Erstellt in Kooperation zwischen dem IEG Mainz und der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel
Historische EinleitungIrene Dingel
Die theologischen Streitigkeiten, die sich nach der Niederlage der
Evangeli
schen im Schmalkaldischen Krieg und dem kaiserlichen Erlass des
Augs
burger Interims von 1548 entzündeten, sind – das haben gezielte
Recherchen
im Zusammenhang mit dem Forschungs- und Editionsprojekt
Controversia
et Confessio
ergeben – weitaus differenzierter zu betrachten, als dies bisher
in der Forschungsliteratur getan wurde. So ergibt eine Sichtung der
zahl
reichen Quellen,Vgl. die Online-Datenbank des Projekts
Controversia et Confessio unter der Internetadresse http://controversia-et-confessio.adwmainz.de/.
dass deutlich zwischen den Schriften gegen das
Augs
burger Interim und denjenigen zu unterscheiden ist, die sich auf die Frage
der Adiaphora,Zur Definition vgl. den alten, aber ausgezeichneten Artikel
von Johannes Gottschick, Art. Adiaphora, in: RE3 1 (1896),
S. 168–179.
d. h. der im theologischen Bereich für das Heil des
Ein
zelnen nicht maßgeblichen, freigelassenen Mitteldinge, richteten. Zu Unrecht
sind in der bisherigen Forschung diese sich an verschiedenen
Ausgangs
punkten und Problemen entzündenden Kontroversen miteinander vermischt
und die hier gewechselten Schriften als Bestandteile einer einzigen
Ausein
andersetzung gesehen worden, die man dann als Interimistischen Streit zu
qualifizieren pflegte. Die Bezeichnungen Interimistischer Streit und
Adia
phoristischer Streit wurden daher nicht selten in gleicher Bedeutung
ve
rwandt.Vgl. z. B. Tschackert, Kirchenlehre, 505, der vom
interimistische[n] oder adiaphoristische[n] Streit spricht, und Lohse, Dogma und Bekenntnis, 108. Hier ist vom
interimistischen Streit die Rede, obwohl der adiaphoristische gemeint ist.
Eine kritische Beschäftigung mit den Quellen aber veranlasst dazu,
eine Gruppe von Schriften einzugrenzen, die ausdrücklich die Reaktion auf
das Augsburger Interim zum Gegenstand haben und Fragen thematisieren,
die mit dessen Einführung, mit erzwungenen oder selbstgewählten
Exilierun
gen und oppositionellen Haltungen sowie deren Legitimierung zu tun haben. Vgl. die in unserer Ausgabe Bd. 1:
Reaktionen auf das Augsburger Interim. Der Interimistische Streit (1548–1549), hg. v. Irene
Dingel, bearb. v. Johannes Hund, Jan Martin Lies und Hans-Otto Schneider, Göttingen 2010,
gebotene Auswahl von Schriften.
Die Frage der Adiaphora im eigentlichen Sinne spielte hier insofern keine
Rolle, als es um eine Restitution altgläubiger Lehre und Riten zugleich ging.
Das Augsburger Interim zielte ja darauf, eine altgläubige Lehre – mit
Aus
nahme des Zugeständnisses der Priesterehe und des Laienkelchs – zusammen
mit altgläubigen Zeremonien und Lebensstrukturen in evangelisch
gewor
denen Gebieten wiedereinzuführen. Dies mobilisierte zwar insgesamt den
Widerstand der Evangelischen, bot aber keinen Anlass, die Wertung von
Riten und Zeremonien als Adiaphora, d. h. als sogenannte freigelassene
Mitteldinge, in der gegebenen Situation zu diskutieren.
Vgl. dazu die Historische Einleitung zu Bd. 1 unserer Ausgabe, S. 3–34,
bes. S. 13–18.
Anders verhielt es sich mit dem Leipziger Landtagsentwurf von 1548, der
einen Alternativvorschlag zum Augsburger Interim für Kursachsen darstellte
und exemplarisch für auch anderwärts ausgearbeitete, meist ungedruckt ge
bliebene Alternativen stehen kann, auf die er möglicherweise eingewirkt hat.Vgl. dazu Dingel, Konfession und Politik, bes.
15–17. Vgl. auch Berwinkel, Weltliche Macht.
Hier ging es um die Einführung altgläubiger Riten als für das Seelenheil
nicht maßgeblicher, freier Mitteldinge unter Beibehaltung der
reformatori
schen Lehre, die sich zudem in verschiedenen, für die Rechtfertigungslehre
relevanten Punkten deutlicher an Philipp
Melanchthon als an Martin Luther
orientierte. Der Adiaphiorische Streit und alle weiteren Kontroversen
ent
zündeten sich daher an der Leipziger Landtagsvorlage.Auch dies
wurde in der Literatur bisher großenteils übersehen bzw. ignoriert. Der für die Streitigkeiten
maßgebliche und unautorisiert gedruckte Text findet sich unter Nr. 4 in diesem Band, S. (354) 367–441.
Dieser für den
Leip
ziger Landtag 1548 ausgearbeitete Text schlug – so sahen es die Gegner –
einen den Ernst der Situation verkennenden, falschen Weg ein, nämlich den
der diplomatischen Verhandlungen und
Kompro
misses, der sich in der Kombination von altgläubigen Riten und Zeremonien
mit der evangelischen Lehre augenfällig niederschlug. Dadurch wurde der
eigentlich erstrebenswerte und sinnvolle Konnex zwischen dem Inhalt der
auf Kanzeln gepredigten und in Schulen unterrichteten Lehre und deren
äußerlicher, ritueller Repräsentation im gemeindlichen und gesellschaftlichen
Leben aufgehoben, noch dazu in einer Situation, in der man angesichts
theo
logischer Entwicklungen und gegen obrigkeitlichen Druck eigentlich die
Notwendigkeit sah, auch offen, vor aller Welt, zu seinen inneren
Über
zeugungen zu stehen. Ein äußerliches Dissimulieren durch Adaption
unevange
lischer Riten galt vielen als Lüge und Verrat am Evangelium.
Es waren deshalb drei ineinander greifende Problematiken, die den
Adia
phoristischen Streit (1548/49–1560) bestimmten: zum einen die Frage des
mutigen Bekennens und eindeutigen Bekenntnisses in einer Bedrohungs
und Krisensituation; zum anderen die Frage der Notwendigkeit einer
Über
einstimmung von Lehre und Bekenntnis einerseits mit Kirchenverfassung
bzw. kirchlichem Kultus andererseits sowie der Freiheit des Umgangs mit
den Riten und Zeremonien (gemäß CA 15); zum dritten die Frage der
obrig
keitlichen Kompetenz und der obrigkeitlichen Rechte in geistlichen oder
kirchlichen Angelegenheiten. Mit letzterer verband sich die Forderung der
Freiheit kirchlicher Gebräuche von obrigkeitlichem Einfluss. Dies wurde
verstärkt durch die schon mit dem Augsburger Inteim aufgeworfene
grund
sätzliche Problematik des Verhältnisses von Kirche und Obrigkeit bzw.
Reli
gion und Politik. Die Interimssituation warf in nie dagewesener Schärfe die
Frage auf, ob die politische Obrigkeit überhaupt das Recht habe, in
kirchli
che Angelegenheiten einzugreifen. Man sah in den Vorgängen ein
endzeitli
ches Ringen zwischen Christus und Belial,Vgl. dazu unsere Ausgabe Bd. 1, S. 18, Anm.
67. Vgl. dazu auch Leppin,
Antichrist und Jüngster Tag, und Moritz, Interim und
Apokalypse.
bzw. zwischen Christus und dem
Antichrist. Die Situation wurde als – endzeitliche – Bedrohungs- und Be
kenntnissituation wahrgenommen.Es ging hier weniger um eine zu wahrende
Orthodoxie oder zu etablierende orthodoxe Lehre
als vielmehr um diese genannten Problemstellungen. Vor diesem Hintergrund wäre zu überdenken ob man
den Adiaphoristischen Streit – wie Markus Friedrich – als Ringen um lutherische
Orthodoxie verstehen kann. Dies ist zutreffender im Blick auf die weiteren Kontroversen,
die zum Teil aus dem Adiaphoristischen Streit hervorgingen. Vgl. Friedrich, Orthodoxy and Variation.
Das Problemfeld der Adiaphora als solches bezieht sich auf einen
Grenz
bereich zwischen dem, was auf der einen Seite nach christlichem Verständnis
für Glauben, Rechtfertigung und Heil des Menschen notwendig ist, und dem,
was auf der anderen Seite dafür abträglich, ja sogar schädlich sein kann.
Schon die Confessio Augustana hatte dies in Artikel 15 thematisiert,Vgl. dazu
CA 15: Von Kirchenordnungen, und ACA 15: Von den menschlichen Satzungen,
in: BSLK, 69f; 297–307. Vgl. außerdem Arand,
Apology
und in
CA 26 kamen kirchliche Ordnungen zur Sprache,Vgl. CA 26: Von Unterschied der Speis, in: BSLK, 100–109.
die man als solche
Mit
teldinge
ansehen und akzeptieren konnte. Das waren Fasten, Speise- und
Kleidervorschriften, Feiertage und Gesänge etc., sofern sie lediglich
prakti
schen und pädagogischen Zwecken dienten. Unter reformatorischen Prämissen
aber waren sie immer dann dezidiert abzulehnen, wenn der Mensch glaubte,
sich durch solche Praktiken, Rituale und Zeremonien das Heil erwerben und
sichern zu können.Vgl. CA 26, in: BSLK,
104,7–105,11.
Martin Luther hatte einst seine Abneigung gegen
Ver
handlungen über angebliche Adiaphora deutlich gemacht. So hatte er z. B.
den von Johannes Eck in den Verhandlungen mit Philipp Melanchthon in
Augsburg 1530 eingeführten Terminus
indifferens als lateinisches
Äquiva
lent für das griechische adiaphoron entschieden abgelehnt. Seine Sorge
be
zog sich darauf, dass die Einführung solcher Kategorien Auswirkungen auf
theologische Inhalte erhalten könnte, so dass die Gefahr bestünde, dass man
schließlich auch göttliche Gebote zu indifferentes herabwürdigte. Dennoch
war Luther in der Lage und bereit dazu, Gesänge, Fasten und Feiern
durch
aus als mögliche Gegenstände eines Kompromisses gelten zu lassen,
vorausgesetzt freilich, dass kein Gewissenszwang aus der Einhaltung solcher
Mitteldinge entstünde.Vgl. Luther, Deutsche Messe (1526), in: WA 19, 72,3–8; ders., In epistolam S. Pauli ad Galatas Commentarius, in: WA 40/I,
161,29–162,25; 673,25–35.
Diese Haltung brachte ihn dazu, in den Wirren
der Wittenberger Bewegung Anfang der zwanziger Jahre des 16.
Jahrhun
derts um der Schonung der Schwachen willen für Bilder in Kirchenräumen
und die einstweilige Beibehaltung altgläubiger Zeremonien einzutreten.
Sei
ne Gegner, Andreas Bodenstein von Karlstadt
und dessen
Gesinnungsgenos
sen, ließen die Bilder bekanntlich radikal aus den Kirchenräumen entfernen
und zerstören, um so ihrer Verehrung, ja sogar Anbetung, ein Ende zu
set
zen. Und auch im Abendmahlsritus änderte Karlstadt die gottesdienstlichen
Formen und praktizierte die communio sub utraque im Sinne einer
konse
quenten Durchführung der Reformation.So gab er z. B. bei der
ersten reformatorisch gestalteten Abendmahlsfeier in Wittenberg am 25. Dezember 1521 den Teilnehmern Brot und
Kelch in die Hand und verzichtete auf den liturgischen Ornat. Vgl. Barge, Karlstadt I, 357–362; außerdem Burnett, Origins, 27–29.
Luther dagegen behandelte Bilder,
zumal er ihnen eine pädagogische Wirkung zusprach, als freigelassene
Mittel
dinge, sofern die ihnen früher entgegengebrachte innere Devotion keine Rolle
mehr spielte. Das gleiche galt – zumindest übergangsweise – für liturgische
Riten. Insgesamt aber blieb die Abneigung Luthers gegen die Definition
eines Mittelbereichs auf dem Gebiet des Ritus bestehen. Melanchthon war in
dieser Haltung im Grunde mit Luther einig. Dies änderte sich jedoch unter
den historisch veränderten Bedingungen nach dem Schmalkaldischen Krieg
und angesichts des abzuwendenden Augsburger Interims. Melanchthon
signa
lisierte durch seine Mitarbeit an der Leipziger Landtagsvorlage
Kompro
missbereitschaft, allerdings unter der Prämisse, dass die kultischen
Hand
lungen reine Äußerlichkeiten blieben und ihnen die evangelische Lehre an
die Seite trat. Dieser im Grunde eher geringfügige Gegensatz der Positionen
der beiden Wittenberger Reformatoren erhielt im Adiaphoristischen Streit
großes Gewicht und erfuhr im Kontext der nachinterimistischen
Kontrover
sen eine entscheidende Zuspitzung, ja sogar Neuausrichtung. Welch große
theologische und gesellschaftliche Bedeutung den jetzt in den Mittelpunkt
rückenden Fragen nach dem Verhältnis von Kirche/Religion und Obrigkeit/
Politik, nach dem Recht der Obrigkeiten, in kirchlichen Angelegenheiten
Verfügungen zu erlassen, und nach dem Erfordernis einer klaren,
bekennt
nismäßigen Positionierung zukam, zeigt sich darin, dass der Streit keineswegs
mit der Aufhebung des Interims durch den Passauer Vertrag von 1552 zu
En
de kam, sondern noch Jahre darüber hinaus weiter schwelte.Vgl. Kolb, Controversia perpetua.
Der hier
vor
liegende Band kann durch seine gezielte Auswahl von Schriften leider nur
einen Ausschnitt dieses Streits dokumentieren.In der folgenden Darstellung
des Streitverlaufs werden daher lediglich die hier abgedruckten Texte präsentiert.
* * * * *
Während man in vielen Territorien und Städten dem Augsburger Interim
einen zähen passiven Widerstand entgegenstellte, wurde die Stadt
Magde
burg
, die sich über das kaiserliche
Publikationsverbot hinwegsetzte, der
Knotenpunkt des aktiven Widerstands schlechthin.Vgl. Kaufmann, Ende der Reformation.
Sie erhielt wegen der
vielen von hier ausgehenden Druckerzeugnisse auch den Beinamen unseres
Herrgotts Kanzlei. Magdeburg war der Zufluchtsort für viele
Lutheranhän
ger aus allen Gegenden des Reichs geworden, unter ihnen Matthias Flacius
Illyricus, Nikolaus von Amsdorf, der ehemalige Superintendent von
Magde
burg
und nun
vertriebene Bischof von Naumburg,Tatsächlich hatte Amsdorf schon im
Juli 1546 auf Geheiß Kurfürst
Johann Friedrichs I. Naumburg-Zeitz verlassen,
um als dessen Berater in Weimar zu dienen. Danach war eine
Rückkehr nach Naumburg und in sein Bischofsamt nicht mehr
möglich, da das Naumburger Domkapitel – territorialpolitisch inzwischen unter dem neuen Landesherrn
Moritz von Sachsen – den bereits 1541 zum Bischof gewählten Julius Pflug nach
Naumburg holte. Amsdorf, der sich von 1548–1552 in Magdeburg aufhielt, wertete dies als Vertreibung. Zum
Naumburg-Zeitzer Bischofsexperiment vgl. Delius, Amsdorf-Briefwechsel; Brunner, Amsdorf als Bischof; Dingel, Exulantentum, 163–166.
Matthäus Judex und
Nikolaus Gallus. Flacius wurde schnell der führende Kopf jener Gruppe, die
in eine heftige publizistische Propaganda um die Frage der sogenannten
Adiaphora eintrat. Ihr Gegner in diesem Streit war Philipp Melanchthon, der
sich allerdings kaum mit Schriften in die Kontroverse einschaltete. Auf
sei
ner Seite meldete sich aber u. a. der Leipziger Professor Johannes Pfeffinger
zu Wort, zumal er an den damaligen, zu der Leipziger Landtagsvorlage
füh
renden Verhandlungen beteiligt gewesen war. Gegenstand war die
Wieder
einführung altgläubiger Riten und Gewänder. Dies war zwar schon
Bestand
teil des Augsburger Interims gewesen, allerdings sollte es nun begleitend zur
Wiedereinführung des alten Glaubens geschehen,Siehe oben S. 4.
so dass hier von
Adia
phora nicht die Rede sein konnte. Explosiv wurde die Frage der
Wiederein
führung altgläubiger Zeremonien in dem Moment, in dem sie als
freigelas
sene Mitteldinge neben die evangelische Rechtfertigungslehre rücken sollten
und dies durch ein Gutachten für Kurfürst
Moritz von Sachsen bekannt wurde.
Dieses war von Fürst Georg von Anhalt, Philipp Melanchthon,
Caspar
Cruci
ger
, Johannes Pfeffinger, Daniel Greser,
Daniel Greser (1504–1591) war 1542 von Moritz von Sachsen als Superintendent nach Dresden berufen worden. Er wirkte auch noch an der Seite des Kurfürsten August, vor allem in
kirchenordnender Hinsicht. Vgl. Franz Lau, Art. Greser,
Hans Daniel, in: Neue Deutsche Biographie 7 (1966), 49f. [Onlinefassung]; URL:
http://www.deutschebiographie.de/pnd116832371.html.
Georg Major und Johannes
For
ster
Johannes
Forster (1496–1556) war seit 1548als Superintendent in Merseburg tätig, übernahm aber schon um Ostern 1549 die Professur für Hebräisch an der Wittenberger Universität. Zugleich war
er Prediger an der dortigen Schlosskirche. Vgl. Heinz
Scheible, Art. Forster, Johann, in: RGG4 3 (2000), 197.
unter Federführung Melanchthons erstellt worden und enthielt u. a.
eine ausführliche Passage zur Frage der Adiaphora.Vgl. MBW Regesten Bd. 5, Nr. 5208, S. 309f. Das Gutachten ist abgedruckt
in: CR 7 , Nr. 4286, Sp. 12–45. Vgl. dazu auch Mehlhausen, Streit, bes. S. 114f. Mehlhausen vermischt
allerdings den Protest gegen das Augsburger Interim und die Frage der Adiaphora.
Nach wie vor bezogen
die Theologen Stellung gegen die Einführung des Augsburger Interims, von
dem man inzwischen wusste, dass es allein für die Evangelischen gelten und
keineswegs auch in altgläubigen Gebieten eingeführt werden sollte. Zu den
Riten und Zeremonien aber äußerte man sich in dem Gutachten
folgender
maßen: Jn unsern Kirchen sind die fFrnehmsten Ceremonien die zur Kirchen
dienen, als Sonntag und Fest, mit gew=hnlichen Lection und Gesang nicht
viel ge(ndert; wollen auch noch dieselbigen mit Fleiß erhalten. Und wo man
denn in solchen Mitteldingen etwas bedenken wFrde mit gutem Rath
der
jenigen, so die Kirchen regieren sollen, das zu mehrer Gleichheit und guter
Zucht dienlich, wollen wir gerne helfen Einigkeit und gute Zucht erhalten.
Denn wir wollen von denselbigen Mitteldingen nicht zanken so viel den
(ußerlichen Gebrauch belanget. Also auch irret uns auch nicht, man esse
Fleisch oder Fische. Gleichwohl muss man die Lehre von Unterscheid
rech
tes Gottesdiensts und solcher mittler unn=thiger Dinge nicht verl=schen
las
sen
Iudicium V. de libro Interim (6.7.1548) /
Bericht vom Jnterim der Theologen auf dem Landtag zu Meißen
versamlet. Anno 1548, in: CR 7, Nr.
4286, Sp. 41.
Zugleich lehnte man die Anrufung der Heiligen, Prozessionen mit
der geweihten Hostie, Vigilien und Totenmessen und das Segnen oder
Wei
hen von Wasser, Salz und Gewürzen strikt ab. All dies könne nicht wieder
eingeführt werden, ohne dass Aberglaube entstehe und der Namen Gottes
missbraucht werde. Bei den zuletzt genannten Riten handele es sich also
kei
neswegs um Adiaphora. Kompromissbereitschaft dagegen signalisierte man
bei der Wiedereinführung des Festkalenders des Augsburger Interims,
aller
dings ohne die Betwochen und Prozessionsfeste; ebenso bei
Messgewän
dern, Gesängen de temporeDie nach den Sonntagen, Festen und
sonstigen Anlässen des Kirchenjahrs wechselnden Gesänge.
und Vorschriften über das Fleischessen, sofern
die Obrigkeit entsprechende Richtlinien erlassen würde und auf diese Weise
kein Kultus daraus entstünde. Diese Dinge war man bereit, als freigelassene
Mitteldinge zu akzeptieren. Das Gutachten unterschied also zwischen nöti
gen Gebräuchen zum einen und unnötigen, ja sogar falschen Riten zum
an
deren und freigelassenen Mitteldingen zum dritten. Diese Differenzierung
war die Voraussetzung dafür, dass man überhaupt über die Möglichkeit
nachdenken konnte, verschiedene altgläubige Zeremonien und Gebräuche als
Adiaphora wiedereinzuführen. Während Melanchthon und die
Wittenber
ger Theologen auf dem so abgesteckten Feld Gesprächsbereitschaft
signali
sierten, bezog sein Schüler, ehemaliger Kollege und schließlich heftigster
Gegner, Matthias Flacius, die entgegengesetzte Position. Er brachte das
Meißner Gutachten ohne Wissen der verantwortlich zeichnenden Theologen
in Magdeburg zum Druck,Bericht
vom(m) INTERIM der Theologen zu Meissen versamlet. Annno M. D.
xlviij. … [Magdeburg: Christian Rödinger, 1548]. Vgl. Melanchthon an Kurfürst Moritz von Sachsen, [3.9.1548],
in: MBW Regesten, Bd. 5, Nr. 5280 und Nr. 5285, S. 348 und
S. 350.
seine
Wittenber
ger Kollegen immer wieder – vergeblich – aufgefordert hatte, sich in einem
gemeinsamen Protest gegen das gesamte Augsburger Interim in allen seinen
Artikeln zu wenden.
Melanchthon für seine Person hatte allerdings unverzüglich seine Kritik am gesamten Interim
zum Ausdruck gebracht; vgl. Dingel, Beurteilung.
Melanchthon aber blieb auf dem von ihm
eingeschla
genen Weg und nahm weiterhin an geheimen Beratungen mit den Räten des
Kurfürsten teil. Flacius dagegen ging mit Streitschriften an die
Öffentlich
keit,
Flacius brachte 136 Schriften gegen die Adiaphoristen
heraus. Darin sind allerdings die lediglich von ihm herausgegebenen Stücke eingeschlossen.
Ausgewiesen in der Internet Datenbank zu Controversia et Confessio: http://www.litdb.evtheol.unimainz.de/datenbank/index.php.
die er auch durch Bekanntgabe maßgeblicher Dokumente warnen
wollte. Dazu diente in erster Linie der unautorisierte Abdruck der Leipziger
Landtagsvorlage von 1548, die als kursächsischer Alternativvorschlag zum
Augsburger Interim gedacht war und zu deren Mitverfassern Melanchthon
gehörte. Flacius und Gallus brachten dieses Gutachten für die kursächsischen
Landstände mit eigenen, kritischen Kommentaren versehen, einschließlich
einiger dazugehöriger Dokumente, zum Druck. Dass in der Literatur bis
heute vom Leipziger Interim die Rede ist, geht auf diesen, in die
Kon
troverse einzuordnenden Abdruck zurück [unsere
Ausgabe Nr. 4].
Voran
gegangen war bereits eine Stellungnahme des Flacius zu dem Auszug aus
der Landtagsvorlage, der ihm in die Hände gekommen war. Der kurfürstlich
sächsische Kanzler Ludwig Fachs und Melanchthon hatten nämlich Kurfürst
Moritz geraten, statt des gesamten, dem Landtag vorgelegten Textes,
ledig
lich eine Kurzfassung in die Öffentlichkeit zu bringen. Flacius brandmarkte
das Dokument in seiner Schrift Wider den Auszug [Nr. 1] als kleines
Interim und versuchte den listigen Betrug zu entlarven, hinter dem seiner
Ansicht nach der Satan selbst stand, um den falschen Glauben wieder
einzu
führen. Unter Rückgriff auf Äußerungen Luthers forderte er zur Ablehnung
jeglicher Art von Adiaphora und zur Treue zum Evangelium auf. Ebenso
deutlich tadelte er, dass die politische Obrigkeit sich anmaßte, in
Religions
angelegenheiten einzugreifen. Auch andere meldeten sich mit Anfragen an
die Wittenberger Theologen zu Wort. Denn inzwischen war unklar
gewor
den, was denn nun eigentlich unter den Adiaphora zu verstehen sei und
wie man sich in der gegenwärtigen Krisensituation zu verhalten habe. Mit
welcher Ernsthaftigkeit die Auseinandersetzung ausgetragen wurde, zeigt ein
unter der Federführung des Johannes Aepinus
abgefasstes Schreiben der
Ham
burger Geistlichkeit an Melanchthon
und die Wittenberger Theologen, das auf
Klärung der Situation drängte.Dies war nicht die einzige Hamburger Wortmeldung. Auch sonst brachte man sich von Hamburger Seite aus in die Diskussionen ein. Vgl. Dingel, Strukturen der Lutherrezeption.
Die Art und Weise, wie es in den lateinischen
und deutschen Druckversionen bzw. Auflagen präsentiert wurde – einmal mit,
einmal ohne die Antwort der Wittenberger, in der diese die Kontexte für die in
Kursachen getroffenen Entscheidungen erläuterten; in späteren Auflagen mit
Marginalglossen des Flacius und weiteren Addenda – führt vor Augen,
wel
che Kommunikationstechniken man für die Kontroverse zur Schwächung
gegnerischer bzw. bzw. Stärkung eigener Positionen nutzbar machte [Nr. 2].
Flacius’ Stellungnahme in dieser Kontroverse
war in seiner theoretischen
Reflexion über die Adiaphora grundgelegt. Für ihn kam es entscheidend
darauf an, zwischen wahren und falschen Adiaphora zu unterscheiden. In
seiner Schrift Von wahren und falschen Mitteldingen [Nr. 3] entfaltete er
eine Definition, die unter kirchlichen Adiaphora
solche öffentlichen oder
privaten Zeremonien und Handlungen versteht, die frei, aber der Ordnung
der Gemeinschaft der Gläubigen entsprechend und zu ihrer Erbauung
ge
handhabt werden, da sie von Gott in specie weder geboten noch verboten
sind
Dingel, Flacius als Schüler Luthers und
Melanchthons, 88; vgl. zum folgenden S. 87–89.
.
Wahre Adiaphora dürften die durch die Reformation Martin Luthers
wieder gewonnene christliche Freiheit nicht einschränken und das wieder
entdeckte Evangelium nicht verdunkeln. Sofern auf ein generale Dei
man
datum
verwiesen werden könne, das auf den Nutzen der Adiaphora zur
Ordnung und Erbauung der Kirche ziele, und sofern die Kirche und ihre
Die
ner in Freiheit mit diesen Adiaphora umgehen könnten,Vgl.
unten S. 218.
bestand auch für
Flacius kein Problem. Von all dem aber sah er die gegenwärtige
Interims
situation meilenweit entfernt. Daher wurde Flacius nicht müde, mit immer
neuen Argumenten nachzuweisen, dass es sich bei den beabsichtigten
Ände
rungen umPseudoadiaphora
Vgl. unten S. 246.
handele, die nicht nur gegen die rechte
christliche Freiheit gerichtet seien, sondern auch eine transformatio
Eccle
siae Christi in ritus Antichristi
Vgl. unten S. 258.
bewirkten.
Mitten in dieser Auseinandersetzung erschien das Magdeburger Bekenntnis
[Nr. 5], das – in seinem Selbstverständnis als Wiederholung der Confessio
AugustanaVgl. unten S. 458f.
– darauf zielte, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass die
Exekution der Reichsacht durch den sächsischen Kurfürsten Moritz die
eigentlich Rechtgläubigen traf. Europäische Wirkung erzielte es durch das in
seinem zweiten Teil Von der Notwehr explizierte Widerstandsrecht. Dass
man das Recht der unteren Obrigkeiten, sich zum Schutz der Untertanen
gegen die übergeordnete Obrigkeit zu stellen, hier und in anderen, etwa
zeit
gleich publizierten Schriften diskutierte, war vor allem durch die Adiaphora
Problematik angestoßen worden.
Die als Adiaphoristen verunglimpften Wittenberger Theologen verhielten
sich bei weitem zurückhaltender. Der Leipziger Johannes Pfeffinger
ver
suchte – auch zur Verteidigung Melanchthons – die Angriffe auf die Leipziger
Landtagsvorlage und deren Auszug zu entkräften, indem er die Hintergründe
und Maßgaben der seinerzeit getroffenen Entscheidungen thematisierte [Nr. 6].
Zudem lag ihm daran, die avisierten Entscheidungen hinsichtlich der
Adia
phora in der Reformation Martin Luthers zu verorten und als konform mit
dessen Ansichten auszuweisen. Ohnehin seien die jetzt zur Diskussion
ste
henden Riten und Gebräuche im albertinischen Sachsen seit langem im
Ge
brauch.Die Reformation war im albertinischen Sachsen bei weitem
konservativer verlaufen als im ernestinischen Landesteil. Vgl. dazu Lau, Georg III. von Anhalt.
Aber dies konnte den Streit, für den Pfeffinger
Flacius und Gallus
verantwortlich machte, nicht schlichten. Hellsichtig spielte er darauf an, dass
sich Schärfe und Unversöhnlichkeit in dieser Kontroverse auch aus dem (
Ge
nerationen-)Konflikt zwischen Lehrern und Schülern, d. h. zwischen erster
und zweiter Reformatorengeneration, ergab. Die Enttäuschung, die man
dar
über empfand, dass ehemalige Mitstreiter in reformatorischen Anliegen nun
disparate Wege gingen und unversöhnlich miteinander stritten, wog schwer.
An Pfeffingers Wortmeldung wird zudem deutlich, wie sich der Streit um die
Adiaphora allmählich auf das Problem der christlichen und politischen
Frei
heit verschob. Dies betraf sowohl die Frage, ob eine Obrigkeit das Recht habe,
sich in innere Angelegenheiten der Kirche einzumischen – z. B. durch
Wie
dereinführung eines Kultus, der mit der reformatorischen Lehre nicht
unbe
dingt kompatibel war –, als auch jene, ob einer so handelnden Obrigkeit Folge
zu leisten sei. Diese Fragen, in denen Melanchthon und Pfeffinger
gleicher
maßen die historischen Zwänge ins Feld führten, die dazu veranlasst hatten,
zum Erhalt der reformatorischen Lehre ungewohnte Wege einzuschlagen,
hatten sich unlöslich mit der Problematik der Adiaphora verbunden. Dass die
Gruppe um Matthias Flacius dies anders sah, versteht
sich von selbst. Gallus'
Gegenbericht [Nr. 7] auf Pfeffingers
Erläuterungen begründete ausführlich,
warum das Leipziger Interim als unchristlich und verdammungswürdig
gelten müsse. Er stellte christliche Freiheit und standhaftes Bekenntnis gegen
die Anmaßung weltlicher Obrigkeit, kraft ihres Amtes in die Belange der
Kirche eingreifen zu können. Die obrigkeitliche Pflicht, die reine Lehre und
die gute Ordnung der Kirche zu befördern, stellte freilich auch Gallus nicht
in Abrede. Aber der Streit verschärfte sich zusehends. Man warf den in
Mag
deburg
versammelten Interimsgegnern vor, die reformatorische Kirche zu
spalten und zu zersetzen. Nikolaus von Amsdorf spielte diesen Vorwurf
zu
rück und richtete ihn in seiner Schrift Dass D. Pommer und D. Major
Är
gernis angericht [Nr. 8] gegen Johannes Bugenhagen und Georg Major, die
an der Erstellung des Leipziger Landtagsentwurfs beteiligt gewesen waren.
Er bezichtigte sie, mit ihrem Interim und den darin vorgesehenen Riten die
Kirche Christi derart zerrüttet und die Gewissen in einer Weise in die Irre
geführt zu haben, dass sie sich davon kaum werde jemals erholen können.
Amsdorfs heftige Polemik gegen Major sprach bereits beiläufig dessen Lehre
von der Notwendigkeit guter Werke zur Seligkeit an, indem er ihm zur Last
legte, in der Rechtfertigungslehre das sola (scil. sola fide, sola gratia, solus
Christus) aufzugeben. Dagegen fiel seine Kritik an Bugenhagen kürzer,
al
lerdings nicht weniger heftig aus. Denn Amsdorf trat – so machte er in
sei
nen Schlußsätzen deutlich – als Bekenner auf, der sich keineswegs darauf
einlassen wollte, die Abwendung von Gefahr mit einer Verleugnung der von
ihm 30 Jahre lang gepredigten, wahren Lehre zu erkaufen.Zu seiner
Bekennerhaltung, die durch seine Exilserfahrung verstärkt wurde vgl. Dingel, Exulantentum, 153–175.
Der Adiaphoristische Streit schwelte auch nach der Aufhebung des Interims
1552 im Zuge des Passauer Vertrags weiter und wirkte einigend auf die
Gruppe der sich um Flacius scharenden sog.
Gnesiolutheraner.Zur dieser und anderen Gruppenbezeichnungen vgl. unsere Ausgabe
Bd. 1, S. 11, Anm. 30.
Mit ihrer
Unterschrift unter die Vorrede zeichneten sie zugleich verantwortlich für den
gesamten Inhalt der 1558 veröffentlichten Schrift Die vornehmlichsten
adia
phoristischen Irrtümer [Nr. 9]. Neben dem Autor Flacius waren das Nikolaus
Gallus, Johannes Wigand, Johannes Aurifaber, Anton Otho
und Matthäus
Judex. Die Schrift rekapitulierte die reformatorischen Entwicklungen von
ihrem Beginn bis in die Gegenwart im Lichte der durch die Frage der
Adia
phora aufgeworfenen Problematik. Man grenzte sich weiterhin strikt von den
Adiaphoristen ab, die nun nicht mehr nur als Befürworter verhängnisvoller
Änderungen in den Riten, sondern als Verfälscher der gesamten
reformatori
schen Lehre gebrandmarkt wurden. Dies war sozusagen ein Generalangriff
auf die Wittenberger Theologen, die dem mit einer Publikation von
Akten
material zu den damaligen Verhandlungen rund um den Leipziger
Landtags
entwurf zu begegnen versuchten. Dass auch dies die Situation nicht
ent
schärfte, zeigt der Druck der – immer noch umfangreichen – Summa und
kurzer Auszug aus den Actis synodicis von 1560 [Nr. 10], mit der die
Wit
tenberger Studenten für ihre Lehrer eintraten und sie vor allem gegen Gallus
und Flacius verteidigten. Die Kontroverse
hatte die nächste Generation
er
reicht. Sie behandelte im Grunde rückblickend die Frage, ob das Verhalten
der Theologen angesichts der seinerzeit an sie gerichteten kurfürstlichen
An
forderungen rechtens gewesen und ihre Zusammenarbeit mit den politischen
Instanzen zu rechtfertigen sei. Interim und Adiaphora waren in den Augen
des Flacius und Gallus zu Kriterien geworden, an denen sich das rechte
Be
kennertum vom falschen unterscheiden ließ. Gallus, der im selben Jahr mit
seiner Summa und Auszug der ersten und andern Antwort [Nr. 11] eine
Erwiderung herausbrachte, brachte dies – mit Flacius
übereinstimmend –
folgendermaßen auf den Punkt: Adiaphora in Casu Confessionis fiunt
ne
cessaria.
S. 955.
Im Bekenntnisfall, so führte er aus, könne man mit sogenannten
freien Mitteldingen nicht mehr frei umgehen, darin nachgeben oder zu einem
Kompromiss mit den Gegnern kommen, ohne dass man die wahre Lehre
verleugne. Mit dem Interim aber sei ein solcher Bekenntnisfall gegeben
ge
wesen. Daher hätten die Adiaphora ihren Charakter als freigelassene
Mittel
dinge verloren. Das Nachgeben und der Vergleich mit den Päpstlichen sei
also eine Verleugnung gewesen, die sich, nach Gallus, letzten Endes auf alle
Lehrstücke der Reformation erstrecke und zum Abfall von der Confessio
Augustana geführt habe. Diesen Nachweis jedenfalls versuchte Gallus zu
füh
ren. Die Wittenberger Studenten antworteten mit
gezielten Glossen auf den
auf die Adiaphora bezogenen Teil, der allerdings in unserer
(Auswahl)Aus
gabe nicht mehr geboten werden kann. Sie
spiegeln den typisch dialogischen
Verlauf der Kontroverse wider.
* * * * *
Betrachtet man den Adiafphoristischen Streit insgesamt, so ist nicht zu
über
sehen, dass er vor dem Hintergrund der politischen Rivalität des
ernestini
schen und albertinischen Sachsen verlief, die sich auch darauf auswirkte,
dass beide Seiten für sich gleichermaßen in Anspruch nahmen, das Erbe der
Wittenberger Reformation angetreten zu haben, es angemessen verwalten zu
wollen und unverfälscht bewahren zu können.Vgl. die Historische Einleitung
zu unserer Ausgabe Bd. 1, S. 8–11.
Für die Entstehung und den
Ablauf der Kontroverse im Einzelnen aber waren vor allem zwei Punkte
ausschlaggebend. Zunächst fällt auf, dass die Konfliktgegner von einem
unterschiedlichen Verständnis des Bekennens bzw. des Bekenntnisses
ausgingen und sich dementsprechend unterschiedlich positionierten. Flacius
und seine Gesinnungsgenossen vertraten eine ganzheitliche Perspektive. Für
sie erstreckte sich das Bekenntnis nicht nur auf Glauben und Lehre, sondern
erforderte ein Äquivalent in den äußeren Formen kultischen Handelns, d. h.
in Riten, Zeremonien und einer daraus abgeleiteten Gestaltung des christlichen
Lebens. Riten und der durch sie repräsentierte Lehrgehalt bzw. theologische
Anspruch – kurz: Bekenntnis und Zeremonien – durften nicht
auseinander
treten. Diese Position war ausschließlich theologisch begründet. Politische
Gesichtspunkte durften keine Rolle spielen. Anders verhielt es sich für
Me
lanchthon
und die in seinem Umfeld
wirkenden Wittenberger Theologen. Sie
definierten Bekennen und Bekenntnis inhaltlich. Sie bezogen sich auf
eine bestimmte summa doctrinae, die durch zeremonielle Äußerlichkeiten,
die man in den Grenzbereich des frei Verhandelbaren einordnete, nicht
unbe
dingt tangiert wurde. Unter dieser Prämisse waren sie deshalb in der Lage
und bereit, wenn nötig auf politisch-gesellschaftliche Bedürfnisse einzugehen
und eine gewisse Flexibilität zu tolerieren, wenn es darum ging, angesichts
dringender politischer Forderungen Schaden von Kirchen und Gemeinden
abzuwenden. Aber auch diese Bereitschaft zum Aushandeln von
Kompro
missen hatte seine Grenze und endete stets dann, wenn der Kern der
refor
matorischen Lehre – Rechtfertigung und Sakramentsverständnis – in Frage
zu geraten schien.
Zum anderen zeichnet sich ein in den sich bildenden Lagern
unterschiedli
ches Verhältnis zur Obrigkeit ab. Melanchthon und seine
Gesinnungsgenos
sen waren bereit, der Obrigkeit, die man als gottgesetzte Gewalt verstand,
die äußere Ordnung der Kirche als Handlungsraum zuzugestehen. Denn die
äußeren Strukturen des kirchlichen Lebens verankerte man im Bereich der
praktischen Vernunft. Ihre Verwaltung konnte deshalb denjenigen anheim
gegeben werden, die die Kompetenz hatten, auf diesem Gebiet am
effektiv
sten Entscheidungen zu treffen und durchzuführen, nämlich der politischen
Obrigkeit als praecipuum membrum ecclesiae.
Als Hüterin der beiden
Ta
feln des Gesetzes kam es ihr zu, für rechte Gottesverehrung zu sorgen. Das
Handeln der politia wurde dabei jedoch dezidiert auf die äußere Ordnung
und Disziplin eingegrenzt. Flacius und seine Mitstreiter bezogen
demgegen
über eine grundlegend andere Position. Sie bestritten der politischen
Obrig
keit grundsätzlich, nicht aber generell das Recht,Dass die
Obrigkeiten im Sinne der wahren Lehre auch kirchlich agieren konnten, wurde nicht schlechthin
abgelehnt.
in kirchliche
Angelegen
heiten eingreifen zu dürfen, und gingen darin sogar über ihr theologisches
Vorbild Martin Luther hinaus.Vgl. dazu Estes, Secular Authority.
Dass die politische Obrigkeit kraft ihrer
Verantwortung für das Gemeinwesen dies immer wieder tat, bot für die
Gne
siolutheraner solange keinen Stein des Anstoßes, solange die Obrigkeit sich
nicht über theologische Erfordernisse und die von Theologie und Lehre
vorgegebenen Prämissen hinwegsetzte. Flacius und seine
Gesinnungsgenos
sen traten im Adiaphoristischen Streit dezidiert dafür ein, den Bereich des
Bekenntnisses, d. h. Lehre und in äußerlichen Formen und Strukturen
geleb
ten Glauben und Religiosität, von aller obrigkeitlichen Einwirkung frei zu
halten, vor allem dann, wenn sich die politische Obrigkeit offensichtlich als
Verfolgerin der rechten Lehre erwies. Äußerliche Disziplin, Strukturen und
Ordnungen, Riten und Zeremonien mussten aus dem Schoße der Kirche
selbst, sozusagen aus ihrer autonomen Entscheidung hervorgehen.