möchte, ist der Umstand, dass der Begriff der Unübersetz-barkeit eine nützliche, ja unbedingt notwendige Erinnerung daran ist, dass die Aufgabe der Übersetzung – die Differenz verständlich zu machen und eine ge-meinsame Grundlage für eine Beziehung zur Differenz zu finden – nicht mit der einfachen Assimilation in ein bestehendes, vorgeformtes Ganzes gleichzusetzen ist.10 Kwame Anthony Appiah hat den Begriff der „dichten Übersetzung“ geprägt, um Übersetzungsprozesse zu bezeichnen, die eine Wahrnehmung der Einbet-tung von Ritualen und Praktiken, einschließlich Diskurspraktiken, in komplexe kulturelle Kontexte integrieren.11 Der Begriff der kulturellen Übersetzung wurde in den letzten Jahren als Erinnerung daran, dass jede Beziehung zwischen Tex-ten in verschiedenen Sprachen ein Verhältnis zwischen verschiedenen Kulturen ist, verstärkt in Umlauf gebracht.12 Dies reicht jedoch nicht aus, denn wie es of-fensichtlich ist und wie ich bereits erwähnt habe, ist der Begriff der Kultur selbst erheblichen Turbulenzen ausgesetzt. Kulturen sind dynamische, innerlich wider-sprüchliche Prozesse und nicht einfach etablierte Kanons oder stabile Repertoires. Daher konnte Stuart Hall in diesem Sinne wiederholt behaupten, dass Kultur nicht so sehr eine Frage der Tradition ist, sondern der Übersetzung, nicht „tradi-tion“, sondern „translation“, was darauf hinausläuft, dass In-Übersetzung-sein ein grundlegendes, definierendes Merkmal jeder bestimmten Kultur ist.13

In einem kurzen Aufsatz aus den 1990er Jahren erinnert Wolfgang Iser dar-an, dass im Akt des Übersetzens „eine fremde Kultur nicht einfach unter unseren Referenzrahmen subsumiert wird“, im Gegenteil, es ist dieser Rahmen selbst, der notwendig sich verändern muss, damit die Beziehung zum Anderen sinnvoll her-gestellt werden kann.14 Aber wenn es der Rahmen selbst ist, der in jedem Akt der Übersetzung in Frage gestellt und neu definiert werden muss, dann müssen auch die Machtverhältnisse in Frage gestellt und neu definiert werden. Der Akt des Subsumierens, des Assimilierens, entspricht, wie Adorno wiederholt be-tonte, der Machtausübung im konzeptuellen Bereich, während ein wesentlicher Aspekt ästhetischer Praktiken, wiederum nach Adorno, in ihrer Fähigkeit liegt, dem Heterogenen gerecht zu werden, mit anderen Worten, in ihrer Macht der Anerkennung.15

Im Zusammenhang mit dieser Frage entfaltet der Begriff der Grenze seine volle Produktivität. Die translationale Vernunft ist eine kosmopolitische Vernunft, aber nicht einfach in dem Sinne, dass sie über Grenzen hinweg verläuft, dass sie in all-gemeiner und abstrakter Weise transnational ist; entscheidend ist ihre Fähigkeit, sich an der Grenze zu verorten, die Artikulationsstellen zu besetzen und um die Bedingungen dieser Artikulation ständig zu verhandeln. Mit anderen Worten: die kosmopolitische Vernunft, die die Vernunft des Übersetzers ist, gründet sich in einem wesentlichen Sinne auf Grenzdenken. Auf diese Weise festigt der elemen-tarste Effekt der Grenzwahrnehmung die Erkenntnis, dass es ein Anderes gibt, dass es ein nicht-identisches Etwas oder eine nicht-identische Person, bzw. Gruppe gibt, nicht einfach die Grenze als eine Trennlinie, es verwandelt sie in einen Treff-punkt, wo unvorhersehbare neue Konfigurationen entstehen können. 3 Übersetzung als Anerkennung

Die Grenze als Kontaktzone signalisiert einen Zustand der Unsicherheit und In-stabilität – das ist etwas, das nicht betont werden muss. Eine Folge davon ist, dass in der Grenze als Übersetzungszone die geltenden Topoi einer gegebenen Kultur nicht mehr als Prämissen gelten, sie werden eher selbst zu einem Objekt der Aus-einandersetzung und Argumentation – der Verhandlung. In dieser Hinsicht liegt ein entscheidender Aspekt des politischen Potenzials des Übersetzungsbegriffs darin, dass er ein wesentlicher Bestandteil jeder Politik der Anerkennung ist. An-erkennung, im Gegensatz zu bloßer Toleranz, impliziert eine konkrete Auseinan-dersetzung mit Differenz und die Suche nach Wegen, sich mit Differenz zu ver-binden und zu artikulieren. Mit anderen Worten, Toleranz ist eine Weigerung der Übersetzung, Anerkennung bildet die Grundlage für jeden Übersetzungsprozess. Die Relevanz dieser Frage ist im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise und der massiven Migrationswellen über den Mittelmeerraum auf tragische Weise deut-lich geworden. Migrant*innen und Flüchtlinge sind Menschen, die im wörtlichen Sinne übersetzt wurden, sie wurden in fremde Kontexte gewaltsam geworfen, wo sie mit der Notwendigkeit kämpfen, Wege zu finden, nicht nur, um akzeptiert zu werden, sondern um in Beziehung zu treten und zu verstehen, mit anderen Wor-ten, die Notwendigkeit, Subjekte und nicht Objekte der Übersetzung zu werden. Dennoch neigen Diskurse über Migrant*innen und Flüchtlinge dazu, sie über jene „abgründige Linie“ hinaus zu projizieren, deren wesentliches Merkmal nach

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Boaventura de Sousa Santos die Unmöglichkeit der Kopräsenz der beiden Seiten der Linie ist.16

In ihrem Essay „Wir Flüchtlinge“ von 1943 schloss Hannah Arendt ihre auto-biographische Reflexion über die Figur des Flüchtlings mit der Bemerkung, dass „die Gemeinschaft der europäischen Völker in Stücke ging, als und weil sie zuließ, dass sein schwächstes Mitglied ausgeschlossen und verfolgt wurde“.17 Die Frage in unserem gegenwärtigen Kontext ist jedoch, dass der Flüchtling nicht einmal als „Mitglied“ anerkannt wird und damit sein Ausschluss ohne weiteres in einer routinemäßigen Art und Weise stattfinden kann. Dies steht im Zusammenhang mit dem, was Zygmunt Bauman als „die Verengung jenes Bereichs moralischer Verpflichtungen charakterisiert, die wir bereit sind anzuerkennen, Verantwor-tung dafür zu übernehmen und als Gegenstand unserer ständigen, täglichen Auf-merksamkeit und Abhilfemaßnahmen zu akzeptieren“.18 Mit anderen Worten, Migrant*innen und Flüchtlinge werden permanent über die Übersetzungszone hinaus gedrängt, d. h. in ein Gebiet, in dem die Rechtsstaatlichkeit und die An-erkennung der Menschenrechte außer Kraft gesetzt sind. Grenzen sind flexibel ge-worden, sie verlaufen durch ungeahnte Orte und bauen Räume der Ausgrenzung auf, Nicht-Orte, in denen der andere als „unübersetzbar“ im emphatischen Sinne ausgelegt wird, d. h. als völlig fremd, als jemand, der Forderungen stellt, die nicht ohne irreparablen Schaden für die Gemeinschaft erfüllt werden könnten. Unter diesen Umständen kann es keine Übersetzung als ausgehandelte Beilegung von Differenzen geben, sondern nur eine Abwehrreaktion, die auf der Errichtung von gewaltsamen Grenzen basiert, die als abgründige Linien verstanden werden.

In diesem Zusammenhang liegt dementsprechend die politische und ethische Aufgabe darin, die Grenzen der Übersetzungszone zu erweitern, um die vielen verschiedenen Erfahrungen und die vielfältigen Diskurse zu umfassen, die unter den aktuellen Bedingungen globaler Mobilität entstehen. Im Umgang mit einem so massiven Problem ist es natürlich unverzichtbar, auf einem gemeinsamen menschlichen Maß zu bestehen – dies ist der Grund für Mitgefühl, das nicht als eine Art sentimentaler Emotion zu verstehen ist, sondern als eine kognitive und performative Art, auf die Zwangslage und das Leiden anderer Bezug zu nehmen. Aber es ist ebenso wichtig zu erkennen, dass diese gemeinsame Menschheit viele verschiedene Sprachen spricht, unterschiedliche religiöse Glaubensrichtungen hat und im Allgemeinen über Myriaden von verschiedenen Grenzlinien, die speziell angesprochen werden müssen, geteilt und fragmentiert ist. Mit anderen Worten, es wird durch die Unterschlagung der Schwierigkeiten der interkulturellen Kom-munikation nichts gewonnen, da die gemeinsame Grundlage der gegenseitigen Anerkennung nicht etwas ist, das einfach existiert – gegeben z. B. durch eine uni-verselle Rhetorik der Menschenrechte  –, sondern etwas, das ständig bekräftigt und im Prozess der Übersetzung neu produziert werden muss.

Die Verweigerung der Anerkennung bedeutet die Weigerung zu übersetzen. Das Fortbestehen kolonialer Repräsentationen des Anderen wird in diesem Zusam-menhang offenbar: Flüchtlinge und Migrant*innen kommen aus dem globalen Süden und sind die Opfer politischer Prozesse und Kriege, die im Zuge der kolo-nialen Repräsentation der Kolonisierten als typisch für den endemischen Zustand eines unzivilisierten Chaos aufgefasst werden. Eine Ethik der Übersetzung muss im Gegenteil zu einem ganz anderen Standpunkt führen, mit wichtigen Konse-quenzen, unter denen ich noch einmal das Folgende hervorheben möchte, bezo-gen auf die transformative Kraft der Übersetzung: Übersetzung ist niemals ein Einbahnprozess, sondern vielmehr ein Prozess, bei dem beide Pole der Beziehung sich verändern und, wie wir gesehen haben, dazu gebracht werden, ihren jewei-ligen Bezugsrahmen zu revidieren und in Frage zu stellen. Es handelt sich um eine gegenseitige Beziehung, was bedeutet, dass der Umgang mit der so genannten „Flüchtlingsfrage“ nicht einfach eine Frage der Suche nach Wegen sein kann, zu integrieren und zu assimilieren, es muss eine Frage der Bereitschaft der „Will-kommensgesellschaften“ dazu, sich für den Aufbau wahrhaft multikultureller Be-wusstseins- und Sozialstrukturen einzusetzen. Umso mehr, als es bei einem brei-ten Begriff von Übersetzung, wie wir gesehen haben, nicht nur um Sprache und Diskurs geht, sondern auch um soziale Praktiken und das In-Beziehung-Bringen und Artikulieren sozialer Praktiken. In seinem Buch The Search for the Perfect Language schreibt Umberto Eco:

Im Zusammenhang seiner Studien über Übersetzungspraktiken im mittelalter-lichen Spanien, erinnert uns Anthony Pym an die Tatsache, dass es in jedem interkulturellen, grenzüberschreitenden Austausch darum geht, „die Punkte, worüber ein Einverständnis erreicht wurde an die Spitze zu setzen, mit dem Potential, die Punkte, worüber Zwietracht weiterhin herrscht, zu überwiegen. Auf diese Weise kann der Dialog ohne Abschaffung der Differenz weitergehen“.20Vielleicht könnte dieses Muster gegenseitiger Unvollständigkeit und Unvoll-kommenheit in Verbindung mit der Fähigkeit, Wege des Verstehens aufzubauen, in seinem umsichtigen Ehrgeiz ein Modell für soziale Beziehungen und soziale Praktiken darstellen, die, indem sie des Vorhandenseins der Grenzen eingedenk bleiben, der ständigen Notwendigkeit bewusst sind, zu übersetzen und übersetzt zu werden.

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Lilly Seidel
Jaspers: Grenzsituationen annehmen und Grenzen überwinden in und durch existenzielle Kommunikation

Ganz im Sinne dieses Zitates von Ludwig Wittgenstein, welches am Schluss noch einmal aufgegriffen werden soll, geht es in folgendem Artikel um Jaspers’ Philo-sophie und den Beitrag, den sie für den Menschen leistet. Der Mensch hat es, als ein Grenzwesen, in seinem Leben mit Grenzen ganz unterschiedlicher Art zu tun. Er stößt an Grenzen, reibt sich an Grenzen, verortet sich innerhalb von Grenzen, gerät in Grenzsituationen und geht über Grenzen hinaus. Grenzen beruhigen und beunruhigen, sie geben Gestalt und engen ein, sie sind notwendig und sie sind zer-störerisch. So sind Grenzen, die Menschen ziehen, oft durchdrungen von einem großen Unbehagen angesichts dieser Ambivalenz und nicht allzu selten sind sie ausschließlich negativ konnotiert. Welche Chancen jedoch Grenzsituationen (und diese anzunehmen) und existenzielle Kommunikation (und in diese einzutreten und dadurch Grenzen zu überwinden) dem Menschen bieten, soll im Folgenden gezeigt werden. Zuerst wird auf Jaspers’ Menschenbild, welches in seiner Philo-sophie eine herausragende Rolle spielt, und seine Philosophie selbst eingegangen. Danach sollen die Begriffe der Grenzsituation und der existenziellen Kommuni-kation erläutert werden. Abschließend soll deren Zusammenspiel diskutiert und gezeigt werden, welchen Dienst Jaspers’ Philosophie mit ihrer Hilfe im Umgang mit den Hürden und Schwierigkeiten des Lebens leistet.

Nach Jaspers kann der Mensch in seiner Gesamtheit nicht erfasst werden. Er betont, keine Totalerkenntnis zu haben und eine solche aber auch nicht vermitteln zu wollen. Weder in Bezug auf sein Menschenbild noch auf das System seiner Philosophie als Ganzes. So ist seine Philosophie aus seinem Leben, aus zwei Weltkriegen und vie-len Umschwüngen heraus, entstanden. Jaspers ist stetig bestrebt, ein „[fortlaufendes] Verstehen“3 und ein „Fortschreiten in der Welt“4 zu vermitteln und Ausgangspunkt und Ziel dieses Vorhabens ist stets der Mensch, in dem Jaspers unbegrenzte Möglich-keiten sieht, solange der Mensch nicht stehen bleibt, sondern immer weiter strebt.

Wie wichtig das Menschenbild für Jaspers’ Philosophie ist, zeigt sich unter an-derem, wenn beispielsweise William A. Earle die Frage nach dem Wesen des Men-schen als „Herzstück des Jaspersschen Philosophierens“5 bezeichnet. Und es zeigt sich, wenn Jaspers meint, „Voraussetzung dieses Treibens wird ein Menschenty-pus, dessen Dasein sich verzehren lässt in diesem quantitativ zu steigernden Pro-duzieren und Konsumieren […].“6

Das Grundproblem und damit auch der Ansatz für Verbesserung liegt nach Jas-pers beim Menschen selbst. Wenn der Mensch nicht er selbst wird, keine Freiheit erreicht7, wenn er nicht zu einem anderen Menschentypus wird, wird sich auch um ihn herum nichts ändern, dann scheitern auch alle anderen Ideen, insbesondere die politischen, denn „äußere Freiheit eines Staates und innere Freiheit durch seine Re-gierungsart haben Bestand durch die existentielle Freiheit der einzelnen Menschen“8und „kein Friede ohne Freiheit“9. Diese beiden sind gleichzeitig nur in einer Demo-kratie möglich, die vom Volk selbst hervorgebracht wurde und diesem nicht aufge-drängt wurde.10 Denn wo der Mensch nicht frei ist, wo er nicht Existenz sein kann, da lebt er im „[inneren] Chaos“11 und läuft Gefahr, die Rettung im Totalitarismus zu suchen.

So beschreibt Jaspers den Menschen als eine „Ausnahmeerscheinung in der Ordnung der Natur“12. Zum einen ist er Teil der Welt, also gegenständlich und empirisch fassbar. Diesen Teil nennt Jaspers sein Dasein .13 Zum anderen ist er aber auch Existenz , damit nicht vergegenständlichbar und Ausnahmeerscheinung. Sie ist das eigentliche Selbst des Menschen und in ihr ist er frei.14 Jaspers versteht seine Beschreibung des Menschen als Dasein und Existenz weniger als eine erschöp-fende Beschreibung, sondern vielmehr als einen Appell: Der philosophierende Mensch soll sich auf die Suche nach seiner Existenz machen.15 Auf dieser Suche soll er vorgegebene Systeme immer wieder hinterfragen, Altes erneuern und so letztendlich in einem schwebenden Zustand des Denkens kommen, zum „schwe-benden Philosophieren“16, um so, wie er schreibt, der Realität und Wahrheit näher zu sein. Jaspers nennt zwei mögliche Wege, um vom simplen Dasein in die wahre Existenz zu gelangen, einerseits den Weg über die sogenannte Grenzsituation und andererseits den Weg über die existenzielle Kommunikation . 1 Grenzsituationen

Diese Erschütterungen sind die Grenzsituationen und diese

An den Grenzsituationen scheitert der Mensch, sie sind

Doch genau in dieser Unveränderlichkeit sieht Jaspers das Potential der Grenzsi-tuationen, denn sie bringen den Menschen zum Grübeln. Er wird aus der Gemüt-lichkeit des Daseins gerissen, der Naivität, und fängt an zu reflektieren und sich zu wundern. Hier wird der Mensch, so kann man wohl sagen, zum philosophie-renden Menschen und beginnt zu transzendieren, also sich auf die Transzendenz bzw. sein eigenes Selbst zu besinnen. Die Grenzsituationen reißen den Menschen aus seinem gewohnten Alltag und zeigen, dass das Leben nicht einfach vor sich hinläuft. Er muss sich mit Situationen, die er nicht ändern kann, auseinanderset-zen und beginnt so auch die Systeme, d. h. „die eingeübten Verfahren zur Verän-derung von Situationen“20 zu hinterfragen. Diese Systeme werden charakterisiert durch das

In Grenzsituationen erleidet der Mensch in seinem System Schiffbruch, er wird durch die notwendige und nicht beeinflussbare Situation von außen gezwungen zu reflektieren und über das Gegenständliche ins Ungegenständliche hinauszu-gehen. So beginnt der Prozess des Transzendierens , welchen Jaspers als Methodik seiner Philosophie beschreibt und welcher wiederum überaus komplex ist und dabei nie gänzlich als System verstanden werden darf.22 Während der Mensch beim sogenannten „negative[n] Transzendieren“23 zunächst noch innerhalb der Welt die Erkenntnismöglichkeiten hinterfragt, richtet er durch die „Erfahrung der Fragwürdigkeit“24 an den Grenzsituationen den Blick zunächst auf sich selbst als in der Welt stehend. So reflektiert er über sich selbst, also z. B. über seinen Gesundheitszustand, seinen sozialen Status, seine Gefühle und Emotionen etc. Anschließend richtet er den Blick auf das Transzendente an sich, was Jaspers als Existenzerhellung beschreibt. In diesem Prozess begreift sich der Mensch selbst als mehr als nur das weltliche Dasein, sondern auch als teilhabend an der Trans-zendenz. Er wählt hierbei bewusst, Verantwortung für sein Leben zu übernehmen und sich zu diesen unveränderbaren Situationen zu verhalten.25

Beispielsweise kann der Tod einer nahestehenden Peron als Grenzsituation er-fahren werden26: Die Gefühle der Trauer und des Verlusts sind zunächst Gefühle des Ausgeliefertseins. Der Tod ist absolut und notwendig, er ist unabwendbar und außerhalb aller Systeme, in denen Menschen handeln, weil er nicht behandelt oder verhandelt werden kann. Man kann sagen, der Tod ist einfach und der Mensch muss lernen sich zu ihm zu verhalten, ohne dabei aber den Tod verändern zu kön-nen. Er kann nur seine Einstellung zu der Situation des Todes ändern, nicht aber die Situation selbst. Hier wird die Notwendigkeit und Absolutheit der Grenzsitu-ation deutlich: Der Mensch verhält sich in seinem Alltag immer zu Situationen und löst diese normalerweise durch altvertraute Verhaltensweisen, wobei häufig die Umstände außerhalb des Menschen verändert werden. So begegnet er Situa-tionen analysierend und berechnend. Grenzsituationen sind aber nicht mehr ana-lysier- oder berechenbar, sie passieren den Menschen einfach, ohne dass sie diese beeinflussen oder gar abwenden können. Ihnen bleibt nur die Entscheidungsmög-lichkeit, die Situation anzunehmen oder abzulehnen und zu verdrängen. In dieser Möglichkeit zur Annahme sieht Jaspers den Weg zu sich selbst: Nur der Mensch als er selbst kann mit der Situation umgehen, da nur er selbst sich zu ihr verhalten kann. Er ist komplett auf sich zurückgeworfen und in der Annahme der Situation ist auch der Mensch selbst angenommen: „Grenzsituationen erfahren und Existie-ren ist dasselbe.“27

Jaspers nennt neben dem Tod als Grenzsituation auch noch Geschichtlichkeit, Kampf, Leiden und Schuld.28 Gemeinsam ist diesen fünf Grenzsituationen, dass sie nicht wandelbar, endgültig, nicht überschaubar und in ihrer Gänze unbegreif-bar sind. Ihre Aufgabe besteht darin, den Menschen einerseits auf seine Endlich-keit aufmerksam zu machen und ihn andererseits von gleichgültigem Treiben im Alltag abzuhalten.29 Der Begriff der Grenze steht sinnbildlich für das, was in der Grenzsituation vermittelt werden soll: Hinter ihr liegt noch etwas, aber dieses ist für das Bewusstsein im Dasein nicht erfassbar. Die Grenze verbindet im Hindeu-ten auf ein Mehr der faktischen Welt mit der Transzendenz. Dabei ist die Grenze das Indiz für die dahinterliegende Transzendenz, sie macht auf eine Differenz auf-merksam. Der Mensch als Dasein kennt nur die eine Seite, doch in dem Wissen um die Grenze entsteht die Gewissheit, dass es in einer Differenz zweierlei Seiten bedarf, und somit ist der Verweis auf die transzendente Seite gegeben.30 Grenzsitu-ationen weisen dem Bewusstsein des Daseins die Grenzen auf. Es kann die Augen verschließen und sie zu ignorieren versuchen, ein Verhalten zu den Grenzsituatio-nen ist dem Dasein jedoch nur möglich, wenn es versucht, diese zu überwinden. Dabei überwindet es auch sich selbst und begibt sich auf den Pfad des Werdens der Existenz.31

Eine zweite Möglichkeit, zu sich selbst zu finden und in seiner Existenz aufzu-gehen, ist nach Jaspers die sogenannte existenzielle Kommunikation . Zunächst unterscheidet er zwei Arten der Kommunikation: Menschen im Dasein, also im weltlichen Sein, kommunizieren anders als Menschen in der Existenz. Als Dasein kommunizieren sie hauptsächlich, um sich in der empirischen Welt zurecht zu finden, sich selbst Überlebensvorteile zu sichern und zur Bedürfnisbefriedigung.32Bei der existenziellen Kommunikation hingegen begegnen sich zwei unaustausch-bare Individuen in vollkommener Offenheit.33

„In der Kommunikation werde ich mir mit dem Anderen offenbar. Dieses Of-fenbarwerden ist jedoch zugleich erst Wirklichwerden des Ich als Selbst.“34 In die-ser Offenheit wird der Mensch er selbst und zur Existenz gebracht. Doch um dabei Verletzung und Ausschluss zu vermeiden, soll jeder Mensch in der existenziellen Kommunikation uneigennütziges Engagement für andere an den Tag legen. Auf diese Weise soll verhindert werden, dass ein Partner sich öffnet und der andere diese Offenheit für andere Zwecke missbraucht. Es wird deutlich, dass existenziel-le Kommunikation tatsächlich Kommunikation zwischen meist zwei Personen, zwei Existenzen, ist. Diese zwischenmenschliche Dimension (es geht hier nicht um die Kommunikation mit Gott oder anderem) ist ein Prozess, in welchem die Kommunikationspartner im Gespräch zu sich selbst finden.35

Ein weiteres Merkmal der Kommunikation ist die „Anerkennung der prinzipi-ellen Gleichrangigkeit des anderen“36. Hierbei gestehen sich die Gesprächspartner gegenseitig Eigensein zu und achten einander dafür, sie vergleichen sich nicht und begegnen sich somit auf Augenhöhe, also weder als bessere noch als schlechtere Menschen.

Hieran anknüpfend, und ein letztes Merkmal, ist, dass Menschen sich begeg-nen sollen, die auch einsam sein können. Denn nur wenn sich zwei Personen als eigenständige Wesen begegnen, kann durch deren Kommunikation ein jeder zu sich finden. Für Jaspers ist es genau diese Spannung zwischen Einsamkeit und Ge-meinsamkeit, die Selbstfindung letztendlich ermöglicht.37 3 Grenzsituation und existenzielle Kommunikation: Eine Verknüpfung?

Betrachtet man die zwei Wege, die für Jaspers zur Existenz führen, stellt sich die Frage, welcher Weg zu bevorzugen sei. Kurt Salamun spricht in diesem Zusam-menhang von zwei komplett verschieden Menschenbildern. Beim Weg über die Grenzsituation steht bei ihm das Individuum im Vordergrund, wohingegen bei der existenziellen Kommunikation die Gemeinsamkeit und die Dimension des Zwischenmenschlichen im Vordergrund stehen.38

Bevor auf eine Verknüpfung beider Wege eingegangen werden soll, ist auf eine andere Undeutlichkeit hinzuweisen: Immer wieder deutet sich an, dass sich in der existenziellen Kommunikation zwei Existenzen begegnen, die durch den Prozess des Gesprächs dann zu sich, also zur Existenz finden. Das klingt zunächst sehr widersprüchlich: Sie kommen als Existenz, um Existenz zu werden. Doch wo be-ginnt der Prozess?

Genau an diesem Punkt setzt die Verknüpfung beider Wege an. Es scheint, dass nur Menschen, die bereits im Prozess des Selbstfindens begriffen sind, in existen-zielle Kommunikation eintreten können. Diesen Prozess kann man auch, wenn man so mag, in Jaspers’ eigenem Leben wiederfinden.39 Er selbst war durch sei-ne unheilbare Krankheit sicherlich schon früh mit Grenzsituationen konfrontiert und begab sich so auf den Weg der Selbstsuche, verstärkt durch das Gefühl von Einsamkeit, das eine Folge seiner Krankheit war, da er nicht mit Gleichaltrigen mithalten konnte und welches ein Element der existenziellen Kommunikation bil-det. Seine Frau Gertrud Mayer hatte ebenfalls früh Verwandte verloren und war so mit Grenzsituationen konfrontiert worden.40 Jaspers beschreibt sie als „die Wirk-lichkeit einer Seele, die sich nichts verschleierte“41. Diese Offenheit ist wiederum ein Element der existenziellen Kommunikation, auch sie befand sich also bereits auf dem Weg zu sich. In ihrer Begegnung begann, wie er selbst sagt, für ihn die Philosophie dann richtig, wobei er sagt, sie kamen gemeinsam nie an ein Ziel.42

So scheinen beide Wege weniger zwei Wege in gegensätzliche Richtungen zu sein, als vielmehr zwei Pfade, die in dieselbe Richtung führen, sich gegenseitig immer wieder schneiden und bei denen man letztlich überhaupt nicht genau sagen kann, welcher Weg wann welcher ist. Keiner war zuerst da und hört zuerst auf. Beide Wege bieten die Möglichkeit zur Selbstfindung, sowohl in guten Lebens-lagen, in denen man in Gemeinschaft ist, als auch in schlechten, in denen man einsam ist. Darin liegt nun auch der Vorteil von Jaspers‘ Konzept gegenüber vielen anderen, es bietet in allen Lebenslagen Möglichkeiten und Wege, weiter zu gehen, weiter zu sich selbst.

Ein weiterer Grund, seine beiden Wege als nicht klar getrennt zu sehen, ist, dass Jaspers antidogmatisch gedacht und philosophiert hat; seine Wege und die Aus-sagen daher als Definitionen zu betrachten, würde seinem Werk nicht gerecht.43Für ihn bedeutet Philosophie „auf dem Weg sein“44, und gerade weil er nicht in Systemen stecken bleiben möchte, muss das nicht immer derselbe Weg sein. 4 Fazit

Wenn man Jaspers Werk also richtig liest und seine Philosophie durchsteigt, ist sie dem Menschen eine Anleitung zum Leben in Grenzen und Begrenzung: Grenz-situationen können bewältigt werden, indem wir uns bewusst in existenzielle Kommunikation begeben und mit ihrer Hilfe Grenzen überschreiten. Im richtigen Umgang mit Grenzen lernt man ihre Chancen begreifen und nutzen, wie man sich nicht unterkriegen lässt von vermeintlicher Sinnlosigkeit des Lebens, sondern die Grenzen des Lebens erfasst und diese mit Hilfe seiner Philosophie in der Praxis positiv ummünzt und sich Jaspers Philosophie als Anleitung zum richtigen Leben nützlich macht.

So gilt Jaspers Philosophie als hilfreich und orientierungsstiftend für jeden Einzelnen. Er versteht die Verzweiflung, Willkür und Hilflosigkeit, die ein jedes Individuum im Alltag und in seinem Leben verspürt und gibt durch seine Philoso-phie Halt und Unterstützung sowie mögliche Lösungswege und Appelle, die zum wahren Leben bzw. zur wahren Existenz und Annahme eines jeden als genau den-jenigen, der er ist, führen. Mit der Darstellung seiner Grenzsituationen und dem Appell, diese anzunehmen und aus ihnen zu sich zu finden, gibt er den Menschen die Möglichkeit, sich zu diesen Gefühlen zu verhalten und aus ihnen Positives und Hoffnungsvolles zu schöpfen. Durch existenzielle Kommunikation macht er deutlich, wie wichtig wahrhaftige zwischenmenschliche Kommunikation ist und wie diese helfen kann, gemeinsam Grenzen zu sprengen und weiterzugehen, weiter zum je eigenen Selbst. So verbindet er Selbstsein und Miteinandersein und zeichnet einen sinnvollen und praktischen Weg für die Gesellschaft, in der jeder er selbst ist, ohne dass der Gemeinschaftscharakter verloren geht und in der ein jeder Bürger verantwortungsvoll aus sich selbst handeln kann, ohne von der Masse be-stimmt zu werden.

Wittgenstein hat gesagt:

Jaspers Philosophie und sein Menschenbild dürfen, wie ich es sehe, ähnlich ver-standen werden, nur, dass der Mensch für Jaspers in diesem Bild vermutlich im-mer auf der Leiter emporsteigen würde, denn „auf die Frage, wer der Mensch sei, kann die Antwort nie genügen. Denn was der Mensch sein könne, bleibt immer noch in seiner Freiheit verborgen, solange er Mensch ist.“46

Eleanor Freeman in der Tanzperformance „Move a performance“,

Choreographie: Mónica García Vicente, Hannover 2020.

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Politische Grenzziehungen

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Martin Sökefeld

Grenzspektakel und Abschiebungen

1 Einleitung Während der Globalisierungseuphorie der 1990er Jahre schienen nationalstaat-liche Grenzen kurz vor ihrer Abschaffung zu stehen. Scheinbar stand die Welt allen offen. Aber das war nur eine gern gepflegte Illusion. Tatsächlich waren auch damals schon Grenzen „Sortiermaschinen“1, die für viele unüberwindbar blie-ben. Grenzen sind das zentrale Merkmal des Nationalstaats, der bis heute hege-monialen Form des Politischen. Kein Nationalstaat ohne Territorium und kein Territorium ohne Grenzen, auch wenn diese mehr oder weniger sichtbar sind. Im Schengen-Raum waren die zwischenstaatlichen Grenzen scheinbar weitgehend verschwunden, aber die letzten Jahre haben gezeigt, wie schnell sie reaktiviert werden können.

Im Gegensatz zur landläufigen Vorstellung von Grenzen als Linien an den Rän-dern eines Territoriums, wie auf Landkarten, sind Grenzen vielgestaltig und kom-plex. Einerseits sollen sie Sicherheit gewährleisten – und werden etwa geschlossen, wenn die „Sicherheit“ das erfordern sollte – andererseits sind sie selbst verletz-lich, etwa durch „illegalen“ Grenzübertritt. Darüber hinaus befinden sie sich nicht mehr nur an den Rändern des Territoriums, sondern, in Folge von vielfältigen Überwachungs- und Regierungstechniken, auch in ihrem Innern. Die Grenze wird vom „Ding“, das einen Ort hat – den Rand des Territoriums – zur Praxis, die überall stattfinden kann. In Verbindung mit racial profiling gibt es Ausweiskon-trollen etwa auch an Orten wie dem Münchner Hauptbahnhof: Aus der Sicht des Grenzregimes macht dunkle Hautfarbe der „Illegalität“ verdächtig. Die Grenze wirkt auch im Inneren des Territoriums als Sortiermaschine. Illegalität wird als individuelle Grenzüberschreitung fetischisiert.2 Es ist aber wichtig, die Perspekti-ve zu wechseln und zu verstehen, dass Menschen nicht „illegal“ sind , sondern vom Grenzregime zu „Illegalen“ gemacht werden. So sind keineswegs „alle Menschen vor dem Gesetz gleich“: Während die einen die Grenze problemlos übertreten können, werden andere durch den gleichen Akt zu „Illegalen“ gemacht oder in einen prekären Zustand stark eingeschränkter Rechte versetzt. Die Gleichheit vor dem Gesetz ist an die Staatsangehörigkeit geknüpft; das „Recht, Rechte zu haben“ gilt für viele nur eingeschränkt.3

Das erscheint uns angesichts der nationalstaatlichen Hegemonie als „normal“. In Anbetracht globaler Ungleichheit, die für den einen Privilegien ermöglicht, den anderen aber Mobilität zum Zweck der Verbesserung ihrer Lebenssituation ver-bieten will, muss diese „Mobilitätsungerechtigkeit“4 immer wieder ins Bewusst-sein gerückt werden. Es geht um eine „Welt-Apartheid“,5 die durch die Sortier-funktion der Grenzen hergestellt wird.

Der US-amerikanische Ethnologe Nicholas De Genova spricht vom „Grenz-spektakel“, das eine Szenerie der Überwachung und der Kontrolle der Grenzen produziert und damit gleichzeitig Illegalität und das Gefühl der allgegenwärtigen Gefährdung durch Einwanderung hervorbringt.6 Das Spektakel grenzt Menschen aus, und zwar nicht nur rechtlich, durch einen eingeschränkten Rechtsstatus, und physisch, durch Zurückweisung oder Einweisung in spezielle Unterkünfte mit ebenfalls eingeschränkten Rechten, sondern vor allem auch diskursiv, durch Markierung als Gefahr oder als Menschen, die Schutz nicht verdienen. In die-sem Beitrag analysiere ich Abschiebungen als zentrales Element des Grenzspek-takels und betrachte insbesondere die deutsche Politik der Abschiebungen nach Afghanistan.

William Walters zufolge ist Abschiebung „eine logische und notwendige Kon-sequenz der internationalen Ordnung  […] und dem modernen Staatsbürger-schaftsregime immanent.“7 Letztlich unterscheidet die „Abschiebbarkeit“ ( de- portability )8 Staatsbürger*innen von Migranten*innen: Staatsbürger*innen können nicht abgeschoben werden. Walters betont, dass Abschiebung nicht nur ein Recht des Staates ist, sondern auch eine Technik, eine Form des Regierens.9Diese Technik erfordert Akte der Kategorisierung, nach denen entschieden wird, wer abgeschoben werden soll. Abschiebbarkeit ist daher mit Mechanismen der Registrierung, Identifizierung und Kategorisierung verknüpft, nicht nur im formalen, juristischen Sinn, sondern auch in der „weicheren“ Bedeutung zu be-stimmen, ob Migrant*innen es verdienen , bleiben zu dürfen, oder nicht.

Oft werden weniger Menschen abgeschoben als geplant. Auch die Diskussion um Zahlen ist Teil des Abschiebungsspektakels, denn auf sie folgt in der Regel die Forderung nach mehr Befugnissen für die Behörden. Tatsächlich werden immer wieder Gesetze und Regeln verschärft.

Die Wirkung der Abschiebungen ist nicht auf die tatsächlich „Zurückgeführten“ beschränkt. Das Abschiebespektakel hat eine komplexe Semantik mit Botschaften an unterschiedliche Adressaten. Ebenso wichtig wie die tatsächliche „Außerlan-desbringung“ ist die intendierte Abschreckung von Migranten*innen. Abschie-bung enthält immer ein Element von Gewalt. Auch wenn nicht immer direkte physische Gewalt ausgeübt wird, verletzt Abschiebung die Autonomie der Person auf extreme Weise. Die Drohung der Abschiebung dient auch dazu, Menschen ohne sicheren Aufenthalt zur für den Staat erheblich kostengünstigeren „freiwil-ligen“ Ausreise zu bewegen. Von Freiwilligkeit kann jedoch keine Rede sein, wenn sie vom potentiellen Zwang der Abschiebung motiviert ist. Das Spektakel der Ab-schiebung ist für Migrant*innen ein Drohszenario, das sie den Grenzzustand der Unsicherheit ihrer Existenz niemals vergessen lässt.

Aber das Spektakel sendet auch Botschaften an die Staatsbürger*innen. Asyl-politik ist fast immer darauf ausgerichtet, die Zahl der Flüchtlinge und der Asyl-anerkennungen zu verringern. Asylsysteme sind dazu da, Massen an angeblichen „Scheinasylanten“ zu produzieren, urteilt Nicholas De Genova,10 und so Flücht-linge zu de-legitimieren. Steigende Zahlen von Asylbewerber*innen in Deutsch-land führten immer zu wachsender rechter Gewalt gegen Geflüchtete und Mig-rant*innen generell. Gewalttaten wurden zwar von den jeweiligen Regierungen verurteilt, oft scheint es aber, als steckten sie mehr Energie in die Verschärfung des Asylrechts als in die Bekämpfung des Rassismus und gingen damit wenigstens teilweise auf die Forderungen der Rechtsextremen ein. Abschiebungen müssen als Teil dieser Strategie gesehen werden. Immer wieder werden Abschiebungen als unverzichtbar für Rechtstaatlichkeit dargestellt. So sagte Innenminister Seehofer anlässlich des Inkrafttretens des „Geordneten Rückkehrgesetzes“: „Nur die kon-sequente Durchsetzung des Rechts sichert das Vertrauen in den Rechtsstaat und die Akzeptanz von Asylverfahren in der Bevölkerung. Menschen ohne Bleiberecht müssen unser Land verlassen.“11

Diese Redeweise naturalisiert das Asyl- und Aufenthaltsrecht und unter-schlägt, dass es von eben den Politikern gemacht bzw. eingeschränkt wird, die es dann zum Grundpfeiler des Rechtstaats erklären. Recht ist gemacht, und es könnte auch ganz anders gemacht werden. Auch diese Naturalisierung des Rechts ist ein Teil des Grenzspektakels; es naturalisiert gleichzeitig die durch das Ge-setz gezogenen Grenzen. Abgesehen davon werden Asylverfahren und Abschie-bungen von den Behörden keineswegs immer rechtskonform durchgeführt. Dies zeigt z. B. die Tatsache, dass etwa die Hälfte aller Anordnungen von Abschiebe-haft unrechtmäßig sind.12

Regierungen und Behörden stecken jedoch in dem Dilemma, dass eine harte Asylpolitik keineswegs von allen Staatsbürger*innen befürwortet wird. Vor al-lem seit 2015 ist in Deutschland eine starke zivilgesellschaftliche Bewegung ent-standen, die sich für Flüchtlinge und ihre Rechte einsetzt. Der CSU-Politiker Alexander Dobrindt bezeichnete diese Bewegung als „Anti-Abschiebe-Indust-rie“ – ein Begriff, der prompt zum Unwort des Jahres 2018 gekürt wurde.13 3 Abschiebungen nach Afghanistan14

Abschiebungen nach Afghanistan sind besonders umstritten. Wegen der wach-senden Gewalt und Armut in Afghanistan und der Öffnung der Balkanroute ka-men 2015 sehr viele neue Flüchtlinge aus dem Land nach Deutschland, vor allem alleinstehende junge Männer und unbegleitete Minderjährige. Die Zahl von Asyl-anträgen von Afghanen stieg dramatisch und erreichte 2016 127 012 Neuanträ-ge.15 Wurden 2015 nur 13,7 % der Asylanträge von Afghanen vom BAMF abge-lehnt, waren es 2016 schon 36,4 % und 2017 48,5 %. Die gesunkene Schutzquote der Afghanen war offensichtlich nicht das Ergebnis einer verbesserten Situation in Afghanistan, sondern einer immer restriktiveren Asylpolitik. Dies zeigt auch die Tatsache, dass 61 % der negativen Entscheidungen des BAMF später von Ver-waltungsgerichten korrigiert wurden.16 Bei einem Treffen der EU-Innenminister in Brüssel sagte Bundesinnenminister De Maizière schon 2015: „Unsere […] Sorge ist im Moment in Europa die große Zahl der Flüchtlinge aus Afghanistan. Wir wollen, dass in Afghanistan das Signal ankommt: ‚Bleibt dort! Wir führen euch aus Europa […] direkt nach Afghanistan zurück!‘“17

Mit dem Argument, dass Teile von Afghanistan sicher seien, auch infolge des Einsatzes von Bundeswehr und deutscher Polizei im Land, wie der bayerische In-nenminister Joachim Herrmann begründete,18 schloss die Bundesregierung im Oktober 2016 ein Abkommen zur Wiederaufnahme abgelehnter Asylbewerber in Afghanistan.19 Die Bundesregierung drohte, die Entwicklungshilfe zu stoppen, sollte die afghanische Regierung dem nicht zustimmen.20 Ähnlich hatte die EU gedroht, die Hilfe für Afghanistan „migration sensitive“ zu machen.21

Am 14. Dezember 2016 fand die erste Sammelabschiebung nach Afghanistan statt. Das Abschiebespektakel begann. Bis zum Abschiebestopp im August 2021 wurden mit vierzig Charterflügen insgesamt 1.104 abgelehnte Asylbewerber nach Kabul abgeschoben.22 Die größte Zahl der Abgeschobenen kam aus Bayern.

Nach dem katastrophalen Bombenanschlag auf die deutsche Botschaft in Kabul am 31. Mai 2017 nahmen Proteste gegen Abschiebungen nach Afghanistan zu. Für den Tag des Anschlags war eine Sammelabschiebung geplant, die kurzfristig abgesagt wurde. Die Bundesregierung weigerte sich, einen kompletten Abschiebe-stopp zu erklären, beschränkte die Abschiebungen aber zunächst auf „Straftäter“, „terroristische Gefährder“ sowie sogenannte „Identitätsverweigerer“.23 Ein neuer Lagebericht im Sommer 2018 erklärte Afghanistan wieder für „sicher“, ungeachtet beinah täglicher Anschläge. Der erste Abschiebeflug danach fand am 3. Juli 2018 statt, am Geburtstag von Innenminister Horst Seehofer. Bei einer Pressekonferenz scherzte er, dass an seinem 69. Geburtstag 69 Afghanen abgeschoben worden sind, 51 davon aus Bayern.24

Im Gegensatz zur deutschen Einschätzung listet der Global Peace Index Afgha-nistan als das gefährlichste Land der Welt.25 Vor allem die bayerische Regierung setzte die Abschiebungen dennoch ohne Einschränkungen fort. Einer Pressemit-teilung des bayerischen Staatsministeriums des Inneren zufolge waren lediglich 5 der 51 Afghanen, die am 3. Juli 2018 aus Bayern abgeschoben wurden, Straftäter.26Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann hob hervor, dass 21 der Abge-schobenen zuvor in Abschiebehaft gewesen waren und lobte die Ausweitung der Abschiebehaft.

Heute stehen die „Straftäter“, „Gefährder“ und „Identitätsverweigerer“ exem-plarisch für diejenigen, die kein Bleiberecht „verdienen“. Dem Diskurs zufolge stellen sie eine Gefahr für die Gesellschaft dar und müssen abgeschoben werden. Die Frage, ob nicht auch ein straffällig gewordener Mensch ein Recht auf Schutz und Unversehrtheit hat, wird in dieser Argumentation nicht gestellt. Das Recht auf Sicherheit ist danach kein Grundrecht, sondern etwas, dass erst verdient werden muss. Oft wird auch argumentiert, dass straffällig gewordene Asylbe-werber ihr „Gastrecht“ verwirkt hätten.27 Juristisch betrachtet gibt es ein solches Gastrecht in Deutschland jedoch nicht. Das Abschiebespektakel rekurriert hier auf einen archaischen Rechtsbegriff und legitimiert damit einen potentiellen Verstoß gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit als Folge von Abschie-bung. Gleichzeitig zieht es eine Grenze zwischen „Integrierten“, die Schutz und Bleiberecht verdienen, und „Nicht-Integrierten“, die das nicht tun. Dabei sind auch dies keine rechtlichen, aber ungeheuer eingängige und wirkmächtige rhe-torische Kategorien.

So ist „Integration“ eine Forderung, die benutzt wird, um auf Flüchtlinge Druck auszuüben, aber keineswegs eine Garantie für Bleiberecht. Daran ändern auch dringende Appelle von Arbeitgeber*innen, die ihre Arbeitskräfte nicht verlieren wollen, nichts.28 Manchmal wird auch aus der Schule abgeschoben. Der spektaku-lärste Fall war der des damals zwanzigjährigen Afghanen Asif N., der am 31. Mai 2017 in einer Berufsschule in Nürnberg festgenommen wurde. Asif selbst wehrte sich zunächst nicht und stieg in den Polizeiwagen, der ihn wegbringen sollte. Als aber seine Mitschüler*innen sahen, was geschah, verhinderten sie die Abfahrt. Nach einigen Stunden beteiligten sich über dreihundert Schüler*innen an dem Protest. Asif sollte mit dem Flug abgeschoben werden, der wegen des Bombenan-schlags in Kabul abgesagt wurde. 4 Die obszöne Seite des Spektakels

Die Szenerie des Abschiebespektakels wird in den Abschiebungen nach Afghanis-tan deutlich: ein harter Diskurs verantwortlicher Politiker, die kompromisslose Abschiebungen zu einem Grundpfeiler von Rechtstaatlichkeit erklären, der „gute“ von „schlechten“ Flüchtlingen unterscheidet, und diese mit einem Vokabular der Gefahr markiert. Unter Flüchtlingen verbreitet das Spektakel die Botschaft ihrer Abschiebbarkeit und schafft existentielle Unsicherheit.

De Genova betont, dass zur öffentlichen und demonstrativen Szenerie des Grenzspektakels eine dunkle, obszöne Schattenseite gehört.29 So ist das obszöne Gegenstück des Ausschlusses von Migrant*innen als „Illegalen“ in den USA ihre de facto Inklusion als illegale und daher rechtlose Arbeitskräfte. Diese Analyse lässt sich nur bedingt auf Deutschland übertragen, da hier die Einwanderung überwiegend über das Asylrecht geschieht und keineswegs „illegal“ ist, denn jeder Mensch hat zunächst das Recht, einen Asylantrag zu stellen. Statt in irregulären Arbeitsverhältnissen sehe ich die obszöne Seite des Grenzspektakels in den oft brutalen Effekten des Asylregimes und der Abschiebungen selbst, die vor physi-schen und psychischen Verletzungen mit manchmal tödlichen Folgen nicht Halt machen.

Kehren wir zu Asif N. zurück. Im Sommer 2019 flog er „freiwillig“ nach Afgha-nistan. In einem Interview kurz vor seiner Ausreise, sagte er, dass er das Warten nicht mehr ausgehalten habe:

Gefragt, warum er nach Afghanistan fliegen wolle, sagte er:

Was aus Asif geworden ist, ist nicht bekannt. Aber eine Studie über Afghanen, die zwischen 2016 und 2020 aus Deutschland abgeschoben wurden, zeigt, dass die Abgeschobenen wegen ihrer Rückkehr aus Deutschland spezifischer Verfol-gung ausgesetzt sind. Sie gelten als vom Westen kontaminiert oder als Kollabo-rateure der Feinde und wurden deswegen nicht nur von Taliban bedroht und oft auch tatsächlich angegriffen. Die meisten von ihnen können nicht zu ihren Fami-lien gehen, sofern sie überhaupt Familie im Land haben, weil Verwandte, die sie aufnehmen würden, ebenfalls zur Zielscheibe von Drohungen und Gewalt von Taliban und anderen Kriegsparteien werden würden. Die Studie konnte die Er-fahrungen von 113 der insgesamt 908 im Untersuchungszeitraum Abgeschobenen auswerten. Von den Abgeschobenen, die mindestens zwei Monate in Afghanistan geblieben waren, waren 90 % von Gewalt betroffen, mehr als die Hälfte von ihnen mehrfach.31

Eine frühere Untersuchung mit einem kleineren Sample wurde bereits 2019 veröffentlicht.32 Spätestens danach konnte man in Deutschland nicht mehr guten Gewissens behaupten, Afghanistan sei für Abgeschobene sicher. Den-noch erklärte das Auswärtige Amt noch im Juli 2021 in seinem Lagebericht, ihm seien „keine Fälle bekannt, in denen Rückkehrenden (sic) nachweislich aufgrund ihres Aufenthalts in Europa Opfer von Gewalttaten wurden“.33 Man muss davon ausgehen, dass das Auswärtige Amt diese Fälle nicht kennen woll- te . Die obszöne Seite der Abschiebungen soll im Dunkeln bleiben. Noch im Juli und sogar Anfang August 2021, wenige Tage bevor die Taliban Kabul ein-nahmen, plante das Innenministerium eine weitere Sammelabschiebung. Erst am 11. August des Jahres, als die Taliban schon den Großteil des Landes do-minierten, setzte das Innenministerium die Abschiebungen aus – vorläufig, wie betont wurde. Noch einen Tag zuvor hatten Deutschland, Österreich, die Niederlande, Belgien, Dänemark und Griechenland die EU gedrängt, die Ab-schiebungen fortzusetzen.34

Michel Foucault bringt seinen Begriff der Biomacht auf die Kurzform „leben zu ‚machen‘ und sterben zu ‚lassen‘“.35 Während im älteren Machtmodus der Sou-veränität die Macht Foucault zufolge vor allem sich selbst diente, zielt Biomacht auf die Bevölkerung. Diskussionen über Biomacht beschäftigen sich vor allem mit dem „Leben machen“, mit Gouvernementalität und der Sorge um die Bevölkerung. Ich möchte jedoch den Blick auf den zweiten Teil lenken, das „Sterben lassen“, das ähnlich wie das Obszöne des Grenzspektakels die Schattenseite der Biomacht ist.

Für Foucault ist Biomacht unmittelbar mit Rassismus als „grundlegendem Me-chanismus der Macht“36 verknüpft: „Rassismus ist die Bedingung für die Akzep-tanz des Tötens in einer Normalisierungsgesellschaft. […] Die Tötungsfunktion des Staates kann, sobald der Staat nach dem Modus der Bio-Macht funktioniert, nicht anders gesichert werden als durch Rassismus.“37 Foucault bezieht sich in seinen Ausführungen in erster Linie auf den tödlichen Rassismus im National-sozialismus. Es wäre jedoch voreilig zu schließen, dass sich mit dessen Ende das Problem erledigt habe. Ausgrenzung findet immer noch statt, wenn auch weniger spektakulär, alltäglicher. Es geht um die normale Ausgrenzung durch den Nati-onalstaat, der in Foucaults Denken merkwürdigerweise kaum eine Rolle spielt. Aber der Nationalstaat zieht eine Grenze zwischen denen, um deren Leben er sich kümmert (die Staatsbürger, aber auch die Nicht-Staatsbürger mit gesichertem Aufenthaltsrecht) und denen, die nicht dazu gehören, und für deren Leben er nur sehr eingeschränkt Verantwortung übernimmt.

Wir haben gesehen, dass die Abschiebbarkeit der klarste Ausdruck dieser Gren-ze ist. Man kann das Asylsystem als Apparat verstehen, der mit der massiven Ein-schränkung individueller Rechte dazu dient, diese Grenze aufrechtzuerhalten – jedenfalls bis eine Person die Asylprüfung bestanden hat und damit ins Feld der Bevölkerung aufgenommen wird. Alle anderen verharren in einem permanenten Ausnahmezustand.38 Sie werden „geduldet“ (rechtlich ist eine Duldung die tem-poräre Aussetzung der Abschiebung) und man sorgt nur sehr begrenzt für sie. Mit Agamben könnte man sagen, dass sie auf das „nackte Leben“ zurückgewor-fen werden. Aber auch für das nackte Überleben wird nur eingeschränkt gesorgt. Deutlich wurde das auch während der Pandemie, als in manchen Unterkünften Asylbewerber weitgehend ohne Informationen in Quarantäne eingeschlossen wurden  – ohne die Möglichkeit, in Mehrbettzimmern Abstände einzuhalten, ohne ausreichende sanitäre Anlagen, Desinfektionsmittel, usw. Und erst recht gilt dies für Abgeschobene, besonders in Afghanistan. Die Sorge für sie bleibt rein rhetorisch, als Teil des Grenzspektakels, denn natürlich will keine Regierung zu-geben, dass Menschen dort dem potentiellen Sterben ausgeliefert werden. So zog man sich auf die kaum haltbare Versicherung zurück, Teile des Landes seien sicher gewesen.

Foucault präzisiert: „Selbstverständlich verstehe ich unter Tötung nicht den direkten Mord, sondern auch alle Formen des indirekten Mordes: jemanden der Gefahr des Todes auszuliefern, für bestimmte Leute das Todesrisiko oder ganz einfach den politischen Tod, die Vertreibung, Abschiebung usw. zu erhöhen.“39Nicht selbst töten, aber potentiell sterben lassen, möglichst unbemerkt. Erst wenn die Gefahr des Sterbens zu offensichtlich wird, wenn sie aus dem Schat-ten des Obszönen ins Licht des Grenzspektakels gezerrt wird, muss man doch, widerwillig, Verantwortung übernehmen. Der plötzliche Stopp der Abschiebun-gen nach Afghanistan durch das Innenministerium am 11. August 2021 wirkt geradezu grotesk, hat der Innenminister doch noch am Tag zuvor vehement die Fortsetzung der Abschiebungen gefordert. Und die Betonung des Innenminis-ters, dass „Straftäter“ und „Gefährder“ wieder abgeschoben werden, sobald es die Lage zulässt,40 macht klar, dass es nicht um einen grundsätzlichen Politik-wechsel geht.

Das Grenzspektakel der Abschiebungen nach Afghanistan legt lediglich eine Pause ein. Es ist nicht unvorstellbar, dass die Bundesregierung nach einer Scham-frist mit den Taliban verhandelt, um Abschiebungen fortzusetzen. Und selbstver-ständlich gehen die Abschiebungen in andere Länder weiter. Das Spektakel der Ausgrenzung und des Aussortierens von Menschen läuft ungebremst.

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Verena Risse
Grenzen als Bedingung sozialer und kultureller Vielfalt

Das in der gegenwärtigen politischen und philosophischen Diskussion vorherr-schende Bild von Grenzen ist das von trennenden Unterscheidungen zwischen hier und dort, hüben und drüben und nicht zuletzt denen und uns. In dem Mo-ment, in dem Grenzen gezogen und durchgesetzt werden, tritt das Bewusstsein über Unterschiede zutage.

Unterscheidungen zu treffen und abzugrenzen ist, was Grenzen auch in nicht-politischer, sondern figurativer Form tun: Grenzen ziehen Konturen, unterschei-den Objekte und Gegenstände und helfen, Dinge und Begrifflichkeiten ausein-anderzuhalten. Insofern sind sie auch für die philosophische oder juristische Begriffsbildung zwingend notwendig und Grundlage informierten Handelns und Diskutierens.

Während sich also Unterschiede nur benennen lassen, wo auch Grenzen zwi-schen dem Unterschiedenen gezogen werden, gibt es Vielfalt wiederum erst dort, wo erkennbare Unterschiede nebeneinander auftreten und sichtbar werden. Gren-zen sind somit einerseits trennende Unterscheidungen, andererseits ergibt sich Vielfalt erst in Anerkenntnis und im Erkennen dieser auf Grenzen basierenden Unterscheidung.

Vor diesem Hintergrund möchte dieser Beitrag das Spannungsfeld zwischen trennenden Grenzen einerseits und auf Abgrenzungen basierender Vielfalt an-dererseits ausloten und diskutieren. Die Diskussion erfolgt in drei Schritten: In einem ersten Schritt sollen Begriffsklärungen vorgenommen werden, die zu-gleich die inhaltliche Breite des Artikels abstecken werden. Im zweiten Schritt soll problematisiert werden, inwieweit Vielfalt und Grenzen in einem Span-nungsfeld stehen, wobei die zentrale Frage lautet, ob Vielfalt Grenzziehungen notwendig macht. Aus der Diskussion unterschiedlicher Argumente lassen sich in einem letzten Schritt verschiedene Schlussfolgerungen nicht zuletzt mit Blick

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auf politische Grenzen ableiten, die anhand einschlägiger Beispiele dargestellt werden sollen. 1 Begriffsklärungen

Sowohl der Begriff der Grenze als auch der der Vielfalt sind komplex und sollen für die Zwecke dieser Argumentation in diesem Abschnitt definiert und einge-grenzt werden.

Grenzen erscheinen auf zwei Weisen: Zum einen kennzeichnen sie den Verlauf zwischen zwei politischen Entitäten, die durch die Betonung der Grenzziehung auch ihre Unterschiedlichkeit herausstellen. Zum anderen beschreiben Grenzen entlang genau dieser Demarkationslinie ein Hindernis, das es beim Wechsel von einer zur anderen politischen Entität zu überwinden gilt. Fügt man beide Begriff-lichkeiten zusammen, ergibt sich eine Definition, wonach Grenzen die äußere De-markationslinie eines staatlichen Territoriums bilden. Zugleich kennzeichnen sie den Ort, entlang dessen all jene Maßnahmen stattfinden (können), mittels derer das Betreten eines Staatsgebiets kontrolliert wird. Trotz der geografischen Loka-lisierbarkeit lässt sich aus dem zweiten Teil der Definition, d. h. dem Aspekt der Kontrolle und des Schaffens von Hindernissen, eine räumliche Ausdehnung der Staatsgrenze über die Grenzlinie oder das Grenzgebiet hinaus feststellen.1 Schließ-lich, so ließe sich argumentieren, erschweren beispielsweise bereits komplizierte, vor Grenzübertritt auszufüllende Formulare oder bestimmte medizinische An-forderungen die Einreise.

Neben dieser politischen Bedeutung von Grenzen ist für die folgende Argumen-tation auch ihre allgemeinere, sprachliche Verwendung zu betonen. So bezeichnen Grenzen ganz grundsätzlich die Umrisse eines Objekts oder eines Begriffs und dies sowohl in gegenständlicher als auch in konzeptueller Hinsicht. Grenzen zu ziehen, bedeutet somit, Dinge auseinanderzuhalten und zu unterscheiden; teils auch, um Unterscheidungen erst einzuführen oder Unterschiede zu unterstreichen.

Grenzen sind somit sowohl die Demarkationslinien selbst als auch die nor-mativ relevante Manifestation der Unterscheidungen, die der Grenzziehung vorausgehen.

Auch Vielfalt – bzw. die zunehmend auch im Deutschen verwendeten Alterna-tiven diversity/Diversität – ist ein Begriff, der im gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Diskurs sehr präsent ist.

Vielfalt verweist ganz allgemein auf die Pluralität von Arten, Personen oder Formen. In soziologischer Dimension bezeichnet Vielfalt die Unterscheidung von Gruppen- und individuellen Merkmalen sowie die Anerkenntnis dieser Unter-schiede. Verschiedene Dimensionen von Vielfalt lassen sich unterscheiden: Alter, ethnische Herkunft und Nationalität, Geschlecht und Geschlechtsidentität, kör-perliche und geistige Fähigkeiten, Religion und Weltanschauung, sexuelle Orien-tierung und Identität sowie soziale Herkunft.2

Diversity im inklusiven Sinne ebenso wie divers zusammengesetzte Teams und Gruppen werden als Ausweis einer offenen, internationalen und möglichst ideen- und facettenreichen Gesellschaft propagiert.

Während Vielfalt oder diversity in politisch-gesellschaftlichen Diskussionen die größere Rolle spielen, lässt sich die entsprechende philosophische Diskussion eher im Begriff des Multikulturalismus verorten. Multikulturalismus geht aus von ei-ner kulturellen Vielfalt zwischen den Menschen mit einem Fokus auf ethnischen, religiösen und nationalen Unterschieden und verbindet diesen faktischen Befund mit dem normativen Ideal, diese Vielfalt anzuerkennen.

Will man den Wert von Vielfalt bestimmen, lassen sich verschiedene Indikato-ren heranziehen. Informativ ist hierfür Vielfalt aus einem anderen Kontext, näm-lich biologische Vielfalt oder Biodiversität. Kern dieses biologischen Verständ-nisses ist eine möglichst große Anzahl verschiedener Lebewesen innerhalb eines Lebensraums. Zentrale Forschungsergebnisse auf diesem Themengebiet gehen da-von aus, dass der Erhalt von Biodiversität zwingend erforderlich ist, um das Funk-tionieren derjenigen Systeme zu erhalten, die Leben auf der Erde erst möglich ma-chen.3 Die sogenannte ökologische Versicherungshypothese geht davon aus, dass eine Erhöhung der Anzahl verschiedener Arten ökologische Systeme stabilisieren kann. Das heißt, möglichst große biologische Diversität erhält lebensnotwendige Systeme nicht nur, sondern die Steigerung der Diversität kann in fluktuierenden Umgebungen stabilisierend wirken.4

Auch bei Menschen wird davon ausgegangen, dass eine Pluralität von Erfah-rungen, Kulturen und Kenntnissen zu einer erhöhten Anzahl an Sichtweisen, Ideen und Perspektiven führt, die wiederum einer sozialen Gruppe dienlich sind. Diese Vielfalt kann zunächst bereichernd sein, weil sie unterschiedlichs-te Anregungen und Erfahrungsmöglichkeiten bietet. Zudem kann sie handfeste politische und wirtschaftliche Implikationen haben. So können politische oder wirtschaftliche Entscheidungen einer Entität, die unter Beteiligung möglichst diverser Personen getroffen wurden, nachhaltiger sein. Treffen immer nur die-selben und einander ähnlichen Personen Entscheidungen, riskieren diese, ein-ander zu bestärken und unter Umständen falsche oder riskante Einschätzungen zu übersehen. Eine möglichst diverse Gruppe schafft durch eine Vielzahl unter-schiedlicher Perspektiven eine Ausgewogenheit und eine größtmögliche Breite an Wissen.5

Voraussetzung scheint aber zu sein, dass diese Vielfalt nicht im sprichwörtli-chen melting pot aufgeht. Damit ist gemeint, dass weder eine vollständige Integ-ration, noch ein Verschwinden aller Unterschiede stattfindet. Stattdessen scheint dies deren Unterstreichen und Unterstützung vorauszusetzen.

Deutlich wird bereits anhand der Definitionen, dass zwischen Grenzen und Vielfalt ein Spannungsfeld erwächst: Sind Grenzziehungen notwendige Voraus-setzungen für Vielfalt oder verhindern sie eine diverse Gesellschaft? Diese Fragen sollen in den folgenden Abschnitten näher beleuchtet werden.

Setzt man voraus, dass Vielfalt erstrebenswert ist, zugleich aber Grenzziehungen vermehrt zu beobachten sind, eröffnet sich die Frage, ob und inwiefern beide Be-griffe vereinbar scheinen. Im Folgenden sollen einige Ansätze diskutiert werden, inwieweit Unterscheidungen (durch Grenzziehungen) und Multikulturalismus in Einklang zu bringen sind. 2.1 Die Abgrenzbarkeit von Kulturen

Zunächst ließe sich bezweifeln, dass Kulturen überhaupt abgrenzbar sind. Mit die-sem Argument ist generell gemeint, dass eine Kultur von der anderen nicht ein-deutig zu unterscheiden ist, da sich die vermeintlich unterschiedlichen Kulturen gegenseitig bedingen und durchdringen. Das Argument richtet sich nicht gegen eine Ununterscheidbarkeit von Kulturen allgemein, bezweifelt aber, dass Grenz-ziehungen zwischen Kulturen möglich und sinnvoll sind. Insbesondere, so wird von verschiedenen Autor*innen vorgebracht, würde eine solche Abgrenzung eine scheinbar pure Version der Kultur konturieren, damit aber eine lebendige Kul-tur außer Acht lassen.6 Jeremy Waldron ergänzt, eine solche strikte Abgrenzung würde zudem der Tatsache nicht gerecht, dass sich Kulturen an wandelnde gesell-schaftliche Umstände anpassen.7

Das Argument erscheint überzeugend, insoweit viele Kulturen einander beein-flussen und überlappen. So werden beispielsweise regelmäßig kulinarische Ein-flüsse aus anderen Ländern übernommen (sei es durch die Nutzung bestimmter Produkte, sei es durch die Adaptation von Rezepten). Gleichwohl gibt es in der jeweiligen nationalen Küche Gerichte und Spezialitäten, die diese eindeutig iden-tifizieren. Um diese eindeutigen Kerne eine Grenze zu ziehen, könnte aber in der Praxis bedeuten, viele derjenigen Aspekte auszuklammern, die erst die Kultur er-lebbar – und im Fall der Gerichte: nachkochbar und essbar – zu machen.

Will Kymlicka verweist in einem weiteren Argument gegen eine solche Abgren-zung darauf, dass die Möglichkeit, sich einer Kultur zuzuordnen, für den Einzel-nen sinnvoll und bedeutsam wird, wenn sie eine Verknüpfung zu dessen eigenem Leben herstellt.8 Kymlickas Argument weist damit in die Richtung der oben als Wert von Vielfalt beschriebenen Vorteile: Die verschiedenen kulturellen Hinter-gründe werden besonders wertvoll, wenn sie in einem gemeinsamen sozialen Kon-text ausgelebt werden. Damit nähert sich das Argument dem Bild eines melting pots im Sinne einer Assimilation.

Vieles deutet darauf hin, dass eine grundsätzliche Abgrenzbarkeit von Kulturen schwer zu verneinen ist. So lassen sich insbesondere Kernelemente verschiedener Kulturen erkennen, die diese auch grundsätzlich unterscheidbar machen. Zu-gleich bestehen aber wichtige Überlappungen und gegenseitige Beeinflussungen, durch die sich Kulturen nicht zuletzt weiterentwickeln.

Wesentlich erscheint zudem die Frage nach der Autor*innenschaft der Definition von Vielfalt. Hier sind verschiedene Sichtweisen zu bemerken – einerseits die Ab-grenzung von Kulturen zwischen einander und andererseits die Abgrenzung ge-genüber der Mehrheitsgesellschaft (und dies wiederum sowohl aus der Perspektive der Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft wie auch der kulturellen Minderheiten). 2.2 Difference – indifference Als Kontrast zur Grenzziehung und damit Differenzierung lässt sich der seman-tische Gegenpol der Indifferenz aufbringen. Der daraus entstandene Indifferenz-Ansatz unterscheidet sich vom vorherigen Argument insofern, als es hier nicht um die Frage der Abgrenzbarkeit von Kulturen geht. Vielmehr stellt Indifferenz im Sinne einer Gleichgültigkeit der Abgrenzung keine Nicht-Abgrenzung, sondern eine Art Ignoranz gegenüber möglichen Abgrenzungen überhaupt dar.

Besonders prominent ist das Argument der Indifferenz gegenüber Differenzen von Chandran Kukathas vorgebracht worden. Kukathas argumentiert, dass es nur indivi-duelle und keine Gruppenrechte geben könne. Bei der Gewährung von Gruppenrech-ten, die genau die Grenzziehung um bestimmte Gruppen durch den Staat beinhalten, überschreitet der liberale Staat, so Kukathas, seine Rolle. So könnte beispielsweise das individuelle Recht der Vereinigungsfreiheit ausgehebelt werden.9 Stattdessen müsse der Staat den zur Gewährung von Gruppenrechten notwendigen Abgrenzungen ge-genüber indifferent sein und lediglich auf Individualrechte abstellen, die allen – un-geachtet ihrer kulturellen Gruppenzugehörigkeit – gleichermaßen zukommen.

Das Argument ist in seiner Radikalität sehr stringent, birgt aber auch Schwie-rigkeiten. So liegt ein Problem dieses Ansatzes darin, dass bestimmte Personen innerhalb ihrer Gruppierungen schutzlos werden können, wenn der staatliche Blick sich nicht auf Gruppen, sondern lediglich auf Individuen richtet. Eine Ig-noranz bestimmter Gruppenzugehörigkeiten kann Personen, die sich stark mit einer Gruppe identifizieren oder innerhalb ihrer Gruppe vulnerabel sind, unter Umständen gefährden.

Festzuhalten ist, dass bei Kukathas kulturelle Unterschiede für den politischen Kontext ausgeblendet werden sollen, indem das den Individualrechten gegenüber-stehende Konzept der Gruppenrechte als Instrument wegfallen soll. Gruppierun-gen an sich werden allerdings nicht verneint. Nicht nur wegen dieser Inkonse-quenz erweist sich das Argument als nur bedingt hilfreich. Wertvoll ist allerdings die darin enthaltene Annahme, dass es Situationen gibt, in denen Individuen ein-zeln und ungeachtet ihrer Zugehörigkeit betrachtet werden müssen. Und solche Situationen sind gerade auch in der oben erfolgten Darstellung der Vorteile von Diversität sichtbar geworden. Ein Beispiel ist die „bunt“ zusammengesetzte Grup-pe politischer Entscheider*innen oder ökonomischer Akteur*innen. Allerdings handelt es sich um Individuen (auch) als Mitglieder bestimmter kultureller oder ethnischer Gruppen.

Die kurzen Überlegungen zeigen, dass Personen oft verschiedenen Gruppen zugehörig sind. Es kann somit sinnvoll sein, je nach Situation bestimmte Zuge-hörigkeiten (und also bestimmte Grenzziehungen) auszublenden. Dieses Ausblen-den, also eine ausdrückliche Indifferenz in Bezug auf bestimmte Aspekte, kann sowohl durch die Person selbst erfolgen, aber auch durch das Umfeld oder durch Institutionen.

Das Argument, der Differenz mit Indifferenz zu begegnen, kann existie-rende Unterschiede somit nicht aufheben, weist aber darauf hin, dass es auch Situationen geben kann, in denen es sinnvoll scheint, sie nicht in den Vorder-grund treten zu lassen. Ein solches Verständnis birgt, wird es generell ange-wendet, wie oben dargestellt, auch Gefahren. Eine Indifferenz gegenüber Un-terschieden erscheint somit keinesfalls für alle Kontexte sinnvoll, aber unter Umständen hilfreich, um verschiedene Facetten von Zugehörigkeiten bzw. Markierungen hervortreten zu lassen. Teils mag sie auch dazu dienen, kulturel-le Identität nicht festzuschreiben. 3 Grenzenlose Vielfalt und politische Grenzen

In diesem dritten Abschnitt soll der Bogen zu politischen Grenzen geschlagen werden. Auf Basis der bisherigen Überlegungen sollen daher politische Grenzen und Grenzpraktiken in den Blick genommen und dahingehend untersucht wer-den, inwieweit eine Einordnung im Sinne von Vielfalt-befördernder und Vielfalt-behindernder Grenzpraktiken möglich ist.

Es ist nicht Ziel dieses Artikels, sämtliche Grenzpraktiken in ihrer Differen-ziertheit für unterschiedliche Staatsangehörige zu erfassen und zu listen; noch ist es für die verfolgte Argumentation notwendig. Im Folgenden sollen daher drei Arten politischer Grenzen in den Blick genommen und vor dem Hintergrund der bisherigen Überlegungen betrachtet werden. Dies sind erstens unbefestigte politi-sche Grenzen, zweitens befestigte politische Grenzen und zuletzt vor- und nach-gelagerte Grenzen und Grenzräume. 3.1 Unbefestigte politische Grenzen

Politische Grenzen sind Grenzen entlang der äußeren Demarkationslinien zwi-schen Staatsgebieten bzw. deren teilsouveränen Gliedstaaten oder Verwaltungs-einheiten. In den folgenden Überlegungen sollen jedoch nur Grenzen zwischen Staaten eine Rolle spielen. Unbefestigte politische Grenzen sind solche, die nicht durch ein Bauwerk wie einen Zaun, eine Mauer oder ähnliches zusätzlich be-wehrt wurden. Unbefestigte Grenzen können gleichwohl gesichert sein, z.  B. durch eine Schranke oder einen Kontrollposten. Auch an unbefestigten Grenzen herrschen Einreisebestimmungen, die beispielsweise für Angehörige bestimmter

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Drittstaaten ein Visum erfordern und kontrolliert werden. Unbefestigte politische Grenzen sind der grenzpolitische Normalfall.

Einen besonderen Fall unbefestigter Grenzen bildet der Schengenraum, inner-halb dessen Personenkontrollen an den Grenzen zwischen den einzelnen Schen-genstaaten in der Regel nicht stattfinden. Diese Grenzen sind somit nicht nur un-befestigt, sondern im Normalfall auch unkontrolliert. Systematische Kontrollen finden lediglich an den Außengrenzen bzw. bei der per Flugzeug erfolgenden Ein-reise aus einem Drittstaat an. Eine derartige Aufhebung von Binnenkontrollen und weitgehende Personenfreizügigkeiten sind ein grenzpolitisch starkes Mittel, um Vielfalt innerhalb eines definierten Raums zu befördern. Diese Vielfalt ist zu-nächst eine Vielfalt von Nationalitäten und, nachgelagert, auch Kulturen und kul-turellen Praktiken, die diesen Raum bilden. 3.2 Befestigte politische Grenzen

Die zweite hier betrachtete Kategorie sind befestigte politische Grenzen, wobei „befes-tigt“ darauf verweist, dass diese politischen Grenzen nicht nur durch Kontrollen oder natürliche Hindernisse, sondern durch Grenzanlagen wie Grenzzäune oder Mauern bewehrt wurden, sodass sie nicht ohne Weiteres überwindbar sind. Eine solche Grenz-befestigung dient in den meisten Fällen der Verhinderung von Immigration und wird von einer benennbaren Zahl von Ländern praktiziert. Bekannte Beispiele sind die Sperranlage um den Gazastreifen und das Westjordanland, die befestigte Grenze zwi-schen Zypern/Nordzypern sowie die Grenze der USA zu Mexiko. Auch in der EU sind in den letzten Jahren Grenzzäune errichtet worden, so beispielsweise zwischen Slowe-nien und Kroatien und in Ungarn an den Grenzen zu Serbien und Kroatien.

Befestigte Grenzen sind als Kategorie für die in diesem Artikel entwickelten Über-legungen besonders interessant, weil sie in gewisser Weise Grenzziehungen noch zu verstärken oder zu unterstreichen scheinen. Dies ist ein Effekt, der sich bei semanti-schen Grenzziehungen kaum nachbilden lässt, aber in diesen Fällen bei politischen Grenzen besonders deutlich wird. Diese Verstärkung erscheint nicht nur durch die sichtbare Befestigung selbst, sondern auch durch die Tatsache, dass befestigte Grenzen die direkten Nachbarn am stärksten zu trennen scheinen bzw. bestimmte Nachbarstaaten nachdrücklicher abgrenzen. Zudem wirken befestigte Grenzen oft in eine Richtung stärker (z. B. als Einreise- und nicht Ausreisehindernis).

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Diese Überlegungen lassen weiterführende Gedanken mit Blick auf Vielfalt zu. So ließe sich daran denken, dass durch eine scharfe Abgrenzung und Abschottung einer Kultur sich diese unter Umständen stärker manifestiert, allerdings auch nicht weiterentwickelt. Ebenso gibt es Beispiele für einst verwandte Kulturen, die durch eine starke politische Grenzziehung trotz fortbestehender räumlicher Nähe zu einer kulturellen Abgrenzung voneinander gezwungen wurden. Nord- und Südkorea stellen hier einen besonders markanten Fall dar. 3.3 Vor- und nachgelagerte Grenzen und Grenzräume

Als dritte Kategorie sollen zuletzt sich ausdehnende Grenzen und Grenzräume betrachtet werden. Beiden Arten ist gemein, dass sie ein Gebiet bezeichnen, das weit über die eigentliche Grenzlinie hinausragt; zugleich unterscheiden sie sich in wesentlichen Punkten. So verlagern vor- und nachgelagerte Grenzen Kontrollen sowohl räumlich außerhalb des eigentlichen Grenzbereichs als auch zeitlich fern vom eigentlichen Grenzübertritt. Beispiele hierfür sind Visabeantragungen im Vorfeld einer Einreise oder die Kontrolle von Aufenthaltspapieren zur Erlangung anderer staatlicher Dienstleistungen nach der Einreise. Denkbar ist auch eine Ausdehnung von Grenzen in internationale Räume, insbesondere Gewässer, z. B. durch patrouillierende Boote. Grenzräume dagegen bezeichnen durch bestimmte Eigenschaften zusammenhängende Gebiete, die sich auf beiden Seiten einer poli-tischen Grenze ausdehnen. Diese Räume können sowohl grenzpolitisch definiert werden, beispielsweise als ein kriminalitätsanfälliges Gebiet, das besonders über-wacht wird, oder wirtschaftlich (z. B. als ein Raum, der grenzüberschreitende Ar-beits- und Wirtschaftsbeziehungen pflegt) oder auch kulturell (wenn beispielswei-se gemeinsame kulturelle Praktiken auf beiden Seiten der Grenze ungeachtet der staatlichen Zugehörigkeit bestehen).

Sowohl die vor- und nachgelagerten Grenzen als auch die Grenzräume lassen ei-nige Schlüsse mit Blick auf kulturelle und ethnische Vielfalt zu. So lässt sich zu-nächst festhalten, dass die für Abgrenzungen notwendige deutliche Grenzlinie hier unschärfer wird. Dies kann im Fall der vor- und nachgelagerten Grenzkontrollen zu einer rechtlichen Intransparenz führen. Gleichzeitig ist bemerkenswert, dass Grenz-praktiken damit selber einer zunehmenden Vielfalt Rechnung zu tragen scheinen. Weiterhin erscheinen insbesondere Grenzräume als ein vielfältiger Raum, in dem

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eine Vielfalt, die auf Staatszugehörigkeit rekurriert, einerseits besonders stark ist, andererseits aber auch Staatszugehörigkeit als Distinktionsmerkmal schwächt. 4 Resümee und weiterführende Bemerkungen

Vielfalt und Grenzen in ihrem Spannungsfeld auszuloten, war das Ziel dieses Ar-tikels. Ausgemacht wurde die Spannung auf der Grundlage der für die Bestim-mung von Vielfalt notwendigen Unterscheidungen, ja Grenzziehungen, und der daraus resultierenden Frage nach der (In-)Kompatibilität von Vielfalt und (poli-tischen) Grenzen. Während Vielfalt die Nähe des Anderen befördert und wert-schätzt, trennen Grenzziehungen direkte Nachbarn.

Tatsächlich, so lässt sich abschließend resümieren, ist die Beziehung zwischen beiden Konzepten noch deutlich vielschichtiger und komplexer. Dies resultiert zum einen aus Schwierigkeiten, die Abgrenzbarkeit von Kulturen theoretisch ein-deutig zu klären und zum anderen aus der Schwierigkeit, diese Abgrenzbarkeit normativ zu begründen. Ebenso lässt sich das Bild von politischen Grenzen als trennscharfen Linien zwischen kulturell unterschiedlichen Entitäten in der Praxis nicht aufrechterhalten. Vielmehr kann man mit Blick auf gesellschaftliche Vielfalt eine Binnendifferenzierung ausmachen, die auch in stark ausdifferenzierten und diversifizierten Grenzkontrollen und -räumen ihre Entsprechung findet.

Bemerkenswert ist zudem, dass Abgrenzungen zwar regelmäßig vom Nächs-ten trennen, politische Grenzpraktiken aber durchaus auch mit Blick auf weit entfernte Staaten differenzieren können. Befestigungen besonders sichtbar ge-stalteter Grenzen hingegen setzen eine starke Unterscheidung gegenüber einem bestimmten Nachbarn.

So wenig soziale und kulturelle Vielfalt alleine auf politische Grenzen zurückzu-führen sind, so wenig sind politische Grenzen nur eine Antwort auf soziale und kul-turelle Vielfalt. Gleichwohl können beide Konzepte einander nachhaltig bedingen – und dies mit potentiell starken individuellen und gesellschaftlichen Konsequenzen. Wie unterschiedlich diese Konsequenzen aussehen können, hängt wiederum von der genauen Ausgestaltung der Grenzen einerseits, aber auch der Art und dem Grad der Vielfalt andererseits ab. Es scheint daher nicht zuletzt notwendig, nicht nur Grenzen und Vielfalt selbst, sondern vor allem die Konstellationen, in denen sie auf-einandertreffen, mit der gebotenen Sensibilität für Kontext und Detail zu bewerten.

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Noah Ijabani Lucas
Reconstructing Borders, Boundaries and Transcending Barriers: An Attempt to Liberate Identity Politics from Ambivalence in the Multicultural State of Nigeria

1 Introduction Citizens have a need for belonging in their diverse identities. Lack of recognition of their difference makes individuals feel insecure and vulnerable, so that they tend to seek protection in the identity of groups that afford the sense of belonging. Identity construction to cover compensate for deficits of security and recognition needs, is in danger of entanglement and self-contradiction, as it may uphold the very exclu-sionary barriers it purportedly wants to resist. It is on this note that I examine in light of the multicultural state of Nigeria, the potentials and threats of citizenship identity poses to consolidating exclusionary barriers of identity boundaries. 1.1 Identity

Identity involves consciousness of a self that is embodied in space. “It is about a self that is constituted through and against other selves in contexts that serve to establish the relationship between the self and the other”1. This consciousness of self, involved in identity construction, that derives from the consciousness of others who share the same space but differ from us, also constitutes a basis for competition and conflict2 around belonging in modern, and especially plural states. Belonging that is expressive of inclusion entails subjection to common principles, space and living conditions, regardless of people’s diverse orienta-tions, origin and values.3 Inclusion deficits in plural states rekindle struggle around belonging and citizenship identity. Zygmunt Bauman purports identity to originate from a crisis of belonging4 that entails “a simultaneous struggle against dissolution and fragmentation; an intention to devour and at the same time a stout refusal to be eaten”.5 Although identity is not always prominent – being salient amidst hostilities and quiet in peaceful times, doing without it can, in practice, hardly be imagined.

The modern state tries to foster common belonging through the projection (imposition) of shared or common identity among citizens – citizenship iden-tity. Citizenship identity employed here is conceived in terms of belonging that confers membership status with the attendant rights and duties to individuals in relation to a state or political unit. Because this perception of citizenship confers some identity on individuals, it is expected to elicit commitment and guarantee inclusion  – by way of equal treatment, respect and participation/functioning – of citizens6. The desire to integrate a polity denied not only the heterogeneity of citizens, but also, the place of difference and alterity in or-ganizing society, so that it projects a false solidarity that may be inimical to inclusion7.

Leonie Huddy and Alessandro Del Ponte conceive national identity in terms of “subjective or internalized sense of belonging” that entails both “cognitive aware-ness and an emotional attachment” to a group or nation.8 For Smith the state’s principal task in post-colonial societies, is “fostering a common sense of belong-ing that would transcend ethnic and racial particularities”9. National identity is believed to have the tendency either to promote national glue and foster trust and solidarity among citizens, or to undermine group cohesion engender suspicion and fragmentation.10

A sense of ‘us’ can be utterly absent within a group of politicians or corporate executive with almost identical cultural, class, and educational backgrounds as the squabble amongst themselves over who is to blame for some collective failing. Conversely, shared identity can be powerfully present among a diverse group of strangers united instantaneously by a natural disaster or terrorist attack.11

Citizenship or national identity projects a shared identity that hopes to integrate diverse individuals, but remains rather inaccessible to, or exclusive of others, or of diverse expressions. 1.3 Secure Identity

“Longing for identity comes from the desire for security”.12 Since identity involves reference to some relation between the self and others, people want relations that are stable over longer periods, and in which they can count as subjects13. Nevertheless, when the concept of identity is parochial, it tends to marginalize and disenfranchise those who do not conform to the mainstream norms.14 Where people do not find the opportunity and space for their self-actualization as subjects, they feel marginalized and excluded, and may recourse to identity politics to push or organize their polit-ical activism agenda/ideology15 or counter their domination by majority or main-stream groups. People seek group solidarity not only for the security of inclusion, but also relationships with potentials for long-term commitment16 that would expand (the scope of expression of) their freedom. Finding security in group excites and fosters the sense of belonging. Particularly the assurance of survival makes people invest emotionally in group solidarity with great commitment.17 Finding security within boundaries of a group, makes people go beyond alliances to build deeper commitment. They move from the instrumental conception as means of security to finding meaning and true belonging.18 As trust builds, and the sense of identity and belonging becomes stronger, boundaries also consolidate. What function do such boundaries have? Do they indicate markers of identity or separators? 2 Boundaries, Borders and Identity Dynamics

Identity construction can be said to involve boundary definition in reference to others. Indeed, borders and boundaries are both associated with delineating and defining identity and belonging. While borders refer to territorial limits19, boundaries mark belonging20 in terms of limits that establish barriers in social constructions.

It would seem that constructing identity in order to make up for recognition and security deficits is prone to furthering alienation with the potential to include or exclude people.22 Boundaries become receptacle of identity in communities where they configure groups according to categories of insider-outsider, so that the ‘other’ is perceived as a threat.23 Boundaries that separate, as Midgal would argue, do operate through checkpoints and mental maps which designate spaces and practices that distinguish and alienate members of a group from others – en-compassing “accepted” conducts that serve as markers of inclusion or exclusion from the particular group. The prospect that boundary markers and checkpoints will serve to distinguish the familiar from unfamiliar gives some sense of secu-rity. In Nigeria, for instance, the workings of boundary check-points or mental maps find expression in the indigene-settler dichotomy that cultivates entitle-ment to favours and benefits (patronage) on the basis of belonging (with). In a given space, citizens who trace their ancestry to a different location are accorded “settler”24 status, so that indigenes rooted in that space enjoy the claim to land ownership and determination of political affairs.25 The difficulty with the insid-er/outsider duel is not merely that it limits people’s belonging and exploits eth-nic identity to restrict individuals’ participation and citizenship, but rather that the very state which ought to guarantee equality regrettably gives it validity26. So long as boundaries that separate from others appear to accrue advantages, they consolidate exclusion and alienation, giving the sense or hope of fixed identity. This makes people vulnerable to entanglement in self-contradictory practice of exclusion. Unfortunately, exclusionary boundaries and everyday racism are easily overlooked.27 What boundaries then can be considered safe? I consider as safe boundaries which function as identity markers or indicators, and not separators, boundaries which do not preclude cohesion or solidarity, but enable inclusion and mutual recognition. To this end, it is essential to have the capacity to understand and navigate to the safe conception of boundaries28 – boundaries that are not ex-clusive. Identity is shaped by diverse social relations and influences beyond one’s in-group.29 Multiple sets of boundaries exist and make different demands on peo-ple and shape their mental maps in manifold ways that engender diverse forms of belonging. The implication here is that the identities constructed through these boundary crossings are never fixed30, but remain rather fluid, contingent and flex-ible.31 The multiplicity of identities and overlapping boundaries which character-ize plural states today defy any strict self-other separation or logic of community cohesion.32 The political structure of the plural state Nigeria reveals defiance of rigid identity or boundary logic.

Plural society theory largely maintains that the very composition of plural societ-ies constitutes its basic potential for group conflicts, so that generally the measure of division or harmony in a plural state is a function of the extent difference is politicized. Nonetheless, the characteristic mix of plurality – whether complex, hierarchical, or segmental – plays a significant role in engendering ethnic group hostilities. A plural society that evolves from the politics of difference to accom-modate heterogeneity is on its way to attaining some normative harmony that will enable it negotiate well and make the best of its pluralist nature.33 The Nigerian state with its vast and rapidly growing population

The modern state with its disposition to integrative self-other relation, however, expects some transformation of the ‘other’ into a recognizable part of ‘us’. This prediction of shared identity, which aims at preserving coherence and demanding loyalty, embodies a one-way process, divest of dialogical content that makes it not only intrinsically hegemonic35, but also less viable project in multicultural states. The Nigerian state has made concerted efforts to project national cohesion and shared overarching identity, that purportedly placed in the state the capacity to satisfy the competing demands of diverse groups. The failure of state design to fulfil this function reveals a necessity for negotiating and bargaining belonging among the constituents of the state.36 As it played out in the 1914 colonial amal-gamation of the northern and southern protectorates that saw the emergence of Nigeria, unification of the state was premised on the North retaining its distinct administrative style.37 Colonial conquest and the institution of indirect rule that privileged extant dominant hegemonic rules of some majority groups, sharpened the consciousness of identity and the perception of differences that alienate adher-ents of diverse groups.38 Identity politics in Nigeria is largely tilted toward group identity mobilization – be it a cultural or religious group – which has its roots in the desire for inclusive participation in life and institutions of the state.39 The as-sumption that citizens are torn between the competing demands of multiple iden-tities or may be driven by the feeling of insecurity to align with particular groups for security does not as such provide sufficient reason for the prevalence of ethnic mobilization. By its nature, ethnic mobilization is believed to be susceptible to both assimilationist and separatist tendencies40, depending on the cause or goal of mobilization.

The motives for group mobilization in Nigeria involve a twofold process: mi-nority groups’ ethnic politics or politics of difference on the one hand and mobiliz-ing ethnic sentiments among majority (and even minority) groups by political en-trepreneurs on the other hand. In the context of Nigeria, minorities that comprise largely of ethnic (or religious) groups that distinguish themselves from the major ethnic groups (Hausa/Fulani, Yoruba and Igbo).41 These groups protest structures that systematically dominate and discriminate against them.42 Minority ethnic groups establish security or solidarity bonds “to help their struggles against op-pression or exclusion43 by the larger society, not as something that unites citizens as members at the societal level”.44 Many ethnic minority struggles in Nigeria have sought to check what they perceive as disproportionate power relations be-tween them and the major ethnic groups.45 Mobilization among most minority groups in Nigeria is driven mostly by the politically conscious class among them. It can be said that ethnicity in Nigeria did not evolve naturally as a bond among people but developed as construction of protective borders, that has been exploited for political mobilization.46

With regard to group mobilization by political entrepreneurs, the uneven population and size of groups is often mobilized to keep power.47 As far as it is possible to wield influence, political entrepreneurs, whether hailing from mi-nority or major group, manipulate “the size of groups to their advantage”48. The elite class preserves its interest, like most other collectives, but unlike them it projects its particular interest by purporting to promote the community or common goals. Deploying this trick only enables the elite exploit ethnicity’s wide appeal to mobilize groups for their personal goals, without betraying any interest in preserving cultural difference or heritage.49 Whether they mobilize identity of a group to pursue specific outcomes, or exploit a key outcome to mobilize identity group, the target of political entrepreneurs generally is to ob-tain and retain power.50

In Nigeria, for instance, political entrepreneurs of northern extraction may exploit the Muslim religious identity rather than their Hausa ethnicity in conflict times, as a social identity. Where they perceive the bigger size of religious coalition or the people’s unflinching commitment to religion will bring them grater advan-tage, they may pursue the incorporation of Shari’a law to win the admiration of sympathizers.52 The resultant alienation from those who do not share this iden-tity creates boundaries of separation. Greedy and power conscious political elite have often exploited religion as a tool of “reactionary ethnicity” to engender group solidarity, in which they sponsor religious crises that divert the attention of un-suspecting faithful from the economic exploitation and power grab of the elite.53Policies and schemes – like the federal character principle, the quota system etc. – introduced in Nigeria to foster inclusion, rather privilege majority groups and sus-tain borders of separation rather than overcome marginalization and alienation. Patronage and the expansion of network to garner support by political entrepre-neurs54 engender connivance with them, so as to perpetuate the course of exclu-sion and alienation from others55, whether the disadvantaged (by major groups) or the favoured group (by minority groups). When political entrepreneurs estab-lish patronage in the name of group interest, group mobilization not only enhances alienation of out-groups and perpetuates exclusion, but also becomes self-contra-dictory, since it contradicts the very motive of fighting exclusion. Hence, it be-comes non-sustainable. 2.2 Transcending the Limits of Identity and Boundaries

What becomes evident is that the boundaries of identity and borders are multiple, variable and flexible. Both groups and political entrepreneurs accept and exploit these features, depending on whether they serve their interests or not. In its polit-icized forms, group mobilization in Nigeria operates exclusionary or barricading boundaries that are inimical to peaceful coexistence in plural state. Such bound-aries which are inscrutable and must be outdone include: denying fellow citizens access to and ownership of space, or expelling them on account of their differ-ent ethnic roots; mobilizing religion and ethnicity to orchestrate violence against non-members or out-groups projected as adversaries; and the wanton destruction of property and lives of the “invented” enemy56. All these create and consolidate barriers that impede social cohesion, undermine the personhood and human dignity of victims. They are objectionable, and hence constitute boundaries and restrictions that need to be broken down, bridged or eschewed. Difference, diver-sity and the multiplicity of identity are part of our social and political reality and constitute human conditions that people need to live with and not to exploit at the expense of others. Variability, multiplicity and overlapping not only characterize identity and boundaries, but are also compatible with plural living. 3 Conclusion

Observations from the above reflection show that identities and boundaries are variable and never permanently fixed. One becomes aware that “‘Belonging’ and ‘identity’ are not cut in rock, that they are not secured by a lifelong guarantee, that they are eminently negotiable and revocable”.57 Often, people find it difficult recon-ciling consistency with fluidity of identity.58 Creating regional or ethnic boarders to secure belonging tends to alienate people more and more from one another, without decisively allaying the problems of exclusion. Boundaries and identity politics need to avoid restraints to the rights and opportunities of individuals. The boundaries we need to avoid are barriers and identity politics that disenfranchise or do violence to people.59 Very often, the identity boundaries we wish to construct are not consistent with our lived realities60. The harmonious blend of multiple identities and boundaries defy strict homogenous structures and tendencies that do not admit of plurality. A constructive way to fight exclusion is to accommodate plurality of identity and find common ground. People do not want to be merely tolerated61 but to count as subjects in a plural state, they “need to be standing in a secure place in terms of their own identity”62 so as to meaningfully relate with others. Belonging to a different group provides no satisfactory cause for exclud-ing anyone, just as individuals may still be excluded even when their difference is recognized63.

Ananias Shines in einem Filmprojekt der Choreographin Mónica García Vicente, Hannover-Linden 2021.

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Stefan Einsiedel
Von ökonomischen und ökologischen Grenzen für die politische Grenzpraxis lernen

Über Grenzen zu diskutieren, dabei vorteilhafte Grenzziehungen überzeugend zu begründen und nachteilige geschickt in Frage zu stellen, funktioniert in jeder Sprache der Welt – und ist vermutlich so alt wie die menschliche Sprechfähigkeit selbst. Die Vermutung liegt nahe, dass die prähistorische Menschwerdung (und mit ihr die menschliche Sprachwerdung) in einer Umgebung erfolgten, in der ständige Grenzdefinitionen und  -korrekturen überlebensnotwendig waren. Zwar waren die physiologischen Voraussetzungen für den aufrechten Gang, für Werkzeuggebrauch und für differenzierte Lautäußerungen bereits bei unseren Menschenaffen-Vorfahren angelegt, doch erst als einzelne Hominiden-Gruppen die kleinräumigen (und nahrungsreichen) Reviere der tropischen Galeriewälder verließen und in die weitläufigen Steppen des ostafrikanischen Grabenbruches hinauszogen (oder von stärkeren Verwandten herausgedrängt wurden), konn-ten diese organischen Voraussetzungen effektiver genutzt und die kognitiven Fähigkeiten in erstaunlich kurzer Zeit enorm gesteigert werden. Der neue Le-bensraum mit seinen jahreszeitlichen Schwankungen von Temperatur, Regen und Nahrung erforderte erstmals lange Wanderungen und einen gemeinsamen Austausch über Zukunftserwartungen. Wir gehen heute davon aus, dass unse-re Vorfahren damals in kleinen Familienverbänden zusammenlebten, die weite Entfernungen zurücklegen konnten – jagende Individuen wohl bis zu 80 Kilo-meter am Tag, allein an Ausdauer war der Mensch allen anderen Säugetieren deutlich überlegen  – und dass die einzelnen Verbände, die teils untereinan-der kooperierten, teils miteinander rivalisierten, ständig ihre (Leistungs- und Revier-) Grenzen neu definieren und untereinander kommunizieren mussten. Der damals überlebensnotwendige Expansionsdrang, aber auch das oftmalige Erleben von existentiellem Mangel haben sich über tausende Generationen tief ins kollektive Bewusstsein der Gattung Mensch eingeprägt – und bis heute sind

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„Grenzen“, ihre Definition, Überschreitung und Verteidigung ein höchst emo-tionales, ja teils immer noch existentielles Thema.

Auch in unserer modernen, ausdifferenzierten Gesellschaft diskutiert man be-ständig über Grenzen und anhand von Grenzen – und kann sich dabei fast un-begrenzt missverstehen. Im englischen Sprachgebrauch unterscheidet man zu-mindest zwischen politisch-territorialen Grenzen (borders), den davon geprägten Grenzgebieten (frontiers) sowie sozialen und kulturellen Grenzen (boundaries)1, doch in Wirklichkeit hegt jedes Fachgebiet seine eigenen, oft höchst unterschied-lich ausgeprägten Vorstellungen von „Grenzen“. Um den Blick für diese Unter-schiede zu schärfen, soll im Folgenden zunächst beleuchtet werden, auf welche Weise zwei recht unterschiedliche Disziplinen (die Biologie und die Wirtschafts-wissenschaften) sich mit Grenzen beschäftigen und wie die daraus gewonnenen natur- und sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse weit über die Grenzen dieser Disziplinen hinaus aufgenommen und praktisch umgesetzt werden.

So „de-finiert“ (von Lateinisch finis = Grenze) die Biologie unterschiedliche Arten oder auch ganze Biotope, indem sie diese sachlich begründet voneinander abgrenzt. Die dabei beschriebenen Grenzen werden erklärt , nicht aber legitimiert oder gerecht- fertigt . Es ist einleuchtend, dass es im Interesse einzelner Individuen und mehr noch im Interesse der gesamten Menschheit ist, diese „natürlichen“ (aber anthropozent-risch definierten) Grenzen zu kennen und das eigene Handeln daran auszurichten; die so erkannten Grenzen sind generell Kollektivgrenzen, was nicht ausschließt, dass sie von individuellen Organismen immer wieder auch überschritten werden – in der vagen Hoffnung, dass die dafür aufgewandten Mühen gerechtfertigt sind. Dabei sollte der landläufige Begriff einer „natürlichen Grenze“ nicht darüber hinwegtäu-schen, dass diese allein aus der Beobachtung und Bewertung von Menschen heraus definiert werden – die meisten Tierarten kennen nur individuelle (und situativ ver-änderbare) Reviergrenzen, die ihrem momentan genutzten Aktionsradius entspre-chen und durch eigene, schnell vergängliche optische, olfaktorische oder akustische Signale markiert werden; alles was wir als „natürliche Grenze“ bezeichnen, wird von unseren Mitgeschöpfen wohl eher als „Hindernis“ empfunden.

Die Disziplin der Wirtschaftswissenschaften bemüht sich ebenfalls darum, na-türliche (aber stets den Menschen betreffende) Gesetzmäßigkeiten zu beschreiben und gerade anhand von Grenzen Handlungsempfehlungen für den Umgang mit limitierten Gütern oder begrenzten Handlungsoptionen zu geben; in diesem Zu-sammenhang hat sie aus der Biologie und den Forstwirtschaften den Begriff der Nachhaltigkeit übernommen. Auch die Ökonomie sammelt Einzelinformationen über Individuen (beispielsweise deren Konsumpräferenzen), leitet daraus Grenz-beschreibungen (beispielsweise den „Grenznutzen“ für die optimale Menge eines Gutes) ab und aggregiert diese, um damit möglichst hilfreiche, allgemeingültige Aussagen (beispielsweise über die Bildung von Preisen) treffen zu können. Anders als die Biologie propagieren die klassischen Wirtschaftswissenschaften aber auch häufig das Überschreiten von Grenzen: Sowohl das einzelne Individuum als auch ein „grenzenloser Markt“ profitieren dabei von der Erweiterung ihrer Handlungs-optionen – und häufig ist es dann Aufgabe der Biologie, die damit einhergehen-den, aber gern verdrängten (externalisierten) Folgekosten, etwa für die Übertre-tung von „planetaren Grenzen“, ins Gedächtnis zurückzurufen.

Bei dieser Betrachtung wird auch klar, dass es hilfreich ist, beim Reden von „Gren-zen“ dreierlei zu unterscheiden: zwischen natürlichen Grenzbeschreibungen und den darauf häufig bezugnehmenden (damit mehr oder weniger sachlich begründeten, teils auch verwaltungstechnisch gebotenen, häufig historisch gewachsenen) menschlichen Grenzziehungen, sowie den an diesen Grenzen ausgeführten, politisch-gesellschaftlich angeordneten Handlungen, also der konkreten Grenzpraxis oder dem Grenzregime. So kann der Blick auf die verschiedenen Grenzverständnisse unterschiedlicher Wis-senschaftsdisziplinen auch helfen, Grenzziehungen und Grenzpraxis differenzierter zu verstehen und sie (im Idealfall) humanitärer und effizienter zu gestalten. 1 Zum Verständnis biologischer und ökologischer Grenzen

Ein Organismus ist ein sich selbst erhaltender, von seiner Umwelt abgrenzender Raum. Die Gesamtheit der dafür notwendigen Stoffwechselvorgänge – die immer über Grenzen hinweg erfolgen und die dank der an diesen Grenzen auftretenden Konzentrationsgefälle möglich sind – nennt man Leben. Als „Lehre vom Leben“ beschäftigt sich die Biologie naturgemäß mit einer Vielzahl von Grenzen – zu-nächst auf der Ebene einzelner Organe, Organismen und ganzer Arten, seit

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Alexander von Humboldt auch im Hinblick auf gesamte Lebensräume. Ange-sichts der enormen Auswirkungen des menschlichen Wirtschaftens auf praktisch alle Arten und Lebensräume auf unserer Erde sind in den letzten Jahren weitere Grenzen ins Zentrum der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit gerückt: die plane- taren Belastungsgrenzen des Ökosystems Erde, von Johan Rockstroem als „plane-tary boundaries“2 bezeichnet. Dafür beschrieb der studierte Agrarwissenschaftler Rockstroem zehn vom Menschen stark beeinflusste planetare Prozesse, die für das aktuelle Gleichgewicht des Lebensraums Erde von entscheidender Bedeutung sind: der Klimawandel, die Änderung des pH-Wertes („Versauerung“) der Ozeane, die Schädigung der Ozonschicht, die Kreisläufe von Stickstoff, Phosphor sowie von Süßwasser, die Veränderung der terrestrischen Landnutzung, die Abnahme der Biodiversität, die Zunahme von Aerosolen in der Atmosphäre und die chemische Verschmutzung. Häufig werden diese Prozesse fälschlicherweise als die „zehn pla-netaren Grenzen“ bezeichnet, doch stehen hinter diesen Vorgängen noch deutlich mehr (wiederum sehr anthropozentrisch definierte) Kapazitätsgrenzen, etwa die CO2

-Konzentration in der Atmosphäre. Diese sind die eigentlichen planetaren Grenzen, innerhalb derer die Menschheit einen sicheren Handlungsrahmen („safe operating space“) haben dürfte, in dem sie sich frei entfalten kann. Werden dessen Schwellen („thresholds“) jedoch überschritten, so besteht die Gefahr, dass Kipp-schalter ausgelöst werden (etwa das Auftauen der Permafrostböden, was wiederum die Freisetzung enormer Mengen klimaschädlicher Methangase nach sich ziehen würde), deren katastrophale Auswirkungen nicht mehr rückgängig gemacht wer-den können und die den Zustand unseres Planeten dramatisch verändern: Das stabile Erdzeitalter des Holozän, das die Spezies Mensch hervorgebracht hat und an dessen Umwelt wir in körperlicher und kultureller Weise so ideal angepasst sind, wäre damit unwiederbringlich vorbei.

Für unsere weiteren Betrachtungen sind zwei Tatsachen besonders bemerkens-wert: Zum einen handelt es sich bei den planetaren Grenzen um eine Vielzahl höchst unterschiedlicher, aber bisweilen eng miteinander verwobener Einzelgrenzen , die al-lerdings häufig als monolithische Einheit missverstanden werden – was mit dazu beiträgt (aber nicht allein dafür verantwortlich ist), dass zum anderen die Mensch-heit das Wesen und die existentielle Bedeutung dieser Grenzen kaum begreifen kann. So sind bei drei der zehn beschriebenen Prozesse die planetaren Kapazitätsgrenzen bereits jetzt unwiderruflich überschritten: Selbst wenn der fortschreitende Biodiver-sitätsverlust, die Luftverschmutzung mit giftigen Aerosolen und die Störung des glo-balen Stickstoffkreislaufes sofort beendet würden, so würden die Folgewirkungen des bereits Geschehenen selbst in Jahrtausenden noch die Stabilität wichtiger Öko-systeme massiv beeinträchtigen. In der öffentlichen Wahrnehmung dominiert al-lerdings allein die augenfälligste (oder soll man sagen: Hollywood-tauglichste?) Ka-pazitätsgrenze: die des Klimawandels, der anhand des Anstiegs des Meeresspiegels am eindrucksvollsten visualisiert, aber auch gefährlich vereinfacht werden kann. Doch welche Grenzen meinen wir, wenn wir vom Klimawandel sprechen? Die Staa-tengemeinschaft verhandelt (zum Leidwesen vieler Inselstaaten) nicht über globale Wasserstände, sondern über die langfristige Einhaltung von Temperaturgrenzen, Expert*innen berechnen daraus Obergrenzen für den noch zulässigen Gesamtaus-stoß verschiedener Treibhausgase, welche für den Temperaturanstieg hauptursäch-lich, aber eben nicht allein verantwortlich sind. Die Versauerung der Ozeane hängt wiederum eng mit der Temperatur und der CO2

-Konzentration zusammen und hat katastrophale Auswirkungen auf die Biodiversität, indem sie das Überleben aller kalkbildenden Meeresorganismen wie Muscheln, Korallen und Fischen bedroht …

Da allerdings mehrere planetare Grenzen bereits unwiederbringlich überschrit-ten wurden und die negativen Effekte im Alltagsleben des urbanen Durchschnitts-europäers kaum erkennbar sind  – auch eine artenarme, ökologisch praktisch „tote“ Wiese ist weiterhin „schön grün“, der Gesang einer einzelnen Amsel täuscht über den Verlust Dutzender Vogelarten hinweg – entsteht bei vielen der Eindruck, alle natürlichen Grenzen seien beliebig dehnbar oder gar „verhandelbar“. Eine Menschheit, die es seit ihrer Entstehung gewohnt ist, Grenzen auszutesten und auszureizen, hat keine reale Vorstellung davon, was es bedeutet, eine planetare Grenze zu überschreiten, hinter die es kein Zurück gibt und wie stark hier die Überschreitung einer einzelnen Grenze den Gesamtspielraum einschränkt. 2 Die Ökonomisierung von ökologischen Grenzen

So unterschiedlich die planetaren Grenzen sein mögen (und niemand sollte sich der Illusion hingeben, Rockstroem hätte damit sämtliche Schadwirkungen, die von der Menschheit ausgehen, umfassend beschrieben), so eint sie doch eines: Sie

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könnten durch rechtzeitige, selbstgewählte Beschränkungen im Produktions- und Konsumverhalten aller Menschen vergleichsweise einfach eingehalten werden. Ein „Zurück“ hinter eine einmal überschrittene Kapazitätsgrenze ist jedoch durch die globalen Kippschalter um ein Vielfaches teurer und oftmals schlicht unmöglich.3

Zwar können technischer Fortschritt und eine klügere Ressourcenverteilung diesen Einschränkungsdruck etwas abmildern, doch grundsätzlich führt an einer zweifachen Begrenzung kein Weg vorbei: So empfehlen die meisten Sachverstän-digen4 sowohl einen gesamtgesellschaftlichen Kultur- und Gesinnungswandel zur höheren Wertschätzung eines suffizienten Lebensstils, bei dem „weniger mehr ist“, als auch ordnungspolitische Reformen, die dafür sorgen sollen, dass das, was „mehr schadet, auch mehr kostet“. Ökologische Grenzen sollen also auch finan-ziell spürbar werden und der schrumpfende „safe operating space“ der Menschheit würde in entsprechende kleiner werdende Handlungsbudgets (etwa in Form von begrenzten Emissionszertifikaten) übersetzt. Diese finanzielle Abbildung ökolo-gischer Grenzen innerhalb des ökonomischen Ordnungsrahmens ist in vielerlei Hinsicht hilfreich, sie kann aber dazu führen, dass planetare Grenzen für ähn-lich „verhandelbar“ gehalten werden, wie dies bei ökonomischen Grenzziehungen häufig der Fall ist.

Schnell vorzunehmende materielle Einschränkungen, die erst in Zukunft (und häufig an anderer Stelle) Gewinne versprechen, stoßen naturgemäß auf Wider-stand. Dabei können alle gesellschaftlichen Schichten als Bremser wirken: Da ist zum einen die kleine (aber politisch einflussreichste) Gruppe der Wohlhabends-ten, die pro Kopf am meisten konsumieren und als Eigentümer am stärksten von industriellen Produktionsprozessen profitieren. Global betrachtet sind die Pro-Kopf-Emissionen der reichsten 1  % der Weltbevölkerung 30  Mal höher als die der ärmeren 50  % der Menschheit5, doch auch in Europa sind die Unterschie-de enorm, vor allem durch den größeren Wohnraum und die energieintensivere Mobilität der wohlhabenderen Schichten.6 Doch auch die ärmeren Gruppen ver-dienen besondere Beachtung – aus Gerechtigkeitsgründen, aber auch um kein ge-sellschaftliches Frustpotential zu mehren (man denke nur an die Proteste der Gelb-westen-Bewegung in Frankreich); gerade die Ärmsten tragen zwar (zumindest in Mitteleuropa, wo sie nicht aus Existenznot heraus Brandrodung betreiben) nur unterdurchschnittlich zu den schädlichen Emissionen bei, würden aber mit ihren niedrigen Einkommen überdurchschnittlich unter der Verteuerung von Energie und Mobilität leiden. Doch auch die breite (und damit meist wahlentscheidende) Masse der sogenannten Mittelschicht ist als dritte Gruppe nicht zu vergessen, ge-rade bei ihr spielen (reale wie irrationale) Verlust- und Abstiegsängste eine nicht zu unterschätzende Rolle. Daher hat in Demokratien eine effektive Klimapolitik, vor allem die Bepreisung von Umweltgebrauch, nur dann eine Chance, wenn grö-ßere Teile der daraus erzielten Einnahmen (nach Abzug der Kosten für direkte Umweltschutzmaßnahmen) zwischen allen drei Gruppen so verteilt werden, dass zwar keine perfekte, aber immerhin „akzeptable Gerechtigkeit“7 hergestellt wird.

Der gesellschaftliche Diskurs über diese Verteilungsmechanismen wird wiede-rum meist anhand von Grenzen geführt: Wer gilt als „bedürftig“, welcher Ben-zinpreis gilt noch als „akzeptabel“, in welcher Höhe sollten Heizkostenzuschüsse gewährt werden? Einzelne Interessensgruppen haben dabei gelernt, dass es für sie – nicht für die Allgemeinheit – hilfreich sein kann, unangenehme Grenzen generell in Frage zu stellen: Die hilfreiche Unterscheidung zwischen wissen-schaftlicher Grenzbeschreibung, gesellschaftlicher Grenzziehung und politischer Grenzpraxis geht dabei schnell verloren. So werden immer mehr wissenschaft-liche Fachdebatten, die eigentlich zur sachlichen Orientierung für die nachgela-gerten Grenzziehungs- und Grenzpraxis-Debatten dienen sollten, in einem viel zu frühen Stadium der gesamtgesellschaftlichen Meinungsbildung attackiert – im Themenbereich Klimaschutz ebenso wie in der Gesundheits- und Sozialpolitik …

In diesem Fall kann es sich lohnen, aus zwei Erfahrungen der Wirtschaftswis-senschaften zu lernen: Zum einen von der pragmatischen (wenn auch ernüchtern-den) Feststellung, dass sich erstaunlich viele Grenzkonflikte über monetäre Aus-gleichzahlungen zumindest „akzeptabel gerecht“ regeln lassen. Zum anderen von der Einsicht, wie eingefahren, ja klischeehaft unsere persönlichen Vorstellungen von Grenzen oft sind und wie befreiend es sein kann, Grenzen wieder stärker als „Hilfskonstrukte“ zu begreifen, die in verschiedenen Modellen eingesetzt werden, um einen Teil unserer Welt erklären oder zu regeln – die aber eben nicht die Welt selbst sind.

Wie wichtig es ist, sich von falschen Grenzbegriffen zu befreien, zeigt sich an der aktuellen Debatte über den sogenannten Neoliberalismus  – ein historisch schil-lernder Begriff, der mittlerweile in der öffentlichen Debatte zu einer Karikatur seiner selbst verkommen ist. Bei seiner ersten Verwendung im Jahr 1938 bezeich-nete er noch zwei recht unterschiedliche wirtschaftliche Ordnungsmodelle: den marktwirtschaftlichen „deutschen Neoliberalismus“ (Ordoliberalismus), der hilf-reiche staatliche Interventionen, etwa in Form von Sozial- oder Konjunkturpolitik befürwortete, und die „österreichische, bzw. Chicagoer Schule des Neoliberalis-mus“, die staatliche Eingriffe deutlich stärker ablehnte. Beide Formen des Neolibe-ralismus waren theoretisch recht gut fundierte volkswirtschaftliche Denkmodel-le; erst im Lauf der 1970er Jahre wurde der Neoliberalismus zu einem ideologisch überfrachteten (und wirtschaftswissenschaftlich entkernten) Kampfbegriff, der für eine moralisch höchst unterschiedlich bewertete Entgrenzung steht: Unter der Diktatur Pinochets konnten einige chilenische Wirtschaftswissenschaftler, die nach ihrem ehemaligen Studienort den Spitznamen „Chicago Boys“ trugen, ihre recht eigenen „neoliberalen“ Vorstellungen ohne größere gesellschaftliche Diskus-sionen und soziale Rücksichtnahme (aber aus durchaus idealistischer Motivation heraus) in die Tat umsetzen. Von der Überlegenheit freier Märkte überzeugt, setz-ten sie in kurzer Zeit massive Deregulierungs- und Privatisierungsmaßnahmen durch und konnten damit in Chile zunächst große Erfolge feiern. In der Tat er-weitert der Abbau wirtschaftlicher Grenzen den Handlungsspielraum vor allem derjenigen, die bereits etwas sind und haben. Der Gesamtwohlstand wächst – al-lerdings meist recht ungleich verteilt – und ein gewisser Teil dieses „Mehr“ landet schließlich auch bei den Ärmeren, sei es nun durch ihre Dienstleister-Tätigkei-ten oder durch die (im Neoliberalismus eigentlich verpönten) Transferzahlun-gen. Diese banale Einsicht in einen Allerwelts-Mechanismus ist allerdings noch

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keine wirtschaftswissenschaftliche Theorie – sie wurde aber durch einen weiteren Denkfehler zur Ideologie: durch die Annahme, der Wirkmechanismus „Wachs-tum durch Entgrenzung“ sei grenzenlos anwendbar, bzw. er sei ein Garant für unbegrenztes Wachstum.

Leider prägt diese banale Unterkomplexität bis heute viele Debatten über den Neoliberalismus: Seine Anhänger*innen (die wenigsten von ihnen studierte Volks-wirte) übersehen häufig, dass es für ihr vermeintliches Erfolgsmodell enge Gren-zen gibt – während viele Kritiker*innen, die zurecht auf soziale, moralische und planetare Grenzen verweisen und nach grundlegenden Alternativen suchen, dabei ebenso häufig übersehen, dass innerhalb dieser Grenzen die marktwirtschaftli-che Freiheit eine enorme, auch positiv wirksame Kraft darstellt, die allen anderen Anreiz- und Regelungsmechanismen an Effizienz und Akzeptanz weit überlegen ist. Ein wirklich zukunftsfähiges Wirtschaftssystem wird wohl nur dann entste-hen, wenn es gelingt, die Vorteile des freien Wettbewerbs innerhalb ökologischer Grenzen zu nutzen – und die so erzielten Wohlstandsgewinne sozial ausgewogen zu verteilen.

Es ist der große Verdienst des Philosophen und Wirtschaftsnobelpreisträgers Amartya Sen, dass er in dieser oft entgleisten Debatte die eigentlichen Ziele, aber auch die Begrenztheit wirtschaftswissenschaftlicher Modelle wieder neu ins Be-wusstsein gerufen hat;8 der Neoliberalismus ebenso wie seine Gegenmodelle verlieren durch Sens heilsamen Verweis auf die Bedeutung verschiedener Per-spektiven einen Teil ihrer scheinbar alternativlosen Suggestivkraft, die leicht in eine „Diktatur vermeintlicher Sachzwänge“9 münden kann. Zudem kann eine volkswirtschaftliche Theorie menschliches Verhalten und die damit verbundenen ökonomischen Wechselwirkungen zwar in gewissen Grenzen erklären, bisweilen sogar vorhersagen, aber eben nicht rechtfertigen oder entschuldigen.

Interessanterweise gelang Sen dieser Perspektivwechsel, indem er nicht wie viele andere versuchte, die Grenzen des Marktes zu erweitern oder außer Kraft zu set-zen, sondern indem er vom Rand her (vor allem aus der Perspektive der Armen und Marginalisierten) nach „innen“ auf den Gesamtmarkt blickte. Gerade durch den Blick von der Grenze auf die Mitte gewann Sen ein tieferes Verständnis für häufig übersehenes oder aktiv ignoriertes Marktversagen und bemühte sich im Folgenden darum, nicht die Grenzen des Marktes zu verschieben, sondern die Grenzen der Gerechtigkeit auch auf die bislang unterbelichteten Teile des Marktes auszudehnen. Gerade durch seinen an menschlichen Grenzsituationen geschärf-ten Blick gelang es Sen, den ursprünglichen Anspruch der Wirtschaftswissen-schaften, „Gehilfin der Ethik“10 zu sein, wieder neu zu beleben.

Eine wichtige Erkenntnis Sens bei seiner Beschäftigung mit Armutsgrenzen war die Feststellung, dass diese häufig „Fuzzy Thresholds“11 seien – ganz ähnlich wie die bereits geschilderten ökologischen Grenzen, die häufig aus vielen Einzelgren-zen bestehen und eben nur bei oberflächlicher Betrachtung als monolithische Ein-zelgrenze erscheinen. In Folge dessen löste sich Sen von der Fokussierung auf mo-netäre Grenzbeschreibungen (wie Einkommens- oder Vermögensgrenzen) und entwickelte seinen bekannten interdisziplinären Befähigungsansatz („Capabiliy Approach“): Aus der anfänglichen Beschäftigung mit Armutsgrenzen und der Er-kenntnis, dass diese monetär schwer zu fassen sind, erwuchs die Erkenntnis, dass es zielführender sei, die Vielfalt menschlicher Entfaltungsmöglichkeiten („Capa-bilities“) zu beschreiben und zu fördern. Und schließlich machte sich Sen daran, ein Mindestmaß derartiger Entfaltungsmöglichkeiten zu beschreiben, sozusagen eine vielgestaltige Untergrenze zu definieren, um jedem Menschen ein vergleich-bares Mindestmaß an Entfaltung und persönlichem Wachstum zu ermöglichen – ein Ansatz, in dem noch einiges am Zukunftspotential steckt. 3 Mögliche Lehren für die politische Grenzpraxis

Bei der Beschäftigung mit ökologischen und ökonomischen Grenzen wird klar, wie hilfreich es sein kann, zwischen wissenschaftlicher Grenzbeschreibung, menschlicher Grenzziehung und politischer Grenzpraxis zu unterscheiden – auf diese Weise tritt auch die Verantwortung verschiedener Akteure deutlicher hervor. So wäre es im Bereich des Klimaschutzes höchste Zeit, Energie- und CO2

-Preise nicht mehr dem diffusen Zusammenwirken unterschiedlicher Inte-ressengruppen zu überlassen; stattdessen sollten Expert*innengruppen darüber entscheiden, welches Gesamtbudget an Klimagasen überhaupt noch verbraucht werden darf – während die Politik die Höhe unterschiedlicher Ausgleichszah-lungen verhandeln würde, aber nicht mehr das Budget selbst verändern könnte. Über die Preisgestaltung könnte dann ein zu etablierendes CO2

-Zentralbank-System wachen, das den lebensnotwendigen Kreislauf von Klimagasen in ähnlich professioneller Weise überwacht, wie herkömmliche Zentralbanken den Geld-kreislauf regeln.

Für die humanitärere Gestaltung der Grenzpraxis gerade an Staatsgrenzen wäre es hilfreich, sich in Erinnerung zu rufen, dass es sich bei scheinbar „offensicht-lichen“ Großgrenzen häufig nicht um eine einzelne Grenze, sondern um viele unterschiedliche Parallelgrenzen handelt. Für jede einzelne dieser Grenzen kann gefragt werden: Ist die jeweilige Grenzziehung sachlich nachvollziehbar? Welche praktische Bedeutung zieht sie nach sich? Dient die dort angewandte Grenzpraxis dem Gemeinwohl – und tut sie dies auf beiden Seiten der Grenze? Wäre ein Grenz-ausgleich moralisch geboten?

Und schließlich eröffnet Sens Konzept, Untergrenzen durch ein Mindestmaß an (immer weiter zu verbessernden) Entfaltungsmöglichkeiten zu definieren, interes-sante Perspektiven für den Klimaschutz. Anstatt sich in endlosen Debatten über die Verteilungsgerechtigkeit der verbliebenen CO2

-Emissionen zu verlieren, sollte das Recht jedes Menschen anerkannt werden, mobil zu sein, in einer wohltem-perierten Wohnung zu leben und sich gesund und abwechslungsreich zu ernäh-ren – ob diese Entfaltungsgrundrechte dann mittels fossiler Energieträger oder auf nachhaltige Weise garantiert werden, ist jeweils vor Ort zu entscheiden. So gilt bei der Diskussion um ökologische Grenzen und ökonomische Grenzziehungen auch im 21. Jahrhundert Goethes klassische Feststellung: „Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen (… und …) in der Beschränkung zeigt sich erst der Meister.“12

Rhea Maria Dehn Tutosaus und Zahira del Mar Dehn Tutosaus
Zwei Seiten desselben Meeres. Grenzen und Grenzüberquerungen in der zeitgenössischen Videokunst

Abb. 1: Informationstafel, Tarifa, 2021. 1

„Estás en Tarifa, el punto mas meridional de la Europa continental.“2 So steht es auf einer Informationstafel in Tarifa, Spanien. Auf der Landkarte sieht man Spanien und Marokko getrennt durch die Meerenge von Gibraltar und, um diese in einem größeren Kontext zu verorten, Europa und Nordafrika. Landkarten in Form von geographischen Abbildungen bilden die Realität jedoch nicht lediglich ab, sondern sind ebenso konstitutiv für diese. Die flache und zweidimensionale Darstellung, ohne ‚künstliche‘ Grenzziehungen, suggeriert das Meer als eine von ‚Natur‘ aus gegebene, klar definierte Grenze und (re-)produziert so ein vereinfach-tes und ahistorisches Verständnis der (Grenz-)Geographie. Wie es bereits dem Be-griff der Informationstafel inhärent ist, wird durch diese ein bestimmtes Wissen vermittelt, welches das Medium selbst verifiziert. Kartographien sind demnach „powerful instrument[s] of the political control of space, codifying boundaries and territories as tools […] of power.“3 Mit dem erklärenden Text vollzieht sich zudem eine Verortung und der Standpunkt der Betrachtenden wird manifest. Zugleich offenbart die Information ‚am südlichsten Punkt‘ die Relativität der ‚einen‘ zur ‚anderen‘ Seite der Meerenge: kann doch der Standpunkt durch Bewegung, durch eine Grenzüberschreitung, auf die ‚andere‘ Seite verändert werden. Die Möglich-keit der Grenzüberschreitung, kann jedoch ebenso wenig wie die Grenze selbst als Gegebenheit angenommen werden. Wie Anna Maria Guasch hervorhebt: „Jede Grenze wird als Ort der Trennung (Barriere), aber auch als Raum des Transits (Tor) dargestellt, und doch ist der Fluss in beide Richtungen nie derselbe.“4

Seit den 1990er Jahren ist eine zunehmende künstlerische Auseinandersetzung postkolonialer Ansätze in den bildenden Künsten in Europa zu beobachten. Kunst im Allgemeinen und das Medium Film im Spezifischen wird für Künstler*innen zu einem Werkzeug, um Grenzräume zu untersuchen und sichtbar zu machen. In diesem Beitrag argumentieren wir, ausgehend von den künstlerischen Positionen Ursula Biemanns ( Europlex , 2003), Rogelio López Cuencas ( Walls , 2006), Antoni Muntadas’ ( On Translation: Miedo/Jauf , 2007) und Randa Maroufis ( Bab Sebta , 2019), dass die Meerenge von Gibraltar weniger als bloße Grenzlinie zwischen zwei Kontinenten verstanden werden kann, wie die Informationstafel suggeriert, sondern als komplexer und diskursiver Raum des Austauschs und der Hybridität. Der geographische Zugang ermöglicht den Künstler*innen und uns, einen spezi-fischen Ort, ebenso wie die Transformation von Raum selbst, zu fokussieren.

Die künstlerische Praxis wird so um geographische Methoden ergänzt, was ein Konzeptualisieren der Künstler*innen als geografische Künstler*innen 6 ermöglicht. Diese untersuchen in ihrer Praxis Geographie nicht (nur) in ihrer physischen Be-schaffenheit, sondern auch als Raum, der maßgeblich durch die unterschiedlichen Akteur*innen, ihre Bewegungen und ihre Handlungen konstituiert wird. Das Me-dium Film, das sich per se durch Bewegung auszeichnet, erlaubt den Künstler*innen ein Einnehmen unterschiedlicher Perspektiven und ein Aufzeigen diverser Facetten der Grenze. Bewegtes Bild und Bild in Bewegung visualisieren und fokussieren zu-gleich die Notwendigkeit der Bewegung zur Realisierung der Grenze. So weitet sich die Grenze in den Werken von einer Linie zu einem Netz von Interaktionen und Körpern in Bewegung. Der Körper, „[…] at once … the actualizer of power rela-tions – and that which resists power,“7 wird so zum entscheidenden Faktor in einem Prozess der Artikulation und zugleich der Aushandlung des Grenzraums. Die Gren-ze, in ihrer linearen Qualität einer kolonialen Abgrenzung, wird in der untersuchten Praxis als Grenzlandschaft, als ‚Dritter Raum‘8, als Übergangs- und ‚Kontaktzone‘9und als ‚Grenzbespielung‘10 thematisiert. Alle künstlerischen Positionen greifen den Einfluss der Grenze auf die Menschen, die sie bewohnen und durchqueren, auf und geben Raum für persönliche und individuelle Erfahrungen. In ihren Erweiterungen zu Grenzräumen ermöglichen die Arbeiten, wie wir ausführen werden, ein Grenz-denken, das über die Dualität der kolonialen Grenzziehung zwischen Modernität/Kolonialität als zwei Seiten derselben Medaille hinausführt.11 1 Walls : Über Grenzziehungen und Herrschaftsräume

Die Videoarbeit Walls aus dem Jahr 2006 von Rogelio López Cuenca in Zusam-menarbeit mit Rafael Marchante und Elo Vega ist eine 9-minütige Doppelprojek-tion eines Video-Sound-Loops. Während eine der Projektionen Aufnahmen der Überwachungskameras an den Grenzzäunen der Stadt Melilla, einer spanischen Enklave in Nordafrika, wiedergibt, zeigt die andere Medienmitschnitte, Nach-richtenmaterial, Landkarten und Kollagen über das Grenzgebiet.13 Verwoben in ein komplexes Netz geopolitischer Bedingungen ist die Enklave Melilla – neben Ceuta –, als letztes Überbleibsel der kolonialen Besetzung Nordafrikas und seit 1991, mit Beschluss des Schengen Abkommens, Teil der europäischen Außen-grenze und somit Trennlinie, nicht nur zweier Städte oder Länder, sondern zweier Kontinente. Die Bilder verweisen auf ein Regime der Überwachung, das sich an genannten Grenzen etabliert hat und kontinuierlich ausgebaut wird. Damit ein-her geht ein Sicherheitsdiskurs über die Gefahr von ‚Illegalen‘ oder ‚Klandesti-nen‘, welcher wiederum durch das mittels der Aufnahmen konstruierte Bild der Migrant*innen gerechtfertigt wird. Der Fokus auf die trennende, durch einen Zaun oder eine Mauer realisierte Grenze verweist nicht nur auf ihre Entstehung als koloniale Machtausübung, sondern auch auf symbolische und imaginäre Grenzziehungen. Wie María do Mar Castro Varela hervorhebt, ist das Konzept der Grenze eine „der machtvollsten Diskursformationen der Moderne“ 14 und trägt als Praxis der Grenzziehung zur Bildung von Herrschaftsverhältnissen bei. Moderni-tät wird zusammen mit Kolonialität als zwei Seiten derselben Medaille verstanden, insofern diese konstitutiv füreinander sind.15 Die damit einhergehenden Grenz-ziehungen erfolgen nicht nur auf einer geographischen Ebene, sondern auch zwi-schen der Konstruktion eines ‚modernen Ichs‘ und einem ‚kolonialen Anderen‘, zwischen dem ‚Eigenen‘ und dem ‚Fremden‘. Die Grenze als Trennlinie wird als statisch und dennoch mobil – jedoch nur aus einer Position der Macht – konstitu-iert, ohne die Möglichkeit von Übergängen und Kreuzungen, ohne die Möglich-keit des Kontakts. Wie López Cuenca problematisiert und durch die vielzähligen Bilder von Grenzzäunen aufzeigt, fungiert die Grenze bis heute als produktiver Mechanismus des Ein- und Ausschlusses.16 Ein territorialer Imperativ, der sich in Walls einerseits durch die Bilder der Migrant*innen manifestiert, welche dem hegemonial-kolonialen Verständnis der Grenze dichotom gegenüberstehen.

Andererseits sind es Bilder eines Grenzzaunes mit zurückgelassenen Kleidungs-stücken, die als Zeugnisse der Grenzüberquerungen das ‚Fehlen‘ des migrantischen Körpers vergegenwärtigen (Abb. 2)17. Der Grenzraum wird so als borderland , wie von Gloria Anzaldúa eingeführt, verstanden, in welchem ein auffallendes Macht-gefälle herrscht und in dem Herrschaftsräume auf besondere Weise sichtbar wer-den.18 Zu sehen sind Versuche der Grenzüberschreitung, Bilder von Festnahmen oder von Migrant*innen in Booten, die versuchen, die Meerenge zu überqueren. Gleichzeitig wird durch das Bildmaterial, instrumentalisiert als Rechtfertigung zur Grenzsicherung, die Porosität der Grenze evident. Denn es ist nicht nur der Versuch, welcher sichtbar wird, sondern auch der tatsächliche Akt der Grenzüber-schreitung. Diese medial wirksamen Bilder werden durch die spanische, englische und griechische Version des Gedichts Mauern von Konstantinos Kavafis ergänzt. Das Gedicht, welches als Untertitel in der Videoarbeit eingeblendet wird, erzählt von dem Gefühl, von Mauern eingegrenzt und gesellschaftlich isoliert zu werden, und ermöglicht eine alternative Perspektive und Narration zu den medialen Bild-materialien. Die subjektive Erfahrung des Eingegrenztseins steht im Kontrast zur ‚klandestinen‘ und ‚anonymen‘ Masse und ermöglicht so ein Hinterfragen und Rekonzeptualisieren der Bilder.

Abb. 2: Rogelio López Cuenca mit Elo Vega und Rafael Marchante,

Walls, Video Installation, 2006 19

López Cuencas Konzipierung der Arbeit als Doppelprojektion verhindert ein Erfassen des Werks im Ganzen: Die Betrachtenden werden gezwungen, sich im Ausstellungsraum zu bewegen und einen festen Standpunkt aufzugeben. Die Be-wegungen durch den Ausstellungsraum werden zur Metapher der im Werk ver-handelten Grenzüberschreitungen, der Bewegungen von ‚einer‘ auf die ‚andere‘ Seite. Es sind die physische Bewegung der Betrachtenden in Kombination mit den Bildinhalten, ebenso wie des repetitiven Ertönens eines metallischen Klangs sowie die Überlagerung von Bild und Text, die sich als eine Ästhetik der Überforderung manifestiert, mittels welcher die Betrachtenden ohne Pause, ohne Erbarmen mit Geographien der Hierarchisierung, Macht und Gewalt konfrontiert werden. 2 On Translation: Miedo/Jauf : Ein Dialog zwischen zwei Ufern

Das im Jahr 2007 für das öffentliche Fernsehen konzipierte Werk On Transla- tion: Miedo/Jauf von Antoni Muntadas zeigt Interviewausschnitte von Personen aus den Städten Tarifa (Spanien) und Tanger (Marokko), die über ihre Alltags-erfahrungen an der Grenze und das Gefühl der Angst sprechen. In der Video-dokumentation werden Archivmaterial aus Fernseh-, journalistischen und do-kumentarischen Quellen, Bilder der spanisch-marokkanischen Grenze, und das aus den Interviews resultierende Material zusammengeschnitten. Die Verortung zweier Perspektiven, wie bereits in der Einführung anhand der Informationstafel thematisiert, wird in der Videoarbeit durch die Positionierung der Personen im Bildraum realisiert. Die Interviewten erscheinen auf der rechten oder linken Seite, je nach geographischer Verortung. Dieser Dualismus, bereits im Titel sprachlich markiert – „ Miedo/Jauf “ –, setzt sich durch die Übersetzung der Aussagen ins Spanische oder Marokkanische im Verlauf der Arbeit fort (Abb. 3 & 4)21. Während die Informationstafel ein ‚Blicken auf‘ den Estrecho de Gibraltar bietet, ermöglicht Muntadas ein ‚Sich-Hineinversetzen‘ in die subjektiven Erfahrungen der Bewoh-ner*innen auf ‚beiden Seiten‘ der Meerenge.

Abb. 3 & 4: Antoni Muntadas, On Translation: Miedo/Jauf, Video, 2007 22

Das von Muntadas aufgezeigte Konzept der Grenze geht über das Verständnis als geografi sches und physisches Gebiet hinaus. Durch die Gesichter und Stimmen der Bewohner*innen schafft der Künstler emotionale und subjektive Geographien, in wel-chen die persönliche und individuelle Erfahrung zentral ist und zugleich auf einen größeren Diskurs verweist. Es ist keine von ‚Natur‘ aus gegebene, sondern eine medial und politisch konstruierte Angst, ein diskursives Konstrukt, wie die Grenze selbst, welche durch eben diese Medien normalisiert und naturalisiert wird und so ihre All-gemeingültigkeit instand hält. Im medialen Diskurs wird das Gefühl der Angst als Instrument der Grenzziehung zur Grenze selbst. Die Ausstrahlung des Werks im öf-fentlichen Fernsehen bietet einen alternativen Blick auf die Erlebnisse im Grenzraum und bricht mit den Sehgewohnheiten der etablierten Mediensprache. So fällt auf, dass das Gefühl der Angst von den Bewohner*innen oft in Relation zur anderen Seite der Grenze gesetzt wird, was auf den medial etablierten Dualismus verweist und die Pro-jektionen auf die jeweils ‚andere‘ Seite aufdeckt. Guasch hebt weiter hervor, dass die Angst durch die tiefe Verwobenheit mit dem Territorium „nicht nur ein abstraktes Ge-fühl, sondern auch einen Ort, einen locus“23 darstellt: eine Grenzgeographie der Angst.

Im Sinne Mary Louise Pratts wird die Grenze zu einer „contact zone“, einer „colonial frontier“, an welcher Machtasymmetrien thematisiert, aber auch ausge-handelt werden.24 Indem sich die Interviewten zu einem gemeinsamen Gefühl äu-ßern, wird diese Emotion zu einem Nexus im Grenzraum. Obwohl die Koppelung von Grenzdiskurs und einem Diskurs der Angst von dem Künstler (re-)produziert wird, intendiert dieser eine Umdeutung als verbindendes und transgressives und nicht dichotom trennendes Element. Es ist ein Dialog zwischen zwei Ufern, der durch die Übersetzung des Gefühls der Angst das Potenzial besitzt, die Grenze zu destabilisieren. Es ist diese Übersetzung, welche letztlich ein Überwinden, ein Zu-sammenkommen, ein Verstehen zweier scheinbar durch mehrere Grenzziehungen getrennter Perspektiven ermöglicht, seien diese territorial, gesellschaftlich, kultu-rell oder sprachlich. Angst kann so als Handlung, als Agency verstanden werden, die das Potenzial besitzt, die Grenze zu dematerialisieren und in Bewegung zu versetzen. In diesem Prozess der Entmaterialisierung ist die Stimme der Befragten essentiell. Wie Meir Wigoder hervorhebt, ist die Stimme das einzige Medium, das die Grenze überschreitet und gleichzeitig auf beiden Seiten existiert.25 Auf diese Weise wird die Stimme im Film zu einem Vermittler und einem Mittel, um das Gefühl der Angst auf beiden Seiten der Grenze zu zerstreuen.

Abb. 5: Ursula Biemann, Europlex, Video, 2003 27

Europlex ist ein Videoessay, den Ursula Biemann in Zusammenarbeit mit der vi-suellen Anthropologin Angela Sanders im Jahr 2003 produziert hat. Thematisiert wird die spanisch-marokkanische Grenze: die Straße von Gibraltar, die kreisför-migen Bewegungen von Menschen und Gütern in der Grenzregion, die sie durch-querenden Schiffe, die beiden spanischen Enklaven Ceuta und Melilla und die in Afrika gelegenen Produktionsgebiete von Waren für den europäischen Markt. Im Videoessay wird die Visualisierung von räumlichen Gegebenheiten mittels anth-ropologischer und geografischer Prozesse vollzogen.

Das Werk besteht aus mehreren Logs : Im Border Log I setzten sich die Autorin-nen mit den Schmuggelaktivitäten in Ceuta auseinander, die – so Biemann – einen integralen Bestandteil der Alltagskultur darstellen.28 In Border Log II begleiten die Autorinnen Hausangestellte, domesticas , die in Tetouan leben, auf ihrem täglichen Weg in die spanische Stadt Ceuta. In diesem Video verweisen Biemann und San-ders darauf, dass zwischen den beiden Gebieten, trotz ihrer unmittelbaren Nähe, ein Zeitunterschied von zwei Stunden besteht. Indem sich die Frauen täglich zwi-schen den unterschiedlichen Zeitzonen bewegen, reisen diese nicht nur durch den geographischen Raum, sondern auch durch einen Zeit-Raum; die Frauen werden zu Zeitreisenden (Abb. 5)29. Das Border Log III behandelt die transnationale In-dustriezone von Tanger, in der marokkanische Arbeiterinnen – „aroma extracta-doras, gambas manipuladoras, semi conductoras, toy plastificadoras“30 – Export-güter für den europäischen Markt herstellen.

Die Räumlichkeit und Vielfältigkeit der Grenze wird in dieser Arbeit durch die alltäglichen Mobilitätsformen deutlich. Die Konstruiertheit der Grenze manifes-tiert sich in einer ökonomischen Logik asymmetrischer Machtdispositionen, wel-che die Kontinuität kolonialer Machtstrukturen weiterführt. Die klar regulierten und ungleichen Grenzüberquerungen sowohl von den Schmugglerinnen, den do- mesticas und den Fabrikarbeiterinnen, als auch von den von ihnen produzierten und transportierten Gütern, bringt lokal erlebte Mobilitäten, „Mikrogeografien“ hervor und reflektiert zugleich ein globales Schema, welches auf einer dichotomen Trennung von Kolonialität und Modernität beruht.31

Die Grenze, sowohl als Metapher als auch als Phänomen, definiert „nicht nur das, was zwischen Räumen und Territorien liegt, sondern markiert auch eigene Räume“.32 Indem sich Biemann und Sanders nicht nur auf den tatsäch-lichen Grenzüberschritt konzentrieren, sondern auf die Schmuggelaktivitäten, das Zeitreisen und Produzieren von Waren als aktive Handlungen aus einer vermeintlich schwachen Position, werden marginalisierte Räume zu Räumen des Widerstands.33 Gezeigt werden so im Video  – oft unsichtbare  – „counter geographies“34 und Dissidenten-Praktiken, die in diesem Grenzgebiet stattfin-den. Dabei fokussieren die Autorinnen gerade die oft unberücksichtigten Rol-len von Frauen in den lokalen und den damit einhergehenden internationalen ökonomischen Prozessen, welche durch die domesticas sichtbar gemacht wer-den. Wie Saskia Sassen herausstellt, spielen gerade Frauen in den Dynamiken der Globalisierung eine entscheidende Rolle.35 Das Sichtbarmachen von Frauen als produktive Akteurinnen an der Grenze bricht mit stereotypen und verein-fachenden Vorstellungen der ‚anderen‘, ‚subalternen‘ Frau des ‚Südens‘, oftmals geprägt durch die Zuschreibung einer passiven Rolle.36 Wie bereits Zahira Dehn Tutosaus an anderer Stelle ausgearbeitet hat, ist es eine reziproke Beziehung zwischen Menschen, Handlungen und Grenzraum, welche sich, wie im Voran-gegangenen ersichtlich wurde, besonders produktiv auf die weiblichen Akteu-rinnen auswirkt.37 Die Akte und die damit einhergehende Handlungsmacht der Frauen werden sowohl durch die Aufnahmen als auch durch die Erzählungen Biemanns in der Videoarbeit deutlich und stellen so eine alternative Narration von Alltäglichkeit zur Disposition. 4 Bab Sebta : Das Tor zu Europa als Interaktionsraum

Abb. 6: Randa Maroufi , Bab Sebta, Video, 2019 39

In ihrem 2019 erschienen Kurzfi lm Bab Sebta (dt. das Tor zu Ceuta) untersucht die Künstlerin Randa Maroufi die täglichen Bewegungen von Menschen am Grenzüber-gang von Ceuta. Ein Verkehrsschild im Film mit der Aufschrift „España“ und zwölf goldenen Sternen (Abb. 6)40 verweist darauf, dass Ceuta nicht nur eine Grenze zwi-schen zwei Städten oder Ländern ist, sondern Teil der europäischen Außengrenze. Gleichzeitig erfolgt durch das Schild eine spezifi sche Verortung der Inszenierung.

Im Film zeigt die Künstlerin die alltäglichen Handlungen verschiedener Ak-teur*innen im Grenzraum: Grenzbeamt*innen, Polizist*innen, Tourist*innen und Schmuggler*innen. In diesem zwischenmenschlichen Zusammenspiel wird die Grenze gleichzeitig unterwandert und aktualisiert, materialisiert und bestä-tigt. Die Grenze selbst ist auf eine fl ache monochrome Th eaterbühne übersetzt, wobei unterschiedliche Zonen durch Linien markiert werden. Die Inszenierung wird aus einer doppelten Perspektive fokussiert: Zum einen von oben, wie der Blick eines Kartographen, der Räume strukturiert; oder vielmehr wie der Blick aus einem Hubschrauber der das Sichten, Überwachen und Kontrollieren des Ge-sehenen ermöglicht. Zum anderen vom Boden aus, in Lebensgröße und auf Au-genhöhe, wodurch die Personen an der Grenze und ihre Handlungen in den Mit-telpunkt gestellt werden. Durch die Auff ührung und Übersetzung der alltäglichen Handlungen in einen ‚leeren Raum‘ werden die Bewegungsabläufe gezielt visuali-siert und zugleich als performative Akte lesbar.

Es ist die Gesamtheit der unterschiedlichen Akteur*innen „at, on, or shaping the border“41, wie Rumford schreibt, die sich durch den Grenzraum bewegen, welche den gefilmten Raum als Grenzraum konstruieren und sichtbar machen. Im Werk wird so die post- und dekoloniale Kritik an der Kategorie Grenze, wie sie in der ‚Moderne‘ etabliert wurde, visuell verhandelt, indem diese von einer Linie in ihrer räumlichen und zeitlichen Dimension zu einem Grenzraum erweitert wird. Indem Maroufi den Raum zwischen Spanien und Marokko fokussiert, macht sie die Gren-ze als einen Zwischenraum, als Teil der Räume, an die er jeweils grenzt, ohne sich völlig in ihnen aufzulösen, sichtbar. Der Grenzübergang wird im Film, uns auf Ed-ward W. Soja und Homi K. Bhabha berufend, als ‚Dritter Raum‘ denkbar, welcher wiederum erst durch die Handlungen darin zum Grenzraum wird.42 Wie Michel de Certeau betont, „ist der Raum ein Ort, in dem man etwas macht“.43 Dieses Machen als Handlung, die den Raum definiert, manifestiert sich im Film in den Szenen des Wartens, Spielens, Musik-Hörens, Kontrollierens der Kofferräume, Überwachens, Sporttreibens und Schmuggelns. Die Handlungen sind klar als Aktivitäten an der Grenze erkennbar, ohne jedoch das geographische Territorium explizit zu zeigen.

In Bab Sebta wird, wie Rhea Dehn Tutosaus herausstellt, die Grenzlinie zu ei-nem Bühnen raum, in welchem die unterschiedlichen Akteur*innen in einen Aus-handlungsprozess geraten. In dieser Politik der Sichtbarkeit entsteht die Grenze so erst durch die Grenzlandbewohner*innen, durch die Handlungs- und Funktions-weisen, durch welche die Grenze angeeignet und zugleich (re-)produziert wird.44Besonders der ‚unsichtbare‘ Raum, welcher die Handlungen umso sichtbarer macht, verdeutlicht gleichzeitig das subversive Potenzial des ‚Machens‘ und ver-weist auf die Durchlässigkeit der Grenze. Es sind die „[…] Akte des Destabilisie-rens, des In-Bewegung-Setzens und des In-Bewegung-Haltens“45 wie Beatrice von Bismarck mit ihrem Konzept der Grenzbespielungen einführt, die im Grenzraum angestoßen werden und so Handlung und Grenzraum verbinden. Dieser visuellen Inszenierung als Aufführung alltäglicher Handlungen wird eine verschiebende Funktion zugesprochen, da die Wiederholung immer durch Differenzen zu den Verhältnissen bestimmt ist, auf die sie verweist.46 In Maroufis Film wird die Gren-ze zu einem Zwischenraum der Interaktion, in welchem die Grenze über die Kör-per sichtbar und zugleich durch die Körper und ihr Handeln aufgehoben wird. 5 Die Grenze als Ort subjektiver Erfahrungen

Grenzerfahrungen sind, wie Ignacy Jóźwiak ausführt, plural und verleihen, wie durch die Untersuchung der Werke erarbeitet wurde, der Grenze multiple Bedeu-tungen und Funktionen.

Die behandelten Videoarbeiten weisen über ein einfaches Verständnis der Gren-ze hinaus, indem sie die Meerenge von Gibraltar als einen subjektiv erlebten Raum verhandeln. Wie wir herausgearbeitet haben, sind es facettenreiche Artikulations- und Mobilitätsformen, welche die Grenze materialisieren, subvertieren und auf ihre Porosität hinweisen: die Bewohner*innen in Tarifa und Tanger, die sich ge-danklich über die Meerenge bewegen, die Akte der kapitalistischen Arbeitsaus-beutung, die physischen sich täglich wiederholenden und zyklischen Bewegungen der Grenzgänger*innen, Schmugglerinnen und domesticas , ebenso wie der Migra-tion, der Menschen im Asyl, Exil und Transit.

Der geographische und der gefilmte Grenzraum werden in den Videoarbeiten durch die Handlungen und Aktionen, die in ihm ausgeübt werden, bestimmt und ‚markiert‘.48 Die pluralen Perspektiven vollziehen einen Bruch mit der Vorstellung einer einzigen und ‚objektiven‘ (Grenz-)Realität, wie durch die Informationstafel suggeriert, hin zu einem Verständnis von vielfältigen (Grenz-)Realitäten, die an die Menschen gekoppelt sind, die diese erleben. So stellen wir anhand der gezeigten Nut-zung des Raums in den Videoarbeiten verschiedene Grenzgeographien fest: Geo-graphien der Migration, Geographien des Wartens, Geographien der Angst, Geo-graphien des Schmuggels, Geographien der Bewegung, Geographien des Handelns.

Die künstlerische Praxis ermöglicht ein Denken der Grenzgeographie als Raum, der ständig in Bewegung ist und gleichzeitig durch dieselbe Bewegung geschaffen wird. Das Video, als ein auf Bewegung ausgerichtetes Medium, dient so als künst-lerische Verhandlungsebene par excellence , um Diskurse zu Grenzen, Raum und Mobilität zu untersuchen. Anhand von Randa Maroufis Werk werden die Eigen-schaften des Mediums, des bewegten Bildes und des Bilds in Bewegung, besonders evident. Sie zeigt nicht nur unterschiedliche Bewegungsabläufe, sondern bewegt sich selbst und somit die Betrachtenden durch den Bühnenraum. Diese Bewegung durch den Raum wird auch in Ursula Biemanns Videoessay durch das bewegte Kamerabild sichtbar. Doch steht der kollagenartige Aufbau der Bildkompositio-nen, wie bei Antoni Muntadas und Rogelio López Cuenca, im Vordergrund. Die facettenreichen Gestaltungsmöglichkeiten des Videos werden ausgenutzt: eigene Aufnahmen werden mit dokumentarischem Material und Grafiken zusammen-geschnitten und übereinandergelegt. Wenn demnach Joaquín Barriendos fragt, „inwieweit die Politik der Mobilität tatsächlich zu nicht-kolonialistischem Wis-sen werden kann; das heißt, um zu wissen, an welchem Punkt Mobilität selbst zu Grenzdenken wird […]“49, kann dem Video das Potenzial eben dieses Grenzden-kens zugesprochen werden. Die Arbeiten besitzen ein produktives Potenzial, Be-wegungen und Aushandlungsprozesse über Repräsentation, Macht und Differenz zu verhandeln. Kunst wird zum Katalysator und Medium der dekolonialen Praxis, insofern die geographischen Künstler*innen , nicht nur die Produktion von Raum hinterfragen, sondern durch ihre Praxis selbst ‚neue‘ Wissens-Räume schaffen. Kunst wird so selbst zum Grenzdenken. Es sind unabgeschlossene und diskursive Räume, welche Platz für subjektive Erfahrungen und Austausch zulassen und die Betrachtenden selbst in Bewegung versetzen.

Patrick Doe , Fotoprojekt „Grenzen“, Halle (Saale) 2022.

Das im Jahr 2007 für das öffentliche Fernsehen konzipierte Werk On Transla- tion: Miedo/Jauf von Antoni Muntadas zeigt Interviewausschnitte von Personen aus den Städten Tarifa (Spanien) und Tanger (Marokko), die über ihre Alltags-erfahrungen an der Grenze und das Gefühl der Angst sprechen. In der Video-dokumentation werden Archivmaterial aus Fernseh-, journalistischen und do-kumentarischen Quellen, Bilder der spanisch-marokkanischen Grenze, und das aus den Interviews resultierende Material zusammengeschnitten. Die Verortung zweier Perspektiven, wie bereits in der Einführung anhand der Informationstafel thematisiert, wird in der Videoarbeit durch die Positionierung der Personen im Bildraum realisiert. Die Interviewten erscheinen auf der rechten oder linken Seite, je nach geographischer Verortung. Dieser Dualismus, bereits im Titel sprachlich markiert – „ Miedo/Jauf “ –, setzt sich durch die Übersetzung der Aussagen ins Spanische oder Marokkanische im Verlauf der Arbeit fort (Abb. 3 & 4)21. Während die Informationstafel ein ‚Blicken auf‘ den Estrecho de Gibraltar bietet, ermöglicht Muntadas ein ‚Sich-Hineinversetzen‘ in die subjektiven Erfahrungen der Bewoh-ner*innen auf ‚beiden Seiten‘ der Meerenge.

Abb. 3 & 4: Antoni Muntadas, On Translation: Miedo/Jauf, Video, 2007 22

Das von Muntadas aufgezeigte Konzept der Grenze geht über das Verständnis als geografi sches und physisches Gebiet hinaus. Durch die Gesichter und Stimmen der Bewohner*innen schafft der Künstler emotionale und subjektive Geographien, in wel-chen die persönliche und individuelle Erfahrung zentral ist und zugleich auf einen größeren Diskurs verweist. Es ist keine von ‚Natur‘ aus gegebene, sondern eine medial und politisch konstruierte Angst, ein diskursives Konstrukt, wie die Grenze selbst, welche durch eben diese Medien normalisiert und naturalisiert wird und so ihre All-gemeingültigkeit instand hält. Im medialen Diskurs wird das Gefühl der Angst als Instrument der Grenzziehung zur Grenze selbst. Die Ausstrahlung des Werks im öf-fentlichen Fernsehen bietet einen alternativen Blick auf die Erlebnisse im Grenzraum und bricht mit den Sehgewohnheiten der etablierten Mediensprache. So fällt auf, dass das Gefühl der Angst von den Bewohner*innen oft in Relation zur anderen Seite der Grenze gesetzt wird, was auf den medial etablierten Dualismus verweist und die Pro-jektionen auf die jeweils ‚andere‘ Seite aufdeckt. Guasch hebt weiter hervor, dass die Angst durch die tiefe Verwobenheit mit dem Territorium „nicht nur ein abstraktes Ge-fühl, sondern auch einen Ort, einen locus“23 darstellt: eine Grenzgeographie der Angst.

Im Sinne Mary Louise Pratts wird die Grenze zu einer „contact zone“, einer „colonial frontier“, an welcher Machtasymmetrien thematisiert, aber auch ausge-handelt werden.24 Indem sich die Interviewten zu einem gemeinsamen Gefühl äu-ßern, wird diese Emotion zu einem Nexus im Grenzraum. Obwohl die Koppelung von Grenzdiskurs und einem Diskurs der Angst von dem Künstler (re-)produziert wird, intendiert dieser eine Umdeutung als verbindendes und transgressives und nicht dichotom trennendes Element. Es ist ein Dialog zwischen zwei Ufern, der durch die Übersetzung des Gefühls der Angst das Potenzial besitzt, die Grenze zu destabilisieren. Es ist diese Übersetzung, welche letztlich ein Überwinden, ein Zu-sammenkommen, ein Verstehen zweier scheinbar durch mehrere Grenzziehungen getrennter Perspektiven ermöglicht, seien diese territorial, gesellschaftlich, kultu-rell oder sprachlich. Angst kann so als Handlung, als Agency verstanden werden, die das Potenzial besitzt, die Grenze zu dematerialisieren und in Bewegung zu versetzen. In diesem Prozess der Entmaterialisierung ist die Stimme der Befragten essentiell. Wie Meir Wigoder hervorhebt, ist die Stimme das einzige Medium, das die Grenze überschreitet und gleichzeitig auf beiden Seiten existiert.25 Auf diese Weise wird die Stimme im Film zu einem Vermittler und einem Mittel, um das Gefühl der Angst auf beiden Seiten der Grenze zu zerstreuen.

Abb. 5: Ursula Biemann, Europlex, Video, 2003 27

Europlex ist ein Videoessay, den Ursula Biemann in Zusammenarbeit mit der vi-suellen Anthropologin Angela Sanders im Jahr 2003 produziert hat. Thematisiert wird die spanisch-marokkanische Grenze: die Straße von Gibraltar, die kreisför-migen Bewegungen von Menschen und Gütern in der Grenzregion, die sie durch-querenden Schiffe, die beiden spanischen Enklaven Ceuta und Melilla und die in Afrika gelegenen Produktionsgebiete von Waren für den europäischen Markt. Im Videoessay wird die Visualisierung von räumlichen Gegebenheiten mittels anth-ropologischer und geografischer Prozesse vollzogen.

Das Werk besteht aus mehreren Logs : Im Border Log I setzten sich die Autorin-nen mit den Schmuggelaktivitäten in Ceuta auseinander, die – so Biemann – einen integralen Bestandteil der Alltagskultur darstellen.28 In Border Log II begleiten die Autorinnen Hausangestellte, domesticas , die in Tetouan leben, auf ihrem täglichen Weg in die spanische Stadt Ceuta. In diesem Video verweisen Biemann und San-ders darauf, dass zwischen den beiden Gebieten, trotz ihrer unmittelbaren Nähe, ein Zeitunterschied von zwei Stunden besteht. Indem sich die Frauen täglich zwi-schen den unterschiedlichen Zeitzonen bewegen, reisen diese nicht nur durch den geographischen Raum, sondern auch durch einen Zeit-Raum; die Frauen werden zu Zeitreisenden (Abb. 5)29. Das Border Log III behandelt die transnationale In-dustriezone von Tanger, in der marokkanische Arbeiterinnen – „aroma extracta-doras, gambas manipuladoras, semi conductoras, toy plastificadoras“30 – Export-güter für den europäischen Markt herstellen.

Die Räumlichkeit und Vielfältigkeit der Grenze wird in dieser Arbeit durch die alltäglichen Mobilitätsformen deutlich. Die Konstruiertheit der Grenze manifes-tiert sich in einer ökonomischen Logik asymmetrischer Machtdispositionen, wel-che die Kontinuität kolonialer Machtstrukturen weiterführt. Die klar regulierten und ungleichen Grenzüberquerungen sowohl von den Schmugglerinnen, den do- mesticas und den Fabrikarbeiterinnen, als auch von den von ihnen produzierten und transportierten Gütern, bringt lokal erlebte Mobilitäten, „Mikrogeografien“ hervor und reflektiert zugleich ein globales Schema, welches auf einer dichotomen Trennung von Kolonialität und Modernität beruht.31

Die Grenze, sowohl als Metapher als auch als Phänomen, definiert „nicht nur das, was zwischen Räumen und Territorien liegt, sondern markiert auch eigene Räume“.32 Indem sich Biemann und Sanders nicht nur auf den tatsäch-lichen Grenzüberschritt konzentrieren, sondern auf die Schmuggelaktivitäten, das Zeitreisen und Produzieren von Waren als aktive Handlungen aus einer vermeintlich schwachen Position, werden marginalisierte Räume zu Räumen des Widerstands.33 Gezeigt werden so im Video  – oft unsichtbare  – „counter geographies“34 und Dissidenten-Praktiken, die in diesem Grenzgebiet stattfin-den. Dabei fokussieren die Autorinnen gerade die oft unberücksichtigten Rol-len von Frauen in den lokalen und den damit einhergehenden internationalen ökonomischen Prozessen, welche durch die domesticas sichtbar gemacht wer-den. Wie Saskia Sassen herausstellt, spielen gerade Frauen in den Dynamiken der Globalisierung eine entscheidende Rolle.35 Das Sichtbarmachen von Frauen als produktive Akteurinnen an der Grenze bricht mit stereotypen und verein-fachenden Vorstellungen der ‚anderen‘, ‚subalternen‘ Frau des ‚Südens‘, oftmals geprägt durch die Zuschreibung einer passiven Rolle.36 Wie bereits Zahira Dehn Tutosaus an anderer Stelle ausgearbeitet hat, ist es eine reziproke Beziehung zwischen Menschen, Handlungen und Grenzraum, welche sich, wie im Voran-gegangenen ersichtlich wurde, besonders produktiv auf die weiblichen Akteu-rinnen auswirkt.37 Die Akte und die damit einhergehende Handlungsmacht der Frauen werden sowohl durch die Aufnahmen als auch durch die Erzählungen Biemanns in der Videoarbeit deutlich und stellen so eine alternative Narration von Alltäglichkeit zur Disposition. 4 Bab Sebta : Das Tor zu Europa als Interaktionsraum

Abb. 6: Randa Maroufi , Bab Sebta, Video, 2019 39

In ihrem 2019 erschienen Kurzfi lm Bab Sebta (dt. das Tor zu Ceuta) untersucht die Künstlerin Randa Maroufi die täglichen Bewegungen von Menschen am Grenzüber-gang von Ceuta. Ein Verkehrsschild im Film mit der Aufschrift „España“ und zwölf goldenen Sternen (Abb. 6)40 verweist darauf, dass Ceuta nicht nur eine Grenze zwi-schen zwei Städten oder Ländern ist, sondern Teil der europäischen Außengrenze. Gleichzeitig erfolgt durch das Schild eine spezifi sche Verortung der Inszenierung.

Im Film zeigt die Künstlerin die alltäglichen Handlungen verschiedener Ak-teur*innen im Grenzraum: Grenzbeamt*innen, Polizist*innen, Tourist*innen und Schmuggler*innen. In diesem zwischenmenschlichen Zusammenspiel wird die Grenze gleichzeitig unterwandert und aktualisiert, materialisiert und bestä-tigt. Die Grenze selbst ist auf eine fl ache monochrome Th eaterbühne übersetzt, wobei unterschiedliche Zonen durch Linien markiert werden. Die Inszenierung wird aus einer doppelten Perspektive fokussiert: Zum einen von oben, wie der Blick eines Kartographen, der Räume strukturiert; oder vielmehr wie der Blick aus einem Hubschrauber der das Sichten, Überwachen und Kontrollieren des Ge-sehenen ermöglicht. Zum anderen vom Boden aus, in Lebensgröße und auf Au-genhöhe, wodurch die Personen an der Grenze und ihre Handlungen in den Mit-telpunkt gestellt werden. Durch die Auff ührung und Übersetzung der alltäglichen Handlungen in einen ‚leeren Raum‘ werden die Bewegungsabläufe gezielt visuali-siert und zugleich als performative Akte lesbar.

Es ist die Gesamtheit der unterschiedlichen Akteur*innen „at, on, or shaping the border“41, wie Rumford schreibt, die sich durch den Grenzraum bewegen, welche den gefilmten Raum als Grenzraum konstruieren und sichtbar machen. Im Werk wird so die post- und dekoloniale Kritik an der Kategorie Grenze, wie sie in der ‚Moderne‘ etabliert wurde, visuell verhandelt, indem diese von einer Linie in ihrer räumlichen und zeitlichen Dimension zu einem Grenzraum erweitert wird. Indem Maroufi den Raum zwischen Spanien und Marokko fokussiert, macht sie die Gren-ze als einen Zwischenraum, als Teil der Räume, an die er jeweils grenzt, ohne sich völlig in ihnen aufzulösen, sichtbar. Der Grenzübergang wird im Film, uns auf Ed-ward W. Soja und Homi K. Bhabha berufend, als ‚Dritter Raum‘ denkbar, welcher wiederum erst durch die Handlungen darin zum Grenzraum wird.42 Wie Michel de Certeau betont, „ist der Raum ein Ort, in dem man etwas macht“.43 Dieses Machen als Handlung, die den Raum definiert, manifestiert sich im Film in den Szenen des Wartens, Spielens, Musik-Hörens, Kontrollierens der Kofferräume, Überwachens, Sporttreibens und Schmuggelns. Die Handlungen sind klar als Aktivitäten an der Grenze erkennbar, ohne jedoch das geographische Territorium explizit zu zeigen.

In Bab Sebta wird, wie Rhea Dehn Tutosaus herausstellt, die Grenzlinie zu ei-nem Bühnen raum, in welchem die unterschiedlichen Akteur*innen in einen Aus-handlungsprozess geraten. In dieser Politik der Sichtbarkeit entsteht die Grenze so erst durch die Grenzlandbewohner*innen, durch die Handlungs- und Funktions-weisen, durch welche die Grenze angeeignet und zugleich (re-)produziert wird.44Besonders der ‚unsichtbare‘ Raum, welcher die Handlungen umso sichtbarer macht, verdeutlicht gleichzeitig das subversive Potenzial des ‚Machens‘ und ver-weist auf die Durchlässigkeit der Grenze. Es sind die „[…] Akte des Destabilisie-rens, des In-Bewegung-Setzens und des In-Bewegung-Haltens“45 wie Beatrice von Bismarck mit ihrem Konzept der Grenzbespielungen einführt, die im Grenzraum angestoßen werden und so Handlung und Grenzraum verbinden. Dieser visuellen Inszenierung als Aufführung alltäglicher Handlungen wird eine verschiebende Funktion zugesprochen, da die Wiederholung immer durch Differenzen zu den Verhältnissen bestimmt ist, auf die sie verweist.46 In Maroufis Film wird die Gren-ze zu einem Zwischenraum der Interaktion, in welchem die Grenze über die Kör-per sichtbar und zugleich durch die Körper und ihr Handeln aufgehoben wird. 5 Die Grenze als Ort subjektiver Erfahrungen

Grenzerfahrungen sind, wie Ignacy Jóźwiak ausführt, plural und verleihen, wie durch die Untersuchung der Werke erarbeitet wurde, der Grenze multiple Bedeu-tungen und Funktionen.

Die behandelten Videoarbeiten weisen über ein einfaches Verständnis der Gren-ze hinaus, indem sie die Meerenge von Gibraltar als einen subjektiv erlebten Raum verhandeln. Wie wir herausgearbeitet haben, sind es facettenreiche Artikulations- und Mobilitätsformen, welche die Grenze materialisieren, subvertieren und auf ihre Porosität hinweisen: die Bewohner*innen in Tarifa und Tanger, die sich ge-danklich über die Meerenge bewegen, die Akte der kapitalistischen Arbeitsaus-beutung, die physischen sich täglich wiederholenden und zyklischen Bewegungen der Grenzgänger*innen, Schmugglerinnen und domesticas , ebenso wie der Migra-tion, der Menschen im Asyl, Exil und Transit.

Der geographische und der gefilmte Grenzraum werden in den Videoarbeiten durch die Handlungen und Aktionen, die in ihm ausgeübt werden, bestimmt und ‚markiert‘.48 Die pluralen Perspektiven vollziehen einen Bruch mit der Vorstellung einer einzigen und ‚objektiven‘ (Grenz-)Realität, wie durch die Informationstafel suggeriert, hin zu einem Verständnis von vielfältigen (Grenz-)Realitäten, die an die Menschen gekoppelt sind, die diese erleben. So stellen wir anhand der gezeigten Nut-zung des Raums in den Videoarbeiten verschiedene Grenzgeographien fest: Geo-graphien der Migration, Geographien des Wartens, Geographien der Angst, Geo-graphien des Schmuggels, Geographien der Bewegung, Geographien des Handelns.

Die künstlerische Praxis ermöglicht ein Denken der Grenzgeographie als Raum, der ständig in Bewegung ist und gleichzeitig durch dieselbe Bewegung geschaffen wird. Das Video, als ein auf Bewegung ausgerichtetes Medium, dient so als künst-lerische Verhandlungsebene par excellence , um Diskurse zu Grenzen, Raum und Mobilität zu untersuchen. Anhand von Randa Maroufis Werk werden die Eigen-schaften des Mediums, des bewegten Bildes und des Bilds in Bewegung, besonders evident. Sie zeigt nicht nur unterschiedliche Bewegungsabläufe, sondern bewegt sich selbst und somit die Betrachtenden durch den Bühnenraum. Diese Bewegung durch den Raum wird auch in Ursula Biemanns Videoessay durch das bewegte Kamerabild sichtbar. Doch steht der kollagenartige Aufbau der Bildkompositio-nen, wie bei Antoni Muntadas und Rogelio López Cuenca, im Vordergrund. Die facettenreichen Gestaltungsmöglichkeiten des Videos werden ausgenutzt: eigene Aufnahmen werden mit dokumentarischem Material und Grafiken zusammen-geschnitten und übereinandergelegt. Wenn demnach Joaquín Barriendos fragt, „inwieweit die Politik der Mobilität tatsächlich zu nicht-kolonialistischem Wis-sen werden kann; das heißt, um zu wissen, an welchem Punkt Mobilität selbst zu Grenzdenken wird […]“49, kann dem Video das Potenzial eben dieses Grenzden-kens zugesprochen werden. Die Arbeiten besitzen ein produktives Potenzial, Be-wegungen und Aushandlungsprozesse über Repräsentation, Macht und Differenz zu verhandeln. Kunst wird zum Katalysator und Medium der dekolonialen Praxis, insofern die geographischen Künstler*innen , nicht nur die Produktion von Raum hinterfragen, sondern durch ihre Praxis selbst ‚neue‘ Wissens-Räume schaffen. Kunst wird so selbst zum Grenzdenken. Es sind unabgeschlossene und diskursive Räume, welche Platz für subjektive Erfahrungen und Austausch zulassen und die Betrachtenden selbst in Bewegung versetzen.

Patrick Doe , Fotoprojekt „Grenzen“, Halle (Saale) 2022.

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Grenzen (in) der Philosophie

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Emil Angehrn

An der Grenze inmitten des Lebens

Mit Grenzen haben wir nicht nur am äußersten Rand zu tun. Wir stoßen auf sie nicht nur in der Grenzregion, vor der Scheidelinie zwischen zwei Bezirken. Eine Grenze überschreiten heißt nicht nur über eine Schwelle, eine Trennlinie in ein anderes Territorium hinübergehen. Es kann auch heißen, die Grenze als solche hinter sich lassen, sie als Begrenzung überwinden.

Die Rede von Grenze(n) situiert sich von vornherein in einem zweifachen seman-tischen und thematischen Feld. Der Begriff ist Teil eines doppelten Gegensatzes. Die Grenze trennt einerseits das Diesseits und das Jenseits einer Demarkation, das Innen und Außen, das Einheimische und das Fremde. Nach einer anderen Hinsicht ist die Grenze selbst Teil einer dualen Entgegensetzung, als Gegenbegriff zum Unbegrenz-ten, Grenzenlosen. Auch hier bedeutet die Überschreitung der Grenze ein Hinüber-gehen, doch nicht zu einem seinerseits umgrenzten Anderen, sondern zum anderen der Grenze selbst. Jenseits der Grenze ist ein fremdes Land, aber auch das Unendliche.

Es ist leicht zu sehen, dass mit der doppelten terminologischen Konstellation eine zweifache Problemstellung einhergeht, die in je anderer Weise in der Dis-kussion verhandelt wird. Der erste Kontext bestimmt gesellschaftlich-politische Debatten und bildet zugleich einen profilierten Angelpunkt philosophischer Re-flexion. Stellvertretend verwiesen sei auf die „Ethik der Migration“, die Julian Ni-da-Rümelin unter dem Titel Über Grenzen denken veröffentlicht hat.1 Die zweite Themenstellung ist im aktuellen Diskurs vielleicht nicht von gleicher Prägnanz, doch für die philosophische Verständigung von nicht geringerem Gewicht; ob das Begrenzte oder das Unbegrenzte als Leitbegriff fungiert, ist mit ontologisch-epistemologischen Grundfragen und ethischen Weichenstellungen verknüpft.2 Es scheint unverzichtbar, sich in einer philosophischen Auseinandersetzung um die Grenze mit beiden Fragerichtungen zu befassen, um, auf dieser Basis, auch ihr Verhältnis zur Sprache zu bringen.

Es bietet sich an, von der ideengeschichtlich wie sachlich fundamentalen Op-position zwischen Begrenztem und Unbegrenztem auszugehen. Mit ihr sind die Geschichte des europäischen Denkens und die Entstehung der Philosophie aufs engste verflochten. Der Anfang der Philosophie artikuliert sich über das Ernst-nehmen der Differenz zwischen Grenze und Unendlichem. 1 Ursprungsdenken – Die Option für das Bestimmte und Begrenzte

Es gehört zur Signatur der entstehenden Philosophie, vom ältesten Ursprung her und auf das Ganze hin zu denken. Darin schließt sie an die ideengeschichtliche Vorgängerformation des Mythos an, der sich seinerseits durch die genealogi-sche Ursprungsfrage und den Ausgriff auf das Ganze auszeichnet. Exemplarisch kommt dieser Zug in den Schöpfungs- und Entstehungsmythen zum Ausdruck. Der erste Schritt in der Weltgenese ist das Herausgehen aus dem Chaos, aus dem Urzustand des Verworrenen und Ungestalten, des anfänglichen tohuwabohu. Die Texte der Bibel, der hesiodischen Theogonie und anderer Schöpfungserzählungen machen deutlich, dass mit dem ‚Chaos‘ nicht primär die Unordnung, sondern der klaffende Schlund, die grenzenlose Leere, der verschlingende Abgrund evoziert werden. Der Übergang vom chaos zum kosmos setzt ein mit dem Sich-Losreißen vom Sog des Unbegrenzten, mit Trennungen und der Setzung von Grenzen. Meh-rere Schöpfungstage der biblischen Genesis sind durch Teilungen – zwischen Licht und Finsternis, Tag und Nacht, Wasser und Erde – bestimmt. Ein weltweit verbrei-tetes Mythologem handelt von der Trennung zwischen Himmel und Erde als der Urtrennung schlechthin, durch welche sich der Raum des Lichts und des Lebens öffnet; drastisch inszeniert Hesiod das Gewaltsame der Trennung zwischen Gaia und Uranos (als Vaterkastration durch Kronos)3, und ebenso kommt das Nicht-Selbstverständliche der Trennung in der Anstrengung des Atlas zum Ausdruck, der „die mächtigen Säulen stützt, die Himmel und Erde auseinanderhalten“.4 Sig-nifikant sind die Trennungen, sofern sie nicht einfach zwei Regionen, sondern (wie in den Trennungen der Genesis) das Bestimmte und das Unbestimmte, die Grenze und das Unbegrenzte auseinanderhalten. Es ist dieser polare Gegensatz, der der Entstehung der gestalteten, bewohnbaren und erkennbaren Welt zugrunde liegt. Darin wird der fundamentale erlebensmäßige Antagonismus beider Pole fassbar.

Dass es sich dabei nicht um eine ‚neutrale‘ Begriffsdualität handelt, wird in der Reprise des Gegensatzes in der entstehenden Philosophie offenkundig. Unter den von seinen Vorgängern diskutierten Prinzipien aller Dinge nennt Aristoteles die pythagoreische Liste der zehn Gegensätze, als deren ersten er die Opposi-tion von Grenze und Unbegrenztem (peras, apeiron) anführt.5 Die Gegensatz-tabelle verkörpert eine durchgehende Hierarchie, die in vielen Opposita (Gera-de-Krumm, Licht-Finsternis, Gutes-Böses) augenscheinlich hervortritt und mit Bezug auf den Urgegensatz von Grenze und Unbegrenztem besondere Prägnanz gewinnt. Das Unbestimmt-Grenzenlose – die Wort- und Begriffsfelder des (Un-)Bestimmten und (Un-)Begrenzten konvergieren weithin – ist das Negative, das Unfassbare, Auflösend-Nichtige. Entgegen einer im Normalverständnis vielleicht naheliegenden Höherwertung des Unendlichen gilt für die Metaphysik die dezi-dierte These, dass das Endliche und Bestimmte das Primäre und Positive ist. Der Grund ist, dass die Grenze Gewähr der Bestimmtheit und damit des wahrhaften Seins und Erkennens ist: Entschieden vertritt Aristoteles den Grundsatz, dass die Suche nach ersten Gründen notwendig auf bestimmte, letzte Prinzipien rekurrie-ren muss (statt in einer unendlichen Ursachenkette jeden Halt zu verlieren und das Sein sich diffundieren zu lassen); prinzipiell gilt für das Denken und Spre-chen überhaupt, dass sprechen heißt, etwas Bestimmtes, Eindeutiges, Definites zu sagen, soll nicht der Logos sich im Maße seiner Unbestimmtheit auflösen.6Dem entspricht die ontologische Grundthese, dass alles, was ist, durch seine be-stimmte Wesensform in sich Halt und Bestehen hat, dass es durch sein eidos, seine essentia nicht nur bestimmt und von anderem unterschieden ist, sondern letztlich ist.

Noch deutlicher ist die Abwehr des Unendlichen in der archaischen Vorge-schichte der Metaphysik fassbar, so im Lehrgedicht des Parmenides, das mit der Gegenüberstellung zwischen der Sagbarkeit des Seienden und der Nichtsagbarkeit des Nichtseienden einsetzt und als Angelpunkt ein wahrhaft Seiendes als voll-kommen Erkennbares bestimmt, das wesensmäßig begrenzt ist („in den Fesseln der Grenze gehalten, die es ringsum einschließt“), Zeichen vollendeter Ganzheit und Unversehrtheit.7 Ebenso aussagekräftig ist die affektiv-wertmäßige Zurück-weisung des Unbestimmt-Grenzenlosen, der horror vacui als Angst vor dem Halt-losen und Bodenlosen, wie sie im mythischen Kampf gegen die Mächte des Chaos ebenso wie in dem von der Existenzphilosophie beschriebenen Grundaffekt der Angst, im Gefühl der Unheimlichkeit des Entgleitens aller Bestimmtheit, hervor-tritt.8 Wesentlich ist, dass es dabei nicht um eine partikulare Emotion, sondern eine Grundbefindlichkeit geht, in welcher der Mensch in radikaler Weise mit sich selbst konfrontiert ist. Die Option zwischen dem Bestimmten und dem Unbe-stimmten markiert nicht nur eine fundamentalphilosophische Weichenstellung der Denkgeschichte, sondern eine anthropologische Grenzsituation, in welcher der Mensch erfährt, wie es um ihn in seinem Sein bestellt ist.

Im Blick auf diese Grunderfahrung kann man in der mythischen Vorgeschich-te der Metaphysik eine Einsicht ausmachen, die hinter die metaphysische Set-zung des Bestimmten zurückweist und deren verborgenen Grund sehen lässt. Im Untergrund der Fixierung auf die Bestimmtheit wird die Aversion vor dem Be-stimmungslosen, die Urangst vor dem Abgrund fassbar. Sie kann angesichts der unauflöslichen Fundamentalität der Bedrohung durch das Grenzenlose dazu füh-ren, dass die Stabilisierung der Bestimmtheit auf die iterative Überformung des Wandelbaren und Nichtfestgelegten angewiesen ist, dass sich eine solche Wieder-holung aber zugleich der leeren Wiederholung, der iterierten Verunsicherung und Entgrenzung annähert. Sie konvergiert dann mit der Figur, die Hegel als falsche, sich aufhebende Überwindung des Endlichen, als endlosen Progress und ‚schlech-te Unendlichkeit‘ gebrandmarkt hat. Zu sehen ist, wie ein anderes Hinauskommen über das Endliche und die Grenze möglich ist.

Das Plädoyer für die Grenze, so zeigt ein Blick auf die Ideengeschichte, ist nicht die einzig mögliche Stellungnahme im Spannungsfeld zwischen Grenze und Un-begrenztem. So unverzichtbar es dem Menschen ist, Grenzen zu setzen, so wich-tig ist es ihm, Grenzen zu überschreiten. Von verschiedener Seite kann zunächst das Dogma in Zweifel gezogen werden, dass wir nur in der Festlegung auf das Bestimmte Wirklichkeit zu erkennen und uns im Sprechen und Verstehen zu orientieren vermögen. Gegen den aristotelischen Grundsatz, dass sprechen im-mer heißt, etwas Bestimmtes zu sagen, macht François Jullien unter Hinweis auf chinesische Denk- und Sprachformen geltend, dass wir sehr wohl in der Lage sei-en, „zu sprechen ohne (etwas) zu sagen“.9 In der Tat ist uns im Alltagsleben die Möglichkeit vertraut, dass wir uns mit anderen unterhalten, mit ihnen reden kön-nen, ohne unser Gespräch auf bestimmte Behauptungen mit Wahrheitsanspruch fokussieren zu müssen; der hermeneutische Raum des Sprechens und Hörens in seiner Erschließungs- und Darstellungskraft ist weiter als der diskursive Raum des Behauptens und Begründens. Der Ausgang von festen Grenzen und Fixpunk-ten, die Ausrichtung auf Eindeutigkeit und Bestimmtheit ist eine Option, keine Notwendigkeit in unserem kognitiven und praktischen Wirklichkeitsverhältnis. Desgleichen ist die metaphysische Anschauung, dass es in den Dingen ein festes, identifizierbares Wesen gebe, das unserem Erkennen und Sprechen Halt verleihe, in der Ideengeschichte eine kontroverse, nicht alternativlose Prämisse. Antiessen-tialistische, funktionalistische, strukturalistische Konzepte halten vielmehr da-für, dass nicht das In-sich-Bestimmte, sondern die Relation zwischen den Dingen, der Funktionszusammenhang oder das Netz der Akzidenzen das ursprünglich Verstehbare sei. Nicht der fixe Punkt, der erste Anfang und die eindeutige Grenze, sondern das offene Geflecht der Linien und Wege bietet Halt in der komplexen Lebenswelt.10 In diesem Sinne haben postmoderne Stimmen gegen die metaphysi-sche Orientierung an letzten Fundamenten das Lob der Kontingenz gesungen und dazu aufgefordert, die Nichtfestgelegtheit auszuhalten und mit der ungeordneten Vielfalt, dem Offenen und Bodenlosen zurechtzukommen.11

Es ist erkennbar, wie in diesem Plädoyer für Vielfalt und Flexibilität die zwei-te der eingangs unterschiedenen Bedeutungen von Grenze zum Tragen kommt: nicht die Grenze als das Andere zum Grenzenlosen, sondern als die Trennlinie, die das Vertraute vom Fremden, das Eigene vom Anderen scheidet. Das Lob der Pluralität ist ein Plädoyer für Grenzüberschreitungen und Exkursionen in andere Territorien, eine Kultivierung des Sinns für das Andere und das Fremde – für un-vertraute Lebens- und Denkformen, fremde Orte und andere Menschen. Die Fi-xierung auf die bestimmte Grenze, die begrenzende Bestimmtheit wird hier nicht überwunden durch den Sprung ins Grenzenlose, sondern durch das Kennenler-nen anderer Sprachen und Kulturen, durch das Vertrautwerden mit vielfältigen Lebenshorizonten und Verständigungsweisen.

Geradezu offensiv wenden sich hermeneutische und dekonstruktive Konzepte gegen die einengende, determinierende Festlegung auf die bestimmte Aussage. Hermeneutik betreibt, wie Gadamer einmal formuliert, „eine Ehrenrettung der schlechten Unendlichkeit“.12 Jede Interpretation, jede Übersetzung bleibt vorläu-fig und unabgeschlossen, wie schon jeder Text offen, auf weitere Explikation und Artikulation angewiesen ist. Nie ist, was zu sagen war, erschöpfend zum Ausdruck gebracht, nie hat ein Autor, was er meinte und ‚sagen wollte‘, endgültig formuliert. Die unendliche Deutung gründet nicht nur im unerschöpflichen Sinnüberschuss, wie ihn Paul Ricœur in den großen Symbolen der Kulturen wahrnimmt, sondern kann ebenso durch die unklare, verschlungene oder dunkle Sinngenese bedingt sein, wie sie in komplexen historischen Zusammenhängen oder psychischen Kon-stellationen vorkommt, aber auch, so die radikale Sichtweise, in ‚normale‘ Hand-lungen und Kommunikationsakte hineinspielt. Jacques Derrida unterstreicht diesen Tatbestand, indem er die dekonstruktive Lektüre von Texten und Tradi-tionen sich an einem zweifachen, retrospektiven wie prospektiven Entgleiten der bestimmten Identität abarbeiten lässt. Dieses Entgleiten wird auf der einen Seite durch die Chiffre der ‚Spur‘ angezeigt, die auf den uneinholbar vergangenen, nie in aktueller Präsenz zu fixierenden Ursprung zurückweist, auf der anderen durch die ‚ différance ‘, die den unabschließbaren Aufschub des finalen Identifizierens meint. Alles Sagen und Verstehen, Hervorbringen und Aufnehmen vollzieht sich zwischen zwei offenen, sich nie schließenden Horizonten. Die Unendlichkeit des wiederholten Hinaus- und Weitergehens ist darin zunächst eine Antwort auf das Nichtfassen- und Nichtfestlegenkönnen. Doch ist es wichtig, darin nicht nur ein Negativum, einen Notbehelf angesichts des Entgleitens und Verfehlens zu sehen, sondern ebenso einen affirmativen Grundzug in der Prozessualität des Sinns. Das Grundgeschehen, in welchem menschliches Leben sich vollzieht, ist ein Prozess des Zerstreuens ebenso wie des Zusammenkommens, des Sichverlierens wie des Sichfindens.

Im Leben wie im geschichtlichen Sinngeschehen widerspiegelt sich etwas vom Zwiespalt der Grenze, der darin liegt, dass es notwendig ist, Grenzen zu ziehen und Grenzen zu überschreiten. Wir bedürfen des Endlichen wie des Grenzen-losen, um ein menschliches Leben zu führen. Wir brauchen die Möglichkeiten der bestimmten Identifikation wie der Transgression, um uns in sinnvoller Wei-se in der Welt zurechtzufinden und ein nicht-reduktives Verständnis unserer selbst zu gewinnen. In einem gewissen Maße ist insofern auch die ambivalente affektive Besetzung der Grenze unhintergehbar. Sowohl die Grenzziehung wie die Entgrenzung können uns ängstigen. Wir können sowohl das Zwanghafte der bestimmten Festlegung fürchten wie vor dem Abgründig-Unergründlichen zu-rückschrecken, uns im Offenen und Diffusen verlieren. Ebenso können uns die Bestimmtheit wie die Unbestimmtheit befreien und mit uns selbst in Einklang kommen lassen; wir können, wie Aristoteles meinte, im Endlichen Glück und Vollendung finden, aber auch im Unendlichen aufgehen, uns nach dem Gren-zenlosen als Ort der Erfüllung sehnen. Das Herauskommen aus dem Urgrund wie das Wieder-Eingehen in das Ganze, die trennende Unterscheidung wie die Vereinigung können mit konträren Wertungen und lebensweltlichen Haltun-gen verbunden sein. Alle diese Erlebnisse sind nicht beliebig und austauschbar, sondern in distinkter Weise mit bestimmten Situationen und Entscheidungen verknüpft, doch können sie sich vielfältig ablösen oder verflechten. Im Gan-zen bleibt der Grundtatbestand, dass der Umgang mit Grenzen einer ist, der sich mitten im Leben, sowohl in der Alltagspraxis wie in herausgehobenen Er-lebens- und Handlungsformen vollzieht. Letztere kommen beispielhaft in Jas-pers’ Rede von Grenzsituationen in den Blick, womit er privilegierte Orte der

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Existenzerhellung anspricht, die den Menschen „im Wesen seines Seins treffen“ und in deren Vollzug er als er selbst existiert.13 Es sind besondere Erfahrun-gen (Tod, Leiden, Schuld, Kampf), in denen sich der Mensch gerade auch dem Jenseits der Grenze, der Unheimlichkeit und Unbehaustheit aussetzt, denen standzuhalten für die Existenzphilosophie ein Erfordernis authentischer Exis-tenz darstellt und denen auszuweichen den Makel der Uneigentlichkeit trägt. In solchen Integrationen der Grenze und ihres Anderen in das Leben wird die von Gadamer bedachte Ehrenrettung der schlechten Unendlichkeit in einer beson-deren, eindringlichen Gestalt ausformuliert. 3 Das Unendliche

Eine andere, weitergehende Rehabilitierung des Unendlichen streift dessen Pri-märqualifikation als ‚negativ‘ ab. Dabei kommen nicht nur traditionelle Wertun-gen des Unendlichen als des von jeder Endlichkeit, von jedem Fehl und Makel Befreiten in den Blick. Eine solche Sicht ist seit je mit der theologisch-metaphysi-schen Rede von Gott als einem ewigen, allwissenden, allmächtigen Wesen ver-bunden, in spezifischer Weise in religiösen und mystischen Visionen präsent. Im Gegensatz zur aristotelischen Linie der Perhorreszierung des Unbestimmten hat der Neuplatonismus das Unbestimmt-Unendliche zu einem Kennzeichen des höchsten Seins und wahrhaft Guten erhoben: Im Formlosen und Unendlichen, meint Plotin, liegt die Natur des eigentlich Schönen und Begehrenswerten.14 Eine beziehungsreiche Ausformulierung erfährt die Idee eines positiven Unendlichen, das uns entgegenkommt und uns erhöht, im ästhetischen Begriff des Erhabenen, den Kant mit der „Unbegrenztheit“ eines „formlosen Gegenstandes“ verbindet15und über die Erscheinung der Natur expliziert, „deren Anschauung die Idee ihrer Unendlichkeit bei sich führt“.16 Dabei verschränkt er die Erfahrung des unseren Begriff Übersteigenden, das er in den zwei Formen des ‚mathematischen‘ und des ‚dynamischen‘ Erhabenen spezifiziert, mit signifikanten Erlebensweisen, der Kon-frontation mit Größe und Macht, den subjektiven Reaktionen der Achtung und der Furcht.17

In neuerem Kontext hat Jean-François Lyotard die kantische Lehre neu konstel-liert und das Erhabene zu einer Chiffre des Unendlichen auch jenseits des ästhe-tisch-kunsttheoretischen Bezugs gemacht.18 Generell betont er die Transzendie-rung des Endlichen als Grundzug des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses. Sie findet im Theoretischen wie im Praktischen statt, zum einen in Auseinander-setzung mit der Grenze des Erkennens, analog zur Ausrichtung der kantischen ‚regulativen Idee‘ auf ein Jenseits der begrifflichen Darstellung, zum anderen in Auseinandersetzung mit der Nichtfestgelegtheit des menschlichen Wesens, die zugleich den Möglichkeitsraum existentieller Formgebung freigibt. Die ganze Kultur, das eigentlich Humane im Leben sieht Lyotard in der zwiespältigen Un-bestimmtheit (l’indétermination misérable et admirable) verwurzelt, in welche das Kind hineingeboren wird, als in eine initiale Armut und Leere, die gleich-zeitig ein Potential und ein Versprechen birgt.19 Die conditio humana ist grund-legend mit diesem oszillierenden Umgang mit der Grenze und ihrem Anderen verknüpft. Ausdrücklich tritt die Ambivalenz in der Natur des Erhabenen hervor, sowohl auf Seiten des Gegenstandes zwischen dem Unfasslich-Übergroßen und dem Übermächtig-Furchtbaren wie auf Seiten des subjektiven Erlebens, in wel-chem Lyotard die von Kant beschriebene Mischung der Gefühle zwischen Lust und Angst zur Geltung bringt. Im Ganzen aber liegt ihm daran, das Motiv des Überschreitens, der Transzendenz herauszustellen, das auch dort erfahrbar wird, wo der Mensch gerade mit seinen Grenzen konfrontiert wird: wo er in seinem Selbst- und Weltverhältnis über das eigene Wissen und Können hinaus verwiesen ist. Auch wenn er die Dinge nicht in ihrem wahren Sein zu ergründen, sein Leben nicht vollendet zu führen, seine Geschichte nicht herrschaftlich zu lenken ver-mag, ist er in seinem Begrenztsein nicht auf sich eingeschlossen, sondern auf sein Anderes verwiesen. Die Erfahrung der Grenze ist, wie Hegel zeigt, unablösbar vom Bezug auf das Andere der Grenze und das Unendliche. Für den Menschen ist das Gewahrwerden der Endlichkeit, das Erleben des Zurückgeworfenseins und der Krise, auch eine affirmative, das Subjekt in seinem Sein bestätigende und be-freiende Erfahrung.

In noch deutlicherer Gegenwendung zur metaphysischen Tradition, vor allem aber zur modernen Subjektphilosophie macht Emmanuel Levinas die Idee des Unendlichen zum Angelpunkt seines Denkens. Er verbindet damit die Über-windung des phänomenologischen bzw. bewusstseinstheoretischen Ansatzes, der die Dinge aus der Perspektive, wie sie dem Subjekt erscheinen oder von ihm auf-gefasst werden, beschreibt. Das Hinausgehen über die phänomenologische oder transzendentalphilosophische Perspektive hat bei Levinas – wie bei Franz Rosen-zweig, einer Leitfigur des Levinas’schen Denkens – einen zweifachen Fokus: Sie verabschiedet den herrschaftlichen Gestus des Ausgangs vom Subjekt, und sie ersetzt dessen Selbstbezüglichkeit durch eine fundamental dialogische Orientie-rung. Beides ist mit einer originären Aufwertung des Unendlichen verknüpft. Die dezidierte Abkehr von Husserl, dem Levinas frühe philosophische Arbeit gewid-met war, geht einher mit einer Infragestellung der konstitutiven Funktion des Ich und der intentionalistischen Zentrierung auf das Wissen.20 Sie distanziert sich von einem Verstehen, das den Gegenstand nach Maßgabe des subjektiven Erfassens, der bemächtigenden Integration des Äußeren in das Innere begreift. Jenseits des zugreifenden Gestus der Erkenntnis geht es Levinas um einen Wirklichkeitsbe-zug, der gegen das konstruktive ebenso das rezeptive Moment des Verstehens zum Tragen bringt und gleichzeitig die theoretisch-thematisierende Einstellung durch eine praktisch-ethische Relation überformt. Beides konkretisiert sich in der Be-gegnung mit dem Anderen, exemplarisch in der Erfahrung des Antlitzes, in wel-cher sich eine ursprünglich ethische Beziehung anstelle des gegenständlichen Er-kennens als Grundverhältnis im menschlichen Sein etabliert. In diesem herrscht eine basale Vorgängigkeit des Anderen gegenüber dem Selbst, im Theoretischen wie im Praktischen: sowohl in der Konstitution des Sinns, der Erkennbarkeit und Bedeutsamkeit der Dinge vom Anderen her wie in der ursprünglichen Begegnung mit ihm, im unhintergehbaren Appell und Anspruch des Anderen, aber auch sei-ner uns je zuvorkommenden, uns entgegenkommenden Zuwendung. In alledem wird die eigene Initiative unterlaufen, das eigene Können überschritten in einer Transzendenz auf das Andere hin und dank des Anderen.

Es ist diese Bewegung, in welcher das Unendliche in den Blick kommt. Es steht für ein Jenseits des Begrenzten und Bestimmten, das die subjektiv-herrschende Form-gebung im Erkennen und Handeln leitet, aber auch der Totalisierung, die dem sub-jektiven Ausgriff als Fluchtpunkt innewohnt. Der Titel von Levinas erstem Haupt-werk, Totalité et infini 21 , gibt diesem Gegensatz beredten Ausdruck. Noch gesteigert findet sich die Bezugnahme zum Unendlichen, wenn das Verhältnis zum Anderen, bei Levinas wie bei Rosenkranz, vom personalen Anderen zum ganz Anderen, zum Absoluten hin erweitert wird. Zum Tragen kommt die religiöse Dimension der An-dersheit und der Übersteigung der Grenze, wie sie in der eingangs genannten me-taphysischen und theologischen Rede vom Unbestimmten und Grenzenlosen an-klingt. Doch gehört es zur Signatur der genannten Konzepte, sich vom Denkraum der rationalen Theologie wie der Metaphysik abzulösen und das Unendliche nicht als Zielpunkt eines vollendeten Wissens oder Form des höchsten Seins, sondern in unlöslicher Verschränkung mit der Idee der Alterität, als eminente Instanz des ra-dikal Anderen zu fassen. Die Alterität als solche aber ist für Levinas nicht Korrelat eines intentionalen Verhältnisses, sondern dessen Durchbrechung, der Bezug zum Unendlichen nicht Wissen, sondern Begehren, das Kommen des Unendlichen im Anderen nicht Offenbarung, sondern Zeugnis.22 In solchen Figuren wird eine Li-nie zu Ende gezogen, welche die Auseinandersetzung um die Grenze vom schlech-ten Unendlichen in ein affirmatives, transzendierendes Unendliches münden lässt. Wieweit sich vom Endpunkt her die initiale metaphysische Option für das Begrenz-te und Bestimmte begrifflich problematisieren lässt, bleibt die offene Frage. –

Wichtig aber ist in der zuletzt angesprochenen wie in verwandten Denkformen, dass das Unendliche und radikal Andere nicht einfach ein beziehungslos Fremdes, sondern ein Anderes ist, mit dem der Mensch im Innersten seines Selbst zu tun hat. Indem er auf Grenzen stößt, indem er auf das Jenseits der Grenzen verwiesen, in das Unendliche gewiesen wird, wird er der Verfasstheit seines eigensten Seins gewahr. In der Begegnung mit dem Anderen wird er mit sich und dem Grund seines Seins konfrontiert. Inmitten des Lebens hat er mit der Grenze und mit dem Jenseits der Grenze zu tun.

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Katja Teichmann
Jenseits des menschlichen Randes – tierliche1 Interventionen am Logos

Grenzziehungen, die sich auf den klassischen Gegensatz zwischen Mensch und Tier gründen, halten sich bis heute hartnäckig. Im Folgenden werden Strategien und Figuren vorgestellt, die diese Grenze unterlaufen und in Frage stellen. Mit den Sicherheiten, auf denen sich der Gegensatz zwischen Mensch und Tier aufbaut, werden zugleich auch Vorstellungen von Subjektivität und Logos kritisch befragt.

Nach Jacques Derrida ist der philosophische Logozentrismus untrennbar ver-bunden mit Herrschaftspositionen über das Tier. Die Gewalt beginne bereits in der Bezeichnung des Tiers als ein homogenes Ganzes, da der Singular (das Tier) die Vielfalt der Tierarten unter einem Begriff subsumiert. Derrida kritisiert nicht nur, dass das Tier vom Denken ausgeschlossen wird, vielmehr nutzt er die Kon-zeption des Tiers innerhalb der abendländischen Philosophietradition, um Fragen an das Konstrukt des Logos selbst zu stellen. Der Logos äußert sich nach Derrida sowohl in gesprochener Sprache als auch in der Schrift. Die gesamte abendländi-sche Philosophiegeschichte angefangen bei Platon habe dabei dem gesprochenen Wort eine unmittelbare Präsenz zugeschrieben und die Schrift als demgegenüber nachträglich und leblos abgewertet. Derrida erkennt zwar an, dass durch die Ab-wesenheit der Schreibenden der Tod immer schon in der Schrift enthalten sei, versucht jedoch seinerseits auch eine inhärente Lebendigkeit der Schrift nach-zuweisen, die sich im Spiel der Zeichen, der différance , manifestiere.In seinem grammatologischen Projekt betont Derrida außerdem, dass bereits die gesproche-ne Sprache Strukturmerkmale aufweise, die traditionell der Schrift zugewiesen werden. Demnach ist auch das Sprechen der différance ausgesetzt.2 Unter dem Neographismus différance , der in Anlehnung an das französische Wort différence einen unhörbaren Austausch der Buchstaben und damit eine Verschiebung zeigt, die nur lesbar ist, versteht Derrida eine Bewegung zwischen Zeichen und Bezeich-netem, ein Dazwischen, das stets offen für neue Sinneinwebungen ist. Als Schrift in der Schrift vermag die différance eine Störung dessen vorzunehmen, was als Logik des Einen, Mit-sich-selbst-identischen, den Logozentrismus stützt und be-gründet. Laut Derrida ist es jedoch unmöglich, auf die Begriffe der Metaphysik zu verzichten, selbst wenn diese erschüttert werden sollen. Es brauche vielmehr eine systematische und dekonstruktive Kritik ihrer Autorität. Vor dem Hintergrund dieser Verstrickung entwickelt Derrida eine erkenntniskritische Bewegung, die zeigt, dass jedes Sprechen/Schreiben – auch sein eigenes – immer im Zirkel der Metaphysikkritik gefangen bleibt. Seine Kritik des klassischen Schriftverständ-nisses ‚als Mitteilung des Sagen-Wollens‘3 setzt hier an. Im Folgenden wird die Abwertung, die die Schrift beginnend bei Platon erfahren hat, den Eingang ins Feld der Animalität eröffnen. 1 Die Animots treten auf

Das Tier wird laut Derrida als das sprachlose Andere auf einen Platz verwiesen, den es nicht verlassen darf  – weder antwortend noch verantwortend. Ebenso wie dem Tier ist nach Derrida auch der Schrift die Unmöglichkeit zu antwor-ten und damit eine Animalität zu eigen. Diese Beobachtung nimmt Derrida zum Ausgangspunkt einer Um- und Aufwertung. Im Dialog mit seiner langjährigen Freundin Hélène Cixous war nicht nur die Frage nach der Wahrheit ein wieder-kehrendes Thema, sondern auch Katzen, Eichhörnchen, Seidenwürmer und das, was Cixous Animot nannte. 4 Derrida übernahm dabei des Öfteren einige Ge-danken von Cixous.5 Im Gespräch mit Peter Engelmann spricht Cixous darüber, wie das Wort Animot durch Derrida bekannt wurde und in der Forschung vor allem auf ihn zurückfällt.6 Die Wortschöpfung Animots (Worttiere) soll daran erinnern, dass zwar Menschen sich selbst Vernunft, Sprache, Kultur zusprechen und anderen Lebewesen diese absprechen, im Inneren des Logos jedoch immer schon Animots am Werk sind und Unruhe und Verwirrung stiften bzw. diesen mitgestalten. So sind dem Logos bereits tierliche Faktoren inhärent, die diesen unkontrollierbar in Bewegung setzen und verschieben. Mit der Denkfigur der Worttiere oder Animots begegnen Derrida und Cixous dem Verhältnis zwischen Tierlichkeit und Menschlichkeit, indem nicht nur der vorherrschende Diskurs über das Tier dekonstruiert wird, sondern auch der Logos des Menschen infrage gestellt wird. Die Grenzen zwischen dem, was wir Mensch und dem, was wir Tier nennen, müssen anders und neu gedacht werden, denn es gibt zahlreiche, unter-schiedliche Organisationsstrukturen innerhalb des Lebendigen. Die eine Grenze, die zwischen Mensch und Tier so leichtfertig als eine Wahrheit angenommen wird, entpuppt sich als ein Plural an Grenzen und Übergängen.

Cixous, die Schöpferin der Worttiere, Animots , führt die Schrift auf das Schrei-ben zurück, ein „blindes Schreiben“7. Dieses „blinde Schreiben“ bedarf einer An-näherung an das Unbekannte, was nicht der Logik der Eigennamen folgt, da nicht mehr länger auf ein festgeschriebenes Objekt hingeschrieben wird, und macht damit „eine durch Poetik wirksam werdende Utopie einer anderen, alle Bedeu-tungen queerende Welt sichtbar“8. Für Cixous hat Schreiben immer eine politi-sche Relevanz und vollzieht sich wie bei Derrida in einem metaphysikkritischen Gestus, indem sie traditionelle Gegensatzpaare wie Natur/Kultur, Körper/Geist, Mensch/Tier, Lebendiges/Lebloses in ihrem hierarchischen Aufeinandertreffen dekonstruiert. Körper und Text sind dabei co-konstitutiv und diese Form, den Körper zu schreiben, ist für Cixous ein politischer Akt. Mehr als Derrida, der der Philosophie – gewiss auf Abwegen – immer verpflichtet bleibt, versucht sich Cixous an etwas, was sie écriture féminine nennt und Gertrude Postl wie folgt beschreibt:

Dieses hybride, „trans-physische Schreiben“10 verändert auch das schreibende Subjekt und öffnet für das ganz Andere*. Cixous adressiert in ihrem Schreiben den*die radikal Andere*n. Sie versucht damit das Ungedachte, Unbewusste her-vorzuschreiben, aber ohne eine objektivierende festschreibende Geste, die das Andere* nur auf Eigennamen reduziert. Damit einher geht eine Aufmerksamkeit demgegenüber, was nicht sichtbar ist. Cixousʼ Text Conversation avec l ʼâne . Écrire Aveugle, der 2017 erstmals ins Deutsche übertragen wurde, beginnt mit den fol-genden Worten:

In diesen Zwischenräumen wohnen Cixousʼ „magische Animots“ 12. Im Prozess des Schreibens begegnet sie den Worttieren , die sich selbst wiederum in den Text einschreiben und dort ihr Eigenleben führen. Die Herausgeber*innen des Textes Esther Hutfless und Elisabeth Schäfer beschreiben Cixousʼ Animots wie folgt:

Die Verbindung von Schrift und Animalität setzt sich hier fort. Der Schreibprozess von Cixous ist ein entgrenzter, der jenseits einer metaphysischen Ordnung statt-findet und das Überschreiten selbst vollzieht: „Was ich dann schreibe kennt weder Grenzen noch Zögern. Keine Zensur. Zwischen Nacht und Tag. Empfange ich die Nachricht. Ich empfange unerschüttert.“14 Damit das, was zwischen dem Sicht-baren versteckt ist, gesehen werden kann, braucht es kein Licht und keine Augen. Ein anderes Sehen, ein anderes Lesen, ein anderes Schreiben wird verlangt, das die Aufmerksamkeit auf das Nicht-Sichtbare lenkt. „Ich will unsere unterirdische Seele malen. Es gibt schon Wörter. Aber noch keine Eigennamen. Außerdem gibt es hier, vorher, nichts Eigenes.“15 Cixous’ Schreiben verliert sich nicht in Wortspie-lerei, sondern ist voller Erwartung und Gastfreund*innenschaft für neue Wör-ter, um diese zu begleiten, zu ändern und zu transformieren.16 Damit wird es möglich, Anhaft ungen starrer Kategoriengefüge – wie beispielsweise der Ge-schlechterordnung – zu überschreiten und abzustreifen, um sich auf andere Wege begeben zu können, jenseits des Menschlichen und dem damit verbundenen limi-tierten Blick. Hélène Cixous schreibt hierzu: „Es gibt kein Gender  mehr. Ich wer-de ein Etwas 17 mit gespitzten Ohren.“18 Da genre im Französischen auch mit Gattung übersetzt werden kann, deutet sich an dieser Stelle nicht nur die Über-schreitung der Ordnung der Geschlechter an, sondern zugleich auch weiterer gat-tungsspezifi scher Grenzen. Die Herausgeber*innen schreiben:

Das Feld des Animalischen ist nun geöff net und eine andere Logik jenseits des einen Logos hat sich aufgetan. „Aus Th eo-logien werden Zoë-logien . Aus dem einen Logos, dem Gesetz und der Vernunft des einen jenseitigen, transzendenten Got-tes werden mannigfaltige philosophische Literaturen des Lebendigen, in die die Schöpfung, das Werden immanent eingeschrieben sind.“20 Mit und für das Tier zu schreiben, heißt eine andere Sprache zu finden oder wiederzuentdecken, eine andere Symbolik, die nicht mit vermeintlichen Wahrheiten und Fest- bzw. Zu-schreibungen operiert, die weder befiehlt noch erobert. „Thus we should not forget animots. Welcome them. Welcome this demand from an un-known interior soft-ness. From the darkness of our thoughts and bodies. Welcome this yet unknown symbolic.“21 2 Cixous’ Bestiarium

Tier-Séancen nennt Lynn Turner die Spuren, die die zahlreichen Tiere in Cixous’ Texten hinterlassen haben. Einer, der Spuren hinterlässt, ist der kurzsichtige Maul-wurf, der eine prominente Position in Cixous’ Bestiarium 22 einnimmt. Zwischen dem Seidenwurm, der Katze, dem Eichhörnchen und Medusa 23 als Mischwesen, kommt dem Maulwurf eine polyvalente Rolle in Cixous’ Texten zu. Auf Englisch wird der Maulwurf als mole übersetzt, was gleichzeitig auch das Wort für Mutter-malist. Ein Muttermal betrifft die Oberfläche eines Körpers und ist gleichzeitig mit dem Inneren des Körpers verbunden, ähnlich dem Bezug zwischen Erdoberfläche und Erdinnerem beim Maulwurf. Der Maulwurf ist, wie viele Tiere in Cixous’ Bes-tiarium, Hermaphrodit, ein Intersex-Tier, dessen Weibchen maskulinisierte Geni-talien besitzt. Um noch weiter auf der Ebene des Signifikanten zu bleiben und an-dere Sprachen kreuzend dem Maulwurf und seinen Bedeutungsebenen bei Cixous auf der Spur sein zu können, ist es notwendig, das französische Wort für Maulwurf zu betrachten. Marta Segarra verweist in ihrem Aufsatz Deconstructing Sexual Difference. A Myopic Reading of Hélène Cixous’s Mole darauf, dass der Maulwurf im Französischen mit taupe übersetzt wird, was gleichzeitig als Bezeichnung für eine Sexarbeiterin verwendet werde.24 Es gibt für Cixous also zahlreiche Gründe, warum der kurzsichtige Maulwurf eine so prominente Rolle unter den Tieren der Dekonstruktion einnimmt. Die Kurzsichtigkeit (Myopie) wird zum verbindenden Handicap zwischen Cixous und dem Maulwurf. Cixous schreibt:

Kurzsichtigkeit wird durch die Ausprägung anderer Sinne kompensiert – beim Maulwurf ganz konkret durch Geruchs- und Tastsinn. Marta Segarra bringt die Figur des Maulwurfs bei Cixous in Verbindung mit Derridas Figur des Gespens-tes, da sich beide der Logik von Anwesenheit und Abwesenheit entziehen und die Unterscheidung zwischen Realem und Nicht-Realem, Lebendigem und Nicht-Le-bendigem auf ihre Weise dekonstruieren. Beide Figuren sind abjekt , in dem Sin-ne, dass sie ein Dazwischen bewohnen – zwischen Leben und Tod und zwischen Mensch und Tier.26

Eine weitere Verbindung zwischen dem Animalischen und dem Gespenstischen ist die Metapher des Telefons im Denken und Schreiben Cixous’. Lynn Turner fragt in ihrem Text Telefoam. Species on the shores of Cixous and Derrida, ob mehr Telefone oder Tiere in den Texten Cixousʼ zu finden sind und antwortet selbst darauf: „Animals are telephones and sometimes the other way around, and they multiply, in the prolifauny of all their animal, human and divine metamorpho-ses.“27 Die Vorsilbe tele (altgr.), die mit fern übersetzt werden kann, ist ein zentrales Motiv innerhalb der Dekonstruktion.28 Derrida verwies auf eine Verräumlichung zwischen Zeichen und Bezeichnetem, in der sich die Lebendigkeit der Schrift ent-falten kann. Um diese Zwischenräume, in denen die Animots leben, zu überbrü-cken, findet Cixous das Telefon als Metapher. Das Telefon ist dabei kein Garant für eine gelingende Kommunikation, sondern im Gegenteil unzuverlässig und un-berechenbar, wie die Worttiere .29 Es besteht immer die Möglichkeit einer Unter-brechung. Am Telefon entlarven ein Rauschen, ein Piepston, eine leiser werdende Stimme die angebliche Präsenz und Klarheit der Stimme, die bereits bei Derrida Thema war und die hier in anderer Weise wieder auftritt. Jederzeit kann die Stim-me gestört und unterbrochen werden, ihre Präsenz und Gegenwärtigkeit ist eine vermeintliche. Lynn Turner schreibt:

Im Hinblick auf das Schreiben bedeutet diese fragile Verbindung zum*zur Ande-ren*, offen zu sein und auf etwas Unbekanntes hinzuschreiben, dessen Ausgang ei-ne*r nicht vorhersehen kann, den Anruf zu empfangen, entgegenzunehmen ohne zu wissen, wie das Gespräch mit dem Esel verlaufen wird und was wir dabei er-fahren werden, wie es uns verschieben wird. Der Esel, ein biblisches Tier, begleitet Abraham, den Stammvater der drei sogenannten abrahamitischen Weltreligionen (Judentum, Islam, Christentum), in die Berge, als er um dem Befehl Gottes Folge zu leisten seinen Sohn Isaak opfern will. Cixous stellt sich auf diesem Gang ein Gespräch zwischen Abraham und seinem Esel vor:

Das Gespräch mit dem Esel, als Chiffre für das radikal Andere*, auch jenseits des menschlichen Randes, ist nicht willkürlich und kein bloßes Spiel von Signifikan-ten, sondern öffnet einen Raum, in dem die Animots ankommen können.32 Die poetische Artikulation in Cixous’ Denken ist nicht ausschließlich für den Men-schen bestimmt. Es ist ein politisch widerständiger Akt des Schreibens, der sich an das radikal Andere* richtet und damit eine posthumanistische Ethik eröffnet, die einen Austausch anvisiert, der über gender- und gattungsspezifische Grenzen hinaus das Bild vom ‚Eigenen‘ des Menschen verändert. Wenn Cixous ein ‚Etwas mit gespitzten Ohren‘ wird, dann meint dies eine utopisch anmutende Verschie-bung hin zum*zur radikal Anderen*, die über ein transphysisches, Gattungen und Genres durchque(e)rendes Schreiben vollzogen wird. 3 Queere Séancen 33 – Von Maulwürfen und anderen queeren Kolleg*innen der Dekonstruktion

Vertraute Kategoriengefüge haben sich aufgetan, um Platz zu schaffen für all jene Grenzgänger*innen, die ein Dazwischen bewohnen. Es gilt sich einzulassen auf neue Allianzen und unheimliche Übergänge. Es werden andere Weisen, die Grenzen zwischen Mensch/Tier und Natur/Kultur/Technik zu denken, vorge-stellt. Grenzen, die sich entfalten und ausbreiten und nicht mehr linear verlaufen, sondern einer anderen Logik der Grenze folgen, die die Sicherheiten, auf die der klassische Gegensatz zwischen Mensch und Tier sich aufbaut, irritiert und queert.

Das subversive Untergraben ist die Sache des Maulwurfs, der meist intersexu-elle Geschlechtsmerkmale aufweist und sich bereits anhand dieser Tatsache einer Einteilung in klare Binaritäten entzieht. Ein Tier der Dekonstruktion, ein queerer Kollege, der unterhalb der Erdoberfläche seine subversiven Gänge gräbt und den Inhalt dieser Gänge an die Oberfläche trägt. Eine Wiederaneignung des Unbe-wussten, eine Revolte im Verborgenen, deren Auswirkungen hervorgeholt und damit sichtbar und denkbar werden. Die Maulwurfsmetapher ist eine alte und traditionsreiche. Bereits bei Shakespeare zu finden, wurde sie von dekonstruk-tiven Denker*innen ebenso verwendet wie von sozialistisch-kommunistischen, wie beispielsweise Karl Marx und Rosa Luxemburg. Überall schrieb sie sich mit neuem Sinn fort. Für Rosa Luxemburg untergraben die Entwicklungsgesetze des Kapitalismus den Boden, auf dem sich dieser fortsetzt, und bringen selbst das Pro-letariat als eine Kraft hervor, die an der Zersetzung desselben arbeitet. „Für diese Bewegung wählt sie die Metapher des Maulwurfs und fasst darunter die Dialektik der Geschichte als unaufhörliches Wühlen im Innern der Gesellschaft, die Bewe-gung, die die feste Oberfläche sprengt.“34 In ähnlicher Weise lassen sich in diesem Kontext Karen Barads Überlegungen und Untersuchungen zu Amöben verstehen. Für die Denkerin, die dem sogenannten New Materialism angehört, unterwan-dern (queeren) soziale Amöben die „Natur von Identität“, indem sie die Binarität von Individuum und Gruppe infrage stellen.35 Letztlich geht es nicht mehr um ein Denken der Opposition zwischen Mensch und Tier, sondern um ein Denken der différance . Ein Denken, das queere Verstrickungen mit all jenem legitimiert, was unter dem Label der Natur oder der Technik gehandhabt wird. Susan Fraiman bezeichnet in ihrem Aufsatz Pussy Panic versus Liking Animals. Tracking Gender in Animal Studies Derrida als Vorvater einer erneuerten Version der Animal Stu- dies , die über die Disziplinen hinaus ausgedehnt und verbunden mit einem post-humanistischen Projekt ist. Ohne Bezugnahme auf Cixous, die dies ebenso an-visierte, wird Derrida dieses Projekt bzw. dessen Öffnung zugeschrieben. Fraiman erwähnt jedoch, dass vieles an Pionier*innenarbeit im Feld der Animal Studies von Feminist*innenim Umkreis des sogenannten Ökofeminismus geleistet wurde, der in Verbindung zu Frauen-Lesbenbewegung(en) im ausgehenden 20. Jahrhundert stand und auf den Donna Haraway in ihrem Denken kritisch Bezug nimmt.

Bei Cixous kündigt sich das Posthumane an und wird bei Haraway und Ba-rad fortgeführt. Cixous’ Bestiarium, Barads queere Kolleg*innen, Haraways Gefährt*innen stehen für drei unterschiedliche Angebote, starre Verfugungen auszudehnen und zu vervielfältigen, sowie durch andere, zuweilen „monströse Versprechen“36 und „(Quanten)Verschränkungen“, zu durchqueeren. Im steten Bemühen darum, alles Andere* in die Begriffe der Moderne mit einzubeziehen, die dieses traditionell ausgeschlossen haben, bewegen sie sich alle drei jenseits starrer Essentialisierungen und konfrontieren eine hegemoniale Definitionsmacht mit ihren Abgründen, Verleugnungen und Auslassungen. Sie verbünden sich mit der Schrift, dem Technischen, Animalischen und mit einer anderen als der im Na-tur-Kultur-Dualismus aufgerufenen Natur – einer queeren Natur, einer unerhör-ten Natur, die schreibt, kritzelt, experimentiert, berechnet, denkt, atmet und lacht.

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Bernhard Leistle
Grenzgang zwischen Performance Art und Philosophie: Ein Beitrag zur Phänomenologie des Fremden

Für das Verfassen dieses Artikels ist mir eine Grenze auferlegt worden, eine Textumfangsgrenze, die festlegt, nicht was ich schreiben kann, sondern wieviel: 25 000 Zeichen, inkl. Leerstellen. Das ist nicht viel, 4000 Wörter vielleicht, wenn ich Komposita vermeide. Ist das vielleicht der Grund, warum Zeichen als kleinste Maßeinheit gewählt wurden, weil deutsche Autor*innen sich sonst mit Worten wie „Textumfangsgrenze“ (20 Zeichen) extra-Text erschwindeln könnten? Bei Zeichen ist solch linguistischer Widerstand nicht möglich, keine Chance also. Wenigstens brauche ich es nicht persönlich zu nehmen: Die Zeichengrenze gilt für alle Au-tor*innen dieses Sammelbandes zum Thema „Grenze“; sie fungiert als Ordnung, die uns einander angleicht, uns zu einem Wir macht, dem „Kollektiv der Beitra-genden“. Jede*r bekommt 25 000 Zeichen, ohne jedes Ansehen der Reputation, gleich ob Doktorandin oder Ordinarius. Die Ordnung ist also gerecht, und doch trifft sie uns auf unterschiedliche Weise. Mich trifft sie hart, denn ich habe Schwie-rigkeiten mich kurz zu fassen, ganz besonders, wenn es um so etwas gehen soll wie Grenzen, und weil ich mir das Thema der Grenze zwischen Performancekunst und Philosophie gestellt habe.

Nun habe ich bereits 1223 meiner 25 000 Zeichen verbraucht, halt genau genom-men, 1303, nein 1319 … 2 Philosophie der Grenze und Grenzen der Philosophie

Wenn die Philosophie sich der Grenze als Thema annimmt, sieht sie sich unwei-gerlich mit der Frage des Fremden konfrontiert. „Das Fremde ist ein Grenzphäno-men par excellence,“ beginnt Bernhard Waldenfels seine Grundmotive einer Phä- nomenologie des Fremden , und führt fort: „Die Grenzzonen, die sich zwischen den Ordnungen und jenseits der Ordnung ausbreiten, sind Brutstätten des Fremden.“2Ordnungen werden bestimmt durch die Grenzen, die einschließen, was zu ihnen gehört und ausschließen was nicht. Aber, wie Waldenfels gezeigt hat, Grenzzie-hungen sind niemals absolut und begrenzte Ordnungen niemals allumfassend; Relativität und Willkürlichkeit haften ihnen als wesentliche Dimensionen an. Grenzen bestehen nicht einfach, sie werden gezogen von Akteuren, oder ziehen sich selbst in Differenzierungsprozessen. Und dasselbe trifft zu auf das Eigene und das Fremde, die sich stets an Grenzen entlang voneinander differenzieren. Die Grenze verbindet ebenso wie sie trennt, oder sie verbindet, indem sie trennt. Als sie selbst kann die Philosophie die Grenze daher nicht in den Blick nehmen, oder in den Griff bekommen: Wie kann man von einem Differenzierungsgeschehen sprechen, wenn das eigene Sprechen stets das Resultat dieses Geschehens darstellt?

Das Paradox des Fremden dehnt sich damit auf die Grenze aus: Wie das be-nannte, untersuchte, verstandene Fremde nicht das Fremde selbst ist, so entzieht sich die Grenze als „Hyperphänomen“ der direkten philosophischen Thematisie-rung. Alle Phänomenolog*innen, die sich die Frage nach dem Fremden auf radi-kale Weise stellen, haben sich mit der Frage nach den Grenzen der Philosophie beschäftigt und ihre philosophischen „Stile“ können als Antworten auf die He-rausforderungen eines Fremden jenseits der Philosophie begriffen werden – Levi-nas mit seiner „prophetischen“ Wortgewalt, die spielerisch-künstlerischen Provo-kationen Derridas, die vielstimmigen konzeptuellen Bewegungen bei Waldenfels. Die Entscheidung, welcher dieser Stile dem Fremden und der Grenze am meisten gerecht wird, muss nicht/kann nicht endgültig beantwortet werden. Auch han-delt es sich nicht um wesensmäßige Bestimmungen, sondern um Relationen der strukturellen Dominanz3: Der stilistische Vorrang des „Spielerischen“ bei Derrida schließt die Präsenz des „Konzeptuellen“ oder „Prophetischen“ keineswegs aus, und genauso verhält es sich bei Levinas und Waldenfels. Entscheidend ist, dass die philosophische Beschäftigung mit dem Fremden zu kreativen Antworten führt, die sich dem Streben nach Theoretisierung und Systematisierung entgegenstellen und damit die Frage nach den Grenzen zwischen der Philosophie und anderen Disziplinen aufwerfen.

Im Folgenden werde ich mich auf die Kunst konzentrieren, und zwar auf die Performance Art, die mir hier besonders beziehungsreich zu sein scheint. Wenn sich Fremdheit und Grenze dem traditionellen philosophischen Diskurs auf radi-kale Weise entziehen, vielleicht gibt es etwas zu lernen von der Art und Weise wie jene Ausdruck in der Kunst finden? 3 Auftritt: Guillermo Gómez-Peña

Guillermo Gómez-Peña (geb. 1955) ist ein bekannter Performancekünstler, dessen internationale Karriere Ende der 1970er begann, als er von Mexico nach Kalifor-nien kam, um in Los Angeles Kunst zu studieren. Mit seiner Migration nach Nor-den folgte er, wie so viele Mexikaner*innen, anderen Mitgliedern seiner Familie, einen Prozess der Identitätstransformation initiierend, den er als „Chicano-iza-tion“ bezeichnet.4 Gómez-Peña nennt sich selbst einen „Grenzkünstler“ ( border artist ) und der Begriff ist sowohl wörtlich, d. h. hier im räumlichen Sinne, als auch programmatisch gemeint:

Die Zugehörigkeit zu verschiedenen kulturellen Welten wird zur Nicht-Zugehö-rigkeit zu einer spezifischen Welt, zur gelebten Ortlosigkeit im Kontext fortschrei-tender Globalisierung. Gómez-Peñas Kunst kreist um kulturelle und ethnische Hybridität, um persönliche, soziale und politische Identitäten, die sich nicht mehr eindeutig festlegen lassen. In der Gestaltung seiner Performance-Figuren mischt er Symbole indigener Kulturen (z. B. Federkopfschmuck, oder „Aztekisch“ ausse-hende Kronen) mit Paraphernalien populärer mexikanischer und amerikanischer Kultur (z.  B. Ringermasken oder Cowboyhüte), Anspielungen auf die Ästhetik krimineller Gangs (z. B. Kopftücher und Gesichtsmasken) und Repräsentationen touristischer Stereotypen (z.  B. Sombreros, Mariachi-Kostüme). Gómez-Peñas Kreationen tragen Namen wie „Border-Brujo“, „Mex-Terminator“ oder „El-War-rior for Gringostroika“6, und ein Kunstkritiker könnte vielleicht sagen, dass sich im Spiel der widersprüchlichen Elemente die Nicht-Zuordenbarkeit der Figu-ren ausdrückt, die Hybridität jeder Identität im kontemporären Kontext, und damit auch ein Aufruf zum Experimentieren mit neuen, „post-ethnischen“ Identitätsformen. Aber nicht von ungefähr lassen solche Formulierungen einen etwas faden Beigeschmack zurück, da sie, wie wir sehen werden, das ästhetische Phänomen der Performativität verfehlen.

Nach den Maßstäben des Establishments, der „Art World“, erreichte Gómez-Pe-ñas Karriere in den 1990ern ihren Höhepunkt: Er erhielt bedeutende Kunstpreise7und seine Arbeit wurde von einer breiteren Öffentlichkeit wahrgenommen. Be-sonders traf dies zu auf die Performance Two Undiscovered Amerindians Visit … zu, für die Gómez-Peña zusammen mit der Künstlerin Coco Fusco als indigene Bewohner einer kürzlich im Golf von Mexiko „entdeckten“ Insel mit dem Namen „Guatinau“8 posierten. Die Performance präsentierte Fusco und Gómez-Peña als „ethnographische Spezimen“ und lehnte sich bewusst an die kolonialistische Pra-xis der „Völkerschauen“ an. Die Performer verbrachten den ganzen Tag ausgestellt in einem Käfig an verschiedenen öffentlichen Orten, von Natur- oder Völkerkun-demuseen über Kunstgalerien, bis zu Stadtplätzen. Fusco und Gómez-Peña wa-ren überrascht, dass ein signifikanter Teil des Publikums die Performance beim Wort nahm,9obwohl es genügend Hinweise auf ihre Fiktionalität gab: „traditio-nelle Aktivitäten“ der beiden „Guatinauis“ bestanden nicht nur im „Nähen von Voodoo-Puppen“, sondern schlossen auch „Fitnesstraining mit Gewichten“, und „Arbeiten am Laptop“ ein. Die Aufmachung der beiden Künstler karikierte mit ihren Sonnenbrillen, Rasta-Perücken, Baströckchen, und Ringermasken ebenfalls jeden Anspruch auf Authentizität.

Konzeptuell basierte Two Undiscovered Amerindians auf einer Umkehrung der (kolonialistischen, ethnographischen) Perspektive: Hier waren es letztlich die Zuschauer*innen, die dem Urteil der Performer und der breiteren Öffentlich-keit ausgesetzt und damit aufgefordert wurden, sich selbst und ihre Beziehungen zu fremden Anderen in den Blick zu nehmen. Gómez-Peñas Kunst strebt solche Blickumkehrungen an und „reverse anthropologist“ ist daher eine weitere sei-ner Selbstbeschreibungen. Daneben bezeichnet er sich auch als „experimentel-ler Linguist“ und in der Tat spielt die Sprachkunst in seiner artistischen Praxis eine besondere Rolle. In Gedichten, wie dem eingangs zitierten, aber auch in mono-, dia- oder polylogisch Textperformances, vermischt er nicht nur verschie-dene Sprachstile, sondern ganze Idiome miteinander. Die Resultate nennen sich „Spanglish“, „Franglé“ oder „Gringoñol“; darüber hinaus beansprucht Gómez-Pe-ña die Erfindung einer Reihe von „Robo-Languages“ für sich und integriert Glos-solalie in seine Performances.10

Was zunehmend klar wird, wenn man über einen Künstler wie Gómez-Peña und dessen Arbeit schreibt, ist, dass die Beschreibung dem Beschriebenen nicht gerecht wird. Je mehr man schreibt, desto mehr ergibt sich der Eindruck, dass etwas Wesentliches ungesagt bleibt. Performancekünstlerinnen und -theoretiker nähern sich oft diesem Ungesagten an, indem sie die Rolle der körperlichen Prä-senz in den Mittelpunkt rücken. Performance setzt den Körper als künstlerisches Medium ein, und muss „live“ erlebt werden.11 Die sprachliche Beschreibung und Interpretation über-setzt diese Eigenheit der Performance in ein anderes Medium, den Diskurs, und nimmt ihm damit seine Fremdheit. Findet sich dieses Über-schreiten einer Grenze auch im Verhältnis zwischen Kunst und Philosophie? 4 Kunst und Philosophie bei Waldenfels und Langer

In einem Aufsatz mit dem Titel „Hybride Formen der Rede“ nimmt sich Walden-fels direkt dieses Verhältnisses an;12 genauer gesagt spricht er über die konventio-nelle Auffassung der Philosophie als ernsthafte Suche nach der Wahrheit und der Literatur als Spiel mit der Fiktion. Auf der Grundlage einer ausführlichen Unter-suchung des Zitierens als genuiner Präsenz einer fremden Rede in der eigenen (einer „Wieder-gabe“ oder „Wieder-holung“ im Wortsinn), gelangt er zur Diagno-se einer gegenseitigen Durchdringung und Verflechtung: Weder vermag die Phi-losophie ohne literarische Elemente auszukommen, noch kann man der Literatur ohne weiteres jede philosophische Erkenntnis absprechen. Bereits Aristoteles, so Waldenfels, habe im „Liebhaber der Mythen“ den Philosophen erkannt, da beide sich mit dem Erstaunlichen beschäftigten:

Spätestens bei der Erwähnung von „fingierten“ und „erfundenen“ Sprachen kann einem hier Gómez-Peña in den Sinn kommen, mit seinem „Gringoñol“ und „Ro-bo-Esperanto“. Solche offensichtlich „hybride Redeformen“ können für Waldenfels nicht kategorisch aus dem Reich der Philosophie ausgeschlossen werden. Gleich-zeitig wehrt er sich dagegen, die Grenzen gänzlich in einer „Literatenphilosophie“ oder „Philosophieliteratur“ zu verwischen.14 Experimente wie die von Gómez-Pe-ña sind philosophisch und doch sind sie nicht Philosophie. Um die Unterscheidung zu klären, werden wir zurückverwiesen auf die Funktion der Sprache und des Diskurses: Ist es der Philosophie nicht wesentlich, das, was sie umtreibt, anzu-sprechen und zu thematisieren, es direkt in der Sprache zu erfassen? Gleichzeitig jedoch haben wir gesehen, dass dieser Versuch an eine notwendige Grenze stößt, sobald sich die Philosophie mit dem Fremden beschäftigt. Wenn Performance-experimente wie die von Gómez-Peña also philosophisch, aber nicht eigentlich Philosophie sind, die Philosophie aber mit dem Fremden an ihre eigenen Grenzen stößt, gibt es dann etwas, was Performance über Fremdheit ausdrücken kann, das über die Möglichkeiten der Philosophie hinausgeht?

Eine schwierige, vielleicht provokante Frage. Als Antwort bietet sich zunächst die erwähnte Fokussierung der Performancekunst auf den gegenwärtigen Körper und das leibliche Erleben an. Aber wenn Philosophie wesentlich Versprachlichung ist, dann erscheint es nicht produktiv, ihr die Verkörperung als Ideal entgegen-zusetzen. Die Frage ist vielmehr, ob Performancekunst uns etwas darüber lehren kann, wie man Fremdes in der Sprache zur Sprache bringen kann.

Einen ersten Anhaltspunkt kann hier die Unterscheidung zwischen „diskursi-vem“ und „präsentierendem“ ( presentational ) Symbolismus bieten, die sich bei der Philosophin und Semiotikerin Susanne K. Langer findet.15 Zwar nimmt Langers Dis-kussion ihren Ausgang von der logischen Sprachphilosophie (Wittgensteins Trac- tatus , Russell), aber ihre Kritik klingt phänomenologisch: Die Philosophie ist nicht berechtigt, alles, was nicht den Gesetzen der Logik folgt, aus dem Bereich des Sinnes auszuschließen, da diese Logik selbst nach den Regeln des Diskurses, d. h. der Spra-che strukturiert ist. Diskurs, oder „diskursiver Symbolismus“, basiert auf dem Prin-zip der „doppelten Artikulation“, d. h. intern artikulierte Einheiten mit eigenständi-gem Sinn („Worte“) werden nach beschreibbaren Regeln (Syntax) zu strukturierten Einheiten höherer Ordnung (Sätze, Texte) zusammengesetzt. Aus diesem struktura-len Prinzip ergeben sich weitere Besonderheiten, die für den sprachlichen Symbolis-mus charakteristisch sind: die Möglichkeiten der Umschreibung und der Definition, und damit auch der Übersetzung.16 Ein semiotisches System dieser Art eröffnet der Kommunikation große Möglichkeiten, insb. die Denotation des Allgemeinen und Abwesenden, aber erlegt ihr eben auch Begrenzungen auf. Im Besonderen bringt der sprachliche Diskurs die Bedeutungselemente in die lineare Ordnung der Sequenz: in der Äußerung oder dem Satz folgen die verschiedenen Elemente aufeinander, sie ereignen sich nicht simultan, wie dies z. B. in der visuellen Wahrnehmung der Fall ist. Perzeptuelle Simultaneität und Totalität lassen sich daher sprachlich nicht ver-zerrungsfrei ausdrücken. Ebenso wenig allerdings kann die sinnliche Erfahrung als „sinnlos“ abgetan werden, wie dies die logische Sprachphilosophie tut. Wie Merleau-Ponty stützt sich Langer in diesem Punkt auf die Gestaltpsychologie17 und kommt zu ähnlichen Schlüssen: „All sensitivity bears the stamp of mentality.“18 Doch wäh-rend Merleau-Ponty die Fundierungsverhältnisse zwischen Sprache und Wahrneh-mung untersucht, legt Langer das Augenmerk auf deren Unterschiedlichkeit:

Philosophie, als Diskurs und Logos, findet ihre Grenze in der direkten Kommuni-kation sinnlichen Erlebens und der Emotionalität. Deren ganzheitliche und präsen-tische Sinnhaftigkeit erschließt sich allerdings einer anderen Form des Symbolis-mus, der gewöhnlich mit Hilfsbegriffen wie „Intuition“, „Einsicht“ oder „artistische Wahrheit“ bezeichnet wird. Seine reflexive Form findet dieser präsentierende Sym-bolismus in der Kunst, und auf besondere Weise in der Performance Art. 5 Das Fremde in der Performancekunst

Vielleicht kann man es so sagen: Das künstlerische Material der Performance Art ist nicht eine besondere sinnliche Modalität (wie das Sehen in der Malerei, oder die Bewegungserfahrung im Tanz), sondern der Leibkörper als existentiale Totalität. Und ihr Gegenstand ist das Ereignis, oder genauer, sie zielt ab auf eine Reflexion des Sich-Ereignens als Prozess. In diesem Sinne kann man, denke ich, zentrale Merkmale der von Erika Fischer-Lichte ausgearbeiteten „Ästhetik des Performativen“ deuten20. Performancekünstler wie Gómez-Peña schaffen Situatio-nen, in denen den Beteiligten die normalisierenden Antworten des Alltags ver-wehrt bleiben; damit kreieren sie Ereignisse, die involvieren, indem sie intensive Ansprüche an die Teilnehmer stellen, aber von niemandem, auch nicht den Künst-ler*innen in ihrem Verlauf vorhergesagt oder gar kontrolliert werden können. Als Beispiel für eine solche unbestimmte, offene Situation kann die oben beschrie-bene Performance Two Undiscovered Amerindians angeführt werden, die den Zuschauer*innen, welche die Situation als artistisches Konstrukt erkennen, jede Selbstgewissheit verweigert. Schließlich bleibt es dabei, dass da zwei Menschen als Indigene ausgestellt werden und ein signifikanter Teil des Publikums diese Fiktion akzeptiert. Was also tun? Was ist die „richtige“ Antwort?

Fischer-Lichte bezeichnet dieses Organisationsprinzip als „autopoietischen Feedbackloop“: Zum einen werden Performances so konzipiert, dass ihr Sinn sich „selbst-referentiell“ konstituiert, d. h. nicht in einem Bereich außerhalb der Per-formance lokalisiert werden kann. Zum anderen sind sie dynamische Systeme, die sich selbst als Prozesse vorwärtstreiben, indem jedes Phänomen, das im Rahmen der Performance-Situation erscheint, zu deren Definition beiträgt. Der „autopoi-etische Feedbackloop“ operiert nicht nur in der Performance Art, sondern cha-rakterisiert die wesentliche Prozesshaftigkeit des sozialen Lebens, welches sich in offenen, nie völlig überschaubaren Situationen ereignet. Performance kann dann als diejenige Kunstform verstanden werden, die versucht, diese Prozess- und Er-eignishaftigkeit in den reflexiven Blick zu bringen; der autopoietische Feedback-loop soll in der Performance selbst sichtbar werden.

Nicht von ungefähr erinnert die oben verwendete Terminologie von „Anspruch“ und „Antwort“ erneut an Waldenfels’ responsive Phänomenologie, spielt doch das Fremde in Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen eine zentrale Rolle:

Dieses Sich-dem-Verstehen-Entziehen definiert bei Waldenfels die Erfahrung des Fremden und wie bei Fischer-Lichtes Ästhetik steht bei seiner Phänomenologie eine offene Konzeption des Ereignisses im Mittelpunkt. Performancetheorie und Phänomenologie konvergieren im Thema des Fremden. Darüber hinaus erlaubt uns der Begriff des „präsentierenden Symbolismus“ Kunst im Allgemeinen und Performance Art im Besonderen als spezifische Zugangsform zum Fremden zu kennzeichnen. Philosophie nähert sich dem Fremden über den – wesentlich un-zulänglichen – Versuch der Thematisierung; Performance präsentiert das Fremde in Form eines einmaligen, nicht wiederholbaren Ereignisses, das sich dem verste-henden Zugriff entzieht. 6 Gómez-Peña als Philosoph

Wie steht es aus dieser Perspektive mit der Performance Art von Gómez-Peña? Das Werk dieses Künstlers kreist ganz klar um das Verhältnis von Eigenem und Frem-dem, insbesondere um Fragen nationaler, kultureller und sexueller Identität. Ich muss mich aber hier auf eine engere Fragestellung beschränken (25 000 Zeichen!). Das Problem, das ich mir gestellt habe, bezog sich auf Philosophie als thematisie-renden Diskurs, der in der Beschäftigung mit dem Fremden zwangsläufig an seine Grenzen stößt. Das Fremde, so haben wir mit Waldenfels gesehen, gibt sich nur in „hybriden Formen der Rede“, wie dem Zitieren, kund. Anderswo schreibt er, selbst am Ende Merleau-Ponty zitierend22: „Eine Darstellung, die Fremdes zur Darstel-lung bringt, ist nur denkbar als indirekte Rede, die stets mehr und anderes zeigt, als sie sagt, vergleichbar darin den Ausspartechniken einer ‚indirekten Malerei‘.“23

Wenn Philosophie wesentlich in der Sprache stattfindet, so liegt es methodo-logisch nahe, einen Text von Gómez-Peña heranzuziehen, indem dieser sich ex-plizit mit einem Thema beschäftigt, in diesem Sinne sich also der philosophischen Perspektive annähert. Ein solcher Text findet sich in Gestalt des Essays In Defense of Performance 24 , in welchem der Künstler über die eigene Praxis und die Perfor-mance Art allgemein reflektiert. Wie geht er dieses Thema an und lässt sich daraus etwas über die philosophische Beschäftigung mit dem Fremden lernen?

Zunächst lässt sich die präsentische/präsentierende Qualität des Textes fest-stellen: Unterteilt in drei Themenfelder25 besteht er hauptsächlich aus 30 numme-rierten Sektionen, die oft ohne Verbindung aufeinanderfolgen, daher konzep-tuell nebeneinanderstehen. Die verwendeten Textstile sind überaus heterogen: Theoretische Überlegungen eher konventionellen Typs (z.  B. Sektion I, III, VI) wechseln sich abrupt ab mit persönlichen Bekenntnissen und Erinnerungen, letz-tere manchmal formal abgehoben als kursiv gesetzte Selbstzitate aus Tagebüchern (z. B. XIV, XVI). Vier der Fragmente schildern Traumerfahrungen, eines davon trägt den Titel „Dreaming in Spanish“:

Wie könnte eine adäquate „Wiedergabe des Arguments des Textes“ in diesem Fall aussehen? Gómez-Peña bezeichnet seinen Text als Hybrid zwischen „Essay and Chronicle“, und Hybridität lässt sich hier durchaus im Sinne von Waldenfels ver-stehen. Nicht nur die – für die englischen und deutschen Leser*innen – Fremd-sprache Spanisch findet sich hier vorgetragen von Gómez-Peñas früherem Selbst, sondern auch die Stimmen von Kolleg*innen und Gesprächspartner*innen wer-den vielfach hörbar. Gómez-Peña zitiert aus E-Mails von Reviewern und schließt Kommentare von Herausgeber*innen27 ein auf eine Weise, dass diese fremden Reden zum integralen Bestandteil des Textes werden. In der vorletzten Sektion des Textes (XXIX) wird das Dia- oder Polylogische zum expliziten Darstellungs-prinzip in Gestalt eines „typischen Interviews“ mit einem „mainstream“ Journa-listen.28 Obwohl Gómez-Peñas Stimme unverwechselbar durchklingt, ergibt sich der Eindruck einer kollektiven, vielstimmigen und vielsprachigen Autorenschaft, eines „Wir“, dem sich das „Ich“ des Künstlers verdankt.

Dazu gäbe es viel mehr zu sagen, aber worauf es mir in Bezug auf das Verhält-nis zwischen (Performance-) Kunst und Philosophie (des Fremden) ankommt, ist die „performative“ Qualität, die aus dieser orchestrierten Vielstimmigkeit hervor-geht. Durch Einsatz von Stilmitteln wie dem oben zitierten Übergang ins Spani-sche – d. h. wenn die Sprache genau das tut , was sie eben gesagt hat – wird bei den Leser*innen die Erfahrung erzeugt, dass sich der Text vor ihren Augen abspielt; mit anderen Worten, der Text wird zum Ereignis , zum polylogen Prozess, in dem man durch das Lesen teilnimmt. Dem kann man aus rezeptions-hermeneutischer Perspektive sicherlich entgegnen, dass dies auf jeden Text zutrifft; aber nicht in je-dem Text wird versucht, die Performativität selbst zum Gegenstand der Reflektion zu machen. Bei Gómez-Peña wird diese Selbst-Reflexivität zum künstlerischen Prinzip: Wie bei vielen Texten in seiner Anthologie, findet sich am Anfang von In Defense of Performance der Hinweis, dass der Text sich im Prozess kontinuier-licher Veränderung befindet; dazu passt auch sein Ende: „Like performance, this text is incomplete and will continue to change in the coming months and years. A warrior without glory, I turn off my computer …TO BE CONTINUED …“29

In Fischer-Lichtes Terminologie können wir sagen, dass Gómez-Peña intendiert, den „autopoietischen Feedback Loop“ selbst sichtbar zu machen, und damit seinen Text zur Performance, die erlebt werden muss, aber nicht verstanden werden kann. Der Text zeigt also etwas, was sich zugleich entzieht, oder, um mit Waldenfels zu spre-chen, in ihm zeigt sich etwas, indem es sich entzieht , d. h. eine schillernde Fremdheit. 7 Epilog Was kann die Philosophie von der Art und Weise lernen, wie das Fremde in der Performance Art von Künstlern wie Guillermo Gómez-Peña zur Sprache kommt? Zu zeigen, dass sie etwas lernen kann, war das Anliegen dieses Essays. Darzu-legen, was genau dies ist, würde einen anderen, viel längeren Text erfordern (die Länge dieses Texts hier bereitet mir bereits Sorgen: „28 415 and counting“, sagt der Zähler). Zwei Dinge erscheinen mir sicher: 1. Die Philosophie des Fremden darf sich dem Spielerisch-Experimentellen der Kunst nicht verschließen; und 2. die Be-schäftigung mit den literarisch-performativen Dimensionen der Philosophie ist legitimer Bestandteil der Phänomenologie des Fremden.

TO BE CONTINUED …

Lukas Flint , Fotoprojekt „exploring lost places“, Eberswalde 2021.

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Melanie Reichert
Zur Pharmakologie der Grenze: Eine kulturphilosophische Perspektivierung

Das Denken Roland Barthes’ ist geprägt von der kritischen Reflexion einer klassi-fizierenden und damit eingrenzenden Rationalität. Mit seinen Mythen des Alltags legt er eine Kritik an der bürgerlichen Doxa vor: Als Form epistemischer Herr-schaft zensiert diese abweichende Möglichkeiten von Weltinterpretation und Subjektwerdung. Einen entscheidenden Quellpunkt dieser Kritik stellt die his-torische Erfahrung des Faschismus dar. Wie vor ihm Theodor W. Adorno und Max Horkheimer sieht er einen Zusammenhang zwischen faschistischem Denken und essentialisierender Setzung. Damit stellt sich auch hier die Frage nach der Möglichkeit einer Philosophie nach ’45: Gegen die potentiell faschistoiden bürger-lichen Setzungen fokussiert Barthes’ Denken auf Dynamisierung und Entgren-zung. Davon zeugen sowohl seine Mythologie als auch seine späten ästhetischen Schriften. Diese Versuche der Entgrenzung treten allerdings in ein spannungs-volles Verhältnis zu zwei entscheidenden Einsichten, die Barthes eher am Rande formuliert: Zum einen muss Kultur als Zugleich von „Grenze und Station“1, von Immanenz und Transzendenz beschrieben werden. Zum anderen stellt das kul-turelle Formungsgeschehen, seine Dynamik, selbst eine unhintergehbare Grenze dar. Ein Heraus aus diesem Schaffensprozess gibt es nicht.

Ausgehend davon werde ich die Idee einer poietischen Verantwortlichkeit ent-wickeln. Diese bekennt sich zum untilgbaren Risiko kultureller Setzung und da-mit zu den Grenzen ideologiekritischer Entgrenzungsstrategien. Deren Fallstricke zeigen sich derzeit auf prägnante Weise: Wer entscheidet, welche Grenzen auf-gelöst werden sollen? Und kann es Kultur ohne die ambivalenten Eingrenzungen des Selbstverständlichen, das zum einen hegemonial wirkt, zum andern aber auch von Ausdrücklichkeit befreit, überhaupt geben? Diese Ambivalenzen möchte ich abschließend im Sinne einer Pharmakologie kultureller Formung in den Blick nehmen. 1 Grenze und Station

Ich werde zunächst Barthes’ Verschränkung von Sprach- und Kulturphilosophie darstellen. Schon in Am Nullpunkt der Literatur nähert er sich den Phänomenen Sprache und Literatur über das metaphorische Feld der Grenze: Die Sprache, so Barthes, bildet den „Corpus an Vorschriften und Gewohnheiten“2 einer schrift-stellerischen Epoche. Sie ist kein „Materialvorrat als vielmehr ein Horizont“3. Dieser Sprachbegriff umfasst nicht nur den wörtlichen Ausdruck: Sprachen bil-den eine stetig wachsende Schicht von Gewohnheiten und beständig aktualisier-ten Übereinkünften, einen Horizont des überhaupt semisch Repräsentierbaren.4

Die beständige Wiederholung garantiert die Verständlichkeit und damit die Tauglichkeit der Sprache. Der Akt des Sprechens konstituiert dabei unmittelbar den Horizont des Wirklichen und Möglichen. Weil der benannte Gegenstand aber nicht vollständig repräsentiert werden kann und keine Situation so ist wie die an-dere, handelt es sich immer um eine abweichende Wiederholung: Der Horizont verschiebt sich.

Für Barthes sind Sprache und Kultur untrennbar verknüpft: „Was ist Kultur? Ein Streufeld von Sprachen“5. Auch Kultur ist demnach ohne das Zugleichvon ‚Grenze und Station‘, von Immanenz und Transzendenz nicht denkbar. Barthes’ ideologiekritischer Entwurf verschränkt daher Kulturphilosophie und Zeichen-theorie. Diese Verschränkung zeugt von der nietzscheanisch geprägten Einsicht, dass der Mensch der Moderne weder von Gott noch aus der Natur her Orientie-rung beziehen kann. Er muss sich seine Welt selbst zurichten, seine wesentliche Tätigkeit ist „ein Neu-Interpretieren, ein Zurechtmachen“6.

Kultur erscheint als Prozess dieses Zurechtmachens: Sie ist eine Praxis des Um-gangs mit Situationen auf der Basis von Zeichensystemen und damit der episte-mischen Einhegung.7 In der Tradition eines prozessualen Kulturverständnisses8sind für Barthes die Einhegungsbewegungen der Kultur niemals abgeschlossen. Da die Hoffnung, Zeichen und Bezeichnetes dabei endgültig zur Deckung zu brin-gen, von ihm verworfen wird, sind alle Repräsentationsbemühungen als ambiva-lent zu charakterisieren: Sie sind letztendlich vergeblich, aber doch zureichend zur Bewältigung alltäglicher Situationen. In dieser ambivalenten Behelfsmäßigkeit von Repräsentationssystemen liegt eine entscheidende Pointe, auf die ich zurück-kommen werde. Der im Übrigen alte Verdacht9, dass unsere Repräsentationssys-teme immer unzureichend sind, informiert auch die Machtkritik der Mythen des Alltags : Für Barthes bedeutet Ideologie, die Behelfsmäßigkeit und damit Verän-derbarkeit semischer Grenzsysteme zu verschleiern. 2 Mobilisierung der Grenzen

Der Zentralbegriff der barthes’schen Ideologiekritik ist der Mythos: Er defi-niert eine „Art und Weise“ des Aussagens10, die Selbstverständliches, die Doxahervorbringt. Diese lässt Kultur als Natur erscheinen und hat die Funktion, die Möglichkeiten des Denk- und Sagbaren in einer Kultur einzugrenzen. Hierin liegt der „ideologische Missbrauch“11 des Mythos. Als vornehmliche sprachliche Stra-tegie der „Bourgeoisie“12 verhindert er die Veränderung von Menschen und Zu-ständen. Er ist dabei aber nicht das Ergebnis durchgehend bewusster Entscheidun-gen. Bei aller Machtkritik betont auch Barthes eine eigentümliche Pragmatik der Stillstellung, die Alltäglichkeit generiert und so automatisch jenen zugutekommt, die herrschen: „Die Menschen stehen zum Mythos nicht in einer Beziehung der Wahrheit, sondern des Gebrauchs.“13

Beim Mythos handelt es sich um eine Erzählung14 von der Ewigkeit der Be-deutung. Die gezogenen Grenzen und die sich hierin artikulierenden Wertesys-teme ermöglichen Orientierung: Der Mythos „organisiert eine Welt ohne Wi-dersprüche […] er begründet eine glückliche Klarheit.“15 Darin begründet sich auch seine strukturelle Nähe zum übersteigerten, essentialisierenden Klassifika-tionsstreben der faschistischen Ideologien: „Statistisch gesehen, ist der Mythos rechts“.16

Das Selbstverständliche besteht bei genauerer Betrachtung aus einem dialekti-schen Spiel aus Grenzziehung und Entgrenzung: Es wird eine Scheingrenze einge-zogen – die Abgeschlossenheit der Weltinterpretation –, um eine reale Grenze – die Situiertheit des Sprecher*innensubjekts – zu verschleiern. Das Selbstverständliche behauptet die epistemische Grenzenlosigkeit der Sprecher*innen sowie die uni-versale Übertragbarkeit und Überzeitlichkeit der Aussagen. Die Stütze hierfür bietet klassischerweise die Vorstellung einer natürlichen Ordnung oder die des Menschen als überzeitlicher Größe. Für Barthes müsste es aber umgekehrt sein: Die Welt ist unberechenbar und der Mythos ist eine Form begrenzender und be-grenzter Rationalität.17

Interessanterweise impliziert Barthes’ Theorie, dass es sich beim Selbstver-ständlichen sowohl um ein Übel als auch um eine Leistung handelt. Diese Am-bivalenz deutet Barthes vage an, indem er vom ‚ideologischen Missbrauch‘ des Mythos schreibt und damit einen möglichen Ge-brauch impliziert: So ist die Doxa das Fundament der Alltäglichkeit, indem sie Ausdrücklichkeit überflüssig macht. Sie erfüllt also eine immense Entlastungsfunktion. Hierin liegt, so denke ich, der Grund dafür, dass das Selbstverständliche so widerstandsfähig ist. Die Gewalt wie das Argument können gegen es nichts ausrichten, dafür ist es zu ätherisch. Die Verkennung seiner Vorläufigkeit zeichnet es aus. In dieses Arkanum eingeweiht zu sein bedeutet, sich ohne Reflexionsanstrengung zurechtzufinden und dabei die Grenzen des Selbst wie der Welt nicht zu bemerken.

Die ideologiekritische Strategie Barthes’ setzt genau hier an. Der Mytholo-ge überschreitet die Grenzen der Doxa. Gleich dem Ethnologen18 hat er gelernt, wieder zu staunen: „Ich kann mich über diesen Sachverhalt nur dann wundern, […] wenn ich vom Zustand des Lesers des Mythos zu dem des Mythologen über-gehe.“19 Ein anschauliches Beispiel hierfür stellt die bourgeoise Weinprobe dar.20Der Mythologe analysiert die Weinprobe in ihrem Funktionieren als mythisches Ritual, das die Werte wie ‚Güte‘ und ‚Geschmack‘, auf die es sich beruft, mither-vorbringt und zum andern der Abgrenzung zu den ‚Unkultivierten‘ dient. Indem der Mythologe diesen Mechanismus semiologisch offenlegt, interveniert er. Er zeigt damit die potentielle Veränderbarkeit von Werten und Bedeutungen, die Verschiebbarkeit kultureller Grenzen.

Das mythologische Verfahren kommt indes sowohl systematisch als auch histo-risch an seine eigenen Grenzen: Zum einen ist jede Form der Kritik untrennbar mit einem kulturellen Horizont verknüpft: Sie braucht ein verständiges Publikum, funktioniert also nur innerhalb bestimmter epistemischer Räume. Zum andern kann der Traum der Grenzenlosigkeit selbst zum Mythos verkommen. Dies ge-schieht konkret die Einhegung der barthes’schen Mythologie in den akademi-schen Kanon im Laufe der 1960er Jahre. Sie wird zur akademischen Routine, zur Selbstverständlichkeit eines bestimmten Milieus.

Hinzu kommt, dass auch der Mythologie die Setzung immanent ist: Was se-miologisch analysiert werden soll, welche und wessen Grenzen mobilisiert werden sollen, will erst einmal entschieden werden. Die Mythologie ist also im „kultur-kritische[n] Paradox“21 gefangen: Sie muss die Kriterien ihrer Kritik selbst hervor-bringen und kann ihre Autorität von keiner überzeitlichen Instanz mehr beziehen.

Damit wird die Mythologie zu einem Verfahren schöpferischer Kritik. Der Mythologe greift mit der Wahl seines Analysegegenstandes weltanschaulich ein und lässt ihn aus einer bestimmten Perspektive erscheinen, verwandelt ihn also epistemisch. Auf ‚Dieses‘ zu zeigen, und nicht auf ‚Jenes‘ stellt daher bereits einen interessegeleiteten Akt dar, der aber als solcher in den Mythen des Alltags nicht transparent gemacht wird. Das bedeutet, dass auch hier das vormoderne Phantas-ma eines archimedischen Punktes nicht völlig verabschiedet wird, eines Punktes also, der außerhalb jedes epistemischen Grenzsystems imaginiert wird.

In späteren Schriften jedoch zieht Barthes seine Schlüsse aus diesen Aporien: „Es ist unmöglich, eine Nicht-Kultur zu praktizieren. Kultur ist ein Schicksal, zu dem wir verdammt sind“22. Hatte er vormals die Dynamik kultureller Begren-zungen betont, ergibt sich daraus nun eine scheinbar paradoxe Figur: Das Grenz-ziehen selbst wird zur unhintergehbaren Grenze. Ein Herausaus diesem Prozess gibt es nicht.

Implizit – vor allem auf methodologischer Ebene – wirft Barthes die Frage nach der Möglichkeit von Philosophie nach ’45 auf. Zugespitzt: Als im Kern klassifizie-rende, daher tendenziell essentialisierende Form entgeht auch sie nicht der Gefahr des Faschistoiden. Es stellt sich damit die Frage, warum Barthes ihr überhaupt noch verpflichtet bleibt. Ich denke, dass sein Werk angesichts dieser Frage als Fi-gur23 einer fundamentalen Einsicht aufgefasst werden kann: Indem er mit Philo-sophie gegen Philosophie angeht, enthüllt sich über seine spezifischen Gedanken hinaus ein entscheidendes Charakteristikum von Kultur, das ich mit dem Begriff des Pharmakons fasse – sie ist Gift und Medizin zugleich.24

Der Gedanke der fundamentalen Ambivalenz ist seit Jean-Jacques Rousseau Teil des philosophischen Nachdenkens über Kultur. Er schreibt: „So fließen das Gute und das Böse aus derselben Quelle, aber das Maß ist nicht für alle dasselbe.“25 Auch Barthes’ Diktum, dass ‚Kultur ein Schicksal‘ ist, möchte ich an diese Tradition anschließen: Wir sind zum Schaffen verdammt, können aber die Konsequenzen niemals ganz absehen. Wir wissen nicht, ob das, was als Ausdruck von Humanität gedacht war, letztlich zu ihrer Abschaffung beiträgt. Wie alle Techniken sind auch die der Mobilisierung von Grenzen per se neutral.26 Sie sagen uns nicht, welche kulturellen Vorstellungen einer solchen Operation unterzogen werden sollten. Ist nicht auch die Idee der Menschenwürde ein Essentialismus, der subvertiert wer-den kann und wird?

Die Aporien seiner Ideologiekritik kompensiert Barthes, so denke ich, schließ-lich dadurch, dass sein späteres Denken die Ebene des Signifikanten und damit des sinnlich Konkreten fokussiert, denn „das [sinnliche] Detail ist […] ein sub-versives Mittel gegen den Mythos der Unendlichkeit“.27 Späte Essays wie Die helle Kammer oder Die Lust am Text zeigen die immanente Subversionskraft des Äs-thetischen. Mit Motiven wie der ‚Rauheit‘ oder dem ‚Punctum‘ wird das Phäno-men bezeichnet, dass sich sinnliche Details ganz plötzlich ihrem eingrenzenden Verwendungszusammenhang entziehen und in ihrer materiellen Beschaffenheit lustvoll auffällig werden:

Mit seinen fetischistischen Phänomensammlungen verweist Barthes performa-tiv auf die eigene fundamentale Begrenztheit. Die ästhetische Anziehung, die eine Form der Bewertung ist, ist nämlich abhängig von der körperlichen und ge-schichtlichen Jeweiligkeit des*der Wahrnehmenden, die immer schon an einen kulturellen Horizont zurückgebunden ist.29 Sie offenbaren also die eigene kultu-relle Versehrtheit.

Für die philosophische Kulturkritik heißt das: auch sie befindet sich im Dialog mit der Welt, und der*die Kritiker*in verfällt unter ganz konkreten Bedingungen der Materialität. Die prinzipielle Loslösbarkeit ästhetischer Phänomene von der erwarteten Bedeutung macht, so muss geschlossen werden, auch vor der Philo-sophie nicht halt: Auch prädikatenlogische Aussagen können dieser Subversion zum Opfer fallen – man kann sich unabhängig von der Aussage im Klang eines Satzes verlieren.30

Barthes’ Philosophie enthüllt hier die epistemische Inkommensurabilität des Kulturellen selbst. Es bleibt immer ein Rest, mit dem sich nicht umgehen lässt, der sich nicht zur Identifikation, Orientierung eignet oder kurz: sich nicht eingrenzen lässt. Worin aber gründet das spannungsvolle Verhältnis von Kultur und Grenze? Die Betrachtung der werkimmanenten Tektonik der Philosophie Barthes’ erlaubt folgenden Schluss: Die Basis sowohl der Mythologie als auch der späteren ästheti-schen Schriften bildet ein Wissen um die ästhetische Verfasstheit des Kulturellen. Der Gegenstand entzieht sich aufgrund seiner singulären Beschaffenheit immer ein stückweit unserem Zugriff. Seine Ästhetizität begründet damit die potentielle Verschiebbarkeit kultureller Bedeutungsgrenzen.31

Kultur wird hier vor allem als ein ästhetisches System vorgestellt, nicht als ein Wissenssystem. Es manifestiert sich in materiellen Objekten, Assoziationen, In-tuitionen, Reflexen und Emotionen. Als ästhetisches System erzeugt Kultur auf letztlich unberechenbare Weise Verbindlichkeiten, die sich trotz ihrer Werkför-migkeit der gezielten Konstruktion entziehen können.

Weil sie ein ästhetisches System ist, kann Kultur Grenze und Station zugleich sein. Die damit begründete Risikohaftigkeit befällt, wie gesagt, auch die Philosophie. Daraus muss dann ihre unmögliche Neutralität gefolgert werden, um die auch Barthes wusste. Deshalb zeigt er in seinen späten Schriften sein Verfallensein an die Welt: Der Philosoph wählt den Gegenstand, ohne diesen Vorgang zu verschlei-ern. Damit gibt er sich preis.32

So vollzieht Barthes performativ eine entscheidende Wendung, die ich im Be-griff der ‚poietischen Verantwortlichkeit‘ fasse. Deren Gehalt lässt sich mit Ernst Cassirer verdeutlichen: In seinem Aufsatz Die ‚Tragödie der Kultur‘ reagiert dieser auf Georg Simmel. Für Simmel ist der Mensch als tragischer Held Opfer seiner eigenen Hervorbringungen. Diese unterjochen, als Ablagerungen der Vergangen-heit, die Lebendigkeit des Individuums in seinem Jetzt- und Sosein. Cassirer kor-rigiert Simmel, indem er die Transitivität des Werkförmigen betont: „Es ist kein ‚Absolutes‘, an welches das Ich anstößt, sondern es ist die Brücke, die von einem Ich-Pol zum andern hinüberführt. […]   Der Lebensprozess der Kultur besteht eben darin, da? sie in der Schaffung derartiger Vermittlungen und Übergänge uner-schöpflich ist.“33

Vor der Werkförmigkeit der faits culturels gilt es nicht zu resignieren, sondern sie will als Chance ergriffen werden.34 Dabei bekennt sich poietische Verantwort-lichkeit zum untilgbaren Risiko kultureller Setzung und damit zu den Grenzen der Ideologiekritik und ihrer Entgrenzungsstrategien. Da wir die Wahrheit eines Gegenstandes nicht erkennen können, bleibt uns nichts anderes übrig als ihm Bedeutung zu geben – eine Grenze zu ziehen, und sei sie auch noch so proviso-risch. Bedeutung zu geben statt Wahrheit zu behaupten ist die anspruchsvolle Aufgabe, die uns der Gedanke der poietischen Verantwortlichkeit nahelegt. Das Eingeständnis, dass wir solche Grenzen ziehen müssen, trägt dann der Frage der Redlichkeit Rechnung, die durch die oben beschriebenen Aporien aufgeworfen ist.

Barthes’ Philosophie erlaubt eine doppelte Reflexion: selbst ein Pharmakon, geht sie mit ihrer methodischen Tektonik genau jenes Risiko ein, das sie auf-zeigt.Dadurch ermöglicht sie es, den Abschied vom Fetisch begrifflicher wie moralischer Reinheit und Kontrollierbarkeit zu imaginieren. Beide sind, so muss nun befunden werden, immer noch dem Phantasma der Grenzenlosigkeit verfallen. Barthes’ Denkweg erscheint somit als Exemplum einer Philosophie, die sich im Sinne der poietischen Verantwortlichkeit über sich selbst aufklärt und die, wie der Gedanke der Humanität, in dessen Dienst sie stehen will, ohne Wertschätzung des Unsauberen, des Schuldhaften, der Grenzziehung nicht zu haben ist.

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Christian Rößner
„gerade auf der Grenze alles erlaubten Vernunftgebrauchs“ (Prol, A 174) – Kants Vernunftkritik als liminale Philosophie

An einer Schlüsselstelle der Kritik der reinen Vernunft spricht Kant vom „Land der Wahrheit“ als einer „Insel“: Umspült wird der „Continent unserer Erkenntnisse“ vom ungeheuren Meer der Metaphysik, „einem weiten und stürmischen Oceane“. Zur Kontrolle dieser Küste hat Kant den Leuchtturm der Kritik in die Königsber-ger Bucht gebaut. Der folgende Text präsentiert sein Denken als eine Philosophie der Grenze.1

Die zu beleuchtende Passage steht an einer systematisch kardinalen Scharnier-stelle, nämlich an der Schwelle des Übergangs von der transzendentalen Analy- tik in die transzendentale Dialektik , d. h. im dritten Hauptstück der Analytik der Grundsätze oder Transscendentalen Doctrin der Urtheilskraft , wo – so die Über-schrift – „Von dem Grunde der Unterscheidung aller Gegenstände überhaupt in Phaenomena und Noumena “ die Rede ist. Dort heißt es:

In einer metaphorisch ausgeschmückten, sinnbildhaften Anschaulichkeit, die dem vermeintlich bloßen Begriffsakrobaten viele vielleicht gar nicht zugetraut hätten, findet Kant mit der Insel als dem von einem uferlosen Meer umspülten Festland der Wahrheit ein sprachlich wie sachlich überaus reizvolles Bild,3 das in sich zentrale Aspekte dessen brennpunktartig zu bündeln versteht, was Kant als jene Kritik der Metaphysik entwirft, mit welcher er zugleich eine Metaphysik der Kritikformuliert.4 Der Seefahrer, von dem Kant in der Physischen Geographie zu berichten weiß, dass er „die Prospecte der Küste, alle Tiefen des Meeres an allen Orten, die Beschaffenheit des Ankergrundes, die Klippen [und] Brandungen“5kennen muss, und dessen seltsam wasserscheue Allegorie sich nun in ein meta-physisches Abenteuer verstrickt findet, mit dem dieser philosophische Seefahrer ebenso wenig jemals erfolgreich abschließen wie er jemals erfolglos von ihm ablas-sen könnte, ist kein anderer als Kant selbst,6 der von sich selber sagen sollte, gera-dezu schicksalhaft in die holde Metaphysik „verliebt zu sein“, ob er sich gleich von dieser gnädigen Frau „nur selten einiger Gunstbezeugungen rühmen“ könne.7Dieses sonderbare Los der einseitigen, ebenso schüchternen wie völlig nüchternen Vernunft-Verliebtheit in eine Metaphysik, die in ihrem spröden Charme ihrerseits so wenig zugänglich ist, dass alle theoretisch-verstandesmäßigen Annäherungs-versuche in jener allenfalls asymptotischen Approximation verbleiben müssen, die den Grenzwert ihres Strebens frühestens im Unendlichen erreicht, spiegelt jedoch freilich nicht Kants amouröses Privat-Dilemma, sondern reflektiert das „beson-dere Schicksal“8 der menschlichen Vernunft schlechthin und überhaupt. Nach der „Vorrede“ zur A-Auflage der ersten Kritik besteht dieses sonderbar-besonde-re Schicksal unserer Vernunft nämlich eben genau darin: „daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann, denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft“.9 Der Vernunft Verwie-senheit auf eine solche Notwendigkeit des uns Unmöglichen lässt der Metaphysik zwar zum Sterben noch zu viel, ist zum vollen spekulativen Leben aber natürlich viel zu wenig.

In die „Verlegenheit“10 dieser Verliebtheit, in dieses Dilemma einer parado-xerweise konstitutiven Selbstüberfragung und Selbstüberforderung der Ver-nunft gerät sie nach Kant „ohne ihre Schuld“:11 So heißt es in unmittelbarem Anschluss an das bereits wiedergegebene Zitat aus der „Vorrede“ zur Kritik der reinen Vernunft :

Diesen Streit, der weniger ein Zwist zwischen philosophischen Schulen und Par-teien ist, als vielmehr ein sich insbesondere in den Antinomien artikulierender Widerstreit der Vernunft mit sich selber,13 welche, wenn ihr der von Kant eben so genannte kriteriale „Probirstein der Erfahrung“, d. h. die sinnliche Anschauung qua Erfahrungsgrundlage aller Verstandeserkenntnis und empirischen Wissen-schaft abhandenkommt, etwa ebenso die Thesis von der zeitlichen wie räumlichen Endlichkeit der Welt zu beweisen oder argumentativ zu begründen versteht wie die dieser Behauptung direkt opponierende Antithesis von ihrer raum-zeitlichen Unbegrenztheit14 – diesen end-, da kriterienlosen und also ebenso ergebnislosen Streit zu schlichten und auf dem „Kampfplatz“ der Metaphysik durch die Diplo-matie der Dialektik zumindest eine Art Waffenstillstand des Dogmatismusver-zichts zu erwirken, ist Sinn und Zweck aller Kritik nach Kant, wo die Vernunft mit sich in jenes Gericht geht, das sie wiederum selbst ist.

Als „Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft “15 ist kantisch-kritische Metaphysik, in der sich die Kritik der klassischen Metaphysik qua dog-matistischer Hyperphysik und eine neue, andere, vom Primat der praktischen Vernunft inspirierte und darum als „praktisch-dogmatisch“16 apostrophierte Metaphysik der Kritik zur Unteilbarkeit verschränken, einerseits gehalten, den Limes der Legitimität aller Erkenntniserweiterung zu respektieren und also „die Grenze des Bodens, worauf allein dem reinen Verstande sein Spiel erlaubt ist“17, nicht zu überschreiten, d. h. eben das kleine Eiland der Wahrheit, die „Insel“ der Immanenz möglicher Erfahrung, nicht in Richtung „Meer“ auf eine Metaphy-sik des Übernatürlichen hin zu überfliegen, um andererseits aber auch der von Kant so genannten metaphysischen „Naturanlage“18 der menschlichen Vernunft Rechnung tragen zu müssen. Als autochthoner Bewohner jener Insel, über deren Strand gleichsam ein transzendentales Badeverbot verhängt ist, versteht sich der Verstand, um in Kants eigenem Bild zu bleiben, als „notorische[r] Nichtschwim-mer“19, der mit „Beharrung auf der Residenzpflicht des Cogito-Besitzers […] sich dem Ozean entgegenstemmt“20, um dem Untergang im uferlosen Meer unkriti-scher Metaphysik zuvorzukommen, doch weiß die Vernunft: navigare necesse est  – „Auf die Schiffe, ihr Philosophen“21! Seefahrt muss sein, oder in Kants Wor-ten:22 „Es ist wahr: wir können über alle mögliche Erfahrung hinaus von dem, was Dinge an sich selbst sein mögen, keinen bestimmten Begriff geben. Wir sind aber dennoch nicht frei vor der Nachfrage nach diesen, uns gänzlich derselben zu ent-halten; denn Erfahrung thut der Vernunft niemals völlig Gnüge“.23 Über mögliche Erfahrung kommt der Verstand ebenso wenig hinaus, wie die Vernunft mit mög-licher Erfahrung auskommt.

Indem Kant den Grenzposten der Kritik bezieht, nimmt er eine im Wortsinne inter-essierte Zwischenstellung ein auf jener Schwelle, welche die „Verknüpfung dessen, was wir kennen, mit dem, was wir nicht kennen und auch niemals kennen werden“,24 dadurch zu leisten versteht, dass sie einerseits einer endlichen Erfah-rungserkenntnis, welche die Empirie der Erscheinung, die sie schaut, nicht selbst schafft, es verwehrt, zu einer hyperphysischen Ordnung ontologischer Objektivi-tät sich zu erweitern – so das Resultat der transzendentalen Analytik  –, andererseits aber dem Denken – so dann das Resultat der transzendentalen Dialektik  – zugleich auch den öffnenden Ausblick in eine Sphäre des Suprasensiblen gewährt, wo den Ideen als regulativen Prinzipien von heuristischer Funktion und problematischer Geltung, wo den Ideen also als immerhin nicht-unmöglichen intelligibilia eine ei-gentümliche Semi-Affirmation zukommt, deren modale Valenz im theoretischen Urteil weder apodiktisch noch auch nur assertorisch sein kann, aber als das para-doxale Proprium einer „Metaphysik der Probleme“25 gelten muss.26

Kant steht am Strand wie ein Leuchtturm am Ufer seiner kleinen Wahrheits-insel, um wohl durchaus nicht ohne alle Sehnsucht nach spekulativer Schiff- und Seefahrt auf jenes weite Meer des Übersinnlichen hinauszusehen, auf das hinaus-zugehen aber insofern unmöglich ist und bleibt, als es keine maritime terra gibt und eine solche, wenn es sie gäbe, nicht allein terra incognita wäre, sondern immer incognoscibilis bliebe. Mit Kants Königsberger Küstenlinie sind folglich ganz ge-nau die Grenzen möglicher Erfahrung markiert,27 außerhalb deren die Vernunft buchstäblich den Verstand verliert, da dessen Kategorien nun nicht mehr greifen,28das vermeinte Noumenale im Nebel des Numinosen sich verliert und die klaren Konturen der Objektivität verschwimmenzu einer regio dissimilitudinis der ho-hen See. Wo der Verstand nichts verloren, da kein Land zu gewinnen hat, fürchtet Kant, Vernunft könnte mit dem festen Grund und „Boden der Erfahrung“29 unter dessen Füßen diesen ihren Verstand gleich ganz verlieren, wenn sie denn „un-vermerkt von dem Felde der Sinnlichkeit auf den unsicheren Boden reiner und selbst transscendentaler Begriffe“ gerät, „wo der Grund ( instabilis tellus, innabilis unda ) […] weder zu stehen, noch zu schwimmen erlaubt“.30 Doch die Konsequenz aus der kritischen, und d. h. nach Kant: demütigen31 Einsicht, dass „ noumenorum non datur scientia “,32 dass nach drüben und draußen – mit Goethe gesprochen – „die Aussicht uns verrannt“33 ist und wir also von den Dingen an sich, die wir mit Notwendigkeit denken müssen, die wir im regressiv-prosyllogistischen Ausgriff der Vernunft auf „absolute Totalität“34 oder die unbedingte Bedingung alles Be-dingten nicht nicht denken können, nun einmal nichts wissen können im Sinne objektiver, gegenstandsbezogener, erfahrungsbasierter und in der Anschauung der Sinnlichkeit fundierter Erkenntnis – diese Konsequenz besteht nach Kant nun nicht darin, die noumena aufzugeben, sondern vielmehr darin, die scientia , das Wissen aufzuheben, um nach den berühmten Worten der zweiten „Vorrede“ zur ersten Kritik zu einem Glauben „Platz zu bekommen“,35 als dessen Gegenstände die intelligiblen Instanzen Rettung und Rehabilitierung erfahren, indem sie nach ihrer Verbannung vom insularen Festland der Erkenntnis gewissermaßen in ei-nen anderen epistemologischen Aggregatzustand versetzt werden und nunmehr über den δεύτερος πλοῦς36eines zwar objektiv unzureichenden, subjektiv aber hinreichenden Fürwahrhaltens37 gedanklich eingeholt werden können: „Auf sol-che Weise bleibt uns nach Vereitelung aller ehrsüchtigen Absichten einer über die Grenzen aller Erfahrung hinaus herumschweifenden Vernunft noch genug übrig, daß wir damit in praktischer Absicht zufrieden zu sein Ursache haben“.38

Mit diesem kantischen Zitat und Zwischenfazit zufrieden uns zu geben haben wir Ursache noch nicht ganz. Denn was bisher vorgestellt worden ist, war ein sehr geraffter, daher gewiss in vielem noch näherhin erläuterungs- und mannigfach ergänzungsbedürftiger Überblick über die einigermaßen paradoxe Problemkon-stellation von Kants metaphysischer Kritik der Metaphysik,39 der aber das von Kant selbst gewählte Bild von einer Insel im Meer hoffentlich in einigen Aspekten bereits zu beleuchten verhalf.

Kants Küsten-Metapher ist originell  – aber nicht nur. So ist die Vorstellung von der Metaphysik als einem gefährlichen Meer in der Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts geradezu topisch.40 Präfiguriert findet sich die Opposition von sicherem Festland und unsicherem Seeweg etwa in John Lockes Essay on Hu- man Understanding .41 Kants insular-ozeanische Metaphorik kann aber womög-lich auch zurückgeführt werden auf eine entsprechende Bildersprache in David Humes skeptizistischem Credo am Schluss des Treatise on Human Nature ,42 wie sie Kant vermittelt über Hamanns Übersetzung dieser Passage auch rezipiert ha-ben könnte.43 In den Prolegomena setzt Kant sich dergestalt von Hume ab, dass dieser „sein Schiff, um es in Sicherheit zu bringen, auf den Strand (den Scepticism) setzte, da es denn liegen und verfaulen mag“,44 wohingegen es bei Kant nun viel-mehr „darauf ankommt, ihm einen Piloten zu geben, der nach sicheren Principien der Steuermannskunst, die aus der Kenntniß des Globus gezogen sind, mit einer vollständigen Seekarte und einem Compaß versehen, das Schiff sicher führen könne, wohin es ihm gut dünkt“.45

Wer dabei nicht in jenem „bodenlosen Abgrund der Metaphysik“46 versin-ken will, der bereits in der Schrift über den einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes von Kant als ein „finsterer Ocean ohne Ufer und ohne Leuchtthürme“47 beschrieben ist, wer nicht auf diesem „unbeschifften Meere“48 hoffnungslos in die Irre und in diesem „unermeßlichen und für uns mit dicker Nacht erfüllten Raume des Übersinnlichen“49 unrettbar verloren gehen will, dem kann nach Kant einzig der Vernunft „eigenes Bedürfniß“50 als „Weg-weiser oder Compaß“51 dienen, um sich im Denken zu orientieren .52 Am sichersten segelt freilich, wer die „die stetig fortlaufende Küsten der Erfahrung“,53 durch die, wie Kant schreibt, das bzw. der „continent unserer Erkenntnisse“54 umgrenzt wird, gar nicht erst aus dem Auge zu verlieren gedenkt und das Land der Wahrheit stets fest im Blick zu behalten versteht.

Vom hohen Meer der Metaphysik gilt es eine Art Nichtschwimmerzone im Flachwasser abzuteilen, in der man das eine tun kann, was man auch tun muss, nämlich zur See, oder zumindest an die See zu fahren, ohne das andere lassen zu müssen, ohne den festen Boden unter den Füßen der Erfahrung ein und für alle Mal hinter sich zu lassen. Mit einem Bein, dem Standbein bleibend auf dem Insel-Boden der Tatsachen, mit dem anderen Spiel-Bein aber beinahe schon an Bord, steht Kant am Strand, d. h. velut in confinio , exakt auf der Schwelle zwischen mun- dus phaenomenon und mundus noumenon und also genau „auf der Grenze“,55die Kant im Beschluss der Prolegomena , wo „von der Grenzbestimmung“56 der reinen Vernunft gehandelt wird, näher bestimmt als liminale Lage von Vernunft selbst:

Wenn Kant in einer nachgelassenen Reflexion „Die Critik der reinen Vernunft“ bezeichnet als „ein Präservativ vor eine Krankheit der Vernunft, welche ihren Keim in unserer Natur hat […]. Sie ist das Gegentheil von der Neigung, die uns an unser Vaterland fesselt (heimweh). Eine sehnsucht, uns ausser unserm Kreise zu verlieren und Andre Welten zu beziehen“,58 dann dient die Rede von der See-fahrt also als Metapher für eine gnoseologische Grenzverletzung.59 Das Paradig-ma dieser Daseinsmetapher entfaltend hat Hans Blumenberg die Koordinaten jener Position präzise bestimmt, die auch und gerade die von Kant am Strand ist: „hier, an der Grenze vom festen Land zum Meer, [wo] zwar nicht der Sünden- fall , aber doch der Verfehlungs schritt ins Ungemäße und Maßlose zuerst getan wurde“.60

Transzendentalphilosophie im Sinn und Verstand des kantischen Kritizismus kann daher nur eine „Philosophie des geregelten Grenzverkehrs“ sein.61 Ja, die „Grenze“ ist recht eigentlich der Schlüsselbegriff von Kants Denken, denn im Un-terschied zur bloß negativen „Schranke“ ist nach Kant in allen Grenzen insofern auch etwas Positives, als sie immer einen Raum voraussetzen, „der außerhalb ei-nem gewissen bestimmten Platze angetroffen wird und ihn einschließt“.62 Außer-halb der Insel liegt das sie einschließende Meer: „Unsre Vernunft […] sieht gleich-sam um sich einen Raum für die Erkenntniß der Dinge an sich selbst, ob sie gleich von ihnen niemals bestimmte Begriffe haben kann und nur auf Erscheinungen eingeschränkt ist“.63

„Kritik“ kommt von κρίνειν und κρίνειν heißt unterscheiden. Solche Scheidung zwischen Wasser und Land, Insel und Meer ist Kritik der Vernunft, Kritik der reinen Vernunft , welches Werk nicht zufälligerweise zunächst „ Die Grentzen der Sinnlichkeit und der Vernunft “64 hätte heißen sollen. Aufgabe kantischer Kritik ist und kann nur sein die nach sicheren Grundsätzen vollzogene Grenzbestimmung der Vernunft:

Während die Selbstdisziplinierung einer kritischen „Kontrollvernunft“66 einer-seits mit „topologische[m] Eifer“67 ein „System […] von Haltesignalen“68 errichtet und im Sinne des nil ulterius alle Spekulation in die engen Grenzen möglicher, d. h. nur auf der Insel oder allenfalls entlang ihrer Küstenlinien möglicher Erfah-rung verweist, kennt und anerkennt Kant andererseits, auf der anderen Seite der einen Medaille, d. h. im praktischen Gebrauch der einen reinen Vernunft, auch das weniger topologische, als vielmehr utopische69 Moment eines praktisch-dog-matischen Plus ultra , mit dem das Noli foras ire aller dem Vaterland des Verstan-des verhaftet bleibenden Theoria gekontert und so über diesen zweiten Weg der metaphysischen Naturanlage endlicher Vernunft zu ihrem Recht verholfen und ein Seeweg nach draußen schiffbar wird.70 Das Schiff, auf dem wir dabei fahren, ist auf praktische Vernunft getauft: wenn wir auch übers Wasser nicht zu laufen verstehen, so gibt es nämlich mitten im Meer – paradoxer- ja, Kant sagt ausdrück-lich: befremdlicher-,71 wunderbarerweise72 – einen winzigen Punkt, auf dem wir wenn nicht stehen, so uns doch zumindest irgendwie halten, über Wasser hal-ten können: „Was aber sehr merkwürdig ist, so findet sich sogar eine Vernunft-idee […] unter den Thatsachen“, d. h. es findet sich sogar eine Tatsache unter den Vernunftideen, „und das ist die Idee der Freiheit“.73

Es gibt bei Kant etwas, was es bei Kant eigentlich so wenig geben dürfte wie die Quadratur des Kreises: es gibt das einzige Faktum der reinen Vernunft, das sich gibt als einzig reines Datum der Vernunft.74 Es gibt ein sich als gegebenes Gesetz Gebendes,75 das anders als alle anderen data nicht dem Grund und Bo-den der möglichen Erfahrung entspringt und nicht jenem urbaren „ territorium “76erwachsen sein kann, dessen Beete77 wir als gute Gärtner der Vernunft angelegt und „innerhalb die Grenzen ihres eigenthümlichen Bodens“78 eingehegt haben als kleines Wahrheitsland am Zonenrand vom Inselstrand. Es gibt eine Erfahrung, die keine mögliche und vom Subjekt zu synthetisierende Erfahrung insofern ist, als sie keine Erfahrung der Natur, keine Erfahrung wie jede andere mögliche, wie jede mögliche andere, sondern eine Erfahrung von Freiheit als einem, als dem einzigen Vernunftfaktum ist. Anders als viele Kantianer kommt Kant selbst kaum aus dem Staunen darüber heraus, daß es so etwas gibt und geben muß, was es eigentlich nicht gibt und geben kann, so etwas nämlich wie eine nicht eigentlich von uns erfahrbare als uns vielmehr als apodiktischer Anspruch der reinen prak-tischen Vernunft widerfahrende „Tatsächlichkeit vor allen Tatsachen der wirkli-chen Erfahrung“.79 Dazu Kant in der dritten Kritik , der der Urteilskraft :

Wir stehen am Strand und kämen niemals übers Meer, käme nicht ein Schiff ge-fahren, das wir nicht selbst gebaut und mit dem uns von draußen rein etwas vor die Füße gespült wird, was man „nicht suchte und doch bedarf, nämlich eine Aus-sicht in eine höhere, unveränderliche Ordnung der Dinge, in der wir jetzt schon sind“.81 Was im sinnlich-sittlichen Gefühlshybrid der Achtung oder als Stimme des Gewissens für uns als Widerfahrnis, d. h. als (uns) unmögliche Erfahrung er-fahrbar wird,82 ist gleichsam der über- und nach unten hängende Saum der Him-melsdecke der reinen Intelligibilität, wo die Ideen für uns zwar nicht anschaulich und auch nicht eigentlich greifbar werden, aber als unbegreifliche über die auto-manifestative Selbstversinnlichung83 des Übersinnlichen im kategorischen Impe-rativ zu uns in einen gleichsam tangentialen Kontakt treten und anfanghaft an-gerührt werden können.

Schelling formulierte mit Blick auf Kant, es gebe eine Stelle, eine einzige Stelle in uns, durch die „der Himmel hereinscheint“, und diese offene Stelle, die auch ein wunder Punkt sein mag, „ist unser Herz oder, richtiger zu reden, unser Gewis-sen“.84 Es gibt eine Stelle, wo die Insel vom Meer nicht nur umspült, sondern über-spült wird, und es muss sie geben, zumindest dann, wenn man Kants ausdrücklich affirmiertes Programm einer praktisch-dogmatischen Metaphysik nicht ernst zu nehmen sich weigert, welche über die nun im Raum und Rahmen dieses Referats nicht mehr näher zu entfaltende Postulatenlehre letztlich zu einem Gott führt, den Kant bezeichnenderweise als einen „Grenzgott der Moral“85 angesprochen hat – ja, angesprochen:

Wird Kant verkannt, wenn man in Passagen wie diesen einen gerade nicht „vor-nehmen Ton“, sondern eher einen andächtigen, geradezu gebethaften zu verneh-men vermeint? Solche Sätze soll ein „Alleszermalmer“87 geschrieben haben? Aber auch religiös Unmusikalische können kaum verkennen, dass solche Stellen stilis-tisch von seltener Schönheit und von nahezu musikalischer Qualität sind.

Man lese Kant vielleicht nicht am Strand, sehe ihn aber dort: Kant am Strand, Kant als Denker der Grenze. Dass man die Grenze nicht denken könne, ohne sie im Denken bereits zu über-denken und dadurch schon zu überschreiten, ist ein Gedankenfigur, die meist Hegel88 zugeschrieben wird und sich prominenterweise wieder bei Wittgenstein89 oder etwas weniger prominent auch bei Simmel90 findet. Wenn der Ansatz zu diesem Argument bereits bei Kant angelegt ist,91 so bewahrt allerdings die originär kritische und genuin kantische  – von Hegel freilich in souveräner Konsequenz ignorierte – Differenz92 von Denken und Erkennen die-se Aufhebungsfigur davor, zu jenem universalen Inklusions- und Integrationsmuster einer allesverschlingenden Immanenz zu werden, die ein „Fehlverhalten gegen-über der Grenze“93 beschreibt und als auto-apologetischer Imperialismus94 der Insel zu kritisieren ist: „Hybris, sich selbst die Grenze vorzuschreiben“.95 Betont man mit Ricœur den „positiven Akt der Limitation“96, der die irreduzible Span-nung zwischen Denken und Erkennen, Analytik und Dialektik gerade nicht abfal-len, also weder die Insel überfluten noch das Meer versanden lässt,97 so zeigt sich Kants Größe und Grenze, seine Größe in seiner Grenze, seine Größe als Denker der Grenze gerade in der von ihm ausgehaltenen Ambivalenz einer kritisch ba-lancierenden Transzendenz, welche „die Grenze möglicher Erfahrung“98 und al-ler (Natur)Erkenntnis im Denken übersteigt, ohne den jenseitig sich eröffnenden Freiraum affirmativ zu vereinnahmen oder ontologisch zu besetzen, und damit von der Redlichkeit einer Einsicht zeugt, welche die Endlichkeit des erkennenden Subjekts weder mit dem falsch glänzenden Lack des absoluten Idealismus über-tüncht noch die menschliche Naturanlage als eine metaphysische schlechthin ver-wirft:99 „Wäre das Bewußtsein ihrer Begrenztheit ein Werk der Vernunft, hätte dieses Wissen nicht die Begrenzung der Erkenntnis, sondern deren Übergang ins Absolute und Unendliche zur Folge. […] Indem Kant bestreitet, daß endliche Vernunftwesen absolute Erkenntnis des Absoluten besitzen können, und folg-lich an der Endlichkeit der menschlichen Erkenntnis festhält, meidet er die in sich widersprüchliche Suche nach absoluter Selbstbegründung einer endlichen Vernunft“.100

(Seine) Grenzen kann das Subjekt als vernünftiges Sinnenwesen in der Welt sich nicht selber setzen, sondern im letzten nur kennen, wenn sie ihm aufgezeigt wer-den, aufgezeigt von außen und anderswo. Anders gesagt und abschließend aber-mals mit einem Anderen gesprochen: Kants „Grenzsetzungen, die die mensch-liche Vernunft in ein eingezäuntes Feld sinnlicher Wahrnehmung verweisen, sind als solche Grenzsetzungen, also die Leistung einer Macht, die jenseits der Gren-ze diese als solche allererst erkennt“.101

334
Lea Pfahler
Grenzphänomen Intuition: Wissen an den Grenzen unserer Rationalität

Dieser Ausspruch Albert Einsteins scheint auch heute noch ins Schwarze zu tref-fen. In der modernen sehr naturwissenschaftlich geprägten westlichen Welt, gilt alles, was nicht durch wissenschaftliche Methoden begründbar wäre, entweder als falsch oder als nicht relevant. Dennoch haben viele dieser „nichtwissenschaftli-chen“ Theorien immensen Einfluss auf das alltägliche Leben und können nicht einfach von der Hand gewiesen werden. So auch das Konzept der Intuition, all-gemein bekannt als „Bauchgefühl“. In sehr vielen, oft gerade entscheidenden Situ-ationen ist es die Intuition, die Menschen leitet, also etwas, das nicht abschließend wissenschaftlich erklärbar ist. Die meisten Menschen kennen dieses Gefühl, das einem Sicherheit, intuitives „Wissen“ verleiht, ein Gefühl, das die Grenzen des rationalen, bewussten Wissens übersteigt. Doch ist das Bauchgefühl tatsächlich nur ein Gefühl? Wie wird Intuition definiert? Intuition ist ein sehr umfassendes Phänomen, das in indigenen Traditionen als bedeutende Quelle des Wissens dient. Woher kommt dieses intuitive „Wissen“? Das Grundparadigma des Denkens und der Rationalität scheint hier an seine Grenzen zu geraten. Sollten wir also die Grenzen unseres Wissens erweitern, neu betrachten, überschreiten?

Diesen Fragen soll ohne Anspruch auf Vollständigkeit im Folgenden nach-gegangen werden, wobei eine wissenschaftliche, philosophische und spirituelle Perspektive beleuchtet werden soll, um der Frage nach der Möglichkeit von Wissen an der Grenze unser Rationalität nachzugehen und letztendlich einen möglichst vielschichtigen Einblick zu geben in das, was Einstein als „heiliges Geschenk“2bezeichnet. 1 Etymologie

Nähert man sich dem komplexen Phänomen der Intuition über die Wortbedeu-tung, lässt sich sagen, dass es, abgeleitet von dem mittellateinischen intuitio (un- mittelbare Anschauung), einerseits als „das unmittelbare, nicht diskursive, nicht auf Reflexion beruhende Erkennen, Erfassen eines Sachverhalts oder eines kom-plizierten Vorgangs“3, andrerseits als „Eingebung, [plötzliches] ahnendes Erfas-sen“4 bestimmt werden und synonym zu zahlreichen anderen Wörtern gebraucht werden kann, die wichtige Aspekte der Intuition hervorheben:5 Die Synonyme Eingebung, Anwandlung, Impuls, Idee zeigendie spontane und unkontrollierte, Gefühl, Empfinden, Gespür, Ahnung, Instinkt und Bauch die emotionale, fühlende Natur der Intuition. Beides scheint der prozesshaften und diskursiven Reflexion, womit oft „vernünftiges Denken“ in Verbindung gebracht wird, gegenüberzuste-hen, wobei durch Letzteres sogar der Anschein einer räumlichen Trennung von Verstand und Intuition, Kopf vs. Bauch, gegeben wird.

Weitere Bedeutungshorizonte tun sich durch die synonymen Begriffe Inneres, innere Stimme, Erkenntnis und Erleuchtung auf, die der Intuition neben einer Form der inneren Kommunikation sogar die Fähigkeit einer Verbindung über das Irdische hinaus, zum Göttlichen oder wie auch immer man es nennen mag, zuschreibt.

Hier scheint die Dichotomie zwischen dem Rationalen und dem Intuitiven ab-solut zu sein, jedoch muss hier darauf hingewiesen werden, dass sich das rationale Denken bei genauerer Betrachtung viel intuitiver herausstellt, als angenommen6und rationales und intuitives Denken so sehr miteinander verwoben sind, dass Intuition teilweise sogar als „ Teil des rationalen Denkens “7 beschrieben wird. Es zeigt sich also schon hier, dass das allgemeine Verständnis von Rationalität be-schränkt wirkt.

Intuition oszilliert also einerseits zwischen (vermeintlichen?) Gegenteilen wie der Rationalität und der Emotionalität sowie dem Irdischen und dem Göttlichen, andererseits vereint es beides in sich. Allein die Wortbedeutung schillert also in der Vielschichtigkeit des Phänomens der Intuition, die nun durch einen kurzen Einblick in unterschiedliche Interpretationen aufgegriffen wird. Je nach Weltan-schauung liegt der Fokus auf dem ein oder anderen Aspekt, was dem*r Leser*in Raum lässt für eigene Gedanken und Intuitionen. 2 Intuition und das Unbewusste

Ein Versuch, intuitives Wissen in den Bereich der Wissenschaft einzuordnen, be-ginnt oftmals mit dem Verweis auf das Potential unbewusster Intelligenz sowie Verstehensprozessen fernab vom bewussten Denken und Erkennen. Teilweise wird sogar vorbehalten, dass „das Problem der Intuition nur in Verbindung mit der Behandlung des unterbewußten psychischen Lebens gelöst werden kann.“8

Die Theorie des Unbewussten entwickelte sich im Laufe der Zeit und erlangte im 19.  Jahrhundert vor allem durch Freud größere Aufmerksamkeit.9 Mittlerweile besteht eine weitgehende Einigkeit unter Bewusstseinsforscher*innen, dass nie-derschwellige kognitive Verarbeitung auf einer unbewussten Ebene abläuft,10 doch während manche der Ansicht sind, jegliche bewusste Prozesse würden komplett vom Unbewussten gesteuert werden,11 ist die Beweiskraft für komplexe oder hö-here Kognition durch das Unterbewusste deutlich schwächer.12 Nichtsdestotrotz gibt es auch hierfür genug Anzeichen, woraufhin beispielsweise die Theorie des impliziten Lernens deutet, die, grob gesagt, die Fähigkeit beschreibt, komplexe Regelmäßigkeiten aus der Erfahrung abzuleiten, wie das u. a. beim Erlernen der Muttersprache geschieht.13

Zudem gibt es Hinweise, dass das Unterbewusstsein bei einer Vielzahl bewuss-ter Informationen bessere Entscheidungen treffen kann als das Bewusstsein,14 zur symbolischen Repräsentation fähig ist15 und außerdem wiederum von bewussten Prozessen beeinflusst wird,16 sodass man das eine eigentlich nicht ohne das ande-re denken kann und die Grenze zwischen bewussten und unbewussten Denk- und Erkenntnisprozessen viel fließender ist, als angenommen.17

In welchem Verhältnis steht nun die Intuition zum Unterbewusstsein? Laut Isenman tritt Intuition dann zutage, wenn verschiedene Informationsstränge im Unterbewusstsein zusammenlaufen und ein neues und bedeutendes Element des Verstehens liefern. Dies kann entweder augenblicklich, eingebungshaft oder in Abhängigkeit von komplexen Interaktionen zwischen dem Unbewussten und dem Bewussten geschehen.18 Intuition lässt sich also weder allein dem einen, noch al-lein dem anderen zuordnen, sondern stellt ein Zwischen dar, das schlussendlich immer die Charakteristik einer Einheitserfahrung aufweist:

Dass die Intuition eine Brücke zwischen zwei sich unterscheidenden Aspekten ist, zeigt sich auch, wenn man versucht sie vom „normalem Denken“ abzusetzen, das in einem ersten Ansatz unterteilt werden kann in das passive, automatische Denken ohne bewusste Leistung und das aktive, gelenkte Denken, das bewusster Konzentration und Analyse bedarf.20

Ersteres wird v. a. als Strom aus Eindrücken, Bildern und Assoziationen gese-hen, der von unterschiedlichen – uns nicht immer vollständig bewussten – Fakto-ren ausgelöst wird, wie beispielsweise durch unterdrückte Emotionen, was Freud und Jung gezeigt haben.21

Diese assoziative Logik, die unser Tagträumen leitet, ist charakteristisch für un-bewusste Intelligenz, da es multiple Informationsstränge und -ebenen miteinan-der zu einem bedeutungsvollen Wissen über die Welt verbindet, sodass wir z. B. durch Verknüpfung verschiedenster räumlicher und zeitlicher Aspekte der Welt in Fellhaufen Katzen erkennen können.22

Oftmals wird Intuition nun synonym zu diesem automatischen, assoziativen Denken gesehen, kreiert sie ja ebenfalls aus unterschiedlichen miteinander ver-wobenen Informationssträngen ein bedeutungsvolles Muster, das dann als Wis-sen „auftaucht“. Jedoch muss bei der Intuition das entscheidende Element der Neuartigkeit beachtet werden: „[U]nlike ordinary direct knowing, which brings into awareness already familiar patterns, intuitions bring into awareness new patterns that can alter thought or behaviour in significant and sometimes radical ways.“23

Dies gilt auch für das aktive, systematische und absichtliche Denken, das sich vom normalen, vom Unterbewusstsein beeinflussten Denken durch die Neuartig- keit seiner Prämissen, die in bewusste Denkprozesse eingebaut werden und den Verstand dazu bringen, neue Wege einzuschlagen, fundamental unterschiedet: „With both everyday thought and intuition, intuitive processes have an import-ant role in turning sensory and cognitive experience into the assumptions and then into the premises from which the conscious mind begins to reason or plan a course of action.“24 Oftmals wird dies dann als Verstand interpretiert, obwohl es auf verborgenen Vermutungen aufbaut, und erst bei näherer Analyse zeigt sich, dass mehr als logisches Denken involviert ist.25

Es ist also leicht ersichtlich, dass es zielführend ist, Intuition als ein Zwischen von passivem und aktivem Denken zu sehen, ja auch hier wieder als ein Element, das Aspekte des menschlichen Denkens vereint:

Natürlich bleiben an dieser Stelle noch einige Fragen offen und die Forschung zur Funktionsweise des Bewusst- und Unterbewusstseins ist noch lange nicht abge-schlossen. Des Weiteren kann dieser eine Interpretationsansatz auch nicht reprä-sentativ sein für alle wissenschaftlichen Erkenntnisse zu diesem Thema. Jedoch ist es interessant zu sehen, dass es Ansätze gibt, Intuition auf biologische und kogni-tive Prozesse zurückzuführen und damit für wissenschaftlich erklärbar zu halten. 3 Die Intuition in der Philosophie: Intuition bei Bergson Als nächsten Schritt scheint es angebracht, Intuition aus philosophischer Perspek-tive, also von den Grenzen unseres Nachdenkens darüber, zu beleuchten. Auch hier gibt es keinen Konsens über eine Definition der Intuition.

Einer der Philosoph*innen, die sich am intensivsten mit dem Konzept der Intui-tion auseinandergesetzt haben, war Henri Bergson, der versucht hat, Intuition als unabhängige mentale Funktion zu etablieren.27

Ausgangspunkt ist das Wesensmoment der Realität in der Bewegung, der Ver-änderung zu sehen: „What exists is purely and simply change.“28 Die Wirklich-keit ist fortlaufend, ungeteilt, unser Ego lediglich Illusion. Das einzige, was in uns existiert, ist ein lebendiges Kontinuum, eine qualitative Intensität, was Bergson als „durée“29 bezeichnet.30

Veränderung verläuft nun in Form definierter, wenn auch unvorhersagbarer, Geraden, entlang derer Leben in Erscheinung tritt und mit ihm der Verstand, durch den eine Entscheidungsmöglichkeit erstmals gegeben ist, auch wenn alles von allem beeinflusst wird. Zur Erleichterung dieser Entscheidungsfreiheit hat der menschliche Intellekt das Universum aufgeteilt, klassifiziert und mit Permanenz versehen, um eine Analyse möglich zu machen31:

Dem Verstand allein ist es nicht möglich, die wahre Natur der Realität zu erfassen, die alles durchzieht (man kann gewissermaßen von einem Panbio-logismus sprechen) und die sich durch Untrennbarkeit, Komplexität und an-dauernde Veränderung kennzeichnet.33 Allein der Intuition ist es möglich, durch enorme mentale Leistung den Intellekt und die durch ihn entstehenden Gegensätze zu überwinden und Einsicht zu gewinnen in die wahre Natur des Seins.34

Für Bergson ist die Intuition die Wissenschaft des Geistes, das unmittelbare Wis-sen über den Geist durch den Geist. Es ist das Zusammenfallen von Bewusstsein und Objekt.36

Intuition findet zwar hauptsächlich in unserer Innenwelt statt und kann als eine subjektive Annäherung an die absolute Wahrheit gesehen werden, jedoch betont Bergson stets auch den Wert der Objektivität, in der jegliche subjektive Erfahrung gründet und die die Wahrheit dieser unbezweifelbar macht.37

Auch wenn manches bei Bergson nicht ganz eindeutig ist, geht es ihm unterm Strich bei Intuition immer um eine Erfahrung der „wahren“ Realität, der Realität durée 38 , die die normale Form der Wahrnehmung und des Wissenserwerbs fern von jeglichen Konzepten transzendiert.39

Erst wenn die durée in unserem Geist mit der durée außerhalb von uns, mit der alles durchzogen ist, in Resonanz tritt, können wir die durée des Objektes wirklich erkennen, da wir gewissermaßen in es eintreten. Es geht also um eine Erfahrung der Realität in der Realität selbst, durch die es zu einer Intuition der durée an sich kommt und die es uns ermöglicht, uns selbst mit dem gesamten Universum zu vereinen und mit ihm eins zu werden.41 4 Der spirituelle Aspekt der Intuition

Das Element der Intuition, das sich am meisten von dem Begriff der Rationalität absetzt, ist das der Erleuchtung und dennoch wird gerade in vielen indigenen Völ-kern auf dieses Übersinnliche des Intuitiven hingewiesen.

Unter Erleuchtung kann man eine Einsicht verstehen, die alle Konzepte, Wahr-nehmungen oder üblichen Erfahrungen transzendiert, sie ist gewissermaßen „ Transzendenz an sich “42, reines Bewusstsein. Jegliche Trennung zwischen Sub-jekt und Objekt, zwischen Erkennendem und Erkanntem ist aufgehoben, denn „[i]n der Transzendenz ist der Erfahrende bewußt, aber es ist ihm nicht etwas be-wußt – die Bewußtheit existiert an sich […], der schweigende Hintergrund der Erfahrung [wird] erleuchtet.“43

Damit verbunden ist eine Erfahrung des wahren Selbst, der höchsten Identität und des Einsseins von dieser mit dem gesamten Kosmos; so heißt es zumindest in den Upanischaden, Teil der Veden, einer Sammlung heiliger philosophischer Schriften des Hinduismus.44 Aufgrund dessen gilt die Erleuchtung als letzte Stufe der Selbsterkenntnis, als Weg zum wahren Verständnis der Wirklichkeit und da-mit als die höchste und befriedigendste Form des Erkennens, die aufgrund ihrer alles übersteigenden Qualität unseren Verstand an seine Grenzen weist und diese sprengt.45

Intuition kann nun als ein Weg verstanden werden, Erleuchtung zu erreichen, so-zusagen als Tor, das den Weg zu diesem reinen Bewusstsein, der Einheit und Inter-verbundenheit öffnet. Alle Arten von Intuition sind von einem direkten Wissen, in dem Sinne das es unmittelbar und nicht durch das bewusste Denken vermittelt wird, gekennzeichnet, jedoch kommt es normalerweise immer aus einer Region des eigenen Selbst. Die spirituelle Intuition übersteigt nun dieses direkte Wissen des Selbst auf eine transzendente Form des Wissens, eine tiefere Einheit, die das Individuum zurücktreten lässt hinter einen Erfahrungshorizont der Ganzheit. Durch die Überwindung des konditionierten Selbst ist es möglich einen Einblick zu gewinnen in das Sein an sich und zu einer reflektierten Perspektive auf das, was unhinterfragt als Realität akzeptiert wurde, zu gelangen, sowohl in Bezug auf die Welt als Ganzes, als auch in Bezug auf sich selbst. Damit wird die Intuition zum ausschlaggebenden Werkzeug zur Selbst- und Welterkenntnis und fungiert als ein Kompass zu wahrer Weisheit.47

Diese Art des inneren Kompasses und des Sich-leiten-lassens durch übersinn-liche Wahrnehmungen kann in der Ideologie des Szientismus, die das rationale Denken und Beweisbarkeit als letzte Axiome aufrechterhält, nicht wirklich an-erkannt werden und führt dazu, dass in unserer heutigen Wissenschaft gerade die-se spirituelle Form der Intuition als irrational, unwissenschaftlich und teilweise sogar als irrsinnig angesehen wird.48 Auf der anderen Seite spielt genau diese Art des Wissens in den meisten indigenen Völkern eine fundamentale Rolle und wird als selbstverständliche und legitime Quelle der Wahrnehmung anerkannt, als ein „Sehen der anderen Art“49 und ein „innere[s] Fühlen, das […] über die normalen Sinne hinaus fühlen lässt.“50 Wenn man die Intuition auf diese Weise ernst nimmt, führt das in letzter Konsequenz zu der indigenen, ganzheitlichen Sichtweise der Welt, wo „alles […] mit allem verbunden [ist].“51

So prägt beispielsweise auch die Lakota-Indianer eine Weltsicht der alles einen-den Beziehung, in der alles verbunden ist, durch die es kein Oben und kein Unten, keine Dogmen, Unterordnungen oder Dominanzen gibt, da alles schlussendlich dieselbe Energie teilt und miteinander kommuniziert. Es geht um ein Rückbesin-nen auf die Erde und auf die inneren Quellen des Wissens, das nicht eingeschränkt oder missbraucht werden will durch das Einordnen in Konzepte oder Sprachen, sondern Ausdruck findet allein im gelebten Leben.52 In diesem Sinne kann Intui-tion interpretiert werden als ein Weg zurück zum Ursprung, zur Ureinheit, die in der spirituellen intuitiven Erfahrung erlebt wird und gibt Raum für ein holistisch-eres Welt- und Menschenbild.

Argumente hierfür gibt es seit der Entdeckung der Quantenphysik auch zu-nehmend aus der Naturwissenschaft:53 Laut dem Quantenphysiker Hans-Peter Dürr ist „die Intuition […] nichts Privates, sondern […] geht […] auf den grö-ßeren Hintergrund. Sie ist wirklich etwas, das eine ganz andere Struktur hat, […] [durch die ich] in einen immer größeren Raum komme.“54Ähnlich interpre-tiert die Psychologin Regina Obermayr-Breitfuß ihre Forschungsergebnisse ins-besondere zur Fernwahrnehmung so, „ dass wir in einem ganz großen Informa-tionsfeld leben und wir […] zu diesem Informationsfeld mithilfe der Intuition Tag und Nacht Zugang [haben]. […] Dann wird uns eigentlich bewusst, wie sehr wir alle verbunden sind.“55, denn auch unser „Wesenskern besteht letztlich aus einer Ganzheit.“56 5 Fazit

Es zeigt sich in diesem kurzen Einblick, dass das Phänomen der Intuition ein sehr umfangreiches und komplexes Thema darstellt, das die Menschen seit jeher be-gleitet und fasziniert. Je nach Denkausrichtung fällt die Zuschreibung, was die Intuition fähig ist zu leisten, unterschiedlich extrem aus und reicht von einem Verständnis als eine Form des (un)bewussten Denkens, hin zu einem Werkzeug, das Wahre Sein, die wirkliche Realität des Selbst und der Welt zu begreifen, oder besser: einzusehen und zu erfahren. Es kann festgehalten werden, dass alle For-men gemein haben, dass es sich bei der Intuition um ein Wissen der ganz besonde-ren Art handelt, was von dem normalen, deduktiv und bewusst erlangten Wissen unterschieden werden muss und damit auch die Grenzen normalen, rationalen Wissens sprengt. Intuitionen teilen stets Elemente der Neuartigkeit, sind nicht be-wusst vorhersehbar und tragen eine Wahrheit in sich, die oftmals nicht rational nachvollzogen, wohl aber gespürt werden kann, ist es doch gerade dieses gefühlte Wissen, welches den Begriff des Bauchgefühls so eingängig macht.

Ebenfalls tragende Elemente, sowohl aus der Wissenschaft als auch aus Philo-sophie und Spiritualität, verweisen auf die einenden, transzendentalen und teil-weise sogar übersinnlichen Eigenschaften der Intuition. Diese Eigenschaften er-möglichen, sich selbst und die Welt auf eine gänzlich andere Art und Weise zu reflektieren und zu erfahren, die oftmals als so prägend geschildert wird, dass die Beschreibung Einsteins der Intuition als „heiliges Geschenk“ durchaus passend erscheint.

Gerade durch diese transzendierende Dimension der Intuition gelangen wir in einem rein rationalen und wissenschaftlichen Dogma schnell an die Grenzen un-seres Verstehens, doch machen gerade die neuesten Entwicklungen in der Wissen-schaft Hoffnung, dass auch für den rational denkenden Menschen das Phänomen der Intuition ernst genommen und in ein holistisches Weltbild eingebettet werden kann, sodass das Wissen der indigenen Völker und das der Wissenschaften ver-eint werden kann und so den Weg ebnet, der eigenen Intuition (wieder) Raum zu geben, um dadurch neue Räume in der Wahrnehmung zu öffnen. Es scheint also durchaus lohnenswert die Grenzen eines westlichen szientistischen Paradigmas zu überschreiten, um dadurch seinen Blick auf Wissen zu erweitern. Denn wie Max Planck schon sagte: „Wenn Sie die Art und Weise ändern, wie Sie die Dinge betrachten, ändern sich die Dinge, die Sie betrachten.“57

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Autor*innen

Dr. Emil Angehrn , em. Professor für Philosophie, hat nach Studien in Leuven und Heidelberg an den Universitäten Berlin (FU), Frankfurt am Main und Basel (1991–2013) gelehrt. Historische Schwerpunkte seiner Arbeit sind die antike Phi-losophie sowie das 19. und 20. Jahrhundert, systematische Hauptbereiche sind die Metaphysik, die Geschichtsphilosophie und die Hermeneutik. Zahlreiche Veröf-fentlichungen zu ideengeschichtlichen, existenzphilosophischen und hermeneuti-schen Themen (Entstehung der Metaphysik, Mythos und Philosophie, Erinnerung und Geschichte, Sinn und Verstehen, Menschliches Leben).

Dr. rer. pol. Stefan Einsiedel ist Biologe und Wirtschaftswissenschaftler. Nach sieben Jahren in der Finanzindustrie beschäftigt er sich nun mit der praxisnahen Verbindung von Umwelt- und Wirtschaftsethik. Am Zentrum für Globale Fragen der Hochschule für Philosophie München koordiniert er mehrere Forschungspro-jekte zur sozial-ökologischen Transformation.

Dr. Manuela P. Gaßner , ist Agrarwissenschaftlerin, Lehrbeauftragte, freiberufli-che Speakerin und Autorin. Sie studierte Gartenbau (Dipl. Ing. (FH)), Horticultu-ral Science (M.Sc.) und Philosophie in München, Freising und Budapest. Aktuell ist sie Promovendin an der Hochschule für Philosophie München und forscht zu ethischen Aspekten des KI-Einsatzes in der Agrarwirtschaft mit Fokus auf die Autonomie der Person und Erreichung der SDGs.

Peter Hoffmann-Schoenborn setzt sich seit vielen Jahren neben seinem Beruf in der Immobilienwirtschaft und der ehrenamtlichen Arbeit in „seinem“ Stadtteil Hannover-Linden sowohl zeichnerisch als auch fotografisch mit Architektur und den Ausdrucksformen des menschlichen Körpers auseinander. Schwerpunkt der fotografischen Tätigkeit in den letzten Jahren ist die Beschäftigung mit dem Tanz.Dr. theol. Karolin Kuhn , Dipl. Soz.-Päd., MA Schulmanagement und Qualitäts-entwicklung, ist beim Christlichen Sozialwerk gGmbH, Dresden, für die pädago-gische Entwicklungsarbeit zuständig. Zudem arbeitet sie dort an der Entwicklung

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und Umsetzung von Gewaltschutzkonzepten (Prävention/Intervention) und se-xualpädagogischen Angeboten im Bereich der Eingliederungshilfe.

Dr. phil. Bernhard Leistle ist Associate Professor an der Carleton University in Ottawa, Kanada. Sein Arbeitsgebiet liegt an der Schnittstelle zwischen Phänome-nologie (insb. Merleau-Ponty und Waldenfels) und Kulturanthropologie. Er hat Feldforschung zu Besessenheit und Trance in Marokko durchgeführt und arbeitet zurzeit an einer phänomenologisch fundierten Theorie des Performativen. Von April bis August 2022 unterrichtet Dr. Leistle als DAAD-Gastprofessor an der Hochschule für Philosophie in München.

Dr. phil. Noah Ijabani Lucas ist 1978 in Maiduguri (Nigeria) geboren, Studien der Philosophie (BA 2000, Makurdi) und Theologie (BA 2005, Jos) in Nigeria, Lehrer und Leiter des St Joseph’s Minor Seminary Shuwa (Nigeria), Master und Promo-tion der Philosophie an der Hochschule für Philosophie München, AFS: Postko-loniale Studien, Anerkennungstheorien, Umgang mit Identitäten, Differenz und Pluralität in postkolonialen Staaten.

Dr. phil. Wolfgang Neuser , MBA, ist evangelischer Pfarrer und war Generalse-kretär des CVJM Deutschland. Zuletzt leitete er die CVJM-Hochschule Kassel als Professor für Religions- und Gemeindepädagogik. Er beschäftigt sich mit theo-logisch und philosophisch relevanten Themen wie Spiritualität, Widerspruch und Dialog.

Viet Anh Nguyen Duc (M. A.) ist Promovend an der Technischen Universität Darmstadt. Nach seinem B.Sc. in Elektro- und Informationstechnik an der TU Darmstadt studierte er dort den Master in Technikphilosophie, den er mit einer Arbeit mit dem Titel „Arbeit am Fortschrittsbegriff – Versuch einer dialektischen Betrachtung der Geschichtsphilosophie“ abschloss. Seine Forschungsinteressen sind Geschichtsphilosophie, Theorien der Ironie und Technikhermeneutik. Der-zeit arbeitet er an der Fertigstellung seiner Dissertation, die sich mit dem Motiv der Verlegenheit bei Sokrates, Nietzsche, Adorno und Levinas beschäftigt.

Dr. theol. Anna Noweck ist Professorin für Theologie in der Sozialen Arbeit an der Ka-tholischen Stiftungshochschule München. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte

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sind Grund- und Anwendungsfragen der Ethik in der Sozialen Arbeit, Gerechtigkeits-diskurse, insbesondere in Bezug auf Bildung, Geschlechter- und globale Gerechtigkeit sowie die Rolle von Religion im sozialarbeiterischen Handeln.

Dr. Ursula Alexandra Ohliger ist wissenschaftliche Referentin bei der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften (acatech) für die Plattform Lernende Syste-me und Studentin an der Hochschule für Philosophie in München. Sie istLehr-beauftragte am Institut für Kommunikationswissenschaft der LMU, dort war sie von 2014–2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin und Studiengangskoordinatorin. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die Bereiche politische Kommunika-tion und Technikphilosophie.

Dr. Claudia Paganini hat Philosophie und Theologie in Innsbruck und Wien stu-diert, 2005 in Kulturphilosophie promoviert und sich anschließend in ihrer Ha-bilitationsschrift der Medienethik gewidmet. Nach beruflichen Stationen an der Universität Innsbruck bzw. – als Gastdozentin – in Mailand, Athen, Zagreb und Limerick vertritt sie seit April 2022 die Professur für Medienethik an der Hoch-schule für Philosophie München. Weitere Forschungsschwerpunkte sind Medi-zin-, Tier- und Umweltethik.

Lea Pfahler , 1999 geboren, erlangte eine vielseitige Schul- und Hochschulbildung in Deutschland, Papua New Guinea und Schweden. Sie ist seit 2018 Studentin der Philosophie an der Hochschule für Philosophie München, wo sie sich v. a. mit der Interkulturellen Philosophie, der Metaphysik und der Philosophie des Geistes be-schäftigt. Aktuell verfasst sie ihre Bachelorarbeit zur interkulturellen Philosophie mit indigenen Traditionen Nordamerikas.

Dr. Benjamin Rathgeber ist seit 2020 Professor für Natur- und Technikphilo-sophie mit Schwerpunkt Künstliche Intelligenz an der Hochschule für Philo-sophie (HFPH) in München. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im interdiszi-plinären Bereich zwischen Technik- und Naturphilosophie, Anthropologie und Wissenschaftstheorie.

Dr. Melanie Reichert ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin mit Schwerpunkt Kul-turphilosophie und Ästhetik am Philosophischen Seminar der Universität Kiel.

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Sie wurde 2019 mit einer Arbeit über Roland Barthes, Bertolt Brecht und Antonin Artaud promoviert. Ihre Forschungsprojekte führten sie an das Institut für Thea-terwissenschaften der Universität Wien sowie das Studies in Performing Arts and Media Research Centre (S:PAM) Gent. Im Jahr 2022 ist sie Fellow in Residence am Kolleg Friedrich Nietzsche der Klassikstiftung Weimar. Derzeit arbeitet sie an Projekten zu Phänomenen der überraschenden Abweichung sowie zur Verklam-merung von Ästhetik und Ökonomie.

Dr. Verena Risse studierte Rechtswissenschaften und Philosophie und als Sti-pendiatin des Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie ist derzeit an der Technischen Universität Dortmund beschäftigt. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der politischen und Rechtsphilosophie und umfassen unter anderem Fragen von Rechtsstaatlichkeit, Eigentum sowie Migration und Grenzen.

Dr. phil. Christian Rößner , Lic. theol., M. A., Ass.-Professor am Institut für Theo-retische Philosophie der Katholischen Privat-Universität Linz und Mitglied der Jungen Akademie der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz.

Dr. phil. Barbara Schellhammer ist Professorin für Intercultural Social Transfor-mation an der Hochschule für Philosophie München. Dort leitet sie das Zentrum für Globale Fragen. Ihre Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Kulturphilo-sophie, Anthropologie, Interkulturelle Philosophie (insbes. Native American Phi-losophy), Personale Identität, Phänomenologie des Fremden, Friedensbildung und Konflikttransformation.

Lena Schützle (M. A.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Glo-bale Fragen und am Lehrstuhl für Intercultural Social Transformation der Hoch-schule für Philosophie München. In ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit der Beziehung zwischen Selbst und Anderen im Kontext von Mitgefühl. Sie ist enga-giert bei Commit e.V. München.

Dr. Gottfried Schweiger ist Senior Scientist am Zentrum für Ethik und Armuts-forschung der Universität Salzburg. Er arbeitet im Bereich der politischen Philo-sophie und Ethik vor allem zu Fragen der Armut, Gerechtigkeit, Kindheit und

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Migration. Gemeinsam mit Norbert Paulo betreibt er den populären Philosophie-blog https://www.praefaktisch.de/. Schweiger ist u.  a. Ko-Herausgeber der Zeit-schrift für Praktische Philosophie und des Handbuchs Philosophie und Armut (J. B. Metzler 2021).

Lilly Seidel (M. A.) studierte an der Hochschule für Philosophie in München (HFPH) politische Philosophie mit Schwerpunkt auf dem französischen Post-strukturalismus und schrieb ihre Bachelorarbeit über intergenerationelle Gerech-tigkeit in radikalen Demokratietheorien. Im Master studierte sie den deutschen Idealismus und schrieb über menschliche Freiheit als Möglichkeit zum Bösen bei Kant und Schelling. Gegenwärtig studiert sie Psychologie in Wien.

Dr. med. Tobias Skuban-Eiseler ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und Oberarzt am Atriumhaus in München, einer psychiatrischen Notfall- und Kriseneinrichtung. Nach Ausbildung zum Sexualtherapeuten etablierte er eine Ambulanz für Sexualtherapie am Atriumhaus. Zusätzlich studierte er Medizin-ethik (Master) an der Hochschule für Philosophie in München.

Dr. Martin Sökefeld ist Professor am Institut für Ethnologie der LMU München. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Flucht, Migration und Diaspora, Naturkatastrophen, sowie der Kaschmir-Konflikt. Dazu arbeitet er in Pakistan, in der Türkei und in Deutschland.

Dr. phil. António Sousa Ribeiro , emeritierter Ordinarius für Germanistik an der Geisteswissenschaftlichen Fakultät der Universität Coimbra. Wissenschaft-licher Leiter des Zentrums für Sozialforschung derselben Universität. Zahlreiche Veröffentlichungen zur deutschsprachigen Literatur des 20.  Jahrhunderts (mit Schwerpunkt auf Karl Kraus und die Wiener Moderne), sowie u. a. im Bereich der Komparatistik, der Kulturwissenschaften, der Gedächtnisforschung und der Post-kolonialen Studien. Auch literarischer Übersetzer (u. v. a. Karl Kraus, Die letzten Tage der Menschheit ).

Karla Steeb warJahr 2020/21 Mitarbeiterin der Evangelischen Versöhnungs-kirche in der KZ-Gedenkstätte Dachau, sowie Studentin an der Hochschule

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für Philosophie München. Seit dem Wintersemester 2021/22 ist sie Studentin an der Universität zu Köln in einem deutsch-französischen Studiengang der Rechtswissenschaften.

Dr. Thomas Steinforth hat nach einer journalistischen Ausbildung Philosophie und Erwachsenenpädagogik studiert und arbeitet in der theologisch-philosophi-schen Erwachsenenbildung in der Domberg-Akademie in Freising. Er forscht und lehrt v. a. zu sozialphilosophischen und -ethischen, kultur- und bildungsphiloso-phischen Fragen und im Feld philosophischer Anthropologie und Ästhetik, gerne auch unter Rückgriff auf popkulturelle Zugänge.

Katja Teichmann (M. A.) hat in Jena und Bochum Germanistik, Philosophie und Gender Studies studiert. Sie arbeitet seit 2017 in unterschiedlichen Projekten zur Aufarbeitung autonomer Frauen-Lesbenbewegung(en) und beschäftigt sich vor dem Hintergrund queerer und dekonstruktiver Perspektiven mit lesbisch-femi-nistischer Erinnerungskultur und machtkritischer Archivierungsarbeit. Sie ist Teil der queerfeministischen Bibliothek LIESELLE der Ruhr-Universität Bochum. Rhea Maria Dehn Tutosaus (M. A.)ist Doktorandin und wissenschaftliche Mit-arbeiterin im Arbeitsbereich Mode und Ästhetik der Technischen Universität Darmstadt. In ihrem Promotionsprojekt befasst sie sich mit Fragen der post- und dekolonialen Theorie, sowie Konzeptionen und Ästhetiken von Grenzen(-erfah-rungen), Bewegungen und Körpern in zeitgenössischer Kunstpraxis. Sie studierte Kunstgeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und der Univer-sitat de Barcelona.

Zahira del Mar Dehn Tutosaus (M. A.) ist freie Autorin und Kuratorin, Mitglied von AMICAL Mauthausen und Mitgründerin der Asociación Buchenwald. Sie studierte Kunstgeschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main und der Universitat de Barcelona. Ihre Forschungsschwerpunkte in der zeitgenössischen Kunstpraxis und -theorie sind post- und dekoloniale Theorien zum Grenzraum, Erinnerungskulturen und kollektives Gedächtnis sowie Sprache in kollaborativer Aktionskunst.

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